Widerstrebend trieb Kerry ihr Pferd an. Der Schneesturm war heftiger geworden und nahm ihr die Fernsicht, weshalb sie immer wieder plötzlich aus dem Weiß auftauchenden Bäumen ausweichen musste. Wie es ihr gelungen war, auch Oronêls Pferd bei sich zu behalten, konnte sie später nicht sagen. Irgendetwas schien das Tier dazu gebracht zu haben, dicht bei Kerrys Ross zu bleiben.
Kerrys Gedanken rasten. Oronêl hatte ihr befohlen zu fliehen, doch was war sein Plan? Alleine konnte er gegen das Wargrudel nicht bestehen, das musste ihm klar sein.
Dieser Idiot, dachte sie, als ihr klar wurde, was Oronêl vorhatte.
Er will sich opfern, damit ich entkommen kann. Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten.
Und dabei waren wir so kurz davor, nach Eregion zu kommen. Dort wären wir in Sicherheit gewesen.Die Pferde suchten sich ihren Weg durch den Wald, der immer dichter zu werden schien. Kerry bemerkte, dass es bergab ging, steiler und steiler, bis die Pferde schließlich an einer Böschung stehen bleiben mussten. Ein Knurren hinter ihnen machte Kerry klar, dass ein Teil der Warge sie bis jetzt verfolgt hatte. Doch anstatt Angst fühlte sie nur wachsenden Zorn. Sie ließ die Zügel ihres Pferdes los und zog ihr Schwert. Kleine Schneeflocken landeten auf der Klinge und ließen sie schwach glitzern.
Aus dem Schneesturm schälten sich die zottigen Gestalten dreier Warge, deren Augen unheilvoll glühten. Sie hielten inne, als sie Kerry entdeckten und beobachteten sie lauernd. Oronêls Pferd wieherte ängstlich, doch Kerry rief ihm ein beruhigendes Wort auf Rohirrisch zu. Dann gab sie ihrem eigenen Reittier das Zeichen zum Angriff. Erst zögerlich, dann immer schneller preschte das Pferd direkt auf die Wölfe zu, die, soweit Kerry es erkennen konnte, überrascht wirkten. Im richtigen Augenblick führte Kerry ihre Klinge in einem tiefen Bogen aus dem Sattel heraus und versetzte dem vordersten Wolf einen tiefen Schnitt am Kopf, der ein Ohr abtrennte. Jaulend verschwand die verwundete Bestie in östlicher Richtung im Schneesturm. Die beiden verbliebenen Warge begriffen rasch, dass ihre Beute beschlossen hatte, sich zu wehren und begannen, Kerry zu umkreisen, die zum Stehen gekommen war.
Diese Mistviecher sind geschickt, dachte sie grimmig, denn die Warge pirschten so, dass Kerry immer nur einen der beiden Angreifer gleichzeitig im Auge behalten konnte. Ihr Pferd hatte zwischen den Bäumen nicht genug Platz, um sich rechtzeitig zu drehen. So kam es, dass sie den entscheidenen Angriff nicht kommen sah. Ein dunkler Schatten tauchte ohne Vorwarnung vor Kerrys Gesicht auf und mit einem schweren Prankenhieb wurde sie aus dem Sattel gefegt. Sie landete einigermaßen sanft im Schnee und es gelang ihr, ihr Schwert festzuhalten und sich wieder aufzurappeln. Gerade noch rechtzeitig, denn schon kam der zweite Warg herangestürmt. Kerry riss ihre Klinge hoch und der Wolf spießte sich beinahe selbst daran auf. Empfindlich getroffen trat das Tier ebenfalls den Rückzug an, eine blutrote Spur im Schnee hinterlassend.
Schwer atmend blickte sich Kerry nach dem letzten der drei Warge um. Doch außer Schnee und Wind war nichts zu sehen oder zu hören. In einiger Entfernung entdeckte Kerry schließlich den Schemen ihres Pferdes, das unschlüssig auf der Stelle trippelte. Vorsichtig kam Kerry näher, während sie hektische Blicke in alle Richtungen warf. Noch immer fehlte von dem Wolf jede Spur. Sie erreichte das Pferd und strich ihm beruhigend über die Mähne. Ihr Schwert hielt Kerry noch immer fest in der Hand.
Ein leises Rauschen hinter ihr ließ Kerry erschrocken herumfahren. Das Pferd wieherte und wollte sich in Bewegung setzen, doch Kerry hielt es unter Kontrolle. "Ruhig," wisperte sie und versuchte, im Sturm etwas zu erkennen. Schneeflocken wehten ihr ins Gesicht und blieben in ihrem Haar hängen. Angestrengt starrte Kerry in die Richtung, aus der sie glaubte, das Rauschen gehört zu haben...
Da blinkte ein bläuliches Leuchten zwischen den Bäumen auf, ein kleines Licht, das rasch näher kam. Kerry hielt den Atem an, als sie erkannte, dass das Leuchten von einer Gestalt stammte, genauer gesagt von deren linker Hand ausging. "Farelyë?" rief sie hoffnungsvoll.
"Ich bin es, Schwester," antwortete die Elbin und wurde vollständig sichtbar. "Komm! Die Furten sind nicht mehr fern." Wie auf ein unhörbares Kommando tauchte nun auch Oronêls Pferd hinter Farelyë auf.
"Nein! Wir können nicht gehen. Nicht ohne Oronêl!"
Farelyë blickte Kerry in die Augen und das Licht in ihrer Hand flackerte. "Wo ist er?" wollte sie ernst wissen.
Ehe Kerry antworten konnte, erklang ein warnendes Knurren, und keine Sekunde später huschte ein dunkler Schemen im Sprung direkt auf Farelyë zu. Kerry schrie erschrocken und packte ihr Schwert, doch sie war zu langsam um einzugreifen. Farelyë hingegen verzog keine Miene. Schneller als man es sehen konnte hob sie die Hand, die nun blendend hell aufleuchtete, um sich dann in einem gleißenden Blitz zu entladen, der den Wolf mit rauchendem Fell beiseite schleuderte. Das Tier blieb regungslos dort liegen, wohin es gefallen war. Qualm stieg von dem Kadaver auf.
"Was - was hast du gemacht?" fragte Kerry fassunglos.
Farelyë blieb ihr die Antwort schuldig. Sie trat zu Oronêls Pferd und schwang sich mühelos in den Sattel. "Wir sollten gehen. Weise mir den Weg zu Oronêl, Schwester."
Während sie ritten und Kerry versuchte, sich an die grobe Richtung zu erinnern, aus der sie gekommen war, dachte sie fieberhaft über das nach, was sie gerade gesehen hatte. Dabei fiel ihr ein, was der Verräter Ladion ihr einst in Carn Dûm anvertraut hatte.
"Ich sah einen blauen Blitz aus einer der frischen Gruben fahren und fand sie, umgeben von toten Orks vor. Die Körper der unnützen Maden waren von einem geheimnisvollen Feuer versengt worden. Farelyë war bewusstlos geworden..."Sie warf Farelyë, die neben ihr ritt, einen wachsamen Blick zu. Die Elbin lächelte Kerry zuversichtlich zu. Ihre Hand strahlte noch immer ein schwaches Leuchten aus.
Es dauerte nicht lange, bis sie auf die ersten toten Warge stießen, die durch Oronêls Klinge gefallen waren. Farelyë sprang anmuntig vom Pferd und eilte voran, ohne auf Kerry zu warten. Um die Elbin nicht aus den Augen zu verlieren, blieb Kerry im Sattel und folgte Farelyë in das dichte Schneetreiben hinein. Die Bäume waren hier längst verschwunden; sie schienen sich auf einer Hochebene zu befinden.
Plötzlich tauchte direkt vor Kerry ein Wolf aus dem Sturm heraus auf. Sie ritt das Tier kurzerhand nieder und hastete weiter, denn auch Farelyë hatte nicht angehalten. Das lange Haar der Elbin flatterte im Wind und ihr grauer Umhang bauschte sich hinter ihr auf, als sie die Hand hob und erneut einen Blitz daraus hervorzucken ließ, der einen zweiten Wolf mit brennender Mähne beiseite schleuderte.
Wütendes Jaulen antwortete ihnen und erschrocken stellte Kerry fest, dass vor ihnen ein ganzes Dutzend rot glühender Augenpaare aufgetaucht war. Sie sprang aus dem Sattel und packte ihr Schwert, bereit Oronêl mit ihrem Leben zu verteidigen, auch wenn ihr das Herz bis zum Hals pochte. Farelyë hingegen zeigte keinerlei Anzeichen von Angst. Sie hob die Hand und das Leuchten wurde so grell, dass Kerry die Augen schließen musste. Ein blendendes Flackern zwang sie dazu, den Kopf von Farelyë abzuwenden, als diese ihre Hand mit Wucht auf den Boden niederfahren ließ. Kerry hörte wie die Wölfe mit kollektivem, panischem Jaulen reagierten und sah, als sie die Augen vorsichtig wieder öffnete, mehrere undeutliche Schemen im Schneesturm verschwinden. Hastig arbeitete sie sich durch den tiefer werdenden Schnee voran, bis sie endlich fand, was sie gesucht hatte: Oronêl, der mit dem Rücken zum Boden lag, umgeben von zwei rauchenden Wargkadavern.
"Oronêl!" rief Kerry und ließ ihr Schwert fallen.
"Verdammt, Kerry," ächzte Oronêl und stemmte sich mühsam in Sitzlage. "Ich hatte dir doch gesagt, dass du fliehen sollst."
"Bist du verletzt?" fragte Kerry und ignorierte die Beschwerden des Elben, als sie ihn umarmte.
"Nicht schwerwiegend," antwortete Oronêl und kam langsam auf die Beine. "Was ist geschehen?"
Ehe Kerry ihm diese Frage beantworten konnte, sah sie, wie Oronêls Blick sich von ihr abwandte und zu etwas, das sich hinter ihr befand ging. Sie löste sich von ihm und sah Farelyë näher treten.
Oronêl sagte zunächst nichts, dann neigte er knapp sein Haupt. "Ich verstehe," murmelte er. "Das muss wohl die Macht der Ersten sein..."
Farelyë wirkte gelassen, doch Kerry konnte sehen, dass die Elbin schwer atmete und erschöpft zu sein schien. "Es scheint, als träfe ich gerade noch rechtzeitig ein," sagte sie.
"So viel zu der Frage, ob das Treffen gestern nur ein Traum war," meinte Kerry.
Oronêl schien noch mehr sagen zu wollen, doch ein fernes Heulen ließ sie alle drei erstarren. "Ich fürchte, das Rudel ist nicht für lange in die Flucht geschlagen worden," merkte Oronêl an und sammelte rasch seine beiden Waffen auf. Auch Kerry fand ihr Schwert im Schnee und nahm es wieder in die Hand.
"Ihr habt recht, Oronêl Galion. Wir dürfen hier nicht verweilen." Farelyë führte die Pferde herbei, die ganz in der Nähe gewartet hatten. "Ich werde euch zu den Furten geleiten. Es ist nicht mehr weit. Kommt!"
Kerry teilte sich ihr Pferd mit der Elbin und stellte dabei fest, dass Farelyë inzwischen beinahe einen Kopf größer als sie selbst war, weshalb Kerry nun vor ihr im Sattel saß. Während sich Kerry noch über diese Tatsache wunderte, kamen sie erneut zu der Böschung, an der Kerrys Flucht vor dem Rudel geendet hatte. Farelyë zeigte ihnen einen sicheren Weg hinab, der im Scheetreiben kaum zu sehen war. Als sie wenig später aus dem kleinen Wäldchen wieder heraus kamen, sahen Oronêl und Kerry, dass sich im Norden, zu ihrer Rechten, tatsächlich die Furten des Sirannon befanden. Die Grenze zwischen Dunland und Eregion.
Wie auf ein geheimes Stichwort ließ der Schneesturm inzwischen immer mehr nach. Es war Abend geworden und die Sonne war hinter der dichten Wolkendecke bereits untergegangen. Am Rande der Furten glitt Farelyë rasch aus dem Sattel und blieb stehen. "Ihr solltet die Furten noch heute überschreiten. Die Wächter dieses Landes werden eure Verfolger abwehren."
"Kommst du nicht mit uns?" fragte Kerry überrascht.
Farelyë schüttelte den Kopf. "Ihr solltet nach Ost-in-Edhil gehen, entlang der Straße nach Osten, und mit der Königin sprechen. Mein Weg führt mich zurück zu meiner Lehrmeisterin, die im Turm von Lissailin nahe des Schwanenfleets weilt. Doch sorge dich nicht, Schwester. Ich werde so bald ich kann zu dir stoßen."
"Ich hatte auf ein paar Antworten gehofft und die Möglichkeit, mich für die Rettung zu bedanken," sagte Oronêl. "Doch ich denke, das kann noch etwas warten."
Farelyë trat neben Oronêls Pferd und legte eine Hand auf seinen Unterarm. "Geduld, Oronêl Galion. Antworten werden dich finden... auch wenn du sie nicht erwartest."
Sie nickte Kerry ein letztes Mal zu und eilte dann in westlicher Richtung entlang des Flusses davon. Schon bald war ihre schlanke Gestalt im Dunkeln verschwunden.
"Ich... denke, wir sollten auf sie hören," sagte Kerry nach einem langen Augenblick des Schweigens.
Oronêl nickte langsam. "In Eregion wird es jedenfalls sicherer sein als hier. Ich hoffe, die Warge werden eine Weile ihre Wunden lecken und nicht die Dörfer der Dunländer überfallen."
"Wenn wir in Ost-in-Edhil sind, werde ich darum bitten, dass man diese Bestien jagt," sagte Kerry.
"Ein guter Einfall," merkte Oronêl an. "Eins noch, Kerry: wenn ich dich das nächste mal darum bitte, zu fliehen, dann flieh, hast du verstanden? Beim nächsten Mal wird vielleicht keine Hilfe in der Nähe sein."
"Ich konnte dich nicht einfach sterben lassen," antwortete Kerry. "Das solltest du doch inzwischen wissen. Wir sollten uns nicht darüber streiten, sondern uns freuen, dass noch einmal alles gut gegangen ist."
Oronêl seufzte. "Nun gut. Dann sehen wir zu, dass wir diese Furten rasch überqueren, ehe doch noch etwas Unerwartetes dazwischen kommen kann."
Kerry und Oronêl nach Eregion