Córiel und Vaicenya aus dem SchattenbachtalEinst waren die Grenzen des Goldenen Waldes streng bewacht gewesen. Unter den dichten Baumkronen hatten versteckte, scharfäugige Grenzposten Tag und Nacht Wache gehalten, denen nicht die kleinste Bewegung entgangen war. Nichts hatte die Wälder Lothlóriens betreten können, ohne dass die Galadhrim davon erfuhren. Zwar hatte es immer wieder Angriff der Orks des nahen Nebelgebirges gegeben, gegen die die nur in kleinen Gruppe umherstreifenden Grenzwächter wenig ausrichten konnten, doch Nachrichten waren unter den goldenen Baumkronen rasch gereist und es hatte nie lange gedauert, bis eine schlagkräftige Elbenstreitmacht die Eindringlinge gestellt und vernichtet hatte.
Seit dem Fall Lothlóriens hatte sich die Lage an den Grenzen deutlich geändert. Den gesamten Weg vom Schattenbachtal hinab zur Baumgrenze Lórien hatte Córiel Rauch über den Baumkronen aufsteigen sehen - ein Anblick, der ihr gar nicht gefallen hatte. Trotz ihrer kämpferischen Persönlichkeit und ihres Temperaments war sie noch immer eine Elbin, und Elben lebten im Einklang mit der Natur. Die systematische Zerstörung und Ausbeutung des Goldenen Waldes durch die Kriegsmaschinerie der Weißen Hand war etwas, das Córiel gleichzeitig traurig und wütend machte. Sie konnte noch immer nicht glauben, wie kalt all das Vaicenya zu lassen schien. Denn die Dunkelelbin verlor zu der Verwüstung Lothlóriens nicht ein einziges Wort, als würde sie sie nicht einmal wirklich wahrnehmen.
Niemand hielt sie auf, als sie in Begleitung dreier Uruks die Grenzen Lóriens überquerten. Entlang des Celebrant-Flusses marschierten sie durch die Wälder, die einst von melancholischem Elbengesang erfüllt gewesen waren. Doch nun drangen nur ferne Geräusche fallender Bäume an Córiels spitze Ohren. Schier unermüdlich verarbeiteten die Holzfäller Sarumans die wertvollen Bäume Lothlóriens zu Kriegsmaschinen und zu Futter für die Schmelzöfen der Schmieden Morias und Dol Guldurs. Auch wenn die Verbindung nach Moria im Augenblick unterbrochen war glaubte Córiel nicht, dass das Fällen der Bäume enden würde. Noch war nur ein kleiner Teil Lothlóriens gerodet worden, doch mit jeder Minute wuchs die Schneise, die die unbarmherzigen Orks in den Goldenen Wald schlugen.
Mehrere Meilen jenseits der Grenzen Lóriens, als es Abend geworden war, rastete die kleine Gruppe. Córiel hielt sich von den Uruks fern, für die sie nichts als Abscheu empfand. Sie hatten an einer von Sarumans Dienern errichteten Versorgungsstation angehalten, die aus mehreren schlampig zusammengezimmerten Holzhütten an Rande einer sich im Bau befindlichen Straße von Caras Galadhon bestand. Der Celebrant bahnte sich ganz in der Nähe seinen Weg durch den geschändeten Wald und sein klares Wasser wurde an mehreren Stellen von verschmutzten Ausflüssen der Maschinen verunreinigt, mit denen die Orks das Holz zersägten. Während die Uruks zwischen den Hütten ein Feuer entfacht hatten, war Córiel auf einen Baum geklettert, um etwas Abstand zu ihnen zu bekommen. Es war eine schlanke, aber standfeste Birke, in deren Krone Córiel einen breiten Ast fand, auf dem sie, mit dem Rücken an den silbernen Stamm gelehnt, sitzen konnte.
Sie schloss für einen Moment die Augen. Aus der Schlacht im Schattenbachtal hatte sie einige kleinere Verletzungen davongetragen, die dank des eiligen Marsches, den sie hinter sich hatte, noch immer schmerzten. Doch Córiel störte sich nicht an den Schmerzen. Auf eine Weise halfen sie ihr, sich ihres Körpers wieder mehr bewusst zu werden und sie im Hier und Jetzt zu verankern, anstatt sich in Gedankenwelten zu verlieren. Sie öffnete die Augen und blickte nach oben, zu den Sternen, die nun, da es dunkel genug war, am Himmel erschienen waren. Die Sichel der Valar hing im Norden, über den Tal des Anduin, und Córiel fragte sich, ob es sich dabei wohl um ein Zeichen der Herren des Westens handelte. Sie wusste, dass die Bewohner des Tales ihre Heimat verlassen hatten, denn Jarbeorn hatte ihr oft davon erzählt.
Jarbeorn, dachte sie.
Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, dass ich dich in Imladris zurückgelassen habe. Ich hätte es nicht getan, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte. Und ich wünschte, du wärst jetzt hier. Hoffentlich bist du in Sicherheit.Von den Sternen kam keine Antwort. Córiel seufzte leise und wandte den Blick nach Osten, wo die dichten Rauchwolken noch immer von Caras Galadhon aufstiegen und den Himmel dort verdeckten. Nicht einmal das Licht der Sterne drang durch den schwarzen Qualm der Kriegsmaschinerie Sarumans. Und genau dort, im Zentrum der Zerstörung, die der Weiße Zauberer über das Reich der Galadhrim gebracht hatte, lag Vaicenyas Ziel, soweit Córiel es nachvollziehen konnte.
Córiel spürte, wie der Stamm der Birke, auf der sie saß, unter mehrfacher Berührung erzitterte. Wenig später tauchte Vaicenya auf dem Ast neben ihr auf. Die Dunkelelbin stand dort, ohne sich festzuhalten, und hatte den Blick ebenfalls zu den Sternen hinauf gerichtet. Sie streckte ihren linken Arm aus, und im fahlen Licht blitzte der Ring aus Mithril an ihrem Finger dabei auf.
“Genau sieben Tage sind vergangen,” sagte Vaicenya. “Doch die Ufer des Spiegelsees sind nun vom Feind besetzt. Deswegen muss ich meinen Treffpunkt mit Rovallír ein wenig anpassen.”
Noch immer hielt sie den Ring ins Licht der Sterne und verharrte so eine halbe Stunde, bis das Rauschen gewaltiger Flügel erklang und der Adler, dem sie in Eregion begegnet waren, auf der Krone der Birke landete. Córiel war überrascht, dass der Baum das Gewicht der mächtigen Kreatur ohne Probleme aushielt.
“Gut gemacht, mein scharfäugiger Freund,” begrüßte Vaicenya den Adler. “Sage mir, stehen die Orks des Nordens noch immer Wache im Schattenbachtal?”
“Meinen Gruß, Edle. Ich war pünktlich am Treffpunkt, doch konnte ich rasch erkennen, weshalb Ihr mich dieses Mal versetzt habt.” Es lag kein Vorwurf in Rovallírs Stimme, doch der Blick, den er Vaicenya zuwarf, schien nicht mehr denselben Respekt zu beinhalten, den er noch in Eregion gezeigt hatte.
“Geritten bin ich auf den Schwingen des Westwindes, der mich schneller als erhofft über den großen Grünwald trug und auch die weiten Ebenen der jenseitigen Lande rasch dahin ziehen ließ. Nach einiger Suche fand ich jenen Ort, den Ihr mir zu finden auftrugt.”
“Du bist dem Fluss inmitten der verwunschenen Bäume bis zu seinem Ursprung gefolgt?” fragte Vaicenya ruhig.
“Das bin ich. Er schwand mehr und mehr, bis er nicht mehr als ein Bach zwischen hohem Schilf war, kaum noch sichtbar jenseits der Baumkronen. Ich folgte dem Wasser, bis ich an eine Lichtung kam, an der das Licht von Sonne und Mond nur gedämpft zu leuchten schien. Dort gibt es eine Quelle, aus der der Bach entspringt. Als ich näher kam, wurde meine Anwesenheit bemerkt.”
“Von wem?”
“Von Eurem Volk, Edle. Es sind Elben, die inmitten dieses geheimnisvollen Waldes leben. Angeführt werden sie von einer Frau Euresgleichen.”
“Das kann nicht sein. Es gibt niemanden mehr auf dieser Welt, der...” Vaicenya brach ab und ließ den Satz unbeendet.
“Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen,” fuhr der Adler fort. “Dennoch glaube ich nicht, dass ich mich irre.”
Vaicenya winkte ab. “Es ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass die Quelle noch immer dort ist. Sollten sich meine Hoffnungen hier im Goldenen Wald nicht erfüllen, gibt es also eine weitere Möglichkeit.”
“Ich gehe davon aus, dass das nun alles wäre, was Ihr von mir benötigt, Edle,” meinte der Adler unbeeindruckt. “Gehabt Euch wohl, auf Euren Reisen.”
“Zieh deiner Wege, Rovallír. Unsere Abmachung ist hiermit erfüllt und unser Handel abgeschlossen.”
Ohne ein weiteres Wort schwang sich der Adler wieder in die Lüfte und verschwand am sternenbedeckten Himmel in Richtung Norden.
Vaicenya blieb lange still und stand beinahe regungslos da, aufrecht auf dem dünnen Ast, der aus der Krone der Birke hervor ragte. Von unten drangen leise Wortfetzen zu ihnen hinauf, als sich die Uruks miteinander unterhielten. Córiel konnte nicht verstehen, was sie sagten. Sie saß noch immer mit dem Rücken an den Stamm des Baumes gelehnt und konnte sich keinen Reim darauf machen, worum es bei den Gespräch zwischen dem Adler Rovallír und der Dunkelelbin gegangen war. Doch verspürte sie nur wenig Lust, nur wegen ihrer Neugierde ein Gespräch mit Vaicenya anzufangen.
“Sieh dich um,” sagte diese einige Zeit später, als würde sie die sie umgebende Verwüstung erst jetzt wirklich bemerken. „Dies ist das Werk der Kreaturen des Schattens. Sie zerstören und verbrennen in wenigen Stunden das, was viele Jahre zum Wachsen gebraucht hat. Das ist einer der Gründe - wenn nicht sogar der Wichtigste - warum sie alle sterben müssen. Einen nach dem Anderen müssen wir sie vom Angesicht Ardas tilgen, du und ich. Sobald du wieder bereit bist. Sobald wir getan haben, weswegen wir hergekommen sind.”
“Du stehst mit denen im Bund,” erwiderte Córiel, die nun nicht länger schweigen konnte. “Du bist mitverantwortlich für den Fall Lothlóriens, indem du dich Saruman angeschlossen hast.”
“Sprich mir nicht von Saruman. Er ist ein machthungriger Narr, der nicht versteht, was auf dem Spiel steht. Er wird sich in seinem Krieg gegen Sauron verzetteln und schon bald vor einer Niederlage stehen. Ich selbst habe seinen Untergang eingefädelt.”
Córiel war klar, dass sie Vaicenya kein Wort davon glauben konnte. Dennoch machten die Behauptungen der Dunkelelbin sie wütend. “Du lügst,” widersprach sie. “Dir geht es nicht um den Tod aller Orks, sonst hättest du dich nicht in den Krieg in Dunland eingemischt und die Elben in Imladris und Eregion nicht bedroht. Dir geht es doch nur um dich selbst. Du verfolgst deine selbstsüchtigen Ziele und alle um dich herum sind nur Werkzeuge, die du zur Erreichung deiner Träume benutzt. Du bist kein bisschen besser als Saruman oder Sauron.”
Córiel hatte schnelle Reflexe, doch gegen Vaicenyas Geschwindigkeit hatte sie keine Chance. Schneller als sie es sehen konnte, schoss ein Fuß aus den Schatten der Baumkrone hervor und fegte die Hochelbin mit einem schweren Tritt gegen die Brust von dem Ast herunter, auf dem sie saß. Aufschreiend stürzte sie in die Tiefe und hatte Glück, halbwegs sanft in einem großen Gebüsch zu landen, das zwischen den Wurzeln der Birke wucherte. Der Aufprall presste alle Luft aus Córiels Lungen und sie blieb keuchend an Ort und Stelle auf dem Rücken liegen. Geschickt landete Vaicenya vor ihr und prüfte mit einer raschen Bewegung Córiels Puls an ihrem Hals. Als sie sicher war, dass die Hochelbin noch lebte, sagte sie leise: “Erhebe noch einmal so die Stimme gegen mich, und ich vergesse den Schwur, den ich dir einst gab. Du hast die Jahrtausende nicht miterlebt, die ich überdauert habe. Du hast nicht getan, was ich habe tun müssen. Du kannst es nicht verstehen, und deswegen werde ich dieses Mal darüber hinweg sehen. Doch vergiss nie, wo dein Platz ist, meine Liebe. Vergiss es nie.” Damit wandte sie sich ab und rauschte davon.
Ächzend vor Schmerz richtete sich Córiel schließlich auf. Sie verstand nun noch viel weniger, was Vaicenya eigentlich vorhatte, und wie sie zu ihr stand.
Es ergibt einfach keinen Sinn. Ist sie vielleicht einfach wahnsinnig geworden? Kann man überhaupt Sinn und Zweck in ihren Worten und Handlungen finden? Sie wusste es nicht. Voller Sorge über die nächsten Tage legte sie sich schließlich schlafen und es gelang ihr glücklicherweise, rasch einzunicken.
Am folgenden Morgen schien Vaicenya die Angelegenheit bereits vergessen zu haben. Sie brachen früh nach Sonnenaufgang auf, der Straße tiefer in den Wald hinein folgend. Zwischen den Baumkronen waren schon bald kein blauer Himmel oder gar Wolken zu sehen, sondern nur noch die gewaltige Rauchsäule, die vor ihnen aufstieg und inzwischen den gesamten Raum jenseits der Baumwipfel einnahm. Caras Galadhon lag vor ihnen.
Córiel und Vaicenya nach Caras Galadhon