Die Schatten, die sich über die Lichtung gelegt hatten, gaben Jutan nur langsam frei. Er war kaum zum Atmen fähig und konnte keinen einzigen Muskel seines Körpers bewegen.
Eben hatte der Hexenkönig Glorfindel mit ungeheurer Wucht niedergeschlagen, und Maethor war von einem unnatürlich mächtigen Wind gegen einen Baum geschleudert worden.
"Dafür wirst du leiden!", ertönte die zischende Stimme des Hexenkönigs in seinem Ohr. Nur bruchstückhaft bemerkte er, dass sein Feind ihn direkt ansah mit seinen matt rot leuchtenden Augen, die sich zwischen der eisernen Krone und dem Saum der schwarzen Gewänder befanden, so sehr saß ihm die Furcht in den Gliedern.
Ich darf mich nicht von der Furcht beherrschen lassen! Komm schon, Jutan, reiß dich endlich zusammen! Du darfst ihn nicht an seinen Morgenstern kommen lassen, ansonsten hast du gleich verloren!
Als wäre er aus einem Traum erwacht, gehorchten seine Glieder plötzlich wieder seinen Befehlen. Obwohl er noch immer große Furcht in seinem Innersten verspürte, griff er direkt an. Er selbst konnte kaum glauben, dass es seine Angst bezwungen hatte, doch ihm war es tatsächlich gelungen.
Obwohl der Hexenkönig kein Gesicht besaß, war es ihm anzumerken, dass er wohl überrascht war. Schneller als Jutan es erwartet hatte erhob sein Gegner die Klinge zur Parade. Stahl schlug auf Stahl, der Hexenkönig drückte Jutan ein Stück von sich weg und ging sofort zum Gegenangriff über. Erneut kreuzten sich die Schwerter der Beiden. Jutan spürte, dass sein Gegner stärker war als er selbst. Aus den Augenwinkeln hinaus sah er, wie Maethor sich schon wieder rührte.
Wenn ich ihn noch so lange hinhalten kann, bis Maethor wieder hochkommt, haben wir vielleicht noch eine Chance auf den Sieg!
Völlig unerwartet sprach der Hexenkönig ihn an: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie du meine Diener bezwungen hast. Doch auch wenn dies dein Verdienst gewesen ist, so überschätzt du dich, wenn du glaubst, mich besiegen zu können!“
Der Schreck, den er besiegt geglaubt hatte, fuhr ihm wieder in seine Glieder. Seine Hände wurden feucht, seine Kehle brachte keinen Laut hervor. Wenn der Hexenkönig ein Gesicht hätte würde er wohl grinsen, so schien es Jutan nun. Auch die Augen schienen zu blitzen, wie wenn ein Mensch lachen würde. Der Hexenkönig war aber kein Mensch! Plötzlich sah er längst vergessen geglaubte Bilder vor seinen Augen...
... Jutan suchte unter den unzähligen Orkkadavern den Menschen, der ihm am Meisten bedeutete in seinem Leben. Er hatte ihm das Fechten gelehrt, wie man Vieh großzieht, wie man reitet... Er war der wichtigste Mensch für ihn! Er durfte einfach nicht tot sein, nicht nach alledem!
Auch viele gefallene Rohirrim lagen auf den zerstörten Mauern von Helms Klamm. Der Anblick ihrer Körper, ihre weit offenen Augen, all dies löste Furcht und starken Brechreiz in ihm aus. Er durfte jedoch nicht aufgeben! Es galt, seinen Vater zu finden!
Er eilte den Wehrgang hinauf auf die Mauer, auf der er selbst Seite an Seite mit seinem Vater gefochten hatte. Jutan wäre bis zum Bitteren Ende an dessen Seite geblieben, doch dieser hatte ihm befohlen, in die Hornburg zu fliehen, er hatte ihm noch ein wenig Zeit verschaffen wollen. Natürlich hatte er auch Angst gehabt, doch sein Vater war es ihm Wert gewesen, sich dieser zu stellen. Jetzt verfluchte er sich jedoch für seine Feigheit. Er hätte wirklich bis zum bitteren Ende bleiben sollen, Seite an Seite mit seinem Vater kämpfen und sterben!
Schon war er an den ersten Toten angelangt, es waren jedoch nur Orks. Sein Vater war bestimmt noch am Leben! Nicht einmal diese großwüchsigen Orks hätten es mit ihm aufnehmen können, nicht mit Jutans Vater!
Sein Vater hatte ein besonderes Erkennungsmerkmal, er besaß nämlich ein besonderes Kurzschwert, welches nicht so silbrig glänzend war wie die anderen metallenen Schwerter, sondern eher golden war, jedoch nicht aus diesem edelsten Metall bestand. Es bestand aus dem Stoff Bronze, und es war in ganz Helms Klamm das Erkennungsmerkmal von Jutans Vater gewesen. An ebendiesem Schwert würde er ihn erkennen können, egal wie sehr ihn die Orks geschändet hatten!
Die meisten der Toten hatten noch ihre Schwerter bei sich. Alle glänzten sie silbrig, die Orksäbel in einem matten grau. Bronze war jedoch nicht dabei. Er musste weiter suchen!
Und da sah er ihn, seinen Vater, nur einige Schritt weit vor ihm, an der Mauer kniend, ein Ork vor ihm liegend. Sein Herz schien stillzustehen. Da lag er, und er rührte sich nicht. Jutan hechtete zu ihm, und jeder Herzschlag kam ihm wie eine Ewigkeit vor, während er immer näher kam. Vom Gesicht her war es sein Vater, doch hatte er auch das Schwert?
Bei ihm angekommen, hievte Jutan den Ork von seinem Vater. In der Brust des Scheusals steckte noch das Schwert, welches ihn erschlagen hatte – ein bronzenes Schwert, das seines Vaters!
Schnell blickte er zu ihm, den Menschen, der ihm am Meisten bedeutete. Sein Gesicht war ganz ruhig, so als würde er nur schlafen. Jutan war schon den Tränen nahe. Warum nur war er nicht an seiner Seite gewesen?
Plötzlich öffnete sein Vater die Augen, sie leuchteten matt rot und blickten Jutan boshaft und hasserfüllt an. Er stieß Jutan grob weg von sich. Was war nur mit ihm los? Jutan wusste nicht mehr, ob er fröhlich darüber sein sollte, dass sein Vater noch lebte, oder ob er Angst vor ihm haben sollte.
Entsetzt sah er zu, wie sein Vater einen Gegenstand, der ihm bis dahin noch nicht aufgefallen war, vom Boden aufhob. Es war eine eiserne Krone! Sein Vater setzte sich die Krone auf, und seine Augen leuchteten boshaft zu Jutan.
„Aufhören! Ich weiß, dass dies nur eine Illusion von dir ist!“ Kaum hatte er dies gerufen, drehte sich alles um ihn herum, und formte sich langsam zur Lichtung, auf der er eigentlich stand. Auch sein Vater veränderte sich, sein Gesicht verblasste und seine Kleidung wurde schwarz. Am Ende hatte er gar kein Gesicht mehr, nur noch die matt leuchtenden roten Augen waren geblieben – der Hexenkönig!
„Aufhören! Aufhören, habe ich gesagt!“
Es schien Jutan, als sein er eben in seinen Körper hineingefallen. Der Hexenkönig stand nun direkt vor ihm, er hatte sich nicht bewegt. Noch immer hatte er sein schwarzes Schwert in der Rechten, gekreuzt mit der Elbenklinge, und der Morgenstern lag nicht weit entfernt.
Jutan selbst aber war durchströmt von verschiedensten Gefühlen. Zum Einen hatte er unglaublichen Zorn auf den Hexenkönig, weil dieser in seinen Gedanken herumgewühlt hatte, zum Anderen standen ihm schon die Tränen in den Augen, weil ihn diese Erinnerung immer mit tiefster Traurigkeit erfüllte, daher hatte er versucht, dieses Ereignis zu vergessen. Es gab nur eine Sache, die ihn daran hinderte, den Hexenkönig direkt anzugreifen, seine eigene Furcht vor seinem Feind.
Dieser begann plötzlich zu lachen, ein kaltes, gefühlsloses Lachen, und er sagte in mitleidvollem, fast kindischem Tonfall: „Dein Vater ist also tot? So viel hat er dir bedeutet? Armer, kleiner Rohirrim! Ich werde dich trösten.“
Der geschichtslose König streckte seine von einem metallenen Handschuh umgebene linke Hand nach Jutans Gesicht aus. Sein Verstand wehrte sich dagegen, doch irgendwie nahmen ihn die Augen seines Feindes zu sehr in ihren Bann. Er hatte das Gefühl, der Hexenkönig verspüre wirklich Mitleid mit ihm!
Als die Hand des dunklen Fürsten sein Gesicht berührte und es streichelte, zuckte er leicht zusammen von der Kälte dieser Berührung. Der Hexenkönig war viel größer als er selbst, und er wirkte auf Einmal nicht mehr so dunkel, sondern eher väterlich und voller Mitleid.
Von einem Moment auf den Anderen verging dieses Bild in Jutans Gedanken jedoch wieder, denn der Hexenkönig erhob plötzlich sein schwarzes Schwert, und zischte, wieder in seinem üblichen, markerschütternden Tonfall: „Du Narr! Glaubst du tatsächlich, der Fürst der Nazgûl empfände Mitleid mit seinen Opfern? Nun denn, sei ab jetzt gefangen zwischen Leben und Tod, verdammt dazu, auf Ewig mein Sklave zu sein!“
Langsam zielte der Hexenkönig mit seinem Schwert auf Jutans Brust. Er wollte schreien, davonlaufen, doch seine Glieder gehorchten ihm nicht. Die Furcht, die der Hexenkönig ausströmte, hatte ihn wieder vollständig im Griff.
Komm schon, Jutan! Du hast es eben erst geschafft, deine Angst zu besiegen, du kannst es auch noch einmal!
Die Klinge des Hexenkönigs stieß vor, und Jutan schaffte es endlich, sich zu bewegen. Er wollte sich unter der Waffe seines Feindes wegducken, doch er war zu langsam. Sengender Schmerz fuhr durch seinen Körper, als das schwarze Schwert seine linke Schulter durchbohrte, direkt gefolgt von unglaublicher Kälte, die sich binnen eines Herzschlags über seinen ganzen Körper ausbreitete. Vor seinem inneren Auge spielten sich die schlimmsten Erinnerungen seines Lebens ab.
Jetzt ist es aus mit mir! Maethor, so komm doch endlich!