Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Eregion
Tal des Sirannon
Fine:
Je weiter sie sich von dem Lager der Orks entfernten, desto mehr gelang es Córiel, auf eigenen Beinen zu stehen. Der Schmerz in ihrem Rücken ließ nach, doch ihre Schläfe brannte noch immer wie ein loderndes Feuer und vernebelte ihre Sicht. Soweit sie es erkennen konnte, ging es nach Osten, bergauf in die Vorgebirge der Nebelberge. Sabri blickte sich immer wieder aufmerksam um, schien jedoch genau zu wissen, wohin er zu gehen hatte. Offenbar hatte er sich sehr gut auf seine Rolle in Córiels Befreiung vorbereitet. Der Südländer stützte die Hochelbin noch immer, hielt aber in der freien Hand sein Schwert gezogen und erweckte den Anschein von höchster Wachsamkeit.
Schließlich kamen sie vor einer unscheinbaren Felswand an, nachdem sie ungefähr eine halbe Stunde gelaufen oder in Córiels Fall gestolpert waren. Ihr Kopf dröhnte noch immer, doch die Schmerzen klangen langsam ab. Sie fühlte sich unendlich müde. Und als Sabri einen Vorhang aus dichtem Efeu beiseite schob und einen verborgenen Höhleneingang enthüllte, nahm sie ihre letzte Kraft zusammen und folgte dem Südländer ins Innere, wo Calanto bereits auf sie wartete. Und sogar ihre Pferde waren am hinteren Ende der Höhle zu sehen.
Der Elbenkrieger saß in einer sich verbreiternden Höhle, die von einer großen Elbenlampe erhellt wurde und hatte ein Feuer entfacht, über dem ein Topf voller Suppe erhitzt wurde. Als er Córiel sah, schlug Calanto erfreut die Fäuste gegeneinander und sprang auf.
"Ich wusste, dass unser Plan aufgeht," sagte er, wurde jedoch gleich darauf wieder ernst. "Hier, das wird dich stärken." Er reichte Córiel eine gut gefüllte Schüssel, die geradezu herrlich duftete und ihre Sinne wieder etwas erfrischte. Sie probierte vorsichtig, nachdem sie sich am Feuer niedergelassen hatte und spürte, wie die Suppe sie von innen wärmte und die Heilung ihrer Wunden anregte. Dennoch wusste sie, dass sie jetzt vor allem Ruhe und Schlaf brauchen würde. Sabri und Calanto schienen das ebenfalls zu denken, denn sie nickten, als Córiel ihnen zu verstehen gab, dass sie für einige Minuten die Augen schließen würde. Kaum hatte sie das getan, driftete sie schon in einen tiefen Schlaf.
Es dauerte zwei Stunden, bis man sie weckte. Sabri beugte sich über sie und deutete auf Jarbeorn, der zwar zerzaust und sehr verdreckt war, aber ansonsten unverletzt geblieben war. Seine Axt trug er wie einen Schatz in beiden Händen und stellte sie vorsichtig an eine der Höhlenwände, ehe er sich neben Córiel setzte. Die Hochelbin erinnerte sich daran, dass ihr der Beorninger einst von der Gabe seiner Vorväter erzählt hatte. Und wie diese besaß auch er die Fähigkeit, sich in einen gewaltigen Bären zu verwandeln. Doch dies gelang ihm nur selten, meist in Momenten großer Not, und das Wechseln zwischen den Formen bereitete ihm stets Schmerzen.
"Du warst das also, der die Orks wie kreischende Hühner auseinander getrieben hat," lobte Córiel ihn mit einem schwachen Lächeln.
"Du hättest sehen sollen, wie sie gelaufen sind. Sie sollen sich noch lange an diesen Tag erinnern," antwortete Jarbeorn mit grimmiger Freude. "Meine Vorfahren wurden von den Orks der Berge immer gefürchtet. Jetzt fürchten sie auch mich."
"Was ist seit dem Angriff auf unser Nachtlager geschehen?" wollte Córiel wissen.
Jarbeorns Miene wurde etwas betretener. "Du hast die Kontrolle verloren, Stikke. Als wir uns nach dir umblickten, warst du bereits inmitten einer so großen Masse von Feinden, dass wir dich nicht mehr erreichen konnten. Sicher, du hast viele von ihnen getötet, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie dich überwältigten und verschleppten."
"Uns drängte man nach Norden ab," ergänzte Calanto. "Glücklicherweise kenne ich mich in der Gegend ein wenig aus, und wir konnten unseren Verfolgern entkommen, nachdem wir uns etwas Luft verschafft hatten. Sie schienen damit zufrieden gewesen zu sein, dich geschnappt zu haben. Ich zeigte den anderen beiden diesen versteckten Vorposten der Manarîn, den unsere Kundschafter kurz nach der Ankunft in Eregion angelegt haben, und hier schmiedeten wir unseren Plan. Ein Plan, der wirklich wunderbar aufgegangen ist, wenn ich das so sagen darf."
Córiel deutete auf das Feuer, das inzwischen erloschen war. Als sie die Höhle betreten hatte, war dessen Rauch zur Decke der Höhle aufgestiegen. "Wird das Feuer denn nicht unsere Position verraten?"
Calanto lächelte. "Über uns, jenseits des Höhlengesteins, befindet sich ein großes Becken mit heißem Wasser, das aus dem Gebirge kommt. Deswegen steigt dort immer heißer Dampf auf. Der Rauch aus dieser Höhle entweicht durch einen Schlot am Ufer dieses Beckens und vermischt sich dort mit dem Wasserdampf. Das Feuer darf nur nicht allzu lange brennen, denn sonst wird die Rauchwolke zu groß um noch als Teil des Wasserdampfs durchzugehen. Für die Suppe hat es zum Glück gereicht." Er deutete gut gelaunt auf den Topf und rieb sich die Hände.
"Wir fanden rasch heraus, wohin man dich gebracht hatte, indem wir einer Gruppe Orks folgten, die aus dem Gebirge herabkamen und beinahe direkt vor dem Eingang dieser Höhle vorbeikamen. Und sobald wir wussten, wo du bist, haben wir losgeschlagen."
"Das hat alles erstaunlich gut funktioniert," lobte Córiel, der jedoch nicht nach Lachen zumute war. "Doch ich fürchte, unsere Probleme fangen gerade erst an."
Rasch erzählte sie den anderen von ihrer Unterhaltung mit der geheimnisvollen Vaicenya. Jarbeorn und Sabri reagierten mit Sorge, während Calanto immer wütender wurde. Schließlich sprang er auf. "Diese Frau ist zu weit gegangen! Ich reite sofort nach Vincarna Maranwë und berichte der Königin davon. Sie muss erfahren, was hier geschehen ist."
Hastig verabschiedete er sich von den drei Gefährten und eilte hinaus, ehe sie ihn aufhalten konnten.
"Die Frage ist, was wir jetzt tun werden. "Veca" hat uns gefunden, ehe wir sie finden konnten, und ist jetzt wieder spurlos verschwunden," stellte Jarbeorn fest.
"Ich sage, wir bleiben bis morgen hier," schlug Córiel vor. "Ich fühle mich noch nicht bereit, schon wieder auf die Jagd zu gehen. Außerdem wüsste ich nicht, wo wir mit der Suche anfangen sollten."
"Dem stimme ich zu," sagte Sabri. "Ich werde in der Zwischenzeit nach draußen gehen und mich umsehen. Vielleicht finde ich einen Anhaltspunkt darauf, wohin Veca gegangen ist."
Auch er verließ die Höhle, und Córiel blieb mit Jarbeorn alleine zurück. Eine Weile herrschte Schweigen, ehe sie etwas zaghaft beschloss, den Anfang zu machen und ein Gespräch zu beginnen - etwas, mit dem sie sich schon immer schwer getan hatte. "Hat es sehr geschmerzt, als du dich... verwandelt hast?"
Der Beorninger, der auf ganz untypische Art und Weise bis dahin ins Leere gestarrt hatte, wandte ihr den Blick zu und legte den Kopf leicht schief. "Hat es, aber ich musste es tun," antwortete er. "Die Umstände haben es erfordert."
"Du sagtest, du hast diese Gabe noch nicht unter Kontrolle."
"Das ist wahr. Ich habe noch viel zu lernen. Ich besitze zwar die Fähigkeit, aber es gelingt mir nur selten, sie einzusetzen."
Córiel holte tief Luft, ehe sie sagte: "Mir ging es zu Anfang ähnlich. Als mein Vater mich zu einer Waffe für den Krieg gegen Sauron schmiedete. Er verlangte mir Übungen ab, Tag und Nacht, ohne viele Pausen. Ich besaß das Talent, aber es dauerte viele Jahre, bis ich freien Zugriff auf mein Potenzial erlangte."
"Erzähl mir von dieser Zeit," bat Jarbeorn sanft. "Es muss schwer für dich gewesen sein, denn du warst noch sehr jung als Sauron Eriador angriff, nicht wahr?"
Córiel nickte. Sie hatte nur sehr wenigen Personen jemals davon erzählt, doch in der Sicherheit der Höhle und der vertrauten Gesellschaft des Beorningers fühlte sie sich nun dazu bereit. Sie fing mit der Flucht aus ihrem Heimatdorf an, in dem ihre Großeltern gestorben waren, und ließ nur wenige Details ihrer überaus harten Ausbildung unter ihrem Vater aus. Córiels Eltern hatten damals erwartet, dass Sauron Lindon schon bald überrennen würde, und beschlossen, so viele Feinde wie möglich mitzunehmen. Und deshalb sollte ihre Tochter in der kurzen Zeit, die ihnen blieb, zu einer Kriegerin geschmiedet werden, die zahllosen Orks in kurzer Zeit den Tod bringen konnte, ohne auf eigene Verluste zu achten.
"Das klingt furchtbar," meinte Jarbeorn. "So ohne Hoffnung auf eine Zukunft aufzuwachsen, und stets den eigenen Tod vor Augen zu haben... Ich verstehe jetzt besser, weshalb du im Kampf stets Gefahr läufst, die Kontrolle zu verlieren, und weshalb du diesen Blutdurst in deinem Herzen trägst."
"Krieg und Tod sind alles, was mich damals angetrieben hat," gestand sich Córiel ein. Es tat auf seltsame Art und Weise gut, darüber zu sprechen. "Bis ich die See kennenlernte. Auf ihren endlosen Weiten kann ich den Kampfesdrang vergessen, aber nirgends sonst. Doch es ist schon über ein Jahr her, seitdem ich zuletzt in See gestochen bin."
"Und es gibt niemanden, der dieselbe Wirkung auf dich haben könnte? Gab es jemals jemanden in deinem Leben?" Jarbeorns Stimme hatte einen seltsamen Klang angenommen.
"Falls du dir Hoffnungen machst, meine momentane Schwäche auszunutzen, um an körperliche... Annehmlichkeiten zu kommen - vergiss es," gab sie halb scherzhaft zurück. Damit überspielte sie den Fakt, dass sie bei Jarbeorns Worten zwei Gedanken gehabt hatte: Ich hoffe, Jarbeorn sieht in mir nach wie vor nur eine Kampfgefährtin und Kameradin. Der zweite Gedanke hatte Lasseron gegolten, und das verwirrte Córiel mehr, als sie zugeben wollte.
Jarbeorn lachte schallend und war wieder ganz der Alte. "Du hast aber eine hohe Meinung von deinen weiblichen Reizen, Stikke. Weißt du denn nicht, wie wir zueinander stehen? Ich halte dir den Rücken frei, und du mir meinen. Wie Bruder und Schwester." Er zeigte ihr ein listiges Grinsen, als er hinzufügte: "Außerdem bist du für meinen Geschmack viel zu dürr - und zu alt."
Als empörte Antwort warf sie ihm einen ihrer Stiefel an den Kopf, doch beide lachten dabei.
Sie wagten trotz Calantos Erläuterung nicht, das Feuer erneut zu entzünden. Als Sabri am Abend zurückkehrte, berichtete er davon, dass die Orks ihr Lager verlassen hatten und ihre Spur zurück in die Berge führte. Von Vaicenya hatte er hingegen keinerlei Anzeichen entdecken können.
"Wir könnten hier auf die Manarîn warten, deren Jäger sicherlich bald in großer Zahl in dieses Gebiet reiten werden," schlug Sabri vor. "Vielleicht können sie uns bei der Suche behilflich sein."
Córiel schüttelte den Kopf. "Vaicenya hat sich als listenreiche Gegnerin erwiesen. Wir sind von einer ihrer Fallen in die nächste gestolpert. Selbst inmitten einem ganzen Dorf voller Dunländer waren wir vor ihrem Zugriff nicht sicher. Ich sage, es ist Zeit, dass wir den Spieß umdrehen."
"Was schlägst du also vor, Stikke?"
"Wir sollten versuchen, sie zu uns zu locken. Ich bin mir sicher, dass noch mehr hinter ihren Motiven steckt, als wir bislang wissen. Ich glaube nicht, dass sie nur vom Hass auf mein Volk angetrieben wird. Da muss noch etwas anderes sein."
"Nun, die naheliegendste Erklärung wäre, dass Saruman seine Finger im Spiel hat. Selbst im Tal des Anduins haben wir von der Macht seiner Stimme gehört. Wer weiß, was er Vaicenya eingeflüstert hat, um sie zu solchen Taten zu verleiten..."
"Die Avari sind immer noch Elben, und Elben lassen sich nicht so leicht beherrschen. Außerdem braucht es schon sehr viel, um die Erstgeborenen zu einem Bündnis mit ihren Todfeinden, den Orks zu bringen," befand Córiel. "Ich denke zwar auch, dass Vaicenya und ihre Gefolgsleute mit Saruman im Bunde stehen, doch ob sie wirklich eine zutiefst ergebene Dienerin des Zauberers ist, bezweifle ich stark. Ich habe das Gefühl, dass sie ihre ganz eigenen Ziele verfolgt."
"Wenn wir nur mehr über diese Avari wüssten," ärgerte sich Jarbeorn. "Die Königin hat sich in dieser Hinsicht sehr bedeckt gehalten."
Sabri, der ein gutes Namensgedächtnis zu haben schien, sagte: "Wenn ich mich recht entsinne, stammt der Großteil der Elben in Eregion vom Stamm der Hwenti. Aber Vaicenya hat sich dir gegenüber nicht als eine der Hwenti vorgestellt, korrekt?"
"Nein, hat sie nicht," bestätigte Córiel. "Aber das bedeutet wahrscheinlich nichts; wir müssen davon ausgehen, dass jedes ihrer Worte eine Lüge sein kann."
"Dann stehen wir wieder ganz am Anfang. Irgend einen Anhaltspunkt muss sie dir doch gegeben haben."
"Sie sagte, ich solle mich ihr anschließen," sagte Córiel und rief sich die vergangene Nacht wieder ins Gedächtnis. "Zwar nahm sie es mir durchaus übel, dass ich den Attentäter getötet habe, den sie auf den Wolfskönig angesetzt hat, aber dennoch..."
"Man sollte meinen, dass sie dich aus Rache sofort töten würde, sobald sie dich gefangen genommen hatte, vor allem, wenn sie die Noldor wirklich so sehr hasst, wie sie behauptet hat," überlegte Sabri.
"Ja, das frage ich mich auch. Ihr Blick und ihre Berührungen waren wirklich... merkwürdig. Ich... kann es nicht recht beschreiben." Córiel würde noch mehr Zeit brauchen, um sich darüber klar zu werden.
Sie verfielen alle drei in nachdenkliches Schweigen. Keiner schien eine zündende Idee für ihr weiteres Vorgehen zu haben. Jarbeorn stand nach einer Weile auf und begann, in der kleinen Höhle auf- und abzugehen, während er angestrengt nachdachte. Schließlich blieb er stehen und sagte: "Ich glaube, sie wusste bislang über jeden unserer Schritte Bescheid. Wahrscheinlich war auch die Begegung mit ihr kurz hinter den Furten des Isen kein Zufall. Wenn wir also davon ausgehen, dass sie uns stets beobachten lässt, könnten wir uns diesen Fakt zu Nutze machen."
"Wie meinst du das?" fragte Córiel.
"Wie du vorhin schon sagtest, Stikke," antwortete der Beorninger mit einem breiten Grinsen. "Wir drehen den Spieß um."
Fine:
"Das hier muss die Königin aller schlechten Ideen sein," murmelte Córiel und fragte sich, wie Jarbeorn es nur geschafft hatte, sie von der Sache zu überzeugen. Ich muss noch im Fieberwahn gewesen sein, als ich dem hier zugestimmt habe, dachte sie. Ohne ihre Rüstung fühlte sie sich schutzlos und verletzlich. Vorsichtig tastete sie nach ihrem Dolch, der unter einem der Steine verborgen war, auf denen sie saß, und spürte die beruhigende metallische Berührung des Griffes der Klinge. Sie atmete tief durch und versuchte, sich zu entspannen und abzuwarten.
Erstaunlicherweise fiel es ihr relativ leicht. Das Wasser besaß genau die richtige Temperatur, und Córiel spürte, wie nach und nach die anstrengenden Ereignisse der letzten Tage und die Sorgen um die Zukunft in den Hintergrund rücken, und sie nur noch in der Gegenwart lebte. Sie spürte ihren Körper, nun, da er nackt war, zum ersten Mal seit einer langen Zeit wieder richtig, und wurde sich jeder einzelnen Faser davon ganz genau bewusst. Sie hatte am Ufer des Teiches, der von einer heißen Quelle gespeist wurde und der direkt oberhalb des Verstecks der Manarîn lag, gleich eine gute Stelle gefunden, an der ein großer, flacher Felsen sanft ins Wasser abfiel. Hier saß sie nun, mit dem Rücken an den warmen Stein gelehnt, und umgeben von angenehm heißem Wasser, das ihr bis zum Schlüsselbein ging.
Doch gänzlich gab sie ihre Wachsamkeit nicht auf. Noch immer streiften ihre Finger gelegentlich über den Griff des verborgenen Dolches. Und hin und wieder ließ sie den Blick über den Teich schweifen, von dem weißer Dampf zum Nachthimmel aufstieg. Der Wald jenseits des Wassers war finster, doch über der Quelle standen die Sterne und sandten vereinzelte Lichtstrahlen auf das brodelnde Wasser. Córiel spürte, wie ihr geschundener Körper den Heilungsprozess beschleunigte und schloss die Augen. Ihr Gehör hingegen war geschärft und unterschied nahezu meisterlich die nächtlichen Geräusche des Waldes von allem, was auf Feinde in der Nähe hinweisen konnte. Doch eine Stunde verging, ohne dass sich etwas regte. Und dann eine weitere. Und eine weitere.
Es war kurz vor Mitternacht, als Córiel die Augen wieder öffnete, langsam und träge. Sie war nicht müde, denn sie hatte tagsüber viel geschlafen und sich Ruhe gegönnt. Ihre Ohren fingen keine verdächtigen Geräusche auf, doch ihr Herz sagte ihr, dass irgendetwas nicht stimmte. Rasch tastete sie nach dem Dolch. Er war noch da, genau dort, wo sie ihn gelassen hatte. Mit einem Mal stellten sich die Härchen an Córiels Nacken auf, und trotz des heißen Wassers lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter. Sie bereitete sich innerlich darauf vor, was nun kommen mochte, ließ sich aber äußerlich nichts anmerken. Córiel blieb ruhig im Wasser liegen und wartete ab. Sie regte sich nicht einmal, als sich eine Hand an ihren Hals legte.
Beinahe erwartete sie, dass man sie würgen würde, doch stattdessen strich die Hand geradezu sanft über Córiels Nacken und blieb schließlich auf ihrer linken Schulter liegen. Sie spürte die Wärme, die davon ausging.
"Ein schönes Plätzchen für eine wohlverdiente Pause," sagte Vaicenya. Es klang so, als meinte sie es tatsächlich so.
Langsam wandte Córiel der anderen Elbin den Blick zu. Jetzt, wo sie die Verkleidung als Dunländerin abgelegt hatte, war Vaicenya auf den ersten Blick als Elbin zu erkennen. Sie trug eine feste Lederrüstung, die im Sternenlicht silbern schimmerte und mit eindeutig elbischen Mustern verziert war, und darunter ein Kettenhemd. Ihre Haare trug sie nach elbischer Art geflochten und auf ihrer Stirn ruhte ein kleiner, silberner Reif. Córiel fragte sich, wie sie Vaicenya jemals für einen Menschen hatte halten können. Das Gesicht wies keine Anzeichen des Alters auf und war von großer Schönheit. Und dennoch spürte Córiel deutlich, dass die Avari-Elbin viele Jahrtausende älter als sie selbst war.
"Das Wasser ist äußerst angenehm," stimmte Córiel ihr zu. "Du solltest es selbst einmal versuchen."
"Vielleicht mache ich das," antwortete Vaicenya. "Hast du über mein Angebot nachgedacht? Ich habe dir wahrlich genug Zeit dafür gelassen."
Córiel nickte. "Ich kann dir keine andere Antwort darauf geben, bevor du mir nicht erklärt hast, was du eigentlich vorhast. Was du wirklich vorhast. Den Hass auf die Noldor kaufe ich dir nicht ab."
"Kluges Mädchen," lobte Vaicenya. "Nein, es ist nicht mehr als ein Vorwand, um jene auf meine Seite zu ziehen, die dein Volk tatsächlich hassen." Sie streifte ihre aus feinem Leder gefertigen Stiefel ab und tauchte die Füße in das warme Wasser neben Córiel. "Du hast recht. Es ist wirklich sehr angenehm." Ihr Blick streifte Córiels nackten Körper, und sie zog leicht die Augenbrauen hoch, ehe sie weitersprach. "Also gut. Lass mich dir eine Geschichte erzählen. Vor einigen tausenden von Jahren reisten drei Boten des Alten Westens bis in den östlichsten Winkel Mittelerdes und kamen auch bis zur Heimstatt meines Volkes. Der Oberste von ihnen war unübertroffen an Weisheit, und gab unseren Anführern so manchen guten Rat. Und es trug sich sogar zu, dass er den Großteil meines Stammes vor der Vernichtung durch wilde Reiterhorden bewahrte, in dem er einfach nur mit den Barbaren redete. Er besaß schon damals eine unglaubliche Überzeugungskraft."
"Saruman," wisperte Córiel, als ihr klar wurde, von wem Vaicenya sprach.
"Ich lernte ihn als Curumo kennen," stellte diese richtig. "Da er mein Volk gerettet hatte, standen wir tief in seiner Schuld. Er jedoch sprach uns davon frei und sagte, er würde eines Tages unsere Hilfe benötigen. Und vor zwei Jahren war es soweit. Er kehrte nach einem schweren Rückschlag zu meinem Volk zurück und forderte unsere Hilfe ein. Durch das Gesetz der Ehre waren - und sind - wir daran gebunden, sie ihm zu gewähren. Das ist einer der Gründe, weshalb ich in diese Lande gekommen bin, und warum ich tue, was in Sarumans Namen getan werden muss."
Córiel betrachtete die Dunkelelbin, die neben ihr am Ufer saß, und die Beine ins Wasser baumeln ließ. Sie wirkte nicht wie ein Feind der Freien Völker. Und doch hatte sie versucht, den König der Dunländer zu ermorden und einen Krieg zwischen dem Reich der Manarîn und den Stämmen Dunlands auszulösen. Offenbar auf Sarumans Befehl hin. Doch Córiel war sich beinahe sicher, dass noch mehr dahintersteckte.
"Verstehst du es jetzt besser?" fragte Vaicenya und ergriff Córiels Hand. "Spätestens wenn du erst mit Saruman selbst gesprochen hast, wird es dir klar werden. Er ist die beste Chance, die Mittelerde im Kampf gegen den Dunklen Herrscher hat."
"Ich habe seine Methoden bei Dol Guldur zu genüge gesehen," widersprach Córiel. "Saruman will sich selbst zum Herrscher Mittelerdes aufschwingen, wenn Sauron besiegt ist."
Vaicenya dachte nicht einmal daran, das abzustreiten. "Mag sein," sagte sie und löste vorsichtig ihren Zopf, sodass ihr hellbraunes Haar wie ein Wasserfall ihren Rücken hinab fiel. "Und was wäre daran so schlimm? Ich habe ihn als weisen und gerechten Herrscher erlebt, solange man ihm keinen Widerstand leistet."
"Du nimmst mir die Worte aus dem Mund, meine Schöne," sagte Sabris Stimme, und die schlanke Klinge seines Dolches legte sich an Vaicenyas Hals. "Also... leiste bitte keinen Widerstand. Ich würde dir nun ungerne wehtun."
Auch Córiel packte nun ihren eigenen Dolch und hob ihn drohend aus dem Wasser. Innerlich konnte sie es kaum fassen, dass Jarbeorns Plan tatsächlich funktioniert haben sollte, und Vaicenya ihnen in die Falle gegangen war. Doch ganz offensichtlich hatte sie Sabri nicht kommen gehört. Der Südländer schien ein Talent dafür zu besitzen, sich ungehört bewegen zu können.
Auf Vaicenyas Gesicht spiegelte sich pure Enttäuschung wider. "Du brichst mir das Herz, Coryeldë," stieß sie hervor, als wäre sie den Tränen nahe. "Ich hatte wirklich geglaubt, du würdest ernsthaft über mein Angebot nachdenken. Doch nun sehe ich, dass du noch immer verblendet bist."
"Rede," sagte Córiel, leise und gefährlich. "Was hast du als Nächstes vor? Wieso willst du einen Krieg zwischen Eregion und Dunland auslösen.
Vaicenya sah sie an, als wäre sie ein Kind und hätte gerade die dümmste Frage der Welt gestellt. "Ist es nicht offensichtlich? Wenn die Dunländer merken, dass sie gegen die Manarîn nicht siegen können, werden sie ihren König absetzen und sich einen neuen, stärkeren Herrscher wählen. Einen, der treu zur Weißen Hand steht. Gemeinsam mit den Orks des Gebirges werden sie die Elben in die Knie zwingen. Und sobald das Reich der Manarîn aus dem Weg geräumt ist, werden sich Sarumans Diener daran machen, Eriador zurückzuerobern."
"Ich fürchte, das können wir nicht zulassen," warf Sabri ein.
"Zu dumm, dass ihr mir nicht im Weg stehen werdet," konterte Vaicenya gelassen. Von ihrer Enttäuschung war nichts mehr zu hören. Dann schnellte ihre Hand vor, schneller als man es sehen konnte, und prellte den Dolch aus Sabris Hand. Sie fuhr herum und stürzte sich auf den Südländer. Sabri war schnell und geschickt, doch Vaicenya war er auf Dauer nicht gewachsen. Drei ihrer Hiebe wehrte er ab, doch dann schickte sie ihn mit einem Fausthieb in die Magengrube zu Boden.
Córiel sprang aus dem Wasser, den Dolch noch immer in der Hand. Die Eiseskälte der Nacht traf sie wie ein Hammerschlag. Gleichzeitig brach Jarbeorn aus einem nahen Gebüsch hervor, die Axt schon zum Schlag erhoben. Doch Vaicenya beachtete ihn gar nicht. Sie nahm Anlauf und sprang mit einem gewaltigen Satz über den Teich hinweg, weiter als ein Mensch jemals springen konnte. Am anderen Ufer blieb sie einen Augenblick stehen und warf Córiel einen langen Blick zu. Dann verschwand sie in Richtung der Berggipfel im Wald.
"Wir waren so nahe dran," ärgerte sich Jarbeorn. Beiläufig warf er Córiel seinen mit Pelz besetzten Umhang zu und blickte betreten beiseite, bis sie sich damit bedeckt hatte.
Sabri regte sich bereits wieder und kam langsam auf die Beine. "Immerhin kennen wir jetzt Vaicenyas Plan," ächzte er.
"Vergesst nicht, dass sie auch gelogen haben könnte," warf Córiel ein. "Zwar hat sie mir einiges erzählt, was stark nach der Wahrheit klang, aber ich bin mir nicht sicher, weshalb sie mir das alles erzählt hat. Und ob sie wirklich nicht wusste, dass ihr beiden euch in der Nähe versteckt gehalten habt."
Sie beschlossen, den Rest der Nacht im Versteck der Manarîn zu verbringen und im Morgengrauen wieder aufzubrechen, um Vaicenyas Spur zu verfolgen. Die beiden Menschen waren rasch eingeschlafen, während Córiel noch einige Zeit wach lag und sich darüber den Kopf zerbrach, was Vaicenya von ihr wollte. Ganz offensichtlich hatte die Avari-Elbin ein spezielles Interesse an Córiel, doch worum es dabei ging, verstand die Hochelbin nicht.
Als der Morgen gekommen war, sattelten die drei Gefährten die Pferde und verließen Eregion in östlicher Richtung. Das Nebelgebirge lag vor ihnen, mit all seinen Geheimnissen und Gefahren.
Córiel, Sabri und Jarbeorn ins Nebelgebirge
Eandril:
Oronêl und Haleth aus Moria
Sie stolperten aus dem Tunnel hinaus ins Freie, wo Oronêl sofort erkannte, das es früher Morgen war. Die Sonne stand noch weit im Osten hinter den Bergen, und das obere Tal des Sirannon lag noch im tiefen Schatten. Erst ein ganzes Stück weiter westlich trafen bereits die ersten Sonnenstrahlen auf das Land, und viel weiter im Westen glaubte Oronêl, die Mauern von Ost-in-Edhil in der Sonne zu sehen.
"Weiter", rief Haleth ihm über die Schulter zu. Sie war bereits ein gutes Stück voraus, denn Oronêl war vollkommen unbewusst am Ende des Tunnels stehen geblieben. Der Weg folgte in einem nördlichen Bogen dem Ufer des Sees, dessen schwarzes Wasser Oronêl ein merkwürdiges Unbehagen bereitete. Es erinnerte ihn ein wenig an das Gefühl, dass er tief unter Moria, in der eisigen Kammer, verspürt hatte. Im Laufen blickte er kurz über die Schulter zurück zu den Toren von Moria, doch noch rührte sich nichts. Als sie die nördliche Hälfte des Sees umrundet hatten und sich nun direkt gegenüber der Tore befanden, blieben Oronêl und Haleth kurz stehen. Hier verließ der Sirannon, ein dünnes, ärmliches Rinnsal, den See, doch merkwürdigerweise waren sogar die Stufen der Steintreppe, die daneben den Steilhang hinabführten, nass.
"Seltsam...", murmelte Oronêl, und hockte sich hin um den unregelmäßigen Steindamm, der den Sirannon zum See aufstaute, genauer zu betrachten. Bevor dazu jedoch Zeit gehabt hatte, packte Haleth ihn fest an der Schulter, und sagte angespannt: "Wir müssen weiter. Schnell." Oronêl folgte ihrem Blick zu den Toren, wo jetzt aus drei der Tunnel Orks mit dem Banner der Weißen Hand hinaus und den Weg am Seeufer entlang strömten. Ohne ein weiteres Wort sprang er wieder auf die Füße, und eilte hinter Haleth die Treppe hinunter, so schnell der nasse und teilweise gefrorene Stein es zuließ. Am unteren Ende der Treppe machte der Weg eine Biegung nach Westen hin, um einen Felsvorsprung herum. Der Blick über das untere Tal des Sirannon war nun frei, und Oronêl fiel sofort der Turm aus hellem Stein aus, der sich ungefähr eine Meile weiter westlich auf der Südseite des Baches erhob. An der Spitze des Turms flatterte ein blau-rotes Banner mit einer untergehenden Sonne - das Banner der Manarîn. Das gleiche Banner war auf den Mauern, die den Turm umgaben, gehisst, und bei seinem Anblick verspürte Oronêl eine grenzenlose Erleichterung.
Mit einer letzten Anstrengung legten er und Haleth die letzte Meile bis zu der kleinen Festung zurück, und überquerten schließlich die Brücke, die die Manarîn über den Sirannon geschlagen hatten. Das Tor auf der anderen Seite hatte sich geöffnet, als sie die Brücke betreten hatten, und als sie unter dem Torbogen hindurch waren ließ sich Haleth ohne ein weiteres Wort keuchend an der Mauer zu Boden rutschen. Oronêl schöpfte einen kleinen Augenblick Atem, bevor eine Elbin in voller Rüstung von Fuß eines der Maueraufgänge auf ihn zugeeilt kam.
"Ich bin...", setzte Oronêl an, noch immer etwas außer Atem, doch sie unterbrach ihn. "Oronêl Galion aus Lórien, ich weiß. Wir haben uns zuletzt in Tharbad gesehen." Als sie den Helm, in dem ein einzelner Bernstein eingelassen war, abnahm, erkannte Oronêl sie ebenfalls wieder. "Ihr seid Isanasca, Faelivrins Tochter", stellte er fest, erleichtert über ein bekanntes Gesicht. Nach seiner und Kerrys letzter Begegnung mit den Elben von Eregion auf dem Weg nach Bruchtal war er sich nicht sicher gewesen, wie ihre Begrüßung ausfallen würde.
Isanasca nickte knapp und deutete ein Lächeln an, doch sie war unverkennbar angespannt. Sie trug eine kunstvoll verzierte Rüstung, die aber eindeutig nicht nur zu Zeremoniezwecken gedacht war, und drei Schwerter - eines auf dem Rücken und zwei an der linken Hüfte. "Euch ist bewusst, dass euch ein kleines Orkheer auf den Fersen war?"
Oronêl nickte, doch Haleth, die sich wieder in eine stehende Position gekämpft hatte, fragte: "War?"
"Sie haben am Ausfluss des Sees angehalten", erklärte Isanasca. Seltsamerweise schien diese Tatsache sie noch besorgter zu stimmen.
"Haben sie oft angegriffen?", fragte Oronêl, und Isanasca nickte. "Die letzten zwei Nächte hatten wir im Grunde dauerhaft mit ihnen zu tun. Sie haben es nie über die Mauern geschafft, aber sie sind hartnäckig. Dass sie sich jetzt am Tag zeigen ist... nicht gut." Oronêl verspürte ein vages Schuldbewusstsein, doch er konnte sich kein Zögern leisten. "Orks haben in den Tiefen Morias etwas aufgeweckt. Etwas Uraltes, Böses, etwas... ich weiß nicht was es ist, doch ich fürchte, dass wir es nicht ohne weiteres besiegen können."
Isanasca hörte ihm aufmerksam zu, und ließ dann den Blick über den Hof und die Elben auf den Mauern schweifen. "Ich habe den Befehl, diesen Turm zu verteidigen, und das werde ich tun. Doch ich danke euch für die Warnung." Oronêl neigte kurz den Kopf zur Anerkennung, und fuhr dann fort: "Wir müssen so schnell wie möglich nach Ost-in-Edhil, um eure Mutter zu warnen und mit Ivyn und Farelyë zu sprechen, doch weder Haleth noch ich sind in der Verfassung für einen langen Fußmarsch. Habt ihr..."
Erneut unterbrach Isanasca ihn. "Wir haben nur wenige Pferde hier, doch ich habe den Eindruck, dass die Sache wichtig ist und wirklich höchste Eile erfordert." Sie musterte Oronêl ein wenig genauer, der sich nur allzu bewusst war, wie abgekämpft, dreckig und zerschrammt er aussehen musste. "Und ihr seid wirklich nicht in der Verfassung für einen langen Fußmarsch." Sie rief einen Befehl in der Sprache der Manarîn über ihre Schulter, und wandte sich dann wieder Oronêl zu, während zwei Elben mit Pferden über den Hof herbei eilten. "Falls es euch ein wenig Freude bereitet - mein Großvater ist vor kurzem in der Hauptstadt eingetroffen." Oronêl lächelte, und ergriff die Zügel des einen Pferdes. "Danke, Isanasca", sagte er schlicht.
Von der Spitze des Turmes erklang ein warnender Ruf, und schlagartig änderte sich Isanascas eben noch beinahe entspannte Haltung.
"Wenn ihr gehen wollt, solltet ihr es schnell tun", sagte sie angespannt. "Die Orks machen sich am Damm zu schaffen - sie haben schon zwei Mal versucht den See abzulassen um uns abzuschneiden, und ich fürchte, beim dritten Mal könnte es ihnen gelingen."
Oronêl schwang sich in einer flüssigen Bewegung auf den Rücken seines Pferdes, und Haleth tat es ihm gleich. "Ich werde eurer Mutter berichten, was hier geschieht", sagte er an Isanasca gewandt, die ein wenig blass geworden war aber gleichzeitig ruhige Entschlossenheit ausstrahlte. "Danke. Aber nun geht!"
Ohne weitere Worte zu verschwenden riss Oronêl sein Pferd herum, und galoppierte über die Brücke, dicht gefolgt von Haleth. Hinter ihnen schlug das Tor mit einem dumpfen Knall zu. Sie waren der Straße nach Westen erst einige Meter weit gefolgt, als Oronêl hinter sich ein dumpfes Grollen hörte. Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass die Orks in ihrem Vorhaben erfolgreich gewesen waren. Eine Flutwelle aus Wasser und Fels ergoss sich aus dem aufgestauten See hinunter ins Tal, und rollte unaufhaltsam auf den Wachturm der Manarîn zu. Als sie eine etwas erhöhte Stelle erreicht hatten, hielten Oronêl und Haleth an, gerade rechtzeitig um zu beobachten, wie das Wasser die Festung erreichte. Die Mauern hielten dem Ansturm des Wassers stand, doch die Brücke wurde den Fluten ergriffen und fortgerissen. Mit einem Augenblick war aus dem schmalen Torbach ein reißender Strom geworden.
"Wir sollten nicht verweilen", sagte Haleth leise, und tätschelte dabei den Hals ihre Pferdes, das nervös schnaubte und tänzelte.
Oronêl wandte sich ab, und nickte. "Nein, Eile ist geboten. Jetzt noch mehr als vorher."
Oronêl und Haleth nach Ost-in-Edhil
Eandril:
Nicht lange, nachdem sie den Wachturm am Ufer des Sirannon aus den Augen verloren hatten, verließ die Straße den Fluss, der hier in einem Bogen nach Süden verlief, während die Straße geradewegs weiter in Richtung Westen führte.
"Früher verlief der Sirannon immer entlang der Straße", erinnerte sich Oronêl. Etwa eine Meile westlich des Wachturms hatten er und Haleth ihr Tempo ein wenig verringert um die Pferde zu schonen, und konnten sicher daher nun unterhalten. "Er muss mit den Jahren seinen Lauf geändert haben."
"Wenn du früher sagst... wie viel früher meinst du dann?", fragte Haleth nach, und Oronêl dachte einen Augenblick nach. "Nun, als das Reich von Eregion - das alte, meine ich - noch bestand. Also vor... ungefähr fünftausend Jahren?" Er lächelte schwach über Haleths Gesichtsausdruck.
"Es muss... merkwürdig sein, sich so lange zurückerinnern zu können."
"Ich bin es nicht anders gewohnt. All diese Erinnerungen... sie sagen mir, wer ich war und wer ich bin", meinte Oronêl nachdenklich. "Manche Erinnerungen verschwimmen, und versinken mit der Zeit wie in tiefes Wasser, und tauchen erst wieder auf, wenn es einen Anlass dafür gibt. Ich hätte nicht ohne weiteres sagen können, wie der Sirannon vor Jahrtausenden verlief, doch jetzt wo ich ihn gesehen habe..." Er warf einen Blick über das Land um sich. Sie verließen allmählich die letzten Hügel, Ausläufer des Nebelgebirges hinter ihnen. Vor ihnen breitete sich ein flacheres, von Heidekraut und anderen niedrigen Sträuchern und Gewächsen überwuchertes, leeres Land aus. "Einst war dies ein schönes Königreich. Kein Ort an dem ich Leben wollte, doch unbestreitbar schön, voller Kunst, Freude und Leben. Viele Elben von Eregion waren hochmütig und stolz auf das Reich, dass sie geschaffen hatten. Manche sagten, Ost-in-Edhil könnte sich mit den schönsten Städten des alten Beleriand messen. All das ist vergangen, vernichtet durch Saurons Hass. Doch vielleicht..." Er führte den Satz nicht zu Ende.
Gegen Mittag hatte ein kalter Nordwind begonnen, Schneeflocken herbei zu treiben, doch Oronêl und Haleth gönnten weder sich noch den Pferden eine Pause. Oronêl vermutete, dass sie die Hauptstadt einige Zeit nach Einbruch der Nacht erreichen konnten, doch seit einiger Zeit beschäftigte ihn ein metallisches Aufblitzen, dass sich von Westen aus direkt auf die zubewegte und von Meile zu Meile näher kam. Anfangs hatte er befürchtet, dass ein Orkheer in Eregion eingefallen und ihnen den Weg abgeschnitten hätte, doch je weiter sie sich näherten, desto mehr Details konnte er erkennen. Silbrig glitzernde Panzer und Helme, und in der schwach durch die Wolken scheinenden Mittagssonne leuchtende hellrote Umhänge - dies war kein Orkheer. Dies waren Elben.
Oronêl teilte seine Beobachtung Haleth mit, die freudig überrascht schien. "Dann wissen die Elben hier vielleicht schon über die Bedrohung aus dem Nebelgebirge Bescheid und können sie abwehren!" Oronêl teilte ihre Zuversicht nicht vollständig. Zwar hatten die Begegnung mit Isanasca und jetzt der Blick auf die nahenden Elbenkrieger ihn von der Wachsamkeit der Manarîn überzeugt, und er wusste aus eigener Erfahrung welch fähige Krieger sich in ihren Reihen befanden, doch Eregion war noch immer ein äußerst junges, gerade ein paar Monate altes und sicherlich noch wenig gefestigtes Königreich. Wenn Sauron abwartete, bis Sarumans Truppen die Elben geschwächt hatten und erst dann seine Horden und das Wesen, dass die Orks in der eisigen Tiefe erweckt hatten, auf Eregion losließ würde die Lage äußerst bedrohlich werden.
Als Oronêl bereits die Anzahl der Elbenkrieger und ihre Bewaffnung genau erkennen konnte, hielten er und Haleth am Fuß der Böschung, die sich nördlich der Straße entlang zog, an und warteten. Während sie abwarteten betrachtete Oronêl die nahenden Elben genauer - sie waren noch etwas mehr als eine Meile entfernt, und allmählich konnte er die ersten Gesichter halbwegs erkennen. Sein Herzschlag beschleunigte sich ein wenig, als er das Gesicht des vorweg marschierenden, hochgewachsenen Elben mit dem rot-goldenen Mantel erkannte - offenbar war Mathan endlich aus dem Gebirge zurückgekehrt. Als sie Manarîn bereits ziemlich nah herangekommen waren, berührte Haleth ihn an der Schulter, deutete auf Mathan und fragte: "Ist das nicht...?"
"Genau der Mann, den zu treffen ich gehofft hatte", unterbrach Oronêl sie mit einem Lächeln und glitt aus dem Sattel. Mathan bedeutete seinen Kriegern mit einer knappen Geste Halt, und legte dann die letzten Schritte im Eilschritt zurück, bevor er Oronêls dargebotenen Unterarm mit festem Schritt umfasste.
"Oronêl", sagte er, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, dass Oronêl ohne Zögern erwiderte. "Ich hätte dich beinahe nicht erkannt unter all dem... Staub und Blut."
"Die Minen von Moria sind kein besonders angenehmer - oder sauberer - Ort", gab Oronêl scherzhaft zurück, und musste Lachen. "Es tut gut, dich wohlbehalten zu sehen, mein Freund."
"Es war ein weiter Weg, seit wir uns zuletzt sahen", meinte Mathan ernst. "Ich hatte von deinem Verschwinden auf dem Weg hierher gehört - nach Moria hat es dich also verschlagen?"
Oronêl machte eine abwinkende Geste. "Eine lange Geschichte, für einen anderen Ort. Dann sind Kerry und die anderen sicher in Ost-in-Edhil eingetroffen?" Als Mathan nickte atmete er erleichtert durch. Er hatte den Gedanken so lange es ging beiseite geschoben, doch die Sorge um seine Gefährten hatte ihn nie verlassen - bis jetzt. "Seid ihr auf dem Weg den Sirannon hinauf?"
Mathan nickte abermals. "Nach Fórmen Tirion, dem neuen Wachturm am Oberlauf. Meine Tochter macht sich große Sorgen um seine Verteidigung."
"Zurecht, fürchte ich", mischte sich Haleth, die ebenfalls abgesessen war und ihr und Oronêls Pferd am Zügel hielt, in das Gespräch ein. "Als wir von dort aufgebrochen sind machten sich die Orks gerade zum Angriff bereit."
Mathans Augen verengten sich besorgt, und er fragte: "Ihr wart dort? In Fórmen Tirion?"
"Wir haben mit deiner Enkelin gesprochen - Isanasca", antwortete Oronêl. "Bislang haben sie den Angriffen offenbar gut standgehalten, sie schein eine fähige Kommandantin zu sein. Aber die Orks haben den See des Sirannon freigesetzt und die Brücke zum Turm fortgespült."
Mathan wirkte, als würde er eilig nachdenken, und seine Pläne überdenken. "Das sind keine guten Neuigkeiten." Er blickte Oronêl aufmerksam an. "Aber ich spüre, dass das noch nicht alles ist."
Oronêl schüttelte den Kopf, und mit einem Mal spürte er die Erschöpfung in allen Knochen. "Die Orks - Saurons Orks, vermute ich - haben irgendein uraltes Übel in den Tiefen von Moria erweckt. Irgendein Wesen aus Kälte und Dunkelheit, voller Hass und Bosheit. Ich habe noch nie etwas derartiges gesehen. Ich weiß nicht, wann es aus den Bergen hervorkommen wird und ich weiß nicht, ob es überhaupt nach Eregion kommen wird, doch du solltest vorbereitet sein. Es ist... ungeheuer mächtig, und ich weiß nicht, ob es besiegt werden kann."
Mathan, der mit ernster Miene zugehört hatte, blickte kurz nachdenklich auf seine Hände hinab. Dabei fiel Oronêl auf, dass er nicht länger seine länger seine Zwillingsschwerter, sondern ein Bastardschwert, dass Oronêl als Halarîns Waffe erkannte, trug. "Das werden wir sehen", sagte Mathan schließlich langsam. "Aber ich werde auf jeden Fall vorsichtig sein."
"Ich werde mit Farelyë und Ivyn darüber sprechen, vielleicht wissen sie mehr darüber." Mit einem Nicken in Richtung des Schwertes fügte Oronêl hinzu: "Geht es... Halarîn gut?"
Mathan machte eine beruhigende Geste und legte einen Hand auf den Knauf der Waffe. "So gut es ihr gehen kann, immerhin steht sie kurz vor der Geburt." Der Gedanke schien ihn gleichermaßen zu freuen wie nervös zu machen, und Oronêl konnte dieses Gefühl vollkommen nachvollziehen. Ebenso hatte er sich kurz vor Mithrellas' Geburt gefühlt. "Nur kann sie ihr Schwert im Augenblick natürlich nicht gebrauchen, und da ich meine Schwerter gerade nicht führen kann, haben wir getauscht." Er verzog ein wenig das Gesicht. "Ebenfalls eine lange Geschichte."
"Wir werden Zeit haben, Geschichten auszutauschen... wenn diese Bedrohung für Eregion vorüber ist", sagte Oronêl. "Nichts würde ich lieber tun als dich zu begleiten und an deiner Seite zu kämpfen, aber..." Mathan winkte ab. "Und nichts würde mich mehr freuen, als deine Axt in Fórmen Tirion an meiner Seite zu sehen. Doch der Zeitpunkt wird kommen, an dem wir wieder gemeinsam in den Kampf ziehen - das weiß ich."
Oronêl nickte stumm, und schwang sich wieder auf den Rücken seines Pferdes. "Ich werde nach Fórmen Tirion kommen, sobald es geht", versprach er. "Mögen die Valar dich und Isanasca und eure Krieger beschützen."
Mathan neigte kurz den Kopf, und erwiderte: "Ich hoffe, das wir uns bald wiedersehen, mein Freund. Und... grüß meine Familie von mir."
Oronêl und Haleth nach Ost-in-Edhil...
Curanthor:
Mathan mit dem kleinen Elbenheer aus Ost-In-Edhil
Mathan blickte seinem Freund eine lange Weile noch hinterher und ließ die dreihundert Elben eine kleine Rast einlegen. Sie hatten ein strammes Tempo an den Tag gelegt und bis in die Dämmerung marschiert. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich die geordneten Reihen zerfaserten und an den Wegesrand der alten Weststraße verteilten, wo sich die Avari in kleine Grüppchen zusammenfanden. Manche aßen eine Kleinigkeit, andere unterhielten sich gedämpft. Die Stimmung war ein wenig angespannt, je näher sie dem östlichen Bollwerk kamen. Einzig die Sturmspitze, die Elite der Manarîn blieb in geordneten Reihen und wartete geduldig auf Befehle.
Die Nachrichten, die Oronêl Mathan über das uralte Wesen überbracht hatte, hatten ihn sofort an seine Erlebnisse bei seiner Mutter im hohen Norden denken lassen. Nur mit großer Mühe hatte er die dunklen Geschehnisse wieder von sich geschoben. Stattdessen freute er sich, dass sein Freund mehr oder weniger wohlbehalten aus Moria entkommen war, trotzdem schlichen sich wieder Sorgen an ihn heran. Seine Enkelin war von der Außenwelt abgeschnitten und der Sirannon würde wieder Wasser führen. Eine schlechte und eine gute Nachricht, doch er gedachte die schlechte Nachricht zu beheben.
„Tarcáno?“ Mathan wandte sich um und starrte die drei Kommandanten der jeweils drei Kompanien erwartungsvoll an. Sie hatten ihn ungefragt als Feldherr angesprochen, obwohl er sich anfangs einfach als Hauptmann vorgestellt hatte. Sein alter Rang schien wohl ausgedient zu haben, oder den übrigen Elben erschien er zu niedrig. Mathan musste zugeben, dass er die Einheiten und Truppeneinteilungen der Manarîn noch nicht kannte, bis auf besagte Kompanie, die einhundert Elben umfasste. Er beschloss es zu dulden und nickte dem Sprecher der drei Kommandanten zu. Sie trugen noch immer Tücher vor dem Mund, sodass er Schwierigkeiten hatte sie auseinander zu halten, bis auf den Anführer der Sturmspitze, der Elitetruppe. Er war einfach an der rotorangen Farbe seines Umhangs zu erkennen und den eingelassenen Rubinen an den Armschienen zu erkennen. Er war es auch, der ihn angesprochen hatte und sich nun als Lorindion vorstellte. Der Avar nickte knapp und fragte, wer der fremde Elb war und meinte damit offensichtlich Oronêl.
„Ein Freund, mit dem ich eine lange, gemeinsame Reise hinter mir habe“, antwortete Mathan ausweichend und beschloss im Gedanken den Sindar später zu einem Becher Wein einzuladen. Lorindion schien noch etwas Fragen zu wollen, entschied sich aber lieber zu schweigen. Einer der beiden Kommandanten, die sich als Nénmaril vorstellte, berichtete, dass die Späher zurückgekehrt waren und Neuigkeiten hatten. Mathan hatte sie ausgesandt, um eventuelle Überraschungen zu vermeiden. Ein marschierendes Heer war ein leichtes Ziel, das wusste jeder angehende Kommandant. Er folgte Nénmaril, deren himmelblauer Mantel aus Seide sich bei einer leichten Brise leicht aufbauschte. Die Kommandantin führte ihn in den steinigen Hang hinauf, auf einen kleinen Hügel, der von zwei Hulstbäumen gekrönt wurde. Irgendwie kam ihm der Anblick vertraut vor und Mathan hatte Mühe, alte Erinnerungen mit der Realität zu trennen. Hier hatte es einst ein schweres Gefecht zwischen Saurons Schergen und den Elben Eregions gegeben, von dem er nur gehört hatte. Er kannte nicht mehr das genaue Datum, aber es war im Juli, 1694 im zweiten Zeitalter gewesen. An dieser Stelle wurde sein Kindheitsfreund Lanym in einem unerwarteten Hinterhalt erschlagen worden. Er selbst war damals gerade erst dreißig Jahre alt gewesen, in Elbenmaßstäben noch ein Jugendlicher. Mathan ballte unbewusst die Fäuste. Damals waren die Orks über das Gebirge gekommen und hatten die Frontlinien umgangen. Eine Taktik, die zu dem Zeitpunkt das erste Mal angewendet wurde und sich danach immer wieder häufte, sehr zum Zorn der Zwerge, die das mit allen Mitteln versuchten zu verhindern. Vor seinem geistigen Auge, sah er eine Handvoll Elben, die sich erbittert gegen eine Übermacht aus Orks unter großen Verlusten zur Wehr setzte, doch es war ein verzweifelter Überlebenskampf, den sie letztendlich mit dem Leben bezahlten.
Nénmaril räusperte sich respektvoll und katapultierte Mathan mehr als viertausend Jahre wieder in die Gegenwart. Noch immer hallten ihm die Schmerzensschreie seines Freundes in den Ohren, auch wenn es nur seine Einbildung gewesen war. Er fasste sich unmerklich an den Kopf und folgte dem Nicken der Kommandantin. Unter den Bäumen warteten vier leicht gerüstete Elben, einer davon zu Pferde. Nacheinander berichteten sie, dass sie eine große Flutwelle durch das alte Flussbett beobachtet hatten, die vom Osten kam. Somit hatte sich Oronêls Bericht bewahrheitet, auch wenn Mathan ihm von vornherein geglaubt hatte. Der Sirannon war damals ein recht breiter und tiefer Fluss gewesen mit einigen Nebenarmen, auf dem auch kleine Schiffe gefahren waren. Er vermutete, dass das Land sich dadurch noch besser erholen konnte und sich das auch auf die Ernten auswirkte.
Der Reiter berichtete schließlich von Orksspuren, in nord-östlicher Richtung, was Mathan aufhorchen ließ. „Was für Spuren?“, hakte er nach und kam damit Nénmaril zuvor, die eigentlich die Berichte abfragte. Einen Moment der Überraschung später, berichtete der Späher ausführlicher, dass er Spuren von etwa einhundert Orks gefunden habe, davon trennte sich die Hälfte und führte nach Moria. Die andere Hälfte verlor sich in steinigen Hügelgruppen, vorgelagerte Ausläufer des Nebelgebirges, die dicht mit Tannen und anderen Nadelhölzern bewaldet waren.
„Irgendwelche Hinweise auf die ungefähre Richtung?“
Der Späher überlegte kurz und deutete auf eine kleine Hügelkette im Norden von ihnen. „Etwa dort müssten wir ihren Spuren folgen können. Entweder wollen sie weiter nach Norden, Westen, oder haben uns entdeckt und machten kehrt nach Moria…“
„Das vermute ich auch“, murmelte Mathan und entließ die Späher wieder in die Obhut ihrer Kommandantin. Nachdenklich schritt er den kleinen Hügel hinab, der ihm noch immer ein mulmiges Gefühl bereitete. Wenn die Orks sie gesichtet hätten, würde die Rettung von Isansca wahrscheinlich noch schwerer werden, oder es würde ihre Feinde dazu provozieren eher zuzuschlagen, da sie schon relativ weit weg von der Hauptstadt waren und diese momentan über weniger Verteidiger verfügte. Mathan beschloss kein Risiko einzugehen und winkte die drei Kommandanten heran. Wobei der Dritte, sich am Tor von Ost-In-Edhil als Angadil vorgestellt hatte. Dieser hatte mit hinter dem Rücken verschränkten Armen geduldig auf neue Befehle gewartet und wachsam den Osten im Blick gehalten. Etwas widerwillig gab er seinen Aussichtspunkt auf und trat an Mathan heran. Man sah Angadil an, dass er nur durch Faelivrins ausdrückliche Anordnung ihm gehorchte.
Mit knappen Worten wiederholte Nénmaril den Bericht der Späher und Mathan verkündete seinen Entschluss: „Wir müssen diese Orks unschädlich machen. Sie dürfen auf keinen Fall Kunde von unseren Vorstoß nach Moria bringen; auch die zweite Gruppe, deren Spur sich verloren hat muss gestellt werden. Wenn sie uns mit Verstärkung in den Rücken fallen, wird es übel ausgehen.“
Die drei Elben nickten ernst, doch blieb die Frage in den Raum, welche Kompanien die beiden Aufgaben erledigen würden. Mathan schielte zu Angadil, den er als stolzer, aber fähigen Mann einschätze, dann zu Lorindion, der sich gelangweilt an seine Glefe lehnte und zum Schluss zu Nénmaril, die sich aufmerksam umblickte und eine gewisse Ruhe ausstrahlte.
„Lorindions Kompanie kommt mit mir. Die Dämmergarde. Ihr seid schwerer gerüstet und weniger geeignet um schnell anderen den Weg abzuschneiden“, sagte er nach einer Weile und grinste verschmitzt in die verwunderten Gesichter, „Wenn ihr schon unter mir dient, denke ich mir passende Namen aus.“
„Dann marschieren wir im Laufschritt als Vorhut und stellen die Orks, die nach Moria wollen“, schlug Nénmaril nach einer kurzen Überlegung vor.
Angadil, der offenbar erleichtert war, dass er nicht mit Mathan marschieren musste, nickte bekräftigend und schlug vor, dass er seine Kompanie in die Flanke und den Rücken der Orks führe, dass niemand entkommen konnte. Die beiden Kommandanten tauschten einen Blick und beschlossen den Feind einzukreisen, sodass niemand entkommen konnte. Und für den Fall, dass sie schneller als die Orks waren, schlug Mathan einen Hinterhalt vor, der widerspruchslos angenommen wurde. Er lächelte erfreut von dem taktischen Können der Manarîn klatschte in die Hände. „So sei es. Nénmaril, achtet darauf, dass ihr den Wind nicht im Rücken habt, Orks haben gute Nasen.“
Sie nickte und auch Angadil wirkte dankbar für den Tipp. Die beiden verneigten sich knapp und kehrten zu ihren Kompanien zurück. Kurz darauf kam der Befehl zum Aufbruch und die zweihundert Elben zogen versetzt zur Straße in nord-östlicher Straße durch das Gelände, wobei die Vorhut jetzt schon einen Vorsprung herausholte. Lorindion gab ebenfalls den Befehl zum Aufbruch. Inzwischen hatte sich der neue Name der Kompanie herumgesprochen und löste eine gewisse Begeisterung aus. Dazu kam wohl der Umstand, dass viele von ihnen noch nie gegen Orks angetreten waren und auf den Kampf brannten. Die Veteranen dagegen schienen ruhig, aber dennoch glitzerte die Motivation ihre neue Heimat zu säubern in ihren Augen. Er hörte, wie einige sich kaum hörbar darüber beschwerten, dass sie keine Trommeln des Krieges dabei hatten. Mathan beschloss nachher genauer nachzufragen und gab das Zeichen zum Aufbruch.
Selbst im Feld marschierte die Dämmergarde in geordneten Reihen, wenn es das Land zuließ. Mathan marschierte wie gewohnt an der Spitze und nickte hin und wieder Spähern zu, die ihren Zug deckten. Es war von großer Wichtigkeit, dass sie sich unentdeckt den Orks näherten. Er schaute sich um. Hier war er bisher nur selten gewesen, da es relativ weit von seiner Heimat entfernt war. Dunkel erinnert er sich, dass es trotzdem einst einige Siedlungen gegeben hatte. Lorindion, der neben ihm lief wirkte ein wenig gelangweilt. Seine Hand öffnete und schloss sich aber unruhig um den Schaft seiner Glefe. Mathan betrachtete die Stangenwaffe genauer, die eine lange, kurzschwertartige Klinge besaß, die an den Seiten zwei Sporne besaß, die man als Rüstungsbrecher einsetzen konnte. Ein seltenes Bild in Mittelerde, da hier der Speer die vorherrschende Stangenwaffe war, zumindest im westlichen Teil. Er erinnerte sich, dass es an der Ostküste einige Völker gab, die eine Vielzahl an verschiedenen Waffentypen verwendeten. Ein Späher unterbrach seine Gedanken, der direkt auf sie zugelaufen kam. Lorindion reagierte sofort und hob den Arm mit geballter Faust im Winkel. Die Kompanie machte abrupt halt. Mathan eilte dem Späher auf leisen Sohlen entgegen. Dabei blickte er sich um. Sie befanden sich in einem kleinen Tal, aus dem ein verschlungener Pfad hoch auf eine kleine Hochebene führte. Dichte Tannen wuchsen an den Rändern und verbargen das Tal vor dem Blicken von der Hochhebe. Mathan vermutete, dass dort die Orks lagerten. Der Späher bestätigte seine Vermutung auch prompt. Also war ihre Ankunft unentdeckt und die Orks haben nicht vor, heute noch weiterzuziehen. Der Elb berichtete weiter, dass es wie erwartet etwa fünfzig bis sechzig waren, doch waren nicht nur Orks darunter. „Gefangene, oder Sklaven“, vermutete Mathan leise, woraufhin der Späher knapp nickte.
Lorindion kratzte sich unter seinem Mundtuch am Kinn und blickte zu seiner Glefe. Im Wald waren die Stangenwaffen eher hinderlich, das bemerkte der Kommandant auch selbst und tätschelte den Griff seines Langschwerts. Mathan musterte ihn genauer. Er trug das Langschwert rechts am Gürtel, einen Brustgürtel mit Dolch quer über die Brust, wo auf dem Rücken noch ein Kurzbogen befestigt war. Ein halb gefüllter Köcher mit etwa zwanzig Pfeilen baumelte an seiner linken Hüfte. Den Rundschild trug er seit dem Aufbruch aus der Stadt am linken Unterarm, die Glefe stets in der Linken. So waren alle Elben von dem ersten Sturmtrupp ausgestattet. In seinem Kopf formte sich ein Plan, der klarer wurde, als er den Späher nach dem Gelände ausfragte. Schließlich wusste er soweit alles, was er brauchte.
„Lorindion, hole mir deine Truppführer“, bat er ihn, „Da dies unser erster gemeinsamer Kampf ist, möchte ich ihnen sagen, dass mir jeder ihrer Untergebenen wichtig ist.“
Der Avar schaute ihn etwas überrascht an, lächelte aber dann und schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig, wir kämpfen für die Königin und Ihr seid in gewisser Weise der Vater der Krone. Nur durch Euch sind wir, wer wir sind und niemand würde sein Leben leichtfertig aufs Spiel setzen. Außerdem haben die meisten Euch sowieso gehört.“
Mathan sah, dass die einhundert Elben versteckt im Schatten der Bäume in Hörweite waren und lächelte geschlagen. Dann grinste er kurz: „Ich sehe schon, wir werden gut miteinander auskommen.“
Lorindion grinste ebenfalls, zumindest konnte er das an dessen Augen ablesen und klopfte ihm respektvoll auf die Schulter. „Sehe ich auch so. Dann weiht mich mal in Euren Plan ein, Feldherr.“
Mathan erklärte in knappen Worten, was er vorhatte. Der Kommandant hörte aufmerksam zu und wirkte mehr und mehr begeistert. Zum Schluss sprühten seine Augen vor Kampfeslust. Eilig nickte er nach der Ausführung und gab die Befehle sofort weiter. Dabei traten die neun Truppführer an Lorindion heran, der ihnen den Überfall genau beschrieb. Mathan bemerkte, dass sie einen etwas exotischeren Dialekt des Avarin verwendeten, den er nicht verstand. Er vermutete eine Eigenart, die sich bei den Manarîn im Lauf der zweitausend Jahre Isolation entwickelte. Bei den Erklärungen schauten einige hin und wieder zu ihm, doch die meisten der neun Anführer nickten knapp. Schließlich war die Besprechung abgeschlossen und Lorindion teilte die Trupps ihre Aufgaben im kommenden Kampf zu. Drei von ihnen zogen sofort los und begannen das Tal südlich der Hochebene ostwärts zu erklimmen. Sie würden die Bogenschützen sein, die als erstes vom Hang des Gebirges aus die Hochebene unter Beschuss nahmen. Mathan spürte, wie das Blut in seinen Ohren zu pochen begann. Auch ihn packte die Kampfeslust und er legte die Hand an den Griff von Halarîns Schwert, das einige wichtige Aufgabe in dem Plan einnahm. Einige Manarîn betrachteten es neugierig, begaben sich aber rasch auf ihre Posten. Lorindion gesellte sich mit zwanzig Elben zu ihm, als er zu dem Pfad ging. Links von ihnen schlichen ebenfalls zwanzig Elben durch das Unterholz, sie würden den Orks in die linke Flanke fallen. Atemlos beobachtete Mathan, wie sie ohne einen Laut parallel zum Pfad den Hang erklommen. Niemand schlug Alarm. Er atmete erleichtert aus. Ein Teil des Plans war geglückt. Er blickte an den Osthang des Gebirges und zählte innerlich weiter bis zweihundert. So lange würde es etwa dauern, bis die Bogenschützen Stellung bezogen hatten. Sie würden Pfeile hageln lassen und die Orks auf den Pfad treiben, den Mathan und Lorindion versperren würden. Die Nachhut aus dreißig Elben würde dann die Gefangenen befreien und Orks stellen, die den Osthang angriffen. Alles in allem sah sein Plan eine Einkreisung vor und die Nutzung des Geländes. Seine Jahrzehnte lange Schlachterfahrung machte sich hier nun bezahlt. Der Gesang einer Nachtigall ertönte und irgendwo weiter im Süden erklang der Ruf eines Falken. Mathan lächelte in die Nacht hinein. Selbst die Natur war auf ihrer Seite. Lorindion und er tauschten einen kurzen Blick der Bestätigung, dann folgten sie dem Signal und erstiegen den steilen Pfad.
Kurz vor der Hochebene hielten sie an und drückten sich gegen die steinige Felswand, als ein hoher Schrei ertönte. Eindeutig un-orkisch. Keinen Augenblick zu früh. Fackelschein fiel auf die Hälfte des Pfades, dort wo sie gerade noch gelaufen waren.
„Nichts hier“, murrte eine krächzende Stimme vielleicht zwei Schritt über ihren Köpfen, „Du siehst überall Gespenster, Gûrakul. He du, mach das mal wieder ganz. Ist stumpf.“
Die Antwort war nicht zu vernehmen und ging in einen weiteren, eindeutig weiblichen Schrei unter, gefolgt von wüsten Beschimpfungen in zwergischer Sprache. Mathan überlegte kurz, flüsterte Lorindion dann zu, dass sie wohl direkt unter dem Gefangenenlager waren. Der Kommandant nickte und schlug vor, dass er mit seinen Händen einen Tritt bildete, um ihn das Lauschen zu ermöglichen. Mathan nickte knapp und balancierte kurz darauf auf einem Bein auf den Händen Lorindions. Ganz vorsichtig spähte er über die Felskante. Der Wächter war weiter nach Süden gegangen und starrte angestrengt hinunter ins Tal. Mathan konnte zehn Gefangene zählen, die dicht aneinander gedrängt um ein Feuer hockten. Ihre Füße lagen in Ketten. Direkt vor seinen Augen hockte ein Zwerg, dessen feuerroter Bart zerzaust und wild wirkte. An seinem Bein lag eine Fußfessel ohne Kette. Der Gefangene schliff an einem zwergischen Schwert und tat dies mit einem unzufriedenen Gemurmel. Er bemerkte Mathan nicht, obwohl er ihn in die Seite zwicken könnte. Wo die Frau war, konnte er aber nicht erkennen. Er blickte nach links, wo der Pfad auf der kleinen Hochebene endete. Zwei Wächter standen dort und taten ziemlich nachlässig ihren Dienst. Hinter ihnen war der Großteil der Meute, die einen großen Pulk bildete und sich um Etwas tummelte. Dabei grölten sie und schienen irgendwas anzufeuern. Ein leises Stimmchen in seinem Hinterkopf ahnte was es war, aber er schob es von sich. Hinter der Meute war der dichte Wald, von dem Bericht des Spähers. Mathan hatte genug gesehen. Leichtfüßig sprang er wieder auf den Boden und berichtete Lorindion, der nur ernst nickte und einen Boten zu der Nachhut schickte. Mathan atmete noch einmal tief durch. Sein Herz raste, dennoch zog er Halarîns Schwert und führte die die Parierstange sacht an die Lippen. Die Klinge leuchtete bereits in einem unübersehbaren Blau in der Nacht. Dann hielt er sie über die Steinkante und spitzte die Ohren. Ein verwundertes „Fanâd Thikil?“ ertönte vom Zwerg, was in erschrockenes Orkgekreische unterging.
Mathan sah, wie die zwei Wächter am Pfad ihren Posten verließen und wohl in die Mitte der Hochebene liefen. Ihr Plan schien aufzugehen. Lorindion schlug mit seiner Glefe gegen den Schild und brüllte aus vollem Halse „Póna!“ und stürmte die letzten Schritte zum Pfad hinauf, seine Formation von zwanzig Elben folgte ihm auf dem Fuße. Der Kommandant ließ seine Glefe auf den Kopf eines der Wächter krachen, doch niemand reagierte. Mathan eilte hinter die Zweierlinie aus Elben. Die meisten Orks sammelten hastig ihre Waffen ein, andere rannten zu dem Osthang. Ein weiterer Pfeilhagel tötete vier Orks. Die gefangenen Menschen riefen und flehten um Hilfe, manche deuteten sogar auf sie. Mathan sah, dass ein Großteil aus dreißig und mehr Orks der Meute umschwenkte und sich mit Gebrüll auf die neuen Feinde warf.
„Sandastan!“, erklang der Ruf zum Schildwall und die Elben befolgten ihn augenblicklich. Die Glefen blitzen im Schein des Lagerfeuers. Die Orks jaulten fröhlich und wahrten sich ihrer Übermacht sicher. Mit einem Krachen prallte die geordnete Schlachtlinie der Elben auf die Orkmeute. Fünf von ihnen wurden vom Elbenstahl aufgespießt, die mit einem kollektiven Schildstoß antworten. Die zweite Reihe stach nun mit ihren Glefen nach, wobei diesmal sieben Orks fielen. Das Quieken und Kreischen der Sterbenden rief die übrigen ihrer Art zum Geschehen. Wütend brüllend kamen sie angelaufen, diesmal jedoch geordneter. Vereinzelte Pfeile prallten von den Stahlschilden wirkungslos ab. Mathan bemerkte, dass es mehr als vierzig waren. Mehr und mehr Orks strömten aus der Dunkelheit. Offenbar hatte ein großer Teil im Schatten des Gebirges gelagert. Siebzig Orks brandeten über die Hochebene. Er fluchte leise und hob sein Schwert und ließ es weit über seinem Kopf kreisen. Das Donnern von Schilden erfüllte die Ebene und wurde von den mächtigen Bergen zurückgeworfenen. Die Nachhut hatte an der Stelle, wo er gelauscht hatte die Felswand erklommen und warf sich nun in die Schlacht. Aus dem kleinen Wald links von ihnen hagelte es Pfeile in die Flanke der Orks und die zuvor heimlich postierten zwanzig Elben stürmten mit gesenkten Glefen und erhobenen Schilden ebenfalls in den Kampf. Die Orks sahen sich plötzlich von allen Seiten eingekeilt. Mathan änderte seinen Plan und rannte zu den Gefangenen, den Blick auf den unbewaffneten Zwerg gerichtet, der um sein Leben kämpfte. Der Orkwächter hob sein Schwert zum Todesstoß, bemerkte aber den neuen Feind aus dem Augenwinkel. Der Wächter sprang ihn an. Mathan machte einen tänzelnden Schritt zur Seite. Das Orkschwert streifte seinen Schild. Er wechselte den Griff des Schwert und stach dem Ork im vorbeitaumeln in den Nacken. Ein Gurgeln ertönte. Mathan schleuderte das Blut von der Klinge und reichte dem verdatterten Zwerg die Hand. Dieser warf einen Blick auf die tobende Schlacht, dann den toten Ork neben ihnen und ließ sich aufhelfen.
„Ich hätte nie gedacht, eines Tages einem Fanâd mein Leben zu schulden. Das war wirklich in letzter Minute, “ sagte der Zwerg mit seiner sonoren Stimme dankbar und nahm den Toten etwas ab. Es war das Zwergenschwert, das er zuvor poliert hatte. „Grám Feuerhammer, wird diese Schuld nie vergessen, auf in die Schlacht! Khazâd ai-mênu!“ Ehe Mathan etwas antworten konnte, rannte der Zwerg auch schon zu den Reihen der Elben. Dort rammte Grám Feuerhammer einen von drei Orks das Schwert in den Rücken, die einen Elbenkrieger von der Schlachtreihe abgedrängt hatten. Der Krieger tötete sofort einen der beiden überraschten Orks und entledigte sich den Dritten mit einem gezielten Stich ins Auge. Mathan verlor den Zwerg in dem Getümmel aus den Augen. Bisher konnte er dort noch keinen toten Elben entdecken. Wütend biss er die Zähne zusammen. Er wollte heute niemanden verlieren. Die Gefangenen mussten warten. Mit einem Kriegschrei warf er sich in die Schlacht.
„Kämpft! Der Feldherr ist hier!“, rief ein anderer Elb, der ihn bemerkte, als er durch die Reihen der Elite schlüpfte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er mit dem goldroten Mantel eine aufgemalte Zielscheibe trug. Doch das war egal. Mathan gab dem Pochen in den Ohren und den Kribbeln in seinem Körper nach. Der Rausch des Kampfes spülte jeden klaren Gedanken fort. Ab den Moment lebte er nur für den Lärm der Schlacht, dem Bellen von Befehlen, das Schreien der Sterbenden und dem Geruch von Blut. Er blockte einen Schlag mit dem Schild und schlitze mit dem Schwert den ungedeckten Bauch auf. Ein weiterer Schlag landete auf dem Schild. Mathan rammte ihm den Angreifer ins Gesicht. Der Orks spuckte Blut, Zähne und ein Teil der Zunge. Mit einem gezielten Stich durch Mund hinauf ins Gehirn fiel er Tod zu Boden. Mathan fuhr wie ein Schnitter unter die Orks, blockte einen Hagel von Schlägen und verteilte Rückhandhiebe, Stiche und hackte sich durch Beine, Torsos und Hälse. Sein Schild prallte gegen einen besonders großen Ork, der mit dem Rücken zu ihm gestanden hatte. Es war ein schwer gepanzerter Uruk, der einen Streithammer schwang. „Kämpft, ihr Maden“, brüllte er und bemerkte Mathan, „Verdammtes Elbenpack!“ Mit einem Schrei schwang der Uruk den Hammer. Mathan lenkte den Hieb mit dem Schwert ab, der in dem Rücken eines Orks landete. Er konterte mit einem geraden Schlag mit dem Schild. Die Kante traf den Sehschlitz des Helms des Uruks, der zurücktaumelte und dabei wütend knurrte. „Hrmpf, ich hab euch unterschätzt, dachte ihr findet uns nicht.“ Der Uruk ging auf Abstand und schubste einige Orks aus dem Weg, „Das ist persönlich, macht Platz!“
Die Manarîn hatten inzwischen das Schlachtfeld dominiert und von den etwa achtzig Orks waren nur noch zwanzig übrig, die sich in einem Ring aus Elbeschilden eingesperrt sahen. Mathan bemerkte, dass auch seine Bogenschützen dabei waren und zählte eilig mehr als neunzig Elben. Erleichterung überkam ihn und das Pochen in seinen Ohren ebbte etwas ab. Den übrigen Orks war der Kampfesmut vergangen und sie kauerten ängstlich hinter ihrem Anführer, der ihn immer wieder lauthals zum Zweikampf herausforderte. Mathan musterte den Uruk mit Abscheu, der nun anfing Schmähung von sich zu geben, um ihn zu provieren. „Bist du nicht Manns genug? Hast du nichts zwischen den Beinen? Ihr Elben könnte nichts als Bastarde zeugen und-„
Der restliche Satz blieb ihm im Halse stecken. Lorindion löste seine Glefe aus dem Helm des Uruks und säuberte den spitz zulaufenden, blutigen Sporn mit einem Lumpen. Achtlos warf er ihn auf den Uruk, der indessen in die Knie brach und leblos vornüber kippte. „Niemand beleidigt unsere Königin“, befand der Kommandant kühl und nickte Mathan entschuldigend zu, „Er war unwürdig Euer Gegner zu sein.“ Lorindion schien zu überlegen und setzte trocken nach: „Und er stank.“
Mathan unterdrückte ein Grinsen über die Ausrede und winkte ab. „Erzählt mir, wie der Kampf für uns verlaufen ist.“
„Einige Verletzte, nichts ernstes. Keine Toten.“, antwortete der Kommandant knapp und schien stolz zu sein. Mit Recht, wie Mathan fand und beschloss es auch seiner Tochter zu sagen. Einige Soldaten gingen durch die Reihen und verbanden Schnitte und andere kleine Wunden. Mathan befahl die Orks weiterhin scharf zu bewachen und ging hinüber zu dem Gefangenlager, wo ein bestimmter Zwerg bereits auf ihn wartete. Grám Feuerhammer zog seine buschigen Augenbrauen zusammen und kratzte sich mit dem Blick auf die überlebenden Orks am Ohr. „Ich würde diesem Pack den Hals durchschneiden, nichts anderes machen sie mit unsereins.“
Mathan musste ihm zustimmen, erklärte aber, dass er gerne wissen würde, woher sie kamen und warum sie Gefangene mit sich führten. Und wie viel sie über die Verteidigung und der Lage von Eregion wussten.
Grám tippte sich energisch mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. „Der große Uruk ist komplett durchgeknallt. Mûrgol oder so. Faselt ständig was von Blut der Ersten, der Zweiten und so einen Kram.“
„Durchgeknallt gewesen“, berichtigte Mathan zufrieden und hakte nach: „Also Blutzauber?“
Der Zwerg schien nachzudenken. „Wenn es sowas wirklich gibt… möglich wäre es. Aber so weit kam es nicht, da der Bekloppte keine Elben fand und zu feige war eine Siedlung anzugreifen. Die übrigen Gefangenen hier sind Kriegsbeute aus Gondor, die meisten zumindest. Sind auch ein paar Sklaven aus dem fernen Osten dabei.“
„Und wie haben sie Euch bekommen, Meister Grám?“, fragte Mathan neugierig, da es eigentlich ziemlich schwer war, an Zwerge heranzukommen, geschweige denn, sie gefangen zu nehmen.
Grám schien erneut zu überlegen, schüttelte aber den Kopf. „Später, Meister Heerführer.“
„Nennt mich Mathan. Mathan Nénharma.“
Der Zwerg verneigte sich, „Mathan, erneut meinen Dank. Grám Feuerhammer zu Euren Diensten.“
Etwas unwohl bedeutete er Grám sich zu erheben und nickte zu den Gefangenen mit der Frage, welche davon Kriminelle waren, ob sich Soldaten unter ihnen befanden und ob sie kämpfen konnten. Der Zwerg strich sich nachdenklich durch den struppigen feuerroten Bart und deutete auf einen fremdländischen Mann mit einem schlangenähnlichen Gesicht, blass-gelblicher Haut und blutunterlaufenen Augenringen. „Verräterschwein. Er hat uns immer wieder die Wächter auf den Hals gehetzt. Durch seine Schuld ist auch ein junge Frau heute Nacht geholt worden.“
Mathan horchte alarmiert und bestürzt zugleich auf. „Etwa in diesen Pulk von Orks?“
„Armes Mädel“, befand Grám und schaute auf das Schlachtfeld, „Ich weiß nicht, ob die Herren Elben schnell genug waren. Sie müsste irgendwo unter diesen Leichen liegen… Wird kein schöner Anblick.“
„Lorindion!“ Der Kommandant eilte rasch zu ihnen und starrte erst mit unverhohlenem Interesse auf dem Zwerg. Mathan räusperte sich und deutete auf den Verräter, den Grám gerade entlarvt hatte, „Schafft mir dieses widerwärtige Subjekt aus den Augen, bitte. Für immer.“, befahl Mathan mit harter Stimme und setzte sanfter nach. „Und sucht unter den Leichen nach einer jungen Frau, ihr Name ist…“
Er verstummte und sah den Zwerg fragend an, der jedoch ratlos mit den Schultern zuckte. Einer der Gefangenen richtete sich mit dem Rasseln seiner Ketten auf. Es war ein kräftig gebauter junger Mann mit mandelförmigen Augen, schwarzen Haaren und ausgeprägten Wangenknochen. Seine Lippen waren rissig und er schien ziemlich schwach, sodass Mathan sich zu ihm hinabbeugen musste, bis er den Namen verstand.
„Sucht nach einer gewissen Verdandi, vielleicht braucht sie unsere Hilfe“, bat Mathan Lorindion, der sich knapp verneigte und auf dem Absatz kehrt machte. Er selbst begann die Gefangenen zu befragen.
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