Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Gondor (West)

Die Bucht von Belfalas

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--Cirdan--:
Über den Rand - ins kalte Nass

Merian stand auf dem Rand. Ob er springen sollte, das wusste er nicht. Wo war Lothíriel, die schöne Prinzessin aus feinem Haus? Ohne sie zu fliehen hätte Sinn und Zweck seines Aufbäumens in Dol Amroth verfehlt.
Die Korsaren schienen abgelenkt. Der Blick auf ihre Heimatstadt ließ sie am Bug des Schiffes stehen und nach Umbar blicken.
Nicht weit war das Ufer, überlegte der Steinmetz aus Lamedon. Sein Magen knurrte laut vor Hunger. Erschreckt sah er sich um. Noch hatte ihn keiner auf dem Rand der Bordwand am Heck entdeckt und das musste bis zum Sprunge auch so bleiben. Jetzt sah Merian die Tochter Imrahils. Lothíriel stand direkt neben Odjana am Hauptmast. Für ihn gab es keine Gelegenheit sie zur plötzlichen Flucht zu überzeugen.
Merian überlegte wie er ihr helfen könnte, dann sprang er.
Allen Mut fasste der Manne Gondors und stieß sich vom Rand des Schiffes ab. Er tauchte ein ins kalte Wasser der Bucht vor Umbar und begann sofort in Richtung Ufer zu schwimmen. Eintausend Gedanken durchströmten Merian in diesen Momenten des Schocks. Zu seiner Beruhigung  stellte er allerdings fest, dass wohl niemand seinen Sprung bemerkt hatte. Zwei Schwimmzüge später zog es ihn mit dem Kopf unter Wasser. Seine Kleidung hatte sich vollgesogen und seine Stiefel waren ungemein schwer. Er öffnete die Schnürsenkel und ließ die Stiefel zu Grund sinken. Was der arme Fischer von Tolfalas wohl sagen würde, fragte sich Merian, erkannte aber schnell das er größere Probleme hatte.
Nicht mehr weit war das Ufer. Merian sah einen kurzen steinigen Strand und dahinter einen groß aufragenden Wald. Erschöpft kam er an Land und blickte hastig zurück. Inzwischen hatte man seine Flucht bemerkt. Zornig erkannte er die Korsaren an Bord, aber wegen ihm umdrehen und anlanden taten sie nicht. Das brauchen sie auch nicht, überlegte Merian, ich werde wohl oder übel zu ihnen kommen müssen, wenn ich Lothíriel nicht aufgeben will.
Eilig, durchgefroren und noch immer hungrig betrat Merian den Wald zu seinen Füßen und hoffte auf Hilfe.

Merian zu den Kindern des Waldes

Fine:
Valion, Valirë und Veantur mit der Súlrohír von Dol Amroth


Der günstige Wind blieb ihnen nicht erhalten.
"Verdammte Flaute!" rief der Kapitän frustriert und schlug voller Ärger mit seinen Fäusten auf das Steuerrad.

Sie kamen zunächst sehr gut voran und die Súlrohír schnellte über die weite See der Bucht von Belfalas hinweg während zu ihrer Linken das Lehen Ardamirs an ihnen vorbei zog. Überall an der Küste von Belfalas sahen sie Zeichen des Wiederaufbaus. Seit Elphírs Sieg bei Linhir waren die meisten der Bewohner aus den sicheren Zufluchten Dol Amroth und Lontirost wieder in ihre Dörfer oder auf ihrer Höfe zurückgekehrt und langsam, aber sicher kehrte wieder etwas Normalität ein. Doch der Frieden war trügerisch, denn er war durch die Befreiung des Ethirs bereits stark belastet worden. Valion hoffte, dass sein Lehen auch in seiner Abwesenheit frei bleiben würde.
Sobald diese Angelegenheit erledigt ist kehren wir heim, dachte er. Wir setzen Belegarth instand und bauen die Burg stärker als zuvor wieder auf. Ich werde nicht zulassen, dass Mordor erneut seine Klauen nach Ethir ausstreckt.

Bei Lontirost, dem Sitz des Herrn von Belfalas, legten sie einen kurzen Halt ein und füllten ihre Wasservorräte auf. Sie blieben jedoch nicht lange. Nach weniger als einer Stunde verließ das Schiff der Zwillinge Ardamirs Hafen wieder. Der große Leuchtturm vom Kap Belfalas schrumpfte hinter ihnen zusammen und verschwand schließlich hinter dem nördlichen Horizont. Es war Nacht geworden und Valion und seine Schwester zogen sich zum Schlafen zurück, jeder in seine eigene private Unterkunft in der Nähe des Kommandodecks.

Aufgeregte Rufe weckten Valion. Er warf sich eilig seine Bekleidung über und stürmte an Deck. Das erste, was ihm auffiel, war der fehlende Wind. Weit und breit um das Schiff herum war nichts zu sehen als der endlose Ozean, auf dem sich nichts regte bis auf ein paar winzige, müde Wellen.
"Osse will sich wohl einen Scherz mit uns erlauben!" regte sich der Kapitän auf. "Wir beide haben schon viele seiner Stürme überstanden, nicht wahr?" sprach er zum Schiff, welches ihm jedoch eine Antwort schuldig blieb. "Ja, das haben wir," beantworte Veantur die Frage selbst. "Aber das hier? Das ist schlimmer. Es kommt nicht oft vor, dass der Golf von Belfalas so ruhig ist wie heute. Die Strömung wird uns weit nach Südwesten treiben - in die falsche Richtung!"
Der Kapitän erklärte ihnen, dass sie sich in der Mündungsströmung des Anduins befanden. "Wie ihr sicherlich wisst, trifft der Große Strom bei Ethir auf Belegaer und umfließt Tolfalas in zwei großen Strömungen - eine nordwestlich der Insel und eine südlich davon. Ich schätze, uns hat nun der Südstrom erwischt. Zwar ist das besser als in den Nordweststrom zu geraten der uns in Richtung Anfalas und Kap Andrast tragen würde, doch auch der Südstrom kommt eher ungelegen. Wenn wir nicht bald genug Wind bekommen um aus dem Schlamassel wieder herauszukommen, werden wir weit am Kap von Umbar vorbeitreiben. Dann kommen wir in die wilden Gewässer des fernen Südens, und dort bin selbst ich bisher nur wenig unterwegs gewesen und kenne mich kaum aus."
"Können wir nicht rudern um aus der Strömung zu gelangen?" warf Valirë ein. "Lasst uns mit Muskelkraft den Wind ersetzen!"
"Dafür ist unsere Besatzung zu klein," antworte Veantur. "Selbst so weit draußen ist die Strömung noch stark, denn die Flüsse Poros und Harnen verleihen ihr zusätzlichen Schwung. Wir würden uns ganz umsonst verausgaben."
"Was also wollt Ihr nun tun?" verlangte Valion zu wissen. "Es muss doch etwas geben, was wir tun können!"
"Wir können Uinen bitten, ihren Gemahl Osse dazu zu bringen, uns die Brise nicht länger zu verweigern," sagte der Kapitän.
Na das kann ja was werden, dachte Valion. Er glaubte nicht, dass sich die Maiar der trennenden See wirklich so für ihr kleines, unbedeutendes Schiff und ihre Mission interessierten. Er wusste nicht einmal, ob Osse und Uínen wirklich real waren oder nur eine Ausrede für Seefahrer darstellten, wenn sie in Seewetter gerieten, dem sie nicht gewachsen waren.

Die Flaute dauerte drei lange Tage an, in denen das Schiff weiter nach Südwesten driftete ohne dass sie Land sichteten. Die Mannschaft war froh, den zusätzlichen Halt in Lontirost gemacht zu haben, denn ohne die zusätzlichen Vorräte wäre ihnen das Wasser bereits ausgegangen. Eine niedergeschlagene Stimmung breitete sich  an Bord aus. An den vorherigen Tagen hatten die Seeleute verschiedene Lieder angestimmt um bei Laune zu bleiben, doch nun rationierte der Kapitän das Wasser, und alle Kehlen wurden zu trocken für Gesang. Es war vor allem das schier endlose Warten, das Valion belastete. Das Meer ringsum veränderte sich nicht und es kam ihm vor, als würde sich das Schiff gar nicht mehr bewegen, auch wenn Veantur das Gegenteil behauptete.
Es wäre mir lieber, wenn uns jetzt eine wilde Seeschlange aus den Tiefen Belegaers überfallen würde oder wir in ein hitziges Gefecht mit der Flotte der Korsaren geraten würden. Alles ist besser als dieser quälende Stillstand, dachte Valion während er auf die glatte Oberfläche des Meeres starrte.

Eine Klinge legte sich an seinen Hals.
"Na, unaufmerksam geworden, Bruder?" neckte Valirë und zog das Schwert weg. "Komm, verschaffen wir uns etwas Bewegung!"
Valion ließ sich das nicht zweimal sagen. Er zog seine Waffen und machte sich bereit: die linke Klinge niedrig haltend und nach vorne gerichtet, das zweite Schwert in der Rechten und nach hinten ausgestreckt. Seine Schwester hielt ihre lange, gebogene Klinge mit der Spitze nach unten, die Hände nahe ihrer Wange. Sie führte das von Elben gefertigte Schwert von Haus Cirgon, das eines der Erbstücke ihrer Familie war und den Namen Gilrist, Sternenklinge, trug. Obwohl es eigentlich Valion als Erben Cirgons zustand hatte er es Valirë überlassen da er sich lieber auf seine beiden kürzeren, geraden Schwerter verließ. Er blieb im Kampf gerne in Bewegung.
Er ließ die Klinge in seiner Rechten nach vorne schnellen und Valirë blockte den Schlag problemlos ab. Doch Valion hatte nichts anderes erwartet; der erste Hieb war nichts als eine Finte gewesen um die Verteidung seiner Schwester zu prüfen. Denn nun schlug er mit der Linken tief zu und drehte sich um die eigene Achse, sodass auch die  Rechte erneut einen Schlag führte. Aufgrund der längeren Klinge war Valirë langsamer als er, und sie musste einen beherzten Sprung rückwärts machen, um dem Hieb zu entgehen.
"Sehr gut," stieß sie hervor und grinste, Kampfeslust in den Augen glitzernd. "Weiter! Jetzt zeige ich es dir, kleiner Bruder!"

Sie kreuzten eine ganze Weile die Klingen und überquerten das Hauptdeck während des Übungskampfes mehrfach, verfolgt von den schaulustigen Blicken der Besatzung, die beide Geschwister anfeuerten und Wetten abschlossen. Valirë, die zwei Minuten älter als Valion war, konnte mit ihrem Zweihänder schwerere Hiebe führen, doch ihr Bruder war mit seinen beiden kürzeren Waffen beweglicher. So oft schon hatten sie miteinander geübt dass sie meist genau wussten, wie ihr Gegner reagieren würde. Hinter ihnen ging über der stillen See die Sonne unter, und als sie nicht mehr genug Licht hatten, stoppten sie den Kampf schließlich.

In der Nacht frischte der Wind endlich auf, doch der Kapitän blieb dennoch besorgt.
"Wir haben Kurs nach Osten gesetzt, müssen aber vorsichtig sein. Wenn wir im Dunkeln auf ein Riff auflaufen ist die Reise vorbei, eher wir Umbar überhaupt gesehen haben."
Er ließ die meisten Segel reffen und die Súlrohír glitt in gemächlichem Tempo weiter nach Osten, einem ungewissem Schicksal entgegen. Am Bug des Schiffes standen drei Seeleute mit Fackeln, die die Nacht hindurch nah vorne spähten um nach Hindernissen Ausschau zu halten und den Kapitän, der am Steuer stand, rechtzeitig zu warnen. Sie wussten nicht genau, wie weit die Strömung sie getragen hatte und planten, in Sichtweite der Küste zu fahren um sich dort zu orientieren.

Am Morgen setzte die Mannschaft volle Segel. "Zeig' uns, wie schnell du sein kannst," flüsterte Veantur dem Schiff zu. "Zeig' uns, was Eile bedeutet!" Und das tat die Súlrohír.
"Land in Sicht!" rief der Mann auf dem Ausguck am späten Vormittag. "Land in Sicht!"
Doch sie hatten kein Festland erreicht. Am östlichen Horizont war eine langgezogene Insel aufgetaucht. Rauch stieg von ihr auf, und als sie näher heran kamen sahen sie einen hohen, weißen Turm, dessen Flanken vom Ruß verschmutzt waren.
"Muss wohl ausgebrannt sein," vermutete Valirë.
"Wo sind wir hier, Kapitän?" wollte Valion wissen. "Ist das ein Vorposten Umbars?"
Der Alte kratzte sich nachdenklich am Kopf. "Diese Insel habe ich noch nie gesehen," sagte er. "Wir müssen wohl weiter südlich sein als ich dachte." Er wühlte in seinen Karten herum bis er schließlich triumphierend ein altes Pergament hervorzog, welches Brandflecken an den Rändern aufwies und von einer dicken Staubschicht bedeckt war. Veantur hustete und deutete auf einen Punkt auf der Karte.
"Hier, das muss es sein. Ist nur noch auf den ganz alten Seekarten eingezeichnet. Ich selbst hatte immer vermutet, die Weiße Insel wäre nur eine Legende. Schätze, ich habe mich getäuscht, und sie existiert wirklich."
Valion folgte dem Finger des Kapitäns bis zu einer Insel, die ein gutes Stück südwestlich Umbars eingezeichnet war, mehrere Seemeilen von der Küste Harads entfernt.
"Tol Thelyn," las er vor was dort in Sindarin-Runen auf der Karte eingezeichnet war. "Heimstatt der Turmherren."
"Wir sollten der Insel einen Besuch abstatten, wenn wir jetzt schon hier sind," schlug Valirë vor. "Allein schon um neue Vorräte zu finden."
Valion nickte. "Wir werden sehen, was es zu sehen gibt. Und womöglich herausfinden, wer den Turm in Brand gesetzt hat."
"Seid vorsichtig, Herrschaften," sagte der Kapitän. "Vielleicht sind die Brandstifter noch in der Nähe."
"Sorge dich nicht, alter Mann," gab Valirë lächelnd zurück. "Wir geben gut acht auf uns und auf dein geliebtes Schiff."
"Also gut. Kurs auf die Insel halten!" befahl Veantur seiner Mannschaft. "Und macht das Beiboot bereit! Wir gehen an Land!"


Valion, Valirë und Veantur mit der Súlrohír nach Tol Thelyn

Fine:
Lothíriel, Valirë, Veantur, Lóminîth und Valion mit der Súlrohír von Tol Thelyn


Der Wind stand günstig und mit vollen Segeln rauschte das schlanke gondorische Schiff über die Wellen der Bucht von Belfalas, einem direkten nordwestlichen Kurs folgend. Die Küste Nah-Harads war vor einiger Zeit außer Sicht geraten und die Sonne stand bereits tief über den Weiten Belegaers im Westen als Valion nachdenklich am Heck der Súlrohír stand. Die Weiße Insel lag hinter ihm, und sein Abenteuer in Umbar war vorbei. Als er in Begleitung seiner Schwester vor wenigen Wochen von Dol Amroth aus aufgebrochen war hatte er sich nie träumen lassen dass er in der Stadt der Korsaren auf so viele freundliche Gesichter treffen würde und dass er Teil eines größeren Ganzen werden würde. Er fühlte sich, als sei die Reise nach Süden eine Art Traum gewesen, aus der er nun langsam erwachte, je näher er der Heimat kam.

Eine feingliedrige Hand legte sich um seine Brust und erinnerte ihn, dass er keineswegs träumte. Lóminîth schob sich unter seinem Arm hindurch sodass ihre Schulter an Valions Oberkörper ruhte und folgte seinem Blick in die Ferne.
"All das fühlt sich noch nicht richtig wahr an," flüsterte sie leise. "Ein neuer Abschnitt meines Lebens beginnt. Ich habe schon einige Reisen gemacht, und Umbar schon zuvor verlassen... doch immer in Begleitung meiner Schwester."
"Und jetzt brichst du sozusagen ins Ungewisse auf," folgerte Valion verständnisvoll.
"Ja," hauchte sie und ergriff die Hand, die er um ihre Hüfte gelegt hatte. "Ehrlich gesagt habe ich Angst davor."
Das war etwas, das Valion nicht erwartet hatte. Er studierte ihren Gesichtsausdruck und erkannte eine untypische Verletzlichkeit darin. Er wusste nicht, wie er damit umzugehen hatte.
"Du wirst dich sicherlich schon bald einleben," sagte er etwas ratlos.
"Sobald Hasael aus Umbar verschwunden ist kehre ich heim und helfe meiner Schwester beim Wiederaufbau," erwiderte Lóminîth und stellte damit klar, wo sie ihre Heimat weiterhin sah. Ihr dunkles Haar bauschte sich im Fahrtwind auf als das Schiff beschleunigte. Der Wind nahm zu und schob es unermüdlich auf sein Ziel zu.

Stunden später saß Valion aufrecht im Bett seiner kleinen Kabine und hielt Edrahils Brief in der Hand. Die kleine Glaslampe, die neben dem Bett stand und etwas Licht spendete, schien seine schlafende Verlobte nicht zu stören. Valion drehte den Brief nachdenklich zwischen seinen Fingern hin und her. Nicht vor deiner Ankunft in Dol Amroth öffnen, hatte Edrahil ihm eingeschärft. Im Zwist mit sich selbst stieg er so leise wie möglich aus dem Bett, warf sich einen leichten Umhang über und ging an Deck. Einer Eingebung folgend kletterte er die Leiter zum höchsten Mast des Schiffes hinauf, wo er seine Schwester vorfand - wie er es erwartet hatte.
"Kannst du auch nicht schlafen?" fragte Valirë mit einem seltsamen Gesichtsausdruck.
"Nein," bestätigte er. "Es ist wie damals in der Nacht unseres verbotenen Aufbruchs aus Dol Amroth, als wir zum Ethir fuhren."
"Ich erinnere mich," sagte sie. "Wir saßen oben auf dem Ausguck und sahen den Sturm von Weitem kommen."
Valion nickte. Das kleine Krähennest bot gerade genug Platz für sie beide. Er zog den Brief hervor und hielt ihn ins Licht der kleinen Lampe, deren Licht zu flackern begonnen hatte.
"Was hast du da? Ist der von Edrahil?" wunderte sich Valirë und nahm den Umschlag aus seiner Hand. Eher er sie aufhalten konnte hatte sie ihn bereits geöffnet, und begann, das dort Geschriebene vorzulesen:

Edrahil von Linhir an Valion und Valirë vom Ethir

Wenn ihr dies lest, seid ihr vermutlich noch auf See und nicht in Dol Amroth – es würde mich jedenfalls nicht wundern. Als ihr nach Umbar kamt, war ich wenig begeistert darüber, wen Fürst Imrahil geschickt hatte, um seine Tochter zu retten, denn ich kannte euch und euren Umgang mit Anweisungen anderer (der Ort, an dem ihr diesen Brief lest, ist der beste Beweis dafür). Aber auch wenn ihr noch viel darüber zu lernen habt, was die Begriff heimlich und unauffällig bedeuten, habt ihr eure Aufgabe gemeistert, und wart mir eine große Hilfe. Ohne euch hätte ich niemals mit Minûlîth zusammengearbeitet, und, ich will ehrlich sein, ich weiß nicht, ob ich alleine erreicht hätte, was wir gemeinsam erreicht haben. Dafür möchte ich euch danken. 

Zum Zeichen meines Dankes findet ihr im inneren dieses Briefes einen weiteren versiegelten Umschlag, der an meinen Stellvertreter Amrodin in Dol Amroth gerichtet ist – er wird wissen, was zu tun ist. Sollte eure Neugierde euch überwältigen und ihr auch diesen öffnen, bevor ihr ihn Amrodin übergebt, so ist alles was darin steht nichtig. Und verlasst euch darauf, dass Amrodin es erkennen wird, wenn das Siegel gebrochen und erneut verschlossen wurde. Achtet gut auf die Prinzessin, möget ihr diesen Krieg überstehen und mögen wir uns eines Tages in den Hallen des Ethir wiedersehen.

Edrahil.
"Da ist noch mehr drin," rief Valirë geradezu aufgeregt nachdem sie geendet hatte. Im Inneren des Umschlages waren nicht nur einer, sondern sogar drei weitere Briefe zu finden, von denen jeweils einer an Valion, an Valirë, und an Amrodin adressiert waren. Wortlos reichte Valion den an seine Schwester adressierten Brief an sie weiter und öffnete seinen eigenen Umschlag.

Valion – falls du Lóminîth liebst, wünsche ich euch alles Glück der Welt, und möge diese Geschichte gut enden. Falls nicht, bitte ich dich vorsichtig zu sein. Vielleicht ist es nur das übersteigerte Misstrauen eines alten Mannes, der sein Amt bereits zu lange ausführt, doch ich habe ein merkwürdiges Gefühl was sie angeht. Ich verlange nicht von dir, dass du sie Tag und Nacht misstrauisch beobachtest, doch sei aufmerksam und vor allem: Verfalle ihr nicht blind. Minûlîth liebt ihre Schwester, doch selbst sie ist nicht blind dafür, dass Lóminîth empfänglich für die Lehren der Schwarzen Númenorer war und vielleicht noch immer ist. Ich wünsche mir, dass ich mich irre und ihr glücklich werdet.
– Edrahil.
Valion strich sich nachdenklich über das Kinn. Was Edrahil ihm schrieb, ergab Sinn, auch wenn es ihm bisher nicht recht bewusst gewesen war. Doch selbst Valion war aufgefallen, dass Lóminîth durchaus Unterschiede den Einstellungen und Überzeugungen ihrer älteren Schwester besaß. Er beschloss, sich Edrahils Worte zu Herzen zu nehmen und vorsichtig zu bleiben.
Er warf einen Blick zu Valirë hinüber, die ungewöhnlich still geworden war. Ein schneller Blick auf das Blatt das seine Schwester in der Hand hielt zeigte ihm, dass Edrahil ihr sehr viel mehr geschrieben hatte als es bei Valion selbst der Fall gewesen war. Valirë hatte die andere Hand vor den Mund geschlagen und las weiter, hektisch und schwer atmend. Valion strich seiner Schwester beruhigend über den Rücken, konnte jedoch nicht verhindern, dass ihr Tränen über die Wangen zu laufen begannen. Sie blieb stumm und ließ bis auf ihren Atem kein Geräusch von sich hören, doch Valion spürte, dass der Inhalt des Briefes sie tief getroffen hatte.
"Ich dachte nicht, dass..." sagte sie und ließ den Satz unvollendet.
"Ist schon gut," sagte Valion, dem es bei seiner Schwester deutlich leichter fiel, Trost zu spenden als zuvor bei seiner Verlobten. Er wusste genau, was er sagen musste. "Du weißt doch, wie Edrahil ist."
"Ja, weiß ich," schniefte sie und ihre Tränen versiegten. "Er ist ein herzloser alter Mann."
"Das ist er," bestätigte Valion, doch sie wussten beide, dass dem keineswegs so war.
"Wenn wir wieder in Dol Amroth sind, schicken wir ihm eine besonders dreiste Antwort, hörst du?" forderte Valirë, die nun schon wieder fast sie selbst war.
"Auf jeden Fall," stimmte Valion zu. "Aber Amrodins Brief werden wir nicht anrühren. Edrahil soll sich wenigstens ein Mal damit irren, was uns betrifft."
"Denkst du, er geht davon aus, dass wir den dritten Brief öffnen?" fragte Valirë.
"Ich glaube, er hofft, dass wir es nicht tun, ist aber realistisch genug es zu erwarten," antwortete er.
"Dann lass uns seine Hoffnungen erfüllen. Dieses eine Mal."
"Dieses eine Mal. Einverstanden."

Der günstige Wind hielt an, und bereits am frühen Morgen des dritten Tages auf See kam der Leuchtturm von Lontírost in Sicht. Als sie näher kamen sahen sie, dass von seiner Spitze das blausilbere Banner von Dol Amroth, der weiße Baum Gondors und das grüne Blatt von Haus Galvor im Wind flatterten. Veantur entschied, diesmal nicht in den Hafen einzulaufen sondern direkt nach Dol Amroth weiterzufahren, solange der Wind so gut stand. Und als die Sonne kurz davor war, ihren höchsten Stand zu erreichen, kamen sie nach einer langen Reise und vielen Abenteuern in und um Umbar endlich wieder zurück nach Dol Amroth.


Lothíriel, Valirë, Veantur, Lóminîth und Valion mit der Súlrohír nach Dol Amroth

Melkor.:
Ardóneth, Valion, Rinheryn, Damrod, Thandor, Gilvorn, Lothíriel, Areneth und Glóradan von Tolfalas

Unter einem günstigen Wind segelte die Rache von Edhellond entlang der südlichen Küste von Belfalas in Richtung ihres Heimathafens in Dol Amroth. Das große Kriegsschiff hatte einst den Korsaren von Umbar gehört, wie Ardóneth von der Besatzung erfuhr. Einer der Herren von Edhellond, der Piratenjäger Faerion, hatte die Rache in einer großen Seeschlacht an den Mündungen des Flusses Harnen gekapert und zu seinem Flaggschiff gemacht. Mit blauen Segeln und einem neuen, aus hellem Holz bestehenden Deck versehen, erinnerte heute nur noch die einem Keil gleichende Form des Kriegsschiffes daran, dass es in Umbar und nicht in Gondor gebaut worden war. Drei große Masten hielten die riesigen Segel an Ort und Stelle und sorgten dafür, dass die Rache trotz ihrer Größe und Bewaffnung gut voran kam. Sie verfügte über sechs schwenkbare Ballisten, an jeder Flanke drei, die bei gleichzeitigem Beschuss eine verheerende Breitseite abgeben konnten. Darüber hinaus war das Flaggschiff des Herrn von Edhellond, der zugleich der Admiral der gesamten gondorischen Flotte war, stets von einer starken Besatzung von Bogenschützen verteidigt. An Deck vertäut waren zwei breite Sturmrampen, mit denen feindliche Schiffe geentert werden konnten, sowie mehrere Vorrichtungen für Haken, mit denen man kleinere Boote einfangen und heranziehen konnte.

Ardóneth war in seinen Reisen zwar bereits bis ans Ufer des Meeres gekommen, doch die Überfahrt von Tolfalas nach Dol Amroth war die erste Gelegenheit, die er hatte, ein so großes Kriegsschiff zu betreten. Er bestaunte die Effektivität, mit der die gut ausgebildete Mannschaft das Schiff auf dem richtigen Kurs hielt, obwohl die See unruhig war und hohe Wellen gegen den Bug der Rache schwappten. Das Deck schwankte unter seinen Füßen und Ardóneth war froh, dass sein Gleichgewichtssinn damit besser zurechtkam, als es bei seiner Schwester der Fall war; denn Areneth war kurz nach ihrer Abreise von Tolfalas mit grünlichem Gesicht unter Deck verschwunden und hatte sich seitdem nicht wieder blicken lassen. Ardóneth wusste, dass viele Menschen durch den Seegang krank wurden und er hoffte, dass Areneth die Überfahrt ohne bleibende Schäden überstehen würde.

Der Waldläufer lehnte sich an die Reling an der Steuerbordseite der Rache von Edhellond und betrachtete nachdenklich die Küste von Belfalas, die an ihm vorbeizog. Vor einer halben Stunde hatten sie das scharf nach Süden hervorstehende Kap umrundet, das die See rings um die Insel Tolfalas von den weitläufigeren Gewässern der Bucht von Belfalas zwischen Gondor und Umbar trennte. Seit seiner Rückkehr ins südliche Königreich hatte Ardóneth oft an die Jahre gedacht, die er in Minas Tirith verbracht hatte. Obwohl er seitdem im Norden, in Arnor, seine wahre Heimat gefunden hatte, gab es dennoch viele Dinge, die ihm an Gondor besser gefielen. Die dichtere Besiedelung des Landes war eine davon. Entlang der Küste sah Ardóneth immer wieder Anzeichen von Zivilisation: kleine Fischerdörfer, an idyllischen Stränden gelegen, reisende Gondorer, die entlang der Küstenstraße unterwegs waren, oder kleinere Schiffe, die hin und wieder den Weg der Rache kreuzten.
Und irgendwo dort, in diesem Land dort drüben verbirgt sich der nächste Schlüssel von Gilgroth, dachte er, während in der Ferne, jenseits der Küste, eine Gebirgskette aufgetaucht war, bei der es sich um die Emyn-en-Ernil handeln musste, die zwischen Dol Amroth und Linhir aufragten. Die Spur, die der alte Archivar Thandor ihm gegeben hatte, plante Ardóneth gleich nach ihrer Ankunft in Dol Amroth zu verfolgen. Er wusste inzwischen, dass in den Emyn-en-Ernil das Tal von Tum-en-Dín lag, in dem sich die Nachfahren von Haus Glórin niedergelassen hatten. Sicherlich würde er in einer so großen Stadt wie Dol Amroth jemanden finden, der entweder Verbindungen nach Tum-en-Dín besaß oder sogar ein Mitglied des Hauses Glórin kannte. Und dann würde er jeder Spur nachgehen, die sich finden ließ, bis er den Schlüssel in seinen Händen halten würde.

"Ich verstehe es einfach nicht," sagte eine Stimme neben Ardóneth und unterbrach seine Grüblerei. Rinheryn, die Gefährtin Valions, stand neben ihm und ließ Schultern und Arme niedergeschlagen hängen. Auf ihrem Gesicht, das von rothaarigen Strähnen eingerahmt wurde, war nichts als Frustration zu lesen. "Valion hat seinen Auftrag erfüllt, und jetzt sperren sie ihn ein?"
Ardóneth musste der Gondorerin zustimmen. Auch er war sich im Unklaren darüber, welche Hintergründe dazu geführt hatten, dass die Fürstin Lothíriel Valion in Gewahrsam hatte nehmen lassen. "Ich habe mir dieselbe Frage ebenfalls gestellt," antwortete er daher. "Du bist doch schon länger mit Valion gereist als ich," fuhr er fort. "Hat er dir nie erzählt, was ihn auf den Weg geführt hat, der ihn durch Rohan bis nach Anórien brachte?"
Rinheryn schüttelte den Kopf. "Er sagte mir nur, dass er den Verräter Gilvorn verfolgt, und das genügte mir, als ich ihn nahe Dunharg traf. Vielleicht hätte ich ihn mehr ausfragen sollen, aber gleich nach unserer ersten Begegnung war ich ziemlich beschäftigt damit, mich von einer beinahe tödlichen Verletzung zu erholen. Das Fieber, das ich deshalb überstehen musste, ließ mir kaum Energie zum Nachdenken oder Fragen stellen."
"Nun, offenbar hat sich dein Zustand seither dramatisch verbessert," merkte Ardóneth mit einem schiefen Lächeln an. "Deine Kampffertigkeiten sind beeindruckend. Wer hat dich ausgebildet?"
Rinheryn warf ihm einen misstrauischen Blick zu. "Das geht dich überhaupt nichts an, Waldläufer", antwortete sie. Sie starrte einen Augenblick auf das Wasser hinaus, ehe sich ihre Miene veränderte. "Es... waren meine Brüder," fuhr sie leise fort. "Duilin und Derufin waren ihre Namen. Sie waren Zwillinge, sieben Jahre älter als ich. Sie brachten mir alles bei, was ich heute kann."
Die Vergangenheitsform, die Rinheryn im Bezug auf ihre Brüder verwendete, machte es Ardóneth nur allzu deutlich klar, dass Duilin und Derufin wohl nicht mehr am Leben waren. "Was ist ihnen zugestoßen?" fragte er sanft.
"Sie fielen auf dem Pelennor, als sie heldenhaft gegen die wilden Kriegsbestien von Harad vorrückten. Diese Monster, die Mûmakil, haben sie zertrampelt... aber nicht ehe sie nicht zwei von diesen Kreaturen zu Fall gebracht hatten." Stolz und Trauer schwangen in ihrer Stimme mit, als Rinheryn vom letzten Gefecht ihrer Brüder erzählte.
"Ein ehrenhaftes Ende," merkte Ardóneth an.
"Davon habe ich aber nichts," erwiderte Rinheryn. "Sie sind tot, egal wie ehrenhaft sie gefallen sind."
"Und dennoch kannst du dafür sorgen, dass ihr Andenken in Ehren gehalten wird," sagte Ardóneth leise. "Du hast dir unter den Menschen Rohans einen Namen gemacht, wie ich hörte. Jetzt kannst du dasselbe auch in Gondor, bei deinem eigenen Volk tun."
Rinheryn antwortete nichts, doch der Ausdruck in ihrem Gesicht sagte Ardóneth, dass seine Worte Wirkung gezeigt hatten. Mehrere Minuten des Schweigens vergingen, dann wandte sich Rinheryn schließlich ab und ging in Richtung der Brigg davon. Ardóneth vermutete, dass sie mit Valion sprechen wollte, der dort noch immer gefangen gehalten wurde.

Einem spontanten Einfall folgend beschloss der Dúnadan, mit der Fürstin von Tolfalas zu sprechen und die Wahrheit über Valions Gefangennahme herauszufinden. Aus Gesprächen mit der Schiffsbesatzung der Rache von Edhellond hatte Ardóneth erfahren, dass die Fürstin die Tochter des Prinzen Imrahils von Dol Amroth war, der Oberbefehlshaber der Streitkräfte Gondors und amtierender Truchsess des Südlichen Königreiches war. Noch während er sich fragte, ob Lothíriel dem Einfluss ihres Vaters für ihr Fürstenamt zu danken hatte, entdeckte er die Fürstin ganz in der Nähe, wie sie sich gerade mit dem Steuermann der Rache unterhielt, welcher das Schiff weiterhin in Richtung der Schwanenstadt lenkte. Inzwischen war es Abend geworden und die Sonne senkte sich vor dem Bug des Kriegsschiffes der Oberfläche des Ozeans entgegen und tauchte das Meer in ein schwindendes, rötliches Licht.
"Gewährt Ihr mir einen Augenblick Eurer kostbaren Zeit?" bat Ardóneth, als er herangekommen war.
Neugierig wandte die Fürstin, die Ardóneth ungefähr auf Kerrys Alter schätzte, ihm das Gesicht zu. "Sieh an," sagte sie mit freundlicher Stimme. "Und was könnte ein Waldläufer des Nordens sich von einem solchen Augenblick meiner Zeit erhoffen?"
"Informationen," antwortete er vorsichtig. "Ich würde gerne mehr darüber erfahren, weshalb Ihr den guten Valion in Gewahrsam genommen habt."
"Also ist es die Neugier, die Euch antreibt?" sagte Lothíriel mit einem neckischen Lächeln, dass Ardóneth beinahe an Cairien erinnerte, die in Imladris geblieben war. "Ich rate Euch, euch nicht allzu sehr mit Valion einzulassen. Er ist ein Unruhestifter, auch wenn er hin und wieder für eine Heldentat gut ist."
"Wie darf ich das verstehen?" meinte Ardóneth. "Ich habe ihn als zuverlässigen Kämpfer mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit kennengelernt, und war der Meinung, er handle im Auftrag der Herren Gondors."
"Und was wäre, wenn ich Euch sagte, dass Valion auf der Flucht vor dem Gesetz Gondors war, als Ihr ihm begegnet seid?" fragte die Fürstin und strich sich ihr dunkles Haar hinter die Ohren.
"In diesem Fall würde ich Euch bitten, mir mehr darüber zu erzählen, um mir selbst ein Bild der Lage zu machen."
"Nun gut, Waldläufer - "
"Ardóneth, Sohn des Argóleth," unterbrach der Dúnadan und deutete eine Verbeugung an.
"Ardóneth also," fuhr Lothíriel fort. "Valion geriet während einer Mission, auf die ihn mein Vater, der Truchsess Imrahil von Dol Amroth entsandt hatte, in eine schwierige Lage, aus der er sich nur durch Mord an einem gondorischen Adeligen befreien konnte."
"Mord?" rief Ardóneth überrascht.
"Eigentlich war es Valions Verlobte, die das Messer führte. Aber als ihr Versprochener trägt Valion die Verantwortung für ihre Taten und hatte die Mörderin vor den Hofstaat meines Vaters zu begleiten, doch auf dem Weg dorthin entzog er sich seiner bewaffneten Eskorte und machte sich somit zu einem Vogelfreien. Ich weiß, dass er es aus gutem Grund tat - nämlich um Gilvorn, den Verräter zu jagen, doch Gondor ist trotz allem ein Land der Gesetze, die es zu beachten gilt. Valion wird in Gewahrsam bleiben, bis er vor meinen Vater getreten ist und dieser über seine Strafe entschieden hat."
Ardóneth nickte betroffen. Er ahnte, dass noch viel mehr hinter der Geschichte steckte, die Lothíriel ihm gerade in wenigen Sätzen zusammengefasst hatte, und nahm sich vor, selbst mit Valion über die Situation zu sprechen. Rasch bedankte er sich bei der Fürstin von Tolfalas und verabschiedete sich von ihr.

Unter Deck musste er feststellen, dass die Wachen ihn nicht zu den Gefangenen vorlassen wollten. Auch Gilvorn war unter Deck eingesperrt, glücklicherweise nicht in derselben Zelle wie Valion. Unverrichteter Dinge musste Ardóneth den Rückweg aus Hauptdeck antreten, wo er Rinheryn und Areneth ins Gespräch vertieft vorfand. Offenbar hatte sich seine Schwester inzwischen von der Seekrankheit erholt. Ihre grüne Gesichtsfarbe war verschwunden. Stattdessen schien Areneth den frischen Wind zu genießen, der ihnen allen durchs Haar blies und der die Rache von Edhellond beschleunigen ließ, während im Westen der letzte Lichtstrahl der Abendsonne über den Wassern der Bucht von Belfalas verglühte. Am nächsten Morgen würden sie in Dol Amroth anlegen.

Ardóneth, Valion, Rinheryn, Damrod, Thandor, Gilvorn, Lothíriel, Areneth und Glóradan nach Dol Amroth

Fine:
Gandalf, Aragorn, Narissa, Aerien, Irwyne und Amrothos aus Edhellond


Die Falchíril war im Grunde genommen ein besseres Fischerboot, das von einem Händler aufgekauft und überholt worden war und nun vor allem lebenswichtige Vorratslieferungen aus den westlichen Außenlehen nach Dol Amroth beförderte, wie Aerien und Narissa von der kleinen, aber freundlichen Mannschaft des Schiffes erfuhren. Es war hauptsächlich Narissa, die Fragen stellte und Aerien mehr oder weniger mit sich mitschleppte. Was Aerien dabei recht gut verbergen konnte war der Fakt, dass ihr diesmal der Seegang doch ein wenig zu Schaffen machte. Auch wenn dies nicht ihre erste Fahr auf einem größeren Schiff war, fühlte sie nun zum ersten Mal, wie sich ihr Magen auf ungute Weise auszudehnen schien und hin und wieder drohte, ihr ein unliebsames Wiedersehen mit ihrem Abendessen zu bescheren.
"Wir kommen gerade vom Kap Andrast," erzählte einer der Seeleute, der sich mit verschränkten Armen an einen der Schiffsmasten gelehnt hatte. "Die Bauarbeiten dort kommen wirklich gut voran, diese Lady Elrist hat ihre Leute gut im Griff."
"Bauarbeiten?" fragte Narissa neugierig. "Kap Andrast liegt doch im äußersten Westen Gondors, wenn mich nicht alles täuscht, oder nicht?"
"So ist es," erwiderte ein zweites Besatzungsmitglied. "Es liegt noch jenseits von Anfalas und war nie sonderlich dicht besiedelt, aber... seitdem der Krieg so schlecht läuft, seitdem wir die Weiße Stadt verloren haben... ändert sich das. Die Leute fühlen sich selbst in den Pinnath Gelin oder in Anfalas nicht mehr sicher. Es haben sich eine ganze Menge Flüchtlinge auf der Westseite des Kaps zusammengefunden und sie haben damit begonnen, eine Siedlung zu bauen."
"Das Kommando hat eines der ehemaligen Ratsmitglieder des Truchsessen Denethor, Lady Varlínn Elrist," setzte der erste Matrose die Erzählung wieder fort. "Man hört Gerüchte, dass die Andraster vorhaben, eines Tages ihr Land zu einem neuen eigenen Lehen Gondors zu machen."
"Wie aufregend," murmelte Aerien fasziniert. Bis jetzt hatten ihre Gedanken unentwegt um Dol Amroth gekreist, doch die Geschichte der Seeleute war so interessant, dass sie die Schwanenstadt für einige Zeit vergaß.

Doch während Narissa noch eine ganze Weile lang Geschichten und Späße mit der Besatzung der Falchíril austauschte, verfiel Aerien rasch wieder in Grübelei. Ihre Erlebnisse in Edhellond hatten das Land Gondor für sie gründlich entzaubert. Sie hatte Angst, dass Dol Amroth eine herbe Enttäuschung für sie darstellen würde. In ihrer Vorstellung hatte sie bis vor Kurzem immer eine strahlende majestätische Stadt auf einem Klippenfelsen stehend vor Augen gehabt, von deren vieler Türme blausilberne Banner hingen und deren uneinnehmbare Mauern mit tugendhaften und tapferen Soldaten bemannt waren. Eine Stadt im Licht, die den Glanz Númenors widerspiegelte und die als heldenhafte Bastion Gondors gegen die Schatten Mordors erstrahlte. Zwar war die Stadt noch nicht zu sehen, da es längst dunkel geworden war und das Handelsschiff sich seinen Weg entlang der mit großen Lampen markierten Küste, die stets backbords gelegen war, suchte, doch inzwischen fürchtete Aerien sich ein klein wenig vor dem Anblick. Was, wenn dort dieselbe Korruption und Ungerechtigkeit herrscht, wie in Umbar, oder Qafsah? fragt sie sich und stützte nachdenklich die Arme auf die Reling, um in den wolkenverhangenen Nachthimmel zu starren. Vor ihr, in einiger Entfernung, zogen langsam eines nach dem anderen die Lichter der großen Lampen entlang der Küste vorbei, die sich nach und nach in die Höhe schraubten, je weiter das Schiff nach Süden vordrang, denn hier begannen die Klippen am Ufer langsam anzusteigen.
"Worüber denkst du nach?" fragte eine Stimme plötzlich neben ihr, und zu Aeriens Überraschung war es nicht Narissa.
"Oh, Irwyne, du bist es," sagte sie und die Verwunderung war ihr so offensichtlich anzuhören, dass die junge Blondine lachte.
"Überrascht? Du hast wohl meine Neugierde unterschätzt, Aerien."
Hinter Irwyne tauchte bei diesen Worten auch Amrothos auf, der wohl nie weit von ihr weg blieb. Der junge Prinz lächelte gutmütig, sagte aber nichts.
"Na ja... ehrlich gesagt habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie es wohl in Dol Amroth werden wird," gab Aerien etwas verlegen zu.
"Ich denke nicht, dass das klug ist, Aerien. Du wirst schon bald sehen, wie die Stadt ist, warum machst du dir im Vorfeld darüber Gedanken?" meinte Irwyne und legte den Kopf schief. "In dem du Erwartungen an sie stellst, erschaffst du damit die Enttäuschung, die folgen wird, ganz alleine."
"Du denkst... sie wird mich enttäuschen?"
"Ja," sagte Amrothos. "Ich habe deinen Blick schon bei vielen anderen gesehen, die zum ersten Mal nach Dol Amroth aufbrechen. Ich kenne den Ruf, den unsere Stadt in der Welt hat... und ich weiß sehr gut, wie übertrieben er ist."
"Oh," machte Aerien und starrte dann wieder nachdenklich auf das Meer hinaus; sie wusste nicht recht, was sie darauf antworten sollte.
Irwyne kicherte und Amrothos legte Aerien eine Hand auf die Schulter. "Kopf hoch, meine Liebe. Du wirst vielleicht keine makellose, Stadt ohne Fehler vorfinden, in der jeder ein perfekter tadelloser Bürger ist - ich selbst bin das beste Beispiel dafür. Aber du wirst eine Stadt voller aufrichtiger, mutiger Menschen kennenlernen, die niemals aufgeben und die Mordors Macht schon mehrfach tapfer getrotzt haben. Und du wirst deinen Wissensdurst stillen können, so lange du willst... ich werde gerne dafür sorgen, dass du die Bibliothek besuchen darfst, und..."
"Schon gut, Amrothos," unterbrach Irwyne. "Ich glaube, du hast deinen Punkt klar gemacht. Aber es gibt in Dol Amroth nicht nur langweilige Bücher oder mutige Soldaten. Es gibt einen ganzen Palast voller Geheimnnisse zu entdecken und viele neue Freundschaften zu schließen! Hast du schon einmal einen Elben getroffen, Aerien? Gibt es die im Süden?"
Aerien hob unschlüssig die Schultern, da ihr auf Anhieb nicht einfiel, ob Níthrar wirklich aus Harad stammte oder nicht, doch Irwyne sprach bereits munter weiter. "Du wirst sie kennenlernen, spätestens wenn wir zum Palast kommen. Und dann wäre da noch die Prinzessin, Amrothos' Schwester - und viele andere wundervolle Personen, die ich dir vorstellen muss..."
"Das klingt ja, als wäre sie deine neue beste Freundin," meinte Amrothos, hörbar amüsiert.
"Wer ist wessen neue beste Freundin?" mischte sich in diesem Augenblick Narissas Stimme ein. Mit einer Fackel in der Hand kam sie vom Bug des Schiffes hergestiefelt und grinste ausgelassen in sich hinein.
Irwyne besaß den Anstand, sanft zu erröten. "Ach, ich habe Aerien nur gerade vorgeschwärmt, wen ich ihr in Dol Amroth so alles vorstellen könnte. Aber das bedeutet natürlich nicht, dass du dabei nicht mitkommen dürftest, Narissa."
"Das will ich aber auch gehofft haben," scherzte Narissa und ließ spielerisch die Fackel in der Hand kreisen, die dabei wie durch ein Wunder nicht erlosch.

Sie verbrachten den Rest des Abends damit, zu viert allerlei Pläne für die Ankunft in der Stadt auszuhecken. Amrothos warnte sie vor gewissen Personen im Palast, die sie besser meiden sollten und zu ihrer allgemeinen Belustigung war auch Edrahils Name darunter. Irwyne machte mehrere Vorschläge, wo die Mädchen wohnen sollten, bis sie sich vorerst darauf einigten, in einem der kleineren Gästezimmer des Palastes unterzukommen. Narissa wollte unbedingt mehr über die Elben wissen, die laut Amrothos die Tore der Stadt bewachten und plante, sie schon am Folgetag ihrer Ankunft in Dol Amroth zu besuchen. Und Aerien hoffte derweil einfach nur, dass alles gut gehen würde, denn in Dol Amroth plante Aragorn, sich seinem Volk zu erkennen zu geben...

Es war längst nach Mitternacht, als das Schiff schließlich auf den Hafen Dol Amroths zusteuerte. Aerien war wie von Zauberhand gesteuert zum Bug gelaufen, wo sie auf Aragorn getroffen war. Sein Kapuzenumhang war zurückgeschlagen und der Fahrtwind spielte mit seinem Haar, als Aragorn schweigend auf die Lichter der nahenden Stadt blickte, die sich vor ihnen in die Höhe schraubten.
"Ein Schatten liegt über Dol Amroth," murmelte er recht unheilvoll. "Kannst du ihn sehen, Aerien?"
"Nein," musste sie gestehen. "Aber ich habe... ein ungutes Gefühl, wenn ich nach vorne schaue."
Zu ihrer Überraschung hörte sie, wie Aragorn ein trockenes Lachen von sich gab. "Tu das nicht," sagte er. "Mach es mir nicht nach. Es reicht, wenn einer von uns sich mit üblen Vorahnungen herumschlagen muss."
Gehorsam nickte sie. "Ich... bin mir sicher, alles wird gut werden," meinte sie leise.
"Ja. Das ist die richtige Einstellung. Immerhin haben wir den Weißen Zauberer auf unserer Seite," sagte Aragorn. "Was soll also schon schiefgehen?"
Darauf hatte Aerien keine Antwort. So verfolgte sie schweigend, wie das Handelsschiff das große Seetor Dol Amroths passierte und in den Hafen der Stadt einlief, gerade als über ihnen der Himmel aufriss und die Sterne enthüllte.


Aragorn, Gandalf, Irwyne, Amrothos, Narissa und Aerien nach Dol Amroth

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