Valion saß aufrecht in seinem Bett in dem kleinen Raum, den er sich mit Hauptmann Berion teilte, und betrachtete Edrahils Brief, der im flackernden Licht der Kerzen gerade noch zu entziffern war. Von Berions Schlafstätte am anderen Ende des Raumes drangen leise regelmäßige Atemzüge herüber, und durch das offene Fenster, das kaum mehr als eine verbreiterte Schießscharte war, drang helles Mondlicht herein. Voll und rund stand der nächtliche Wanderer am Himmel über der Burg der Herren von Lamedon und die darunter liegende Stadt Calembel und tauchten die Dächer der Häuser und die hohen, starken Wälle in geheimnsivolles, silbernes Licht.
Vielleicht ist es nur das übersteigerte Misstrauen eines alten Mannes, der sein Amt bereits zu lange ausführt, doch ich habe ein merkwürdiges Gefühl was sie angeht. Edrahils Zweifel an Lóminîth waren deutlich aus seinen Worten herauszulesen. Aber Valion wollte sich nicht ständig von jemandem manipulieren lassen, der sein Leben lang für seine Stellung gekämpft hatte und dessen Vertrauen so selten wie eine Überschwemmung in Mordor zu sein schien. Er erinnerte sich noch gut an den Moment, als er seine zukünftige Verlobte zum ersten Mal gesehen hatte; damals, im Anwesen ihrer Schwester, als die Zwillinge gerade den kleinen Túor kennengelernt hatten. Sie war aus den Schatten erschienen, die von den großen, schweren Vorhängen in Minûlîths großen Esszimmer geworfen wurden. Ihr Kleid war beinahe ebenso schwarz wie die Schatten selbst gewesen, und ihre Augen waren dunkler Schminke umgeben gewesen; was in Umbar wohl Mode zu sein schien. Dann hatte seine Schwester Valion einen Schubs versetzt, und endlich war ihm aufgefallen, dass er gestarrt hatte. Es war eine Situation, über die er sich selbst jetzt, wo er Lóminîth viel besser kannte, noch immer nicht ganz im Klaren war. Es stand außer Frage, dass sie eine überaus schöne Frau war und sich eindeutig zu ihm hingezogen fühlte; spätestens seit der gemeinsamen Nacht, die sie an Bord der
Súlrohír verbracht hatten, nachdem sie aus Umbar geflohen waren. Trotzdem gab es da einige Dinge, die Valion an Minûlîths Schwester nicht ganz verstand. Sie schien sich viel aus der hohen Stellung zu machen, die ihr als Herrin des Ethirs nun zukam und legte großen Wert darauf, von den Adeligen Dol Amroths und Gondors als gleichwertig betrachtet zu werden. Valion selbst hatte sich nie groß um Titel und Ränge geschert. Es machte ihm nichts aus, seine Unterkunft mit den einfachen Soldaten zu teilen, wie er es zwischen den beiden Schlachten um Dol Amroth oft getan hatte. Er beharrte nicht darauf, vom einfachen Volk als "Herr" angesprochen zu werden und bildete sich nicht ein, durch seine hohe Abstammung etwas Besseres zu sein als jemand, der aus einfachen Verhältnissen stammte. Und ihm war klar, dass Lóminîth in dieser Angelegenheit anderer Ansicht war.
Überrascht fuhr Valion auf, als jemand die Kerzen auspustete. Es war Berion. "Die Liebesbriefe deiner Herzensdame kannst du dir morgen auf dem Rücken deines Pferdes nach Belieben durchlesen," murmelte der Hauptmann verschlafen. "Wird Zeit, sich endlich auf's Ohr zu legen, Freund."
Valion machte ein zustimmendes Geräusch und ließ Edrahils Brief wieder verschwinden. Bald darauf war er eingeschlafen.
Am folgenden Morgen ging das Heer, das zum Großteil auf den Felder außerhalb Calembels kampiert hatte, vor den Toren der Stadt in Marschformation. Valion setzte sich gemeinsam mit Hilgorn und Berion an die Spitze und so ritten sie dem Heer im Schritttempo voraus, während sie der gut ausgebauten Straße nach Südwesten in Richtung Dol Amroth und Edhellond folgten. Sie durchquerten ein sehr breites Tal im südlichen Lamedon, das zwischen den Bergen von Dor-en-Ernil und dem großen Berg südlich von Tarlangs Hals lag. Zu ihrer Rechten plätscherte der Fluss Ciril neben ihnen her und überall sahen sie Anzeichen des nahenden Herbstes, denn die Obstbäume, die hier in großer Anzahl wuchsen, standen voller unreifer Früchte. Bald würde die Erntezeit beginnen.
Hilgorn schien sich allerdings über andere Dinge Gedanken zu machen. Er hatte den rohirrischen Bogenschützen zu sich rufen lassen, der als Teil von Ladions Einheit gekämpft hatte. Valion ritt etwas näher heran zum zu verstehen, worüber die beiden sprachen.
"Mein Name ist Cynewulf, Cynegars Sohn," stellte sich der berittene Bogenschütze gerade vor, und Valion erinnerte sich an das kurze Gespräch, das er mit dem Mann direkt vor Beginn der Schlacht in Morthond geführt hatte. "Ich freue mich, Eure Bekanntschaft zu machen, General Hilgorn Thoron."
"Und ich danke Euch im Namen des Volkes von Dol Amroth, Morthond, und ganz Gondor für Eure Unterstützung im Kampf gegen die Horden Mordors," antwortete Hilgorn gewohnt höflich. Valion war kurz davor, die Augen zu verdrehen.
Frag ihn doch einfach was du wissen willst und spar dir diese furchtbaren Floskeln, dachte er und war schon drauf und dran, sich in das Gespräch einzumischen.
Hilgorn kam ihm jedoch zuvor und sagte: "Nun, Cynewulf, dieser Angriff bedeutet nichts Gutes für Gondor und Rohan, denn er zielte ohne Frage darauf ab, die wichtige Verbindung zwischen den Hauptstädten beider Reiche zu durchtrennen, so unwahrscheinlich ein Erfolg auch zu sein schien. Wie ist die Lage in Rohan, Freund? Halten die Rohirrim noch immer den Mering-Strom als Grenze zu den besetzten Gebieten, die nun unter Saurons Herrschaft stehen?"
"Königin Éowyn und Herr Faramir lassen unsere Grenzen scharf bewachen," erklärte Cynewulf und berichtete davon, wie er als Teil der Garnison der Festung von Helms Klamm daran gearbeitet hatte, die Burg wieder instand zu setzen und ein wachsames Auge auf die Grenze zu Dunland zu haben. Auch die östlichen und nördlichen Grenzen Rohans waren laut seinem Bericht gut bewacht und wurden von häufigen Patrouillen berittener Trupps ständig überwacht. Zwei direkte Angriffe hatten die Rohirrim unter Faramirs Führung zurückgeschlagen und an der Nordgrenze einen Schlag gegen die Festung Dol Guldur geführt, die inzwischen dem Verräter Saruman in die Hände gefallen war. Die Nordgrenze Rohans, die vom Fluss Limklar gebildet wurde, wurde von einem starken hölzernen Fort gesichert, das auf einer Landzunge zwischen Limklar und Anduin stand. Nun, da Rohan sein Bündnis mit Saruman beendet hatte, galt es, ebenso wachsam in Richtung des Reiches der Weißen Hand zu blicken wie es bei Mordor der Fall war.
"Wenn Mordor uns erneut angreift, könnte ein Gegenschlag aus Rohan genau das Richtige sein, um Sauron dazu zu zwingen, seine Streitmacht aufzuteilen und uns somit etwas zu entlasten," überlegte Hilgorn. "Ich werde dem Truchsess vorschlagen, erneut mit Heermeister Faramir in Kontakt zu treten und detaillierte Pläne für einen neuen, offenen Krieg gegen Mordor zu machen. Meine Dank, Cynewulf. Das war vorerst alles, was ich wissen wollte."
Der Reiter von Rohan verneigte sich leicht und preschte dann davon, um sich wieder den Kundschaftern anzuschließen.
Gegen Abend erreichten sie die Grenze, an der das Lehen Angbors, des Herrn von Lamedon endete und der Einflussbereich der Prinzen von Dol Amroth begann. Der Ciril teilte sich hier in viele kleinere Bäche auf, die sich durch dichtes Reet und andere Sumpfplanzen schlängelten und einige Meilen weiter südlich wieder zu einem einzigen, breiten Fluss zusammenströmten. Die alten Baumeister Gondors hatten große Teile des Ciril-Sumpfes trockengelegt, damit die in den Boden gestampften Steine der Straße nicht nach kurzer Zeit versunken waren, weshalb die Durchquerung dieses Gebietes der Streitmacht Dol Amroths kaum Schwierigkeiten bescherte.
Valion ritt inzwischen bei der Nachhut, die von Ladion angeführt wurde, und unterhielt sich mit dem Elben über dessen Erlebnisse in Mittelerde. Dabei kamen sie schließlich auf einen gewissen Oronêl zu sprechen, den Ladion als Ahnherren des Hauses von Dol Amroth vorstellte.
"Es gab schon lange das Gerücht, dass in den Adern der Prinzen elbisches Blut flösse," meinte Valion. "Ich selbst habe das immer für ein Märchen gehalten. Dass es also tatsächlich wahr sein soll..."
"Du hast in den Schlachten um Dol Amroth gekämpft, nicht wahr?" erwiderte Ladion. "Herr Oronêl focht in der ersten Belagerung unten am Haupttor. Bist du sicher, dass du ihn nicht gesehen hast?"
"Ich kämpfte Rücken an Rücken mit meiner Schwester auf den südwestlichen Mauern," erklärte Valion. "Und diese Belagerung war ein einziges Chaos. Mir ist kein Elb unter den Verteidigern aufgefallen."
"Nun, jedenfalls war der erste Fürst von Dol Amroth der Sohn von Oronêls Tochter Mithrellas, in deren Begleitung ich in die Stadt gekommen bin. Fürst Imrahil und seine Kinder sind ihre Nachfahren."
Valion überlegte einen Augenblick. "Lothíriel und Erchirion haben meine Schwester und mich immer als Cousin und Cousine bezeichnet, auch wenn die Verwandtschaft in Wahrheit längst nicht so eng ist. Doch es war die Schwester eines meiner Vorfahren, die in das Haus der Schwane einheiratete. Ich kann also mit großer Sicherheit von behaupten, keinen Tropfen elbischen Blutes in mir zu haben."
Ein schiefes Grinsen legte sich auf Ladions Gesicht. "Ja, daran besteht wohl kein Zweifel."
Hilgorn, Valion, Cynewulf und Ladion mit dem Heer Dol Amroths nach Dol Amroth