Hilgorn hatte das Ende der Besprechung ungeduldig herbeigesehnt, und die Kasernen sofort nach ihrem Ende mit schnellen Schritten verlassen. Je näher er jedoch an sein Ziel kam, desto langsamer wurden seine Schritte. Seit sie Lamedon verlassen hatten, hatte er nicht länger an Imradon gedacht, und es vermieden, sich seinen Gefühlen wirklich zu stellen. Doch wenn er Faniel sah, würde es sich nicht länger vermeiden lassen, darüber zu sprechen.
Er klopfte an die Tür, und nur wenige Augenblicke später öffnete Faniel. Wie immer, wenn er sie sah, schien sein Herz einen kleinen Sprung zu machen, und ihre Augen strahlten als sie sagte: "Du bist wieder da!" Hilgorn erwiderte das Lächeln, schloss sie fest in die Arme und küsste sie - sittsam auf die Wange, denn aus einem Nebenzimmer kam Iorweth gestürmt, ein wenig langsamer gefolgt von Belegorn. Das Mädchen drängte sich zwischen ihn und Faniel, umarmte sein Bein - höher reichte sie nicht - und Hilgorn strich ihr zärtlich durch den schwarzen Schopf. Mit der anderen Hand winkte er Belegorn zu, der den Anflug eines Lächelns zeigte, seine Hand ebenfalls hob und sofort wieder sinken lies. Hilgorn unterdrückte ein Seufzen. Ihr Verhältnis hatte sich bereits deutlich gebessert seit der Ankunft in Dol Amroth, doch er und sein Neffe hatten noch einen weiten Weg vor sich.
"Ich habe noch gar nicht gehört, dass das Heer zurück ist. Warum hast du mir keinen Boten geschickt?", beschwerte Faniel sich, aber ihr Lächeln zeigte, dass sie nicht wirklich verärgert war.
"Weil ich euch ganz für mich haben wollte", erwiderte Hilgorn, und löste sich sanft aus Iorweths Umklammerung. "Gab es eine große Schlacht?", fragte das Mädchen. "Habt ihr gewonnen?"
"Ja, es gab eine Schlacht", bestätigte Hilgorn, wobei er Faniel nicht aus den Augen ließ. "Und ja, wir haben gewonnen, für dieses Mal." Faniel musste ihm angesehen haben, dass etwas nicht in Ordnung war, denn sie sagte: "Kinder, bitte geht wieder hinaus in den Garten, spielen. Das Wetter ist viel zu schön, um drinnen zu sein." Das entsprach der Wahrheit, denn außer einigen verstreuten Wolken war der Himmel strahlend blau, und eine leichte Brise vom Meer sorgte dafür, dass die sommerliche Hitze nicht zu drückend wurde.
Dennoch ließen sich die Kinder nicht so leicht abspeisen. "Warum?", fragte Belegorn, und Iorweth ergänzte: "Genau. Ihr seid doch auch drinnen." Dann warfen sich die Geschwister einen misstrauischen Blick zu, offenbar verwundert, einmal einer Meinung zu sein.
"Deine Mutter und ich haben etwas zu besprechen, was nicht für eure Ohren bestimmt ist", erklärte Hilgorn, und erwiderte Belegorns rebellischen Blick ruhig. Er kannte diese Haltung von jungen Rekruten, die sich noch nicht an die militärische Hierarchie gewöhnt hatten, und wie erwartet wandte Belegorn einige Herzschläge später den Blick ab, und ging betont langsam den Flur entlang in Richtung der Gartentür davon.
Iorweth warf ihrer Mutter einen flehenden Blick zu, und trottete ihrem Bruder dann langsam hinterher, nachdem Faniel den Kopf geschüttelt hatte.
Als die Kinder im Garten verschwunden waren, wurde Faniels Miene ernst, und sie fragte: "Was ist geschehen? Hast du... ihn gesehen." Hilgorn nickte langsam, hob dann den Kopf und blickte ihr in die Augen. "Er ist tot, Faniel. Imradon ist tot."
Auf Faniels Gesicht spiegelten sich all die widerstreitenden Gefühle wider, die Hilgorn selbst empfunden hatte. Erleichterung, Schock und sogar Trauer - allerdings eine deutlich größere Trauer als bei Hilgorn selbst. Er sah, wie sie die Zähne zusammen biss und ihre Kiefermuskeln zuckten. Dann fragte sie: "Hast du ihn getötet? Oder war es jemand anders?"
"Es war... Valion", erwiderte Hilgorn langsam. "Und er hat..." Faniel hob die Hand, und bedeutete ihm, zu schweigen. "Nein, bitte. Ich..." Sie atmete tief durch. "Ich muss jetzt einen Moment alleine sein, bitte."
Hilgorn nickte, verwirrt. "Natürlich. Sag mir Bescheid, wenn du dich wieder in der Lage fühlst, zu..." Er unterbrach sich, denn sie hatte bereits begonnen, die Treppe ins obere Stockwerk hinaufzusteigen.
Einige Zeit wanderte Hilgorn im Haus umher, beobachtete durch die Gartentür die spielenden Kinder, und bei ihrem Anblick wurde sein Herz schwer. Ihr Vater - sein Bruder - hatte versucht, Hilgorn zu töten, und war dabei selbst getötet worden, und Hilgorn wollte ihre Mutter heiraten. Wie mochte es für sie sein, wenn er ihnen früher oder später davon erzählen musste? Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, und schüttelte den Kopf.
Bei den zwei Bäumen, was für ein Durcheinander.Schließlich hielt er es nicht länger aus, stieg die Treppe hinauf und blieb vor der Tür zu Faniels Zimmer stehen. Sie war nicht ganz geschlossen sondern nur angelehnt, und er glaubte ein verhaltenes Schluchzen aus dem Raum zu hören.
Nach einem kurzen Zögern öffnete er die Tür leise, und trat neben Faniel, die am Fenster stand, die Ellbogen auf den Fensterrahmen gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben. Als er ihr den Arm um die Schultern legte, wehrte sie sich nicht - ein gutes Zeichen.
"Und ich dachte, du hättest ihn nicht geliebt", sagte Hilgorn, und konnte eine leichte Bitterkeit nicht aus seiner Stimme heraushalten. Er wusste nicht recht, was er fühlen sollte - Mitleid, Eifersucht, oder Scham, dass sie offenbar mehr um seinen Bruder trauerte als er selbst? Faniel hob den Kopf, und wandte ihm ihr tränennasses Gesicht zu. "In letzter Zeit nicht, aber als wir geheiratet haben? Ich habe ihn nie so geliebt, wie dich jetzt, aber... damals habe ich zumindest etwas ähnliches gefühlt. Zumindest bis nach Belegorns Geburt, als er hatte... was er wollte." Mit der freien Hand wischte Hilgorn ihr sanft eine Träne von der Wange. Die wenigen Worte hatten alle Zweifel, die ihn kurz überfallen hatten, fortgewischt.
"Und er ist immerhin der Vater meiner Kinder", sprach sie leise weiter. "Also trauere ich um ihn - nur heute, nur dieses eine Mal."
"Ich verstehe", sagte Hilgorn, und es war nicht gelogen. Er hatte Imradon nicht beweint, doch er hatte auch nicht mit ihm zusammengelebt, und ihr Verhältnis war ohnehin nie gut gewesen. Trotzdem hatte er um seinen ältesten Bruder getrauert, allerdings eher aus Pflichtgefühl und aus dem Wissen heraus, was das für seine Mutter bedeuten würde, die all ihre Söhne, ungeachtet ihrer Fehler, immer geliebt hatte.
Faniels Tränen waren versiegt, als sie fragte: "Also... wie ist es geschehen?"
"Er war beim feindlichen Heer", erzählte Hilgorn. "Ich hatte ihn zu Beginn der Schlacht nicht gesehen, sondern erst später. Ich bin zu Boden geschlagen worden, und plötzlich war er da. Er drohte mich zu töten, und wollte dich und Belegorn wiederhaben. Ich... konnte mich nicht wehren, und ich weiß ehrlich nicht, ob ich ihn hätte töten können. Aber dann war Valion da, und... hat ihm den Kopf abgeschlagen. Er hat also nicht gelitten."
"Das ist gut", erwiderte Faniel, und bette den Kopf an seine Schulter. Sie hatte nicht wieder zu weinen begonnen, als er von Imradons Tod erzählt hatte, und sagte nun: "Ein Teil von mir hat sich seinen Tod gewünscht, damit ich frei bin... aber ich wollte nie, dass er leiden muss, trotz allem was er getan hat."
"Du bist eben ein guter Mensch", murmelte Hilgorn, und presste die Lippen gegen ihre Schläfe. Er vergrub die Gefühle des Hasses und der Rache, die er gegenüber Imradon zwischenzeitlich gehegt hatte, tief.
"Wenn du das sagst, ist es genug für mich", meinte Faniel, und küsste ihn, mit dem Hunger und der Leidenschaft einer Frau, die ihren Mann mehrere Jahre nicht gesehen hatte. Als sie sich voneinander lösten, lächelte sie wieder, und die Erleichterung darüber war so groß, dass sie Hilgorn beinahe schmerzte.
"Weißt du, was das heißt?", fragte sie, und Hilgorn nickte. "Du bist frei, um erneut zu heiraten."
"Nach angemessener Trauerzeit natürlich", gab Faniel zurück, und eine Spur von Schalk hatte sich in ihre Augen geschlichen. "Die in Anbetracht der Umstände allerdings nicht allzu lange dauern dürfte..."
"Hm", machte Hilgorn, lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme. "Wie wäre es mit... einem Tag?" Faniel lachte, und es war das schönste Geräusch, dass er seit langem vernommen hatte. "Du bist wirklich unmöglich. Also was ist, willst du mich heiraten?"
Hilgorn stockte kurz, bevor er meinte: "Sollte... ich nicht derjenige sein, der diese Frage stellt?"
"Mag sein. Mir egal", gab Faniel zurück. "Also?"
Hilgorn grinste, zog sie fest an sich und hob sie von den Füßen. "Da fragst du noch.
Natürlich will - und werde - ich dich heiraten." Er wirbelte sie einmal lachend im Kreis, und als er sie wieder auf die Füße stellte, küsste sie ihn.
"Wir sollte nicht zu lange damit warten", meinte Hilgorn schließlich. "Immerhin ist Krieg, und man weiß nie..." "Rede nicht davon", unterbrach Faniel ihn, und ihre grauen Augen blickten ernst. "Ich weiß, worauf ich mich einlasse."
Der Zauber des Augenblicks war verflogen, und Hilgorn sagte leise: "Es gibt beunruhigende Nachrichten aus dem Osten. Es könnte sein, dass der Krieg bald wieder ganz ausbricht, und ich nach Osten an den Gilrain muss."
"Wie gesagt, ich weiß, worauf ich mich einlasse", erwiderte Faniel scharf, doch sofort wurde ihre Miene wieder weicher. "Tut mir leid. Ich weiß, dass du mich nur auf das Unausweichliche vorbereiten willst."
"Ich will nicht noch einmal so fortgehen wie letztes Mal", erwiderte Hilgorn. "Plötzlich und unerwartet." "Das ist das Schicksal, wenn man einen Soldaten liebt", sagte Faniel mit traurigem Lächeln. "Aber solange du immer wieder nachhause kommst, kann ich es aushalten." Ihre Miene verdüsterte sich noch ein wenig mehr als sie sagte: "Ich muss es den Kindern erzählen. Was passiert ist."
"Ich helfe dir", sagte Hilgorn, und nahm ihre Hand. "Immerhin war ich dort." Und schließlich war er derjenige, der dafür gesorgt hatte, dass Imradon Tíncar hatte verlassen müssen. Damit war er direkt verantwortlich dafür, dass sein Bruder in Morthond sein Ende durch Valions Klinge gefunden hatte, doch das erwähnte er nicht.
Iorweth nahm die Nachricht vom Tod ihres leiblichen Vaters beinahe gleichmütig auf. Imradon hatte seiner Tochter nie viel Beachtung geschenkt, und wenn, dann war er abweisend und kalt gewesen. So hatte sie nie viel Zuneigung zu ihm entwickeln können, und die Tatsache, dass er nun nicht nur fort, sondern auch tot war, schien sie wenig zu berühren. Belegorn hingegen lauschte Hilgorns stockender Erklärung schweigend, und nur eine einzige Träne stahl sich aus seinem Augenwinkel. Hilgorn konnte nicht umhin, die Beherrschtheit seines Neffen zu bewundern.
Als Hilgorn zu Ende geredet hatte, war Belegorn ohne ein weiteres Wort im Haus verschwunden, und Hilgorn war ihm einige Zeit später gefolgt. Als Hilgorn das Zimmer der Kinder betrat, richtete Belegorn sich mit einem Ruck aus seiner liegenden Position auf und setzte sich auf die Bettkante. Dann wischte er sich mit einer trotzigen Bewegung die Tränen weg, zog die Nase hoch, und blickte Hilgorn feindselig entgegen.
Hilgorn setzte sich ihm gegenüber auf die Kante von Iorweths Bett und sagte: "Es ist in Ordnung, um deinen Vater zu trauern."
"Ich brauche eure Erlaubnis nicht", gab Belegorn feindselig zurück. "Ihr habt ihn ja ohnehin nicht ausstehen können, also seid ihr vermutlich froh darüber, dass er... tot ist."
"Imradon und ich mögen nicht gut miteinander ausgekommen sein, schon seit Kindheit an", begann Hilgorn langsam. "Aber er war trotz allem mein Bruder. Ich habe ihn nie wirklich gehasst, und auch ich habe um ihn getrauert."
"Ach." Es war ein hässlicher Laut. "Und jetzt habt ihr ja euer Ziel erreicht, und könnt mir Tíncar wegnehmen - wie er es gesagt hat."
Hilgorn seufzte. "Belegorn, ich habe es dir damals gesagt - ich will Tíncar nicht. Es steht dir zu, nicht mir. Und selbst wenn, käme vor mir noch immer dein Onkel Aldar an die Reihe."
"Und was ist mit meiner Mutter?", fragte der Junge, und zum ersten Mal zitterte seine Stimme ein wenig. "Die wollt ihr mir aber wegnehmen. Ich bin nicht dumm, ich weiß, was ihr..."
"Du hast recht", erwiderte Hilgorn leise. "Ich liebe deine Mutter, und sie liebt mich. Eines Tages werden wir auch heiraten, aber: Du und deine Schwester, ihr seid ihre Kinder. Und sie wird niemals aufhören, ihre Kinder zu lieben oder für euch da zu sein. Ich will dir deine Mutter nicht wegnehmen, und..." Er überlegte einen Moment, während Belegorn seinem Blick schweigend auswich. "Ich kann nicht dein Vater sein, und ihn auch nicht ersetzen", sagte er schließlich. "Aber was auch immer geschieht, ich bin noch immer dein Onkel, und ich kann, wenn du es versuchen willst, dein Freund sein. Dann könnten wir sicherlich miteinander auskommen."
Noch immer stand Misstrauen in Belegorns Augen, als er Hilgorns angebotene Hand betrachtete. "Aber ihr habt meinen Vater gehasst - das hat er gesagt."
"Du bist nicht dein Vater, Belegorn", erwiderte Hilgorn, ohne die Hand zurück zu ziehen. "Was auch immer zwischen mir und ihm war, betrifft dich nicht. Bist du bereit, mir eine Chance zu geben."
Zögerlich ergriff Belegorn seine Hand, und ließ sie sofort wieder los. "Ihr werdet mir das Kämpfen beibringen."
Was wird Faniel nur dazu sagen... dachte Hilgorn, nickte aber ohne zu Zögern. "Wenn ich die Zeit dazu finde, und sonst werde ich dafür sorgen, dass es jemand anders tut. Aber nur unter einer Bedingung."
"Was?", fragte Belegorn vorsichtig, und Hilgorn grinste in sich hinein. Er wusste, er hatte gewonnen.
"Du wirst aufhören, gemein zu deiner Schwester zu sein. Du musst sie ja nicht alles so machen wie sie will, aber ein bisschen netter zu ihr sein, und vielleicht auch mal mit ihr spielen, wenn du eigentlich keine Lust dazu hat. Immerhin sind du und deine Mutter das einzige, was ihr geblieben ist."
Belegorn sah einen Moment zu Boden, und sagte dann so leise, dass es beinahe ein Flüstern war: "Ich will eigentlich gar nicht gemein zu ihr sein. Aber... mein Vater war immer so zu ihr, und ich dachte, ich müsste so sein, wie er."
"Du musst nur so sein, wie eine einzige Person", erwiderte Hilgorn, und stand von der Bettkante auf. "Du selbst."
Als Belegorn seinen Blick erwiderte, hatte er das erste Mal das Gefühl, dass es tatsächlich etwas mit ihnen werden konnte - dass er, Faniel und ihre Kinder, tatsächlich eine Familie sein konnten.
Hilgorn zum Palast...