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Autor Thema: Tol Thelyn  (Gelesen 19121 mal)

Fine

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Tol Thelyn
« am: 7. Okt 2016, 00:03 »
Valion, Valirë und Veantur mit der Súlrohír von der Bucht von Belfalas


Die Súlrohír ankerte vor einem breiten Sandstrand, der sich zwischen zwei von hohen Klippen gesäumten Küstenabschnitten befand. Der Kapitän stellte den Zwillingen das große Beiboot zur Verfügung und sie nahmen sieben Krieger vom Ethir mit als sie die kurze Strecke bis zum Ufer zurücklegten. Knirschend stieß die Unterseite ihres Boots auf Sand und sie sprangen durch das knöcheltiefe Wasser an Land. Zwei Mann blieben zurück um das Boot zu bewachen und zu siebt machten sie sich in Richtung des Turms auf, der in der Ferne hinter einem bewaldeten Stück Land zu sehen war.

"Was erzählt man sich unter Seefahrern über diese Insel?" fragte Valirë den ältesten ihrer Begleiter, einen alten Seefahrer vom Ethir.
"Viel weiß ich nicht," antwortete dieser. "Es gibt über die Weiße Insel nur alte Legenden. Angeblich ist sie von Schatten bewohnt."
"Schatten?" wunderte sich Valion. "Das ist doch nichts als Gerede. Was meint Ihr, wer wohl den Turm erbaut hat? Ganz offensichtlich ist er von númenorischer Bauart. Ich schätze, hier gab es einst einen Hafen der Dúnedain."
"Zumindest bis vor Kurzem," vermutete Valirë. "Doch wer auch immer den Turm in Brand gesteckt hat, er war ein Feind der Insel und seiner Bewohner. So viel steht fest."
Sie gingen weiter und näherten sich dem Turm. In der Nähe der Bäume fanden sie eine Straße, die durch das kleine Wäldchen direkt auf ihr Ziel zuführte. Sie folgten dem Weg und durchquerten den Hain während die Sonne ihren Zenit erreichte. Gesprochen wurde kaum. Sie alle hielten ihre Waffen griffbereit und die Anspannung war deutlich spürbar. Etwas lag in der Luft.

Die Gruppe verließ den Schatten der Bäume, und sie kamen auf eine Ebene, die zwischen ihnen und dem Turm lag. Überall sahen sie Spuren der Verwüstung. Offenbar hatte es hier einst bewohntes und bestelltes Land gegeben. Valion sah zerstörte Höfe und Felder, jedoch nirgendwo Zeichen der Inselbewohner. Sie durchquerten ein verlassenes Dorf in dem sich nichts regte als der Wind, der über die Dächer strich. Der Turm rückte näher. Eine traurige Stille lag über der Insel und selbst den Zwillingen war nicht nach draufgängerischen Sprüchen zumute. Die Verwüstung bedrückte sie alle, obwohl sie nicht wussten, wer hier gelebt hatte oder weshalb die Zerstörung angerichtet worden war.

In der Nähe des Turms durchquerten sie einen überwucherten Garten, der wohl einst ordentlich und gepflegt gewesen war, nun jedoch mit dem Rest der Insel dem Verfall preisgegeben war. Zu ihrer Überraschung fanden sie dort einen Mann vor, der regungslos auf den verkohlten Turm starrte. Er war von hochgewachsener Gestalt und trug haradische Gewänder, doch seine Gesichtszüge erinnerten Valion eher an seine Verwandten, die Fürsten von Pelargir, als an einen Südländer.
Vorsichtig näherten sie sich und als der Mann keine Reaktion zeigte sprach Valirë ihn an.
"Zum Gruße, Freund. Was bringt euch an diesen düsteren Ort?"
Der Fremde wandte sich ihr zu, den Blick von jemandem, der aus einem Traum erwacht in den grau schimmernden Augen. "Wer seid ihr?" fragte er. "Ihr seid keine Haradrim, nein.... keine von Sûladans Schergen." Er musterte sie der Reihe nach und sein Blick blieb an Valion hängen. Einen Augenblick starrten die beiden Männer einander an, doch dann senkte der Fremde den Blick. "Dies ist Tol Thelyn. Einst war es die Insel des Sonnenuntergangs. Die Insel der Standhaften. Die Weiße Insel. Doch heute ist sie nichtsmehr von alldem. Der Schatten Sûladans hat sie verschluckt. Und es ist meine Schuld!"
Verzweiflung flackerte in den Augen des Fremden auf. Er schien ein gebrochener Mann zu sein.
"Wir sind gondorische Seefahrer," erklärte Valirë, der ihr Bruder das Reden überließ. "Unser Schiff liegt vor dem Nordufer. Die Strömung trieb uns während einer Flaute hierher."
"Gondor..." stieß der Mann hervor. "Gondor hat uns vergessen. Gondor hat den Bund vergessen. Ihr kommt zu spät. Die Dúnedain von Harad wurden vernichtet und die Turmherren sind gefallen."
"Wer sind die Turmherren?" fragte Valirë. "Und was hat Euer Gerede zu bedeuten? Erklärt Euch, dann helfen wir Euch, die Insel sicher zu verlassen."
"Ich bin.. Tayyad," gab der Fremde zurück. "Oder zumindest war ich das in den vergangenen Jahren. Doch geboren wurde ich hier, auf Tol Thelyn, als Beorn Dúnadan. Mein Vater Hador gab mir später den Namen Thorongil."
"Thorongil!" rief Valion überrascht. Der letzte große Held Gondors (vor Boromir, dem Sohn Denethors) war im Ethir und in Pelargir bei jedem Kind bekannt. "So seid Ihr also der Fluch Umbars?"
"Nein, das war vor meiner Zeit," sagte Thorongil. "Nach seinem Sieg erhielt ich zu Thorongils Ehren dessen Namen. Ja, dieser Thorongil war ein Held, denn er war der einzige, der sich der Dúnedain des Südens erinnerte. Über das Haus Hallatans ist er auch ein Verwandter der Turmherren und in den alten Schriften im Norden las er über Arandir den Reisenden, der seinen Vetter Hallatan in Arnor besuchte. Thorongil berief sich auf das Bündnis, dass mein Vorfahr mit Isildur selbst geschlossen hatte und so unterstützten die Männer der Insel seinen Angriff auf Umbar. Ohne ihre Hilfe wäre er gar nicht möglich gewesen. Doch davon weiß in Gondor niemand etwas, habe ich Recht? In Gondor schert es niemand, dass der Turm, der drei Jahrtausende überdauerte, von Sûladan in Brand gesetzt wurde und sein Bewahrer auf dessen Schwelle erschlagen wurde. In Gondor hat man die Turmherren vergessen."
"Es war also Sûladan, der die Insel angriff?" hakte Valirë nach. "Wie lange ist das her? Hat irgendjemand überlebt?"
"Ich weiß es nicht," seufzte Thorongil. "Ich... habe mich einst mit meinem Vater überworfen und verließ die Insel. Erst als ich vom Fall des Turms hörte kehrte ich zurück. Einige Dúnedain haben überlebt, vor allem jene, die in den Städten und Reichen Harads mit Missionen meines Vaters unterwegs waren. Auch habe ich gesehen, dass bei den zerstörten Schiffen im Hafen zwei fehlen; die Rossigil, das Flaggschiff der Turmherren mit dem einst mein Ahnherr Ciryatan von Númenor hierher kam, und ein zweites, kleineres Schiff. Noch besteht ein klein wenig Hoffnung, dass an Bord dieser beiden Schiffe einige Dúnedain entkommen sind."

"Schluss mit der Geschichtsstunde," unterbrach Valion. "Wir können auf keinen Fall hier bleiben. Vielleicht sind Sûladans Leute noch in der Nähe."
"Du hast Recht," stimmte Valirë zu. "Thorongil, kommt doch mit uns. Auf unserem Schiff könnt Ihr uns alles über die Insel erzählen."
Doch der Fremde schüttelte den Kopf. "Ich habe mein Erbe lange genug mit Füßen getreten. Ich muss hierbleiben und retten, was zu retten ist."
"Welches Erbe?" fragte Valirë, doch Valion wusste bereits was der Mann antworten würde.
"Das der Turmherren," sagte er daher, und Thorongil nickte.
"Ich bin der Sohn Hadors vom Turm. Es wird Zeit, dass ich mich auch so verhalte. Ich werde sammeln was von den Dúnedain Tol Thelyns übrig ist. Wenn ihr Angehörige meines Volkes trefft, berichtet ihnen bitte davon. Ihr erkennt sie an ihren meergrauen Augen."
Die Zwillinge nickten. Valion hatte des merkwürdige Gefühl, Thorongil bedenkenlos vertrauen zu können, weshalb er ihm viel Erfolg wünschte und dies auch so meinte. Sie verabschiedeten sich und versprachen, auf der Rückreise von Umbar erneut einen Halt auf der Insel einzulegen und Thorongil beim Wiederaufbau zu unterstützen. Dann machten sie sich auf den Rückweg zu ihrem Schiff.

Am Strand angekommen fanden sie das Beiboot noch immer wartend vor. Der Nachmittag war beinahe vorbei als sie schließlich wieder die Planken der Súlrohír betraten. Veantur berichtete, dass seine Leute in der Nähe eine Quelle gefunden und die Wasservorräte aufgestockt hatten. Doch hatte er auch weniger gute Neuigkeiten: während ihrer Abwesenheit waren am Horizont mehrere schwarze Segel gesehen worden.
"Die Korsaren sind unterwegs," sagte er beunruhigt. "Wir sollten zusehen, dass wir hier verschwinden."
Und genau das taten sie. Die untergehende Sonne im Rücken setzten sie Kurs nach Osten, in Richtung Festland, und in Richtung Umbar.


Valion und Valirë nach Umbar
« Letzte Änderung: 24. Sep 2017, 17:03 von Fine »
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Unsanftes Erwachen
« Antwort #1 am: 14. Jan 2017, 00:33 »
Lothíriel, Valirë, Bayyin, Tuór, Veantur, Lóminîth und Valion mit der Súlrohír vom Kap Umbar


Valion erwachte, als die Türe zu seiner Kabine mit einem lauten Krachen weit aufgerissen wurde. Er blinzelte verwirrt in das helle Sonnenlicht, das hereinflutete und war für einen Augenblick völlig orientierungslos. Sein Kopf und Oberkörper lagen auf etwas weichem, und gut riechenden... seine Hand ertastete vorsichtig, worum es sich dabei handelte und stellte fest, dass die Oberfläche zwei ausgeprägte Erhebungen direkt oberhalb von der Stelle aufwies, an der Valions linke Wange ruhte...
Jemand räusperte sich. Deutlich. Valions Hand verharrte und er riskierte einen zweiten Blick ins Licht. Vor den Sonnenstrahlen zeichnete sich eine hochgewachsene, schlanke Gestalt ab, die offenbar die Hände in die Hüften gestützt hatte.
"Bist du fertig damit, die Dame zu betatschen, kleiner Bruder?" sagte Valirë, und Valion konnte das Grinsen aus der Stimme seiner Schwester heraushören. Schnell zog er die Hand weg. In der Hoffnung, dass Lóminîth nichts bemerkt hatte richtete er sich auf - und stellte fest, dass er keine Kleidung trug. Schnell wickelte er die dünne Decke um sich, die seinen Unterkörper bedeckt hatte, doch das löste ein anhaltendes Kichern von Valirë aus.
"Willst du ihr wirklich noch den letzten Schutz vor ungenierten Blicken nehmen?" fragte sie und deutete auf die schlafende Lóminîth, deren blankes Hinterteil gerade zum Vorschein kam.
"Mach die verdammte Tür zu," herrschte Valion seine Schwester an und warf die Decke über seine Verlobte. Dann sprang er aus dem Bett und durchsuchte das kleine Zimmer nach seinen Kleidern, die in allen Ecken verstreut lagen.
Valirë kam aus dem Kichern gar nicht mehr heraus. "Wie ich sehe hast du die Zeit gut genutzt," stichelte sie.
"Jetzt tu' nicht so scheinheilig," knurrte Valion während er sich anzog. "Wer hat denn die erste Gelegenheit genutzt, um mit dem Schreiber unter die Decke zu springen?"
"Das hatte nichts zu bedeuten," gab Valirë zurück. "Aber das..." sie wies auf die nun wieder anständig verhüllte Lóminîth "...ist eine andere Angelegenheit. Immerhin seid ihr beide verlobt. Hast du etwa vor, einen Erben zu zeugen?"
"Unsinn," antwortet Valion. "Hör lieber auf so zu sprechen, bevor noch jemand etwas davon erfährt. Das war eine einmalige Sache. Die Verlobung ist jetzt sowieso hinfällig... genau wie der Rest von Umbar."
"Was kümmert uns das? Wir haben Lothíriel, und damit ist unser Auftrag erfüllt. Lass' uns mit Veantur sprechen und den Kurs ändern," schlug Valirë vor. "Wir sollten nach Dol Amroth, nicht zur Insel."
Valion streifte sich sein Obergewand über und schloss vorsichtig hinter sich die Tür. Glücklicherweise schien Lóminîth trotz all dem Lärm, den Valirë verursacht hatte, nicht erwacht zu sein.
"Ich schätze, für einen Kurskorrektur ist es zu spät," kommentierte er, als er einen Blick auf das Meer warf, denn im Südwesten war bereits die Silhouette des Turms von Tol Thelyn zu erkennen.
"Der war vorher noch nicht da," brummte Valirë missmutig. "Als ich dich wecken ging, war noch nicht einmal Land gesichtet worden."
"Das ist das Geheimnis dieses Schätzchens," warf Veantur stolz ein, der gerade um eine Ecke bog, und er tätschelte die Planken des Schiffes geradezu zärtlich. "Sie schafft es immer wieder, die Leute zu überraschen. Ihr hättet sehen sollen, wie sie die Korsarenschiffe in der Nacht abgehängt hat."
"Korsarenschiffe?" wiederholten die Zwillinge wie aus einem Mund.
"Tja, ja," sagte Veantur nickend. "Waren kaum am Leuchtturm von Kap Umbar vorbei, da kamen sie auch schon aus der Bucht gefahren: eine stattliche Flotte von Schwarzseglern, und allen voran eines ihrer großen Kriegsschiffe. Wenn mich nicht alles täuscht, war das eines der wenigen, die sie noch übrig haben. Muss wohl in den Schlachten bei Dol Amroth und Pelargir geschont worden sein. Das war schon ein ziemlich großer Kahn! Stärker, aber nicht schneller als diese Schönheit hier." Erneut strich er zärtlich über die Planken der Súlrohir. "In Sachen Geschwindigkeit und Wendigkeit macht ihr keiner was vor."
"Gut zu hören," sagte Valirë.
"Wir sollten diesmal im Hafen der Weißen Insel anlegen," schlug Valion vor. "Sie scheint noch immer verlassen zu sein."
"Aye!" bestätigte Veantur und gab seiner Mannschaft den entsprechenden Befehl.

Nicht einmal eine Stunde später stand Valion am Kai des kleinen Hafens von Tol Thelyn, der Platz für vier Schiffe von der Größe der Súlrohír bot. Zwei der vier Anlegeplätze waren sogar groß genug, um noch größeren Schiffen Platz zu bieten. Die Mannschaft vertäute das Schiff und begann, den Hafen zu inspizieren. Zwar waren hier, wie auf dem Rest der Insel, deutliche Spuren der Zerstörung zu sehen, doch das, was die meiste Aufmerksamkeit auf sich zog war das zweite Schiff, das am anderen Ende des Hafens vertäut war. Es war etwas kleiner als die Súlrohir und hatte weiße Segel. Neugierig gingen die Zwillinge hinüber, die Waffen griffbereit, aber noch nicht gezogen.
"Guten Morgen!" begrüßte Valion die Gruppe von Menschen, die ihnen wachsam entgegentrat. Er konnte ungefähr zwanzig Männer und Frauen sehen, die auf und in der Nähe des Schiffs daran arbeiteten, Vorräte abzuladen. Sogar einige wenige Kinder waren zu sehen, die zwischen den zerstörten Lagerhäusern am Ufer spielten.
"Schickt Thorongil euch?" fragte der Anführer der Gruppe, ohne sich vorzustellen.
"Thorongil?" wiederholte Valirë. "Meint ihr Thorongil vom Turm?"
"Natürlich - wen sollten wir sonst meinen?" gab ihr Gegenüber verwundert und misstrauisch zurück."
"Wir kommen aus Gondor," erklärte Valion mit ruhiger Stimme. "Vor einigen Wochen trafen wir Thorongil hier auf der Insel, doch er war allein. Er erzählte uns, dass er auf der Suche nach seinem Volk sei. Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich bei euch um die Überlebenden von Tol Thelyn handelt?"
Der Mann nickte und seine Miene hellte sich auf. "Er hat uns davon erzählt, als er uns fand," berichtete er. "Mein Name ist Hallatan, und dies sind alle, die auf meinem kleinen Schiff Platz fanden, als Sûladans Horden unsere Heimat zerstörten. Das zweite Schiff das entkam, die Rossigil, wurde von uns durch einen Sturm getrennt, der vor einiger Zeit über die Bucht von Belfalas fegte."
"Das muss in der Nacht gewesen sein, bevor wir den Ethir erreichten, Valion," erinnerte sich Valirë.
"Die Rossigil war das Flaggschiff der Turmherren," fuhr Hallatan fort. "Wir hoffen, dass die Menschen an Bord ebenfalls überlebt haben. Thorongil brach auf um sie zu suchen, nachdem er uns gefunden und zur Insel zurück geschickt hatte."
"Nun, dann besteht immer noch Hoffnung für sie," befand Valion. "Wir würden gerne hier auf Verbündete warten, wenn Ihr erlaubt," fuhr er fort.
Hallatan nickte. "Thorongil sagte bereits, dass ihr vermutlich bald zurückkehren würdet. Wie ist es euch in Umbar ergangen, wenn ihr mir die Frage gestattet?"
Valion fasste in einigen wenigen Sätzen die Erlebnisse zusammen und berichtete auch von Hasaels Rückkehr, von der Flucht aus der Stadt und wie sie von Edrahil getrennt worden waren. Als er geendet hatte nickte Hallatan verständnisvoll.
"Ich bin mir sicher, eure Freunde werden bald hier eintreffen. Hasael wird zunächst sicherlich alle Hände damit voll zu tun haben, wieder Ordnung in seiner Stadt zu schaffen. Er hätte gewiss nicht die Zeit, Schiffe loszuschicken, um -"
"Segel am Horizont!" rief jemand, der Ausguck hielt, und unterbrach Hallatan jäh. Alle Blicke wandten sich zum Meer, und Valion sah seine Befürchtungen erfüllt, als er erkannte, dass das gesichtete Segel schwarz wie die Nacht war.
"Verdammt," murmelte er. "Jetzt haben uns die Korsaren also doch noch gefunden."
Gefolgt von Valirë eilte er zurück zur Súlrohír, wo die Besatzung sich bereits für den Kampf vorbereitete.
"Diesmal laufen wir nicht weg," knurrte Veantur. "Sie mögen größer und stärker als wir sein, aber wir haben zwei Schiffe und sie nur eines. Anker lichten, Freunde! Zeigen wir denen, was wahre Seefahrer sind!"
Valion zog seine Waffen und seine Schwester tat es ihm gleich. Sie würden kämpfen, um Tol Thelyn zu verteidigen, und Lothíriel in Sicherheit zu bringen.
« Letzte Änderung: 28. Apr 2017, 14:38 von Fine »
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Eandril

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #2 am: 14. Jan 2017, 01:41 »
Die Aglarbalak aus Umbar

Edrahil saß auf dem Deck der Aglarbalak mit dem Rücken an die Reling gelehnt und genoss die Morgensonne. An Land wäre es wahrscheinlich bereits heiß, doch hier auf See war die Sonne angenehm. Es erinnerte ihn daran, wie er früher mit seinem Vater zum Fischen gefahren war, auch dort hatte er den Frieden der frühen Morgenstunden auf See genossen. Ein Schatten fiel auf sein Gesicht, und er sah Minûlîth vor sich stehen. "Wie es aussieht, haben wir die Korsaren abgehängt", sagte sie, klang dabei allerdings nicht wirklich glücklich. Zu Edrahils Überraschung ließ sie sich neben ihm auf den hölzernen Deckplanken nieder, zog die Beine an und schlang die Arme um ihre Knie. "Irgendein Zeichen von der Súlrohír?"
Edrahil schüttelte den Kopf. "Nein, aber das muss nichts heißen. Auf See verliert man einander leicht aus den Augen, erst recht in der Dunkelheit."
"Hm", machte Minûlîth, doch Edrahil konnte sehen, dass sie sich sorgte. "Mach dir keine Sorgen", sagte er, und blinzelte in der Sonne. "Ich bin mir sicher, dass sie entkommen sind. Nach allem was ich gehört habe, ist die Súlrohír ein sehr schnelles Schiff und Veantur ein äußerst fähiger Kapitän - womöglich sind sie bereits auf der Insel und erwarten uns."
Minûlîth machte ein Geräusch, das sich wie die Mischung aus einem Lachen und Schluchzen anhörte. "Du bist ein merkwürdiger Mann, Edrahil. Gestern hätte ich schwören können, dass du kein Herz hast - und wenn, dann eines aus Stein. Und heute findest du die richtigen Worte, um mich zu trösten."
"Gestern musste ich sicher gehen, dass getan wird was getan werden muss", erklärte Edrahil, und strich unbewusst über den Stumpf seines rechten Daumens. "Und falls es dich beruhigt, ich habe mich dabei nicht allzu gut gefühlt."
Diesmal war es eindeutig, das Minûlîth lachte, und sie strich sich eine vom Wind verwehte Haarsträhne aus der Stirn. "Das beruhigt mich tatsächlich ein wenig. Niemand auf unserer Seite sollte sich gut dabei fühlen, seine Freunde in Gefahr zu sehen und einfach nichts zu tun - selbst wenn es das Richtige ist." Ihre Blicke wanderten nach oben zum leicht erhöhten Achterdeck des Schiffes, auf dem Thorongil am Steuer stand, das Gesicht regungslos nach vorne gewandt.
Edrahil folgte ihrem Blick, und sagte: "Du hast dich in einen Mann verliebt, der ebenso dazu fähig ist, Herrin Minûlîth." Minûlîth lächelte, ohne den Blick von Thorongil abzuwenden. "Auch wenn es dich eigentlich nichts angeht, Meister Edrahil - das habe ich."
"Du solltest es ihm sagen", sagte Edrahil unvermittelt, doch Minûlîth schien sofort zu begreifen, worauf er hinauswollte. "Ich weiß nicht...", sagte sie unsicher. "Ich habe es so lange geheimgehalten, und jetzt..."
"Erst ist nicht mehr der Wanderer von einst", erwiderte Edrahil. "Sieh ihn dir an - er ist der Herr des Turmes. Valion hat mir von ihrer Begegnung erzählt, und auch, dass Thorongil das Erbe seines Vaters antreten will. Ein Sohn hält ihn nicht länger zurück, sondern ist..."
"... ein Erbe", schloss Minûlîth an seiner Statt, und Edrahil freute sich, dass sie begriffen hatte. "Ein Fürst braucht einen Erben...", sagte sie nachdenklich, und als sie weitersprach, glänzten ihre Augen. "... und eine Frau."
"Genau so ist es", meinte Edrahil, und klopfte ihr sanft auf die Schulter bevor er sich mühsam erhob. "Du solltest dir überlegen, wie genau du es ihm beibringst... und ich gehe ihn fragen, wie nah wir der Insel schon sind." Er zwinkerte Minûlîth zu, und humpelte in Richtung Achterdeck davon.

Oben angekommen stellte er sich neben Thorongil, und der Turmherr deutete nach Süden, wo eine grüne Insel zu sehen war. "Seht", sagte er. "Tol Thelyn, die Weiße Insel. Heimstätte der Turmherren... und meine Heimat." Sein Blick wanderte zu Minûlîth, die noch immer auf dem Unterdeck saß, und er fügte hinzu: "Jedenfalls eine davon."
"Sie würde euch heiraten, wisst ihr?", sagte Edrahil, und lächelte über die überraschte Miene Thorongils. "Meint ihr wirklich? Ich habe sie nie gefragt, ich war arm und im Exil, und nun dachte ich..."
"Dass es zu spät sein könnte? Das glaube ich nicht... aber herausfinden könnt ihr das nur, in dem ihr sie fragt", sagte Edrahil, und lächelte in sich hinein. Er fragte sich was geschehen würde, wenn Minûlîth und Thorongil sich gleichzeitig einen Heiratsantrag machten. Seine Fröhlichkeit schwand ein wenig, als er vor der Insel zwei Schiffe auftauchen sah, die auf sie zukamen. "Zuhause oder nicht, irgendjemand dort scheint uns nicht zu mögen."
Thorongil blickte nach oben und knurrte: "Diese verdammten schwarzen Segel... wenn ich andere hätte, hätte ich sie längst ausgetauscht. Sie müssen uns für Korsaren halten."
"Oder es ist eine Täuschung, und sie greifen uns tatsächlich an", erwiderte Edrahil, auch wenn der Gedanke schwer zu ertragen war. Er glaubte nämlich, an dem einen der Schiffe blaue Segel zu erkennen...
Thorongil warf ihm einen seltsamen Blick zu. "Ihr seit ein ziemlicher Schwarzseher, wisst ihr das?" Edrahil zuckte mit den Schultern. "Natürlich - deshalb lebe ich noch."
Der Kapitän seufzte, und rief dann mit hallender Stimme: "Alle Mann an die Waffen - wir könnten angegriffen werden."

Als sich die beiden Schiffe zu beiden Seiten der Aglarbalak näherten, stand Edrahil mit Minûlîth an der Tür, die auf die unteren Decks des Schiffes führte. Sie wären beide in einem Kampf nicht von nutzen, hatten sich allerdings gegen alle Bitten und Befehle Thorongils geweigert, sich bereits jetzt unter Deck zu begeben. Auf Deck hatten sich die gesamte Besatzung des Schiffes versammelt, die Waffen bereit, und schließlich stießen beide Angreifer seitlich an die Aglarbalak und klemmten sie zwischen sich ein. Da die Aglarbalak höher war als ihre Angreifer konnte Edrahil deren Decks von seiner Position aus nicht erkennen, doch er hörte eine männliche Stimme rufen: "Ergebt euch und legt eure Waffen nieder, sonst werden wir nicht einen einzigen von euch verschonen."
"Das kann doch nicht wahr sein...", stieß Edrahil hervor, und humpelte so schnell wie möglich in die Richtung, aus der die Stimme - eine sehr bekannte Stimme - gekommen war. Er beugte sich über die Reling, blickte auf die Súlrohír hinunter und knurrte: "Valion Cirgonion... und Valirë Cirgoniel. Ich hätte es mir denken können."
Edrahil konnte sehen, wie dem bis zu diesen Augenblick zuversichtlichen Valion vor seinen Augen die Kinnlade herunterfiel. Seine Schwester hingegen hob ihre Klinge und winkte Edrahil damit zu,
"Heda, Edrahil! Falls Ihr es nicht bemerkt habt - das ist ein Korsarenschiff, auf dem Ihr da mitfahrt!" rief sie übermütig zu ihm herüber.
Obwohl ihn die Erleichterung beim Anblick der Zwillinge wie ein Faustschlag getroffen hatte, verdrehte Edrahil die Augen. "Falls ihr es nicht bemerkt habt, ist dies ein freundliches Korsarenschiff." Er deutete nach oben zum Mast, wo er eine improvisierte kleine gelbe Flagge hatte anbringen lassen.
"Und darüberhinaus kein wirkliches Korsarenschiff", ergänzte Minûlîth, die neben ihm an die Reling geeilt war. "Sondern das Flaggschiff von Haus Minluzîr."
Von der anderen Seite des Schiffes war Thorongils Stimme zu hören: "Hallatan! Hat es einen Grund, dass ihr mich angreift?"
"Nun... wir dachten, ihr wärt Korsaren", wehte schwach die Antwort zu Edrahil hinüber, und Thorongil rief zurück: "Korsaren? Oh mein Freund, wir haben einiges zu besprechen sobald ich an Land bin..."
"Und wir ebenfalls", rief Edrahil zu den Zwillingen hinunter. Valions verdutzte Miene hatte sich noch kein Stück verändert, und so fügte Edrahil hinzu: "Also, Kapitän Veantur, wenn ihr unser Schiff freigeben möchtet... Jederzeit!"
« Letzte Änderung: 28. Apr 2017, 14:46 von Fine »

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Das Erbe der Turmherren
« Antwort #3 am: 15. Jan 2017, 00:25 »
Ungefähr eine Stunde später fanden sie sich alle im Hinterhof eines der noch intakten Lagerhäuser am Hafen wieder. Jemand hatte hier einen kleinen Garten angelegt, der die Verwüstung der Insel unbeschadet überstanden hatte und von einer niedrigen Hecke umgeben war. Während die Besatzungen der drei Schiffe damit beschäftigt waren, die Boote sicher im Hafen zu vertäuen, gegen die Winde zu sichern und einiges an Vorräten auf- und abzuladen versammelten Edrahil und Thorongil ihre Verbündeten in dem kleinen Garten. Sie saßen rings um einen großen Holztisch und ließen Wasser und Wein herumgehen, den Veantur zur Feier des Tages gespendet hatte. Lóminîth, die seit der letzten Nacht geradezu anhänglich geworden war, saß auf Valions Schoß und hatte die Arme um seinen Hals geschlungen während sie Edrahils Bericht von dessen Flucht aus Umbar lauschte. Lothíriel und Valirë saßen daneben und tauschten wissende Blicke aus. Kapitän Veantur, Thorongil, Mínulîth, Bayyin und sogar der kleine Túor stellten sich die hölzerne Stühle rings um den Tisch auf, die Bayyin in einem kleinen Schuppen in einer der Ecken des Gartens entdeckt hatte, und schon bald hatte jeder einen Sitzplatz gefunden.
"Hasael hat einen neuen Anführer für seine Leibwache gefunden, aber ich muss sagen, an meinen guten Freund Aquan reicht der Bursche wirklich nicht heran," sagte Edrahil gerade.
"Nun, er hatte euch eine ziemlich gute Falle gestellt," warf Thorongil lächelnd ein. "Ihr habt Glück, dass ich zufällig gerade in der Gegend war."
"Ganz zufällig natürlich," kommentierte Minûlîth amüsiert.
"Natürlich," nickte Thorongil und strich sich durch den Bart. "Ich bin froh, dass ich mich dazu entschlossen habe, nach Umbar zu fahren nachdem ich Hallatan und seine Leute gefunden hatte," sagte er und wurde wieder ernst. "Dass die Besatzung des kleineren Schiffes überlebt hat macht mir Hoffnung darauf, dass es auch die Rossigil geschafft hat. Immerhin brachte sie einst Ciryatan und die Vorfahren der Thelynrim aus Westernis hierher. Wenn sie noch am Leben sind, werde ich sie finden."
"Das wirst du," bekräftigte Minûlîth. "Ich werde dir dabei helfen, so gut ich kann."
"Melíril," flüsterte Thorongil mit Wärme in der Stimme. "Das bedeutet mir sehr viel."
"Also," warf Lóminîth ein und alle Augen richteten sich auf sie. "Wann gebt ihr einander das Versprechen?"
Thorongil und Minûlîth sahen sich an. Der Erbe des Turms hatte nach jahrelanger Übung seine Gesichtszüge zu gut unter Kontrolle, doch die Wangen seiner Geliebten färbten sich in hellem Rot als sie verlegen zur Seite blickte. "Ich denke, die Zeit ist gekommen," sagte Thorongil und erhob sich von seinem Stuhl. Doch Minûlîth ergriff sein Handgelenk und hielt ihn zurück. "Warte, Beorn. Es gibt da etwas, das du wissen musst, ehe du das tust."
"Wovon sprichst du?" wunderte er sich. Die Gespräche am Tisch waren verstummt und alle bis auf Edrahil schienen gespannt den Atem anzuhalten.
"Túor," sprach Minûlîth den Jungen sanft an. "Komm bitte her zu mir."
"Ja, Mutter," antwortete der Siebenjährige und trat neben sie. Minûlîth legte ihm die Hände auf die Schultern und ihr Blick traf den Thorongils.
"...Mutter?" wiederholte dieser verständnislos. "Ich dachte..."
"Das war eine Lüge," gestand Minûlîth leise. Man konnte ihr ansehen, wie schwer es ihr fiel, diese Wahrheit auszusprechen. "Als Túor geboren wurde... warst du weit weg, auf einer Fahrt im tiefen Süden. Ich ... wollte dich nicht damit belasten."
Thorongil blickte schweigend zwischen seinem Sohn und seiner Geliebten hin und her, einen schwer zu deutenden Ausdruck im Gesicht. Ein langer Moment des Schweigens trat ein.
"Wie konntest du nur," sagte Thorongil tonlos.    
"Beorn, ich - " begann sie, doch er unterbrach sie mit einer Bewegung seiner Hand.
"Wie konntest du nur annehmen, ein solches Geschenk würde mich belasten?" rief er, doch in seiner Stimme lag pure Freude. "Ich habe einen Sohn!" Er legte seine kräftigen Arme um Túor und hob den Jungen hoch. "Ich habe einen Sohn! Einen Erben!"
Es war Lothíriel, die als erste reagierte. Anmutig erhob sich die Prinzessin und begann, zu klatschen. Einer nach dem anderen fielen sie mit ein. Thorongil setzte Túor auf seine Schulter und legte seinen anderen Arm um Minûlîths Schulter. "Wir sind eine Familie," erklärte er. "Wenn es der Herrin Minûlîth von Haus Minluzîr gefällt, meine Frau zu werden," fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu.
"Und ob mir das gefällt," rief sie mit Tränen der Erleichterung in den Augen.
"Dann sei es. Ein Hoch auf Melíril und Túor vom Turm!" verkündete Thorongil, und der Applaus steigerte sich zu einem lauten Höhepunkt.

"Gut gemacht," flüsterte Valion seiner Verlobten zu, von deren beiläufiger Bemerkung die ganze Sache erst ausgegangen war.
"Ich habe so meine Momente," sagte Lóminîth mit einem kleinen, aber echten Lächeln. Der Wein machte die Runde am Tisch, und Veantur musste schon bald einen seiner Matrosen losschicken, um Nachschub vom Schiff zu holen.
"Ha ha! Ich hätte mir keinen besseren Ausgang für diesen Tag vorstellen können," lachte der Kapitän, der wie alle in Hochstimmung war. Sogar Edrahil hatte ein zufriedenes Lächeln im Gesicht.
"Nun, im Rahmen der Möglichkeiten haben wir uns wohl tatsächlich ganz gut geschlagen," sagte der Herr der Spione und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
"Edrahil," sagte Lothíriel streng. "Wenn wir das nächste Mal aus einer im Chaos versinkenden Stadt fliehen, bleibst du gefälligst an meiner Seite, und rennst nicht einfach davon, um den Helden zu spielen."
"Wie Ihr befehlt, Prinzessin," gab Edrahil zurück und deutete eine Verbeugung an.
Bayyin, der neben Valirë saß und immer wieder verstohlene Blicke auf sie warf, hatte während all dem Trubel tatsächlich eines der alten Bücher aus Hasaels Bibliothek vor sich aufgeschlagen. Valirë beugte sich neugierig über seine Schulter und las laut die Stelle vor, an der Bayyins Finger im Text gerade verharrte: "Die Geschichte von Fíriel Aeriell, dem Mädchen aus den Wellen. Schreiber, gibt es nicht etwas spannenderes, das wir zur Feier des Tages tun könnten?"
"Ich... nun ja..." war alles, was Bayyin herausbrachte, ehe Valirë ihn am Arm gepackt und in Richtung eines der kleineren Häuser davonzerrte.
Edrahil seufzte hörbar. "Unverbesserlich."
Valion hingegen konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. "Na kommt schon, Edrahil. Jeder hat seine Art um mit Erlebnissen wie diesen umzugehen."
"Bayyin hat Besseres zu tun als sich von deiner unmöglichen Schwester den Kopf verdrehen zu lassen," gab Edrahil zurück. "Er sagte, dass er eine wichtige Entdeckung gemacht hat. Ich wüsste gerne, worum es sich dabei handelt."
"Das hat doch noch ein wenig Zeit, oder nicht?" fragte Valion.
"Nun... ich schätze, ich kann ein paar Minuten länger warten," antwortete Edrahil ohne eine Miene zu verziehen.
"Hat er gerade..." fragte Valion seine Verlobte, da er nicht recht glauben konnte, dass Edrahil gerade einen Witz gemacht hatte - und schon gar nicht, diese Art von Witz.
"Hat er," bestätigte Lóminîth lachend.

"Wirst du den Turm wieder weiß färben?" fragte Túor seinen Vater, der den Blick auf das ferne Bauwerk gerichtet hatte und nachdenklich dreinblickte.
"Es würde eine deutliche Nachricht senden," sagte Minûlîth, die Thorongils Hand ergriffen hatte. "Die Turmherren sind immer noch hier, und sie kämpfen weiter."
"Als erstes muss ich Ciryatans Schiff finden," antwortete Thorongil. "Vorher ist nicht an einen Wiederaufbau zu denken. Noch sind es zu wenige Dúnedain, die wieder Fuß auf die Insel setzen."
"Wenn wir nach Dol Amroth zurückgekehrt sind, werde ich meinen Vater bitten, euch Unterstützung zu senden," versprach Lothíriel. "Wir fahren doch bald, nicht wahr?" fragte sie in Valions und Edrahils Gruppe.
"So bald wie möglich," bestätigte der Herr der Spione.
"Aber nicht heute," fügte Valion hinzu. "Heute genießen wir die wohlverdiente Pause."
"Wohlverdient,", schnaubte Edrahil, doch Valion sah ihm an, dass er nicht gerade unzufrieden mit dem Lauf der Dinge seit ihrer Flucht aus Umbar war.
Na immerhin, dachte er. Einige Dinge sind sind trotz des Rückschlages in der Hasael-Sache noch immer in Ordnung. Lóminîth ergriff seine Hand und begann, ihn zurück zum Schiff zu geleiten. Und einige sind... besser.
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Re: Tol Thelyn
« Antwort #4 am: 15. Jan 2017, 02:25 »
Edrahil blickte Valion und Lóminîth hinterher, und schüttelte den Kopf. "Du wirkst nicht allzu glücklich", meinte Minûlîth, die ihm gegenüber saß. "Diese Verlobung war immerhin deine Idee."
"Tatsache", gab Edrahil kurz zurück. Er wusste, er sollte glücklich darüber sein, dass dieser Teil seiner Pläne so perfekt funktioniert hatte, und dennoch... er vertraute Minûlîth, nicht ihrer Schwester. Minûlîths Worte über Lóminîth hatte er nicht vergessen, und wer konnte schon wissen, was sich hinter ihrem Lächeln verbarg? Es war unwahrscheinlich, dass Lóminîth sich als Verräterin herausstellen würde, doch falls es so war, war sein Plan ein wenig zu gut gelungen. "Ich hoffe nur, dass Valion weiß, was er tut. Ein Bastard zur unrechten Zeit hat schon vielen Häusern Probleme bereitet."
"Keine Sorge", erwiderte Minûlîth mit einem geheimnisvollen Lächeln. "Wir Frauen haben unsere... Methoden."
"Die nicht immer erfolgreich sind", warf Thorongil ein, der neben Minûlîth saß und ihre Hand in seiner hielt, und deutete mit der freien Hand auf Túor. Sein Sohn stand einige Meter entfernt von ihnen, und unterhielt sich angeregt mit Hallatan und Kapitän Veantur. "Túor ist der beste Beweis dafür." Über Minûlîths Wangen zog sich eine zarte Röte, als sie antwortete: "Nun, ihr habt recht. Aber trotzdem finde ich, dass wir ihnen die Gelegenheit lassen sollten."
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie auf See die ein oder andere Gelegenheit gefunden haben...", meinte Edrahil, ohne eine Miene zu verziehen, und Lóthiriel warf ihm einen tadelnden Blick zu. "Das war nun schon der zweite vollkommen untypische Witz in kurzer Zeit, Edrahil. Was ist los?"
"Vielleicht habe ich endlich den Humor gefunden, den viele so schmerzlich an mir vermisst zu haben scheinen", antwortete Edrahil. Dann blickte er in die Gesichter der drei anderen, und beschloss für einen Moment, die Maske fallen zu lassen - auch vor sich selbst. "Nein, es ist wie Valion gesagt hat. Jeder hat seine Art um mit Erlebnissen wie diesen umzugehen. Und was ich gesagt habe? Im Rahmen der Möglichkeiten haben wir uns wohl tatsächlich ganz gut geschlagen Das war eine Lüge, zumindest was mich betrifft. Ich bin gescheitert, und das schon zum zweiten Mal."
"Gescheitert?", fragte Lóthiriel ungläubig. "Edrahil, ohne deine Hilfe wäre ich vermutlich noch immer in Hasaels oder sogar schon in Suladâns Händen, Bayyin hätte nie gefunden was... auch immer er gefunden hat, und vermutlich wären wir alle nicht hier."
"Und wir hätten vermutlich noch ewig damit gewartet das zu tun, was wir heute erreicht haben", ergänzte Thorongil, und strich mit dem Daumen zärtlich über Minûlîths Handrücken, doch es besänftigte Edrahil nicht.
"Aber das alles war nicht meine Aufgabe." Beim letzten Wort hieb er mit der Faust auf den Tisch, lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück, schloss die Augen und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete, sagte er: "Verzeihung. Was ich sagen will ist dies: Lóthiriels Rettung war nicht meine Aufgabe, sondern Valions. Das Aufspüren dieser geheimnisvollen Informationen war Bayyins Aufgabe, und bei beidem habe ich lediglich geholfen. Meine Aufgabe hingegen... war Hasaels Sturz, und danach sieht es im Augenblick nicht wirklich aus, nicht wahr?" Er hörte selbst, wie bitter seine letzten Worte klangen, doch er kam nicht gegen das nagende Gefühl, versagt zu haben, an.
"Vielleicht nicht", sagte Thorongil langsam. "Aber wenn die Gerüchte stimmen, bereitet sein Neffe Qúsay einen Krieg gegen Suladân und Hasael vor." Edrahil und Lóthiriel wechselten einen Blick, dann nickte die Prinzessin. "Die Gerüchte stimmen."
"Nun, in diesem Fall hat Hasaels Sturz, so kurzlebig er auch gewesen war, Qúsay Zeit und einen Vorteil verschafft. Das mag das Zünglein an der Wage sein, das Qúsay am Ende den Sieg bringt - und wenn man es so betrachtet, habt ihr damit auch für Hasaels endgültigen Fall gesorgt."
"Ihr habt eine interessante Art, die Welt zu sehen", erwiderte Edrahil nachdenklich, und strich sich über das Kinn. Lóthiriel lachte leise. "Seht, da ist der Herr der Spione wieder."
"Mag sein...", meinte Edrahil, weiter in Gedanken versunken. Wenn er Hasael von Innen heraus nicht stürzen konnte... vielleicht sollte er es auf eine neue Art probieren, von außerhalb.
"Du wirst nicht mit nach Dol Amroth kommen, oder?", fragte die Prinzessin, und Edrahil schüttelte langsam den Kopf. "Nein, ich werde einige Zeit hierbleiben - wenn ihr erlaubt." Er blickte Thorongil fragend an, und der Herr des Turmes lächelte und drückte Minûlîths Hand. "Wir würden uns sehr darüber freuen."
Edrahil warf einen Blick auf das Buch, das aufgeschlagen auf Bayyins verwaistem Platz zurückgeblieben war, und seine Augen blieben an dem Namen hängen, den Valirë vorhin vorgelesen hatte. "Fíriel Aeriell... merkwürdig."
"Gar nicht so sehr", erwiderte Thorongil. "In Harad gibt es die ein oder andere Legende über sie, aber hier kennen wir die wahre Geschichte."
"Hm... wenn ich mich recht erinnere hatte einer der Fürsten von Dol Amroth eine uneheliche Tochter mit diesem Namen, die auf See verschollen ist." Als Herr der Spione hatte Edrahil sich einst einen Überblick über sämtliche ehelichen und unehelichen Abkömmlinge der Fürsten verschafft, denn man konnte nie wissen. Dieser Fíriel hatte er allerdings keine große Beachtung geschenkt, sondern diese Linie unter "erloschen" eingeordnet. "Fürst Húrin, glaube ich", ergänzte Lóthiriel, und Thorongil meinte: "Sehr richtig - wie es aussieht, hat sie meinen Vorfahren die Wahrheit erzählt."
"Wollt ihr damit sagen, dass es sich um die selbe Fíriel handelt?", fragte Edrahil, und der Turmherr nickte. "Allerdings. Sie erlitt einst während eines Sturmes hier auf der Insel Schiffbruch. Der Erbe des Turms, Barahir, nahm sie auf, pflegte sie gesund, verliebte sich in sie und nahm sie schließlich zur Frau. Was euch, verehrte Lóthiriel, zu meiner - wenn auch entfernten - Verwandten macht."
"Ha", machte Lóthiriel ungläubig. "Verwandte findet man offenbar an den ungewöhnlichsten Orten."
"Und Freunde ebenfalls", ergänzte Edrahil, und wechselte einen nachdenklichen Blick mit Minûlîth.

~~~~

Etwa eine Stunde war vergangen, als Valirë und Bayyin zurückkehrten. Während Bayyin etwas beschämt wirkte, benahm Valirë sich als wäre nichts geschehen und fragte unbeschwert: "Sind Valion und Lóminîth noch nicht zurück?"
"Nein - und damit sollte klar sein, wer die größere Ausdauer hat", erwiderte Lóthiriel, und schlug sofort entsetzt die Hände vor den Mund. "Oh, bei allen Sternen. Ich kann nicht glauben, dass ich das gesagt habe."
"Mehr Ausdauer, hm?", fragte Valirë, und warf Bayyin, der sofort errötete, einen anzüglichen Blick zu. "Vielleicht sollten wir..."
"Nicht nötig", hielt Edrahil sie zurück. "Allzu viel haben die beiden euch nicht voraus." Er deutete in Richtung der Schiffe, aus der Valion und Lóminîth sich näherten. Lóminîths Haar war zerzaust und Valions Kleidung saß ein wenig schief, doch beide wirkten äußerst zufrieden mit sich selbst. Edrahil verdrehte die Augen, und bedeutete allen vieren, sich zu setzen.
"Also", begann er. "Nach dem gewisse Personen ihre Bedürfnisse... befriedigen konnten, ist es allmählich an der Zeit zu erfahren, was du, Bayyin, in Umbar gefunden hast."
Der Schreiber räusperte sich, und legte die Hände vor sich flach auf den Tisch. "Ich habe in Hasaels Bibliothek einen Reisebericht gefunden - gut versteckt und verschlüsselt, doch inzwischen ist es mir gelungen ihn zu lesen. Es ist ein Bericht über die Reisen Arandirs vom Turm."
"Vom Turm?" Thorongil beugte sich interessiert vor. "Allerdings. Wir vermuten, dass es sich dabei um den jüngeren Sohn von Elendar, dem Erbauer des ersten Turmes auf Tol Thelyn, also... hier... handelt."
"Ihr scheint euch gut in unserer Geschichte auszukennen", sagte Thorongil, doch Edrahil griff ein, bevor Bayyin ihm die Überraschung verderben konnte: "Später. Zuerst mehr von diesem Bericht."
"Nun, ja. Arandir beschreibt darin sehr detailliert einen Pass in der Südkette des Schattengebirges - einen Pass nach Mordor, den Sauron nicht kennt", berichtete Bayyin, was ungläubige Gesichter rings um den Tisch hervorrief.
"So etwas kann es nicht geben", meinte Minûlîth. "Der Dunkle Herrscher hat Jahrtausende über Mordor geherrscht, und wird dort jeden Winkel und jede Felsspalte kennen."
"Ich stimme Melíril zu", sagte Thorongil. "Daran ist nur schwer zu glauben."
"Das ist wahr." Edrahil blickte nachdenklich gen Himmel, bevor er Bayyin in die Augen sah. "Glaubst du, dass es wahr ist?", fragte er, und der Schreiber schien einen Augenblick nachzudenken. Dann antwortete er: "Ich weiß nicht, ob dieser Weg noch existiert, oder ob er den Dienern des Dunklen Turms noch immer verborgen ist... aber ja. Ich glaube, dass Arandir die Wahrheit geschrieben hat."
"Und selbst wenn... Was sollten wir damit anfangen?", warf Valirë ungehalten ein. "Es wird mit Sicherheit kein Weg sein, auf dem wir ein großes Heer nach Mordor schicken könnten - wenn wir denn eines hätten."
"Sehr richtig, wir haben keines. Und gerade deshalb wäre ein geheimer Weg in das Schwarze Land für uns von Nutzen", erwiderte Edrahil. "Wir könnten die Heer des Feindes ausspionieren, seine Nachschublinie durchbrechen..."
"Und wir könnten noch etwas tun", sagte Lóthiriel leise, doch in einem Tonfall der alle Anwesenden aufhorchen ließ. "In Mordor wird Aragorn gefangen gehalten, der König von Gondor. Mit seinem Leben erpresst Sauron einen Waffenstillstand vom freien Gondor, während er im Norden gegen andere Gegner kämpft."
"Nur um uns zu vernichten, wenn er sie besiegt hat", sagte Edrahil langsam. Allmählich begann vieles Sinn zu ergeben, und er begriff, welches Geschenk Bayyin ihnen gemacht haben könnte. "Und mit diesem Wissen könnten wir ihn befreien." Lóthiriels Augen glitzerten, und Edrahil hatte seine Prinzessin noch nie zuvor derart kämpferisch gesehen.
"Nur - wer sollte das tun?", fragte Thorongil. "Ich würde selbst gehen, aber... ich kann nicht." Sein Blick schweifte vom Turm über Minûlîth zu Túor, und Edrahil nickte. "Nein, ich verstehe. Aber es gibt jemand anderen, der eine ähnliche Ausbildung genossen hat wie ihr, und es tun könnte."
Er wechselte einen Blick mit Bayyin, der bestätigend nickte. "Ich denke, es ist an der Zeit euch zu verraten, dass ihr und Túor nicht die letzten Überlebenden, aus dem Haus der Turmherren seid", fuhr Edrahil fort.
"Nicht... die letzten?" Thorongil blinzelte mehrmals rasch hintereinander. "Sagt es mir, Edrahil. Wer hat überlebt?"
"Die Tochter eurer Schwester." Es war Bayyin, der antwortete. "Narissa. Ich entkam mit ihr gemeinsam von hier, als Suladâns Truppen angriffen, und gelangte schließlich mit ihr nach Umbar, wo wir Edrahil trafen. Sie ist mir... eine gute Freundin."  Er warf Valirë einen nervösen Seitenblick zu, und errötete erneut ein wenig.
"Narissa..." Thorongil sprang so heftig auf, dass sein Stuhl umkippte. "Herlennas Tochter. Und sie lebt?"
"Allerdings", sagte Edrahil lächelnd. "Wenn alles gut gegangen ist, ist sie sogar in Sicherheit in Aín Sefra. Ich habe sie dorthin geschickt, um Qúsays Motive zu ergründen."
"Das ist die beste Nachricht, die ich gehört habe seit..." Thorongil sah Minûlîth an. "Nun, eigentlich seit vorhin." Er wandte sich wieder Edrahil zu, und sein Gesicht wurde wieder ernst. "Ihr würdet sie nach Mordor schicken? Mitten in das Land des Feindes."
"Ja", erwiderte Edrahil, und blickte dem Turmherren fest in die Augen. "Wenn es die einzige Möglichkeit ist und sie dazu bereit ist, würde ich es tun."

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Abschied von der Insel
« Antwort #5 am: 15. Jan 2017, 22:54 »
Die Súlrohír lag mit gerefften Segeln im Hafen der Insel und wartete geduldig darauf, dass sich ihre Besatzung an Bord begab. Am Kai hatte sich eine kleine Menschenmenge eingefunden um die Abreisenden zu verabschieden, und nicht jedem fiel dieser Abschied leicht.
"Vater, ich will nicht, dass Lómi weggeht," schniefte der kleine Túor, der wieder auf Thorongils Schulter saß und seiner Tante traurig zuwinkte.
"Keine Sorge, mein Sohn," sagte Thorongil gut gelaunt. "Für dich würde es keinen Unterschied machen. Wir gehen mit deiner Mutter und Meister Edrahil auf eine Reise und suchen die Rossigil, in der Zeit würdest du Lóminîth sowieso nicht sehen können. Und wenn Ciryatans Schiff gefunden und der Turm wieder instand gesetzt ist fahren wir beide nach Dol Amroth und besuchen deine Tante."
"Versprichst du es?" forderte Túor.
"Ich verspreche es dir," bekräftigte Thorongil.
Lóminîth stand ihrer Schwester gegenüber und hatte beide von Minûlîths Händen mit ihren eigenen ergriffen. Valion wusste, dass die beiden Minluzîri-Schwestern bisher nur selten getrennt gewesen waren und dass der Augenblick des Abschiedes, nun da der tatsächlich gekommen war, ihnen schwerer fiel als sie erwartet oder gedacht hatten. Also gab er ihnen die Zeit, die sie benötigten und machte sich auf die Suche nach Edrahil.

Er musste sich nicht lange umsehen. Der Herr der Spione stand an der Spitze des Kais und blickte nachdenklich auf das ruhig vor ihm liegende tiefblaue Meer hinaus. Valion trat schweigend neben den älteren Mann und folgte seinem Blick, der nach Norden in Richtung Dol Amroths gerichtet war. Valion blieb noch einen Augenblick länger still, dann sagte er leise: "Ihr könnt noch immer mit uns gehen, Edrahil."
"Mein Platz ist fürs Erste hier," antwortete Edrahil, doch in seiner Stimme lag nicht die übliche Festigkeit.
"Ihr gebt Euch noch immer die Schuld für Hasaels Rückkehr," stellte Valion fest.
Edrahil wandte sich ihm zu, einen Anflug von Zorn im Gesicht. "Wem soll ich sie sonst geben? Dir etwa? Nein, Valion, dass Umbar nun wieder in Hasaels Hand ist ist allein meinem Versagen zuzuschreiben."
"Ihr seid nicht immer für alles verantwortlich," versuchte es Valion erneut. "Jemand anderes hätte daran denken können, Hasael zu Pferde verfolgen zu lassen."
Statt einer Antwort kniff Edrahil die Augen zusammen und starrte wieder aufs Meer hinaus.
"Er braucht jetzt Zeit für sich," sagte Minûlîth, die leise an Valion herangetreten war und ihn sanft von Edrahil wegführte. Doch plötzlich wandte dieser sich um und packte Valion fest am Arm. "Du bringst Lothíriel sicher nach Hause, hast du verstanden?" knurrte er. "Und wenn sie wohlbehalten in Dol Amroth angekommen ist schickst du mir sofort eine Nachricht - lass dir vom Amrodin einen Botenvogel geben. Habe ich dein Wort, Valion vom Ethir?"
"Ich habe verstanden, Meister Edrahil. Mein Wort habt Ihr selbstverständlich," antwortete Valion und hielt Edrahils stechendem Blick stand. Dieser nickte einigermaßen zufrieden und zog einen versiegelten Brief hervor. "Hier, nimm. Nicht vor eurer Ankunft in Dol Amroth öffnen," schärfte er Valion ein. Dann wandte er sich wieder ab.

Nachdenklich folgte Valion Minûlîth zurück zu der Rampe, die die Súlrohír mit dem Festland Tol Thelyns verband. Dort wurde er Zeuge einer eindeutig für beide Seiten merkwürdigen Umarmung zwischen Bayyin und Valirë. "Wir sehen uns," sagte Valirë und ging an Bord des Schiffes. Oben angekommen lehnte sie sich über die Reling und Valion konnte deutlich sehen, wie ihr Blick an der einsamen Gestalt Edrahils hängenblieb. Bayyin hingegen blieb noch einige Augenblicke etwas ratlos an Ort und Stelle stehen und kratzte sich verlegen am Kopf.
"Mach dir nichts draus," sagte Valion freundschaftlich und klopfte dem Schreiber aufmunternd auf die Schulter. "Du bist wahrlich nicht der Erste."
"Der Erste... worin?" fragte Bayyin verständnislos.
Doch Valion nur leicht den Kopf schief, lächelte, und der Schreiber blickte verlegen zur Seite als er verstand. Dann warf er einen letzten Blick auf Valirë und marschierte dann in Richtung der Lagerhäuser davon.

Lothíriel, die bei Thorongil und Minûlîth stand, verabschiedete sich von dem frisch verbundenen Paar. "Ich halte meine Versprechen," sagte die Prinzessin als Valion herankam. "Ich werde mit meinem Vater sprechen und ihn darum bitte, Vorräte und Arbeiter hierher zu entsenden, sobald er sie entbehren kann. Ich weiß, dass dies niemals vergelten kann, dass Tol Thelyn von Gondor vergessen wurde, aber..."
"Ihr seid äußerst freundlich," unterbrach Thorongil Lothíriel sanft. "Wir sind dankbar für jegliche Hilfe. Und ich verstehe, wenn man in Dol Amroth zuerst an Gondor denkt. Wenn Gondor fällt, wird sich auch Tol Thelyn nicht lange vor dem Schatten verbergen können."
"Ich wünsche Euch eine angenehme Reise," sagte Minûlîth lächelnd und umarmte Lothíriel freundschaftlich. "Richtet Eurem Vater die besten Grüße von mir aus."
"Das werde ich," versprach die Prinzessin.
"Du hast schon als Kind immer länger als alle anderen zum Aufbrechen gebraucht," kommentierte Valion mit einem schiefen Grinsen, was ihm einen bösen Blick von Lothíriel einbrachte.
"Zeig etwas Respekt, Valion vom Ethir," gab sie mit fester Stimme zurück. "Ich bin die Prinzessin von Dol Amroth."
"Ja, genau das hast du früher schon gesagt," erwiderte Valion ungerührt. "Das hat dir beim "Braten-Vorfall" trotzdem nichts genutzt."
Das brachte Lothíriel dazu, in herzliches Gelächter auszubrechen. "Oh, ich erinnere mich noch genau an Edrahils Gesicht als er das Schlamassel sah, das ihr und Erchirion angerichtet hattet," prustete sie.
"Einen ähnlichen Blick hat er jetzt auch wieder drauf," verriet Valion ihr. "Er hat miese Laune. Vielleicht könntest du ein Wörtchen mit ihm reden, ehe wir gehen?" Valion ertappte sich dabei, dass es ihm tatsächlich nicht egal war, wie es Edrahil ging. Zuviel hatten sie in Umbar gemeinsam durchgestanden. Und wenn es jemand schaffen konnte, den alten Spion wieder etwas aufzumuntern, dann war es Lothíriel. Sie nickte und marschierte im Eilschritt zum Ende des Kais hinüber, und ihr hellblaues Kleid flatterte im Wind hinter ihr.

In der Zwischenzeit verabschiedete sich Valion vom den neuen Herren der Insel. "Melíril vom Turm, ich wünsche Euch und Eurer Familie nichts als das Beste für die Zukunft," sagte er und machte eine etwas übertriebene Verbeugung vor Minûlîth.
"Du darfst mich auch weiterhin Minûlîth nennen, Witzbold," gab die Adelige lächelnd zurück. "Bitte pass auf dich auf, Valion," fügte sie etwas ernster hinzu. "Auf dich und deine Schwester, hörst du?"
"Oh, Ihr wisst genau, dass Valirë gut auf sich selbst aufpassen kann," sagte er lächelnd. "Eher müsste ich Veantur und seine Seeleute vor ihr bewahren, wenn sie es schaffen, meine Schwester zu verärgern."
"Sieh zumindest zu, dass sie das Kleid findet, dass ich ihr zu ihrem Gepäck gelegt habe," fuhr Minûlîth fort. "Es ist das gleiche, das sie damals getragen hat als ihr beiden für zwei Tage Unterschlupf bei mir gesucht habt."
"Ich werde mein Bestes geben," versprach Valion.
Thorongil legte Valion die breite Hand auf die Schulter und lächelte freundlich. "Wir kennen uns erst kurz, aber du erinnerst mich an mich selbst, als ich deinem Alter war, mein Junge. Lass mich dir einen Rat geben: Fasse dir ein Herz und stelle die entscheidende Frage, wenn dir die Frau deines Herzens über den Weg läuft. Mach nicht den gleichen Fehler wie ich und warte viel zu lange!"
Das brachte Minûlîth zum Lachen. "Beorn, vergisst du da nicht etwas?" Sie deutete auf ihre Schwester, die gerade zu ihnen herüber kam.
"Oh," machte Thorongil. "Nun - noch seid ihr beiden ja nur verlobt, nicht wahr?"
"Das sind wir," bestätigte Lóminîth. "Aber wir werden schon bald heiraten."
"Werden wir?" wunderte sich Valion, der zum ersten Mal davon hörte.
"Und ihr seid selbstverständlich eingeladen," fuhr Lóminîth unbeirrt fort ohne auf Valions Protest einzugehen. "Wir werden sogar Meister Edrahil einladen."
"Augenblick mal!" wagte Valion zu widersprechen, doch seine Verlobte brachte ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen.
"Schätze mal ihr beiden werdet schon miteinander auskommen," lachte Thorongil. "Jetzt seht zu, dass ihr aufbrecht, ehe der günstige Wind vergeht! Der gute Veantur hat schon mindestens fünfmal zu euch herübergewunken. Lasst den Mann nicht warten!"
Minûlîth schloss ihre Schwester in eine letzte Umarmung. "Wir sehen uns bald, kâli," sagte die neue Herrin von Tol Thelyn leise. "Ich komme dich mit Túor und Thorongil in Dol Amroth besuchen, nachdem wir die Rossigil gefunden haben.
"Viel Erfolg bei der Suche," wünschte Valion.

Am Zugang zur Súlrohir fanden sie Edrahil vor, dessen Miene nun wieder so ausdruckslos wie eh und je war. Einer nach dem anderen gingen die Aufbrechenden an Bord des schlanken Schiffes, bis Valion als letzter noch an Land stand. Ehe er das Schiff betrat, beugte er sich leicht zu Edrahil hinüber und sagte leise: "Ich hoffe, nach allem was ich getan habe, habt Ihr mir den Braten-Vorfall allmählich vergeben?"
Sofort zogen sich Edrahils Augen missgelaunt zusammen. "Du warst das also. All die Jahre... ich hätte es mir denken können."
"Leinen los, ehe er dich sein Messer kosten lässt!" rief Minûlîth und brach in herzliches Gelächter aus. Und Valion hörte auf ihren Rat.
Die Súlrohír setzte sich in Bewegung und brach unter besten Wünschen der Thelynrim in die Heimat auf.


Lothíriel, Valirë, Veantur, Lóminîth und Valion mit der Súlrohír zur Bucht von Belfalas
« Letzte Änderung: 28. Apr 2017, 15:04 von Fine »
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Eandril

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #6 am: 16. Jan 2017, 19:34 »
Edrahil blickte der Súlrohír nachdenklich hinterher, während das Schiff mit den blauen Segeln allmählich am nördlichen Horizont verschwand. So sehr er sich auch geärgert hatte, als er die Zwillinge in Umbar gesehen hatte, jetzt wo sie unwiederruflich nach Gondor zurückkehrten, fühlte er sich seltsam - beinahe, als hätte er seine rechte Hand verloren. Nun, vielleicht einen Finger der rechten Hand. Er dachte kurz an Valirës schelmisches Lächeln und schüttelte den Kopf. Es war wirklich besser so.
"Du wirst sie vermissen", stellte Minûlîth fest, die leise neben ihn getreten war. "Ich?" Edrahil schnaubte belustigt. "Vermutlich eher nicht."
Minûlîth zog skeptisch eine schmale Augenbraue in die Höhe, sagte aber: "Ganz wie du meinst." Nach einem Augenblick des Schweigens fragte sie: "Was ist der Braten-Vorfall?"
Unwillkürlich musste Edrahil lächeln. "Nun, das geschah vor einigen Jahren, als die Zwillinge und die jüngeren Söhne des Fürsten noch Kinder waren. Eines Tages vor einem Bankett mit einigen wichtigen Adligen aus Belfalas..." Er unterbrach sich, und schüttelte den Kopf. "Nein, ich denke nicht. Manche Geheimnisse können ruhig geheim bleiben."
"Das ist ungerecht!", protestierte Minûlîth, und Edrahil fiel nicht zum ersten Mal auf, wie viel gelöster sie in Thorongils Anwesenheit wirkte als noch in Umbar. "Ich bin mir sicher, alle in Dol Amroth wissen darüber Bescheid."
"Ziemlich sicher", bestätigte Edrahil, und verzog das Gesicht. "Mir wäre es anders lieber, schließlich stand ich dabei nicht unbedingt als Meisterspion da."
"Kaum vorstellbar", stichelte Minûlîth. Edrahil wandte sich vom Meer ab, und begann mit ihr gemeinsam zurück zu Thorongil zu gehen, der sich leise mit seinem Sohn unterhielt. Túor sah sich dabei mit leuchtenden Augen an, und schien zumindest jetzt kein Problem damit zu haben, seine Heimat in Umbar durch diese zu ersetzen.
"Und leider doch wahr", meinte Edrahil. "Doch genug von Braten, wir haben einiges anderes zu tun."
"Allerdings", sagte Thorongil, der sein Gespräch mit Túor unterbrochen hatte, und seinen Sohn nun auf der kräftigen Schulter trug. "Ich habe einen meiner Männer ausgesucht um in Aín Sefra nach meiner Nichte zu suchen - oder ihrer Spur zu folgen, falls sie nicht mehr dort ist. Er heißt Hares und ist haradischer Abstammung, was ihm helfen dürfte nicht aufzufallen."
"Gehörte er zu denen, die Suladâns Männern entkamen?", fragte Edrahil, und Thorongil durchschaute ihn mühelos. "Er ist mit Sicherheit kein Verräter, falls ihr darauf hinauswollt. Er war auf Befehl meines Vaters seit mehreren Jahren in Ain Salah stationiert, wo ich ihn aufgespürt habe, nachdem ich von dem Angriff hörte."
"Dann will ich eurer Einschätzung vertrauen", erwiderte Edrahil. Zwar war Thorongil eindeutig kein so misstrauischer Mann wie er selbst, doch Edrahil glaubte nicht, dass ihm ein Verräter in den eigenen Reihen entgehen würde. "Wann wird er aufbrechen?"
"Sobald er bereit ist, vermutlich heute abend - Hares reist gerne bei Nacht."

"Widmen wir uns dem zweiten Ziel: Der Suche nach eurem Schiff."
"Meinem Schiff!", sagte Túor von der Schulter seines Vaters herunter, der ihm einen leichten Klaps versetzte und ihn auf die Füße stellte. "Nicht, solange ich lebe", meinte Thorongil, und Minûlîth fügte hinzu: "Was hoffentlich noch sehr lange sein wird."
"Ich zähle darauf", murmelte Thorongil, während er sie in seine Arme zog und ihre Schläfe küsste.
Edrahil räusperte sich hörbar. "Ihr seid beinahe so schlimm wie Valion und Lóminîth", sagte er tadelnd. "Wie habt ihr bereits nach der Rossigil gesucht?"
"Ich habe so viele Männer ausgeschickt wie ich gewagt habe und entbehren konnte", erklärte Thorongil, den Edrahils Tadel kein bisschen berührt zu haben schien. "Hallatan hat mit seinem Schiff die Küste zwischen hier und Umbar abgesucht, und andere haben sich in den Dörfern an der Küste umgehört, doch bislang vergebens. Nur hier und da gab es Gerüchte über ein großes Schiff in einem Sturm, aber alles führte in eine Sackgasse."
"Klingt, als hättet ihr viele Informationen, aber nicht genug Zeit um damit etwas anzufangen", sagte Edrahil langsam, und strich sich über das Kinn. "Ich könnte euch dabei behilflich sein - die richtige Information aus einem Berg von Gerede zu finden ist gewissermaßen meine Spezialität."
"Ich nehme eure Hilfe gerne an, damit ich mich dem Wiederaufbau widmen kann", erwiderte Thorongil, und streckte Edrahil die Hand entgegen. Als Edrahil die Hand ergriff, fragte Minûlîth leise: "Aber warum?"
"Weil ich eine Pause brauche", antwortete Edrahil offen. "Doch wenn ich nichts zu tun habe, werde ich verrückt, und die Suche nach einem verschwundenen Schiff ist in diesem Fall genau das richtige. Und außerdem... helfe ich meinen Freunden gerne."

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #7 am: 28. Jan 2017, 11:35 »
Edrahil legte den Bericht beiseite, den er gerade gelesen hatte, und machte eine weitere Markierung auf der Karte, die die ganze Westküste von Harad darstellte - von Umbar im Norden bis über die große Gebirgskette im Süden hinaus.  In den vergangenen Tagen hatte er viele Berichte gelesen, die Thorongils Leute auf ihrer Suche nach der Rossigil gesammelt hatten, und einige Markierungen auf der Karte gemacht, wo angeblich ein großes Schiff númenorischer Bauart gesichtet worden war, und wann.
Zwei der Markierungen lagen in der Nähe alter Verstecke der Turmherren, die auf der Karte eingezeichnet waren, und Edrahil vermutete, dass die Besatzung des Schiffes sich dort jeweils einige Zeit versteckt gehalten hatte. Aber das Schiff war nicht mehr dort, sondern hatte nach den Berichten der Küstenstämme seine Irrfahrt entlang der Küste fortgesetzt. Eine Irrfahrt, die schwer zu rekonstruieren war, da in diesen Berichten zu Edrahils Ärger meistens präzise Zeitangaben fehlten, wann das Schiff gesehen worden war. Dennoch, inzwischen glaubte er herausgefunden zu haben, wohin die Rossigil zuletzt gefahren war, und sich vermutlich vor sehr kurzer Zeit noch aufgehalten hatte.

Ein wenig mühsam erhob er sich hinter dem Schreibtisch des kleinen Hauses, das Thorongil ihm für die Dauer seines Aufenthalts zur Verfügung geschickt hatte, und trat aus der Tür hinaus auf den sonnendurchfluteten kleinen Platz, um den sich die meisten Häuser der kleinen Siedlung gruppierten. Thorongil hatte eines der leerstehenden Häuser bezogen, solange die Arbeiten am Turm nicht vollendet waren. Edrahil blickte nach Norden, wo sich der Turm wie eine Säule aus der grünen Landschaft erhob. Inzwischen waren Teile des Gebäudes vom Ruß gesäubert worden und erstrahlten wieder in einem reinen Weiß, und auch die Arbeit an den teilweise eingestürzten oberen Stockwerken schien gut voranzugehen.
Auf seinem Weg begegnete ihm Hallatan, der Kapitän des einen Schiffes, das den Turmherren - die Aglarbalak nicht mitgezählt - geblieben war, und grüßte ihn freundlich. Edrahil erwiderte den Gruß, und fügte hinzu: "Wenn ich richtig liege, könnt ihr bald auf eine größere Reise gehen..." Ein Lächeln breitete sich auf Hallatans Gesicht aus, während er stehen blieb und die Hände in die Seiten stützte. "Ihr habt sie gefunden", sagte er, doch Edrahil hob abwehrend beide Hände und erwiderte: "Ich habe herausgefunden, wo die Rossigil vielleicht vor kurzer Zeit gewesen sein könnte. Das heißt nicht, dass sie noch dort ist, und ich könnte mich irren."
"Und selbst wenn", gab Hallatan zurück, und deutete mit einer ausschweifenden Bewegung über die kleine Siedlung, den reparierten Hafen und den Turm. "Durch eure Hilfe konnte Thorongil sich ganz darauf konzentrieren, unsere Heimat wieder aufzubauen. Ganz gleich ob ihr das Schiff tatsächlich gefunden habt oder nicht, wir sind euch zu Dank verpflichtet."
"Seht es als Bezahlung für meine Aufnahme hier an", meinte Edrahil während er dem Kapitän auf die Schulter klopfte und weiter ging.

Als er Thorongils Haus erreichte, hörte er durch das offene Fenster eine ihm bekannte weibliche Stimme sagen: "Ich bringe eine Botschaft von einem der euch wohlgesonnen ist." Edrahil betrat den Flur durch die Tür, die vermutlich Túor offen stehen gelassen hatte, und legte die Hand auf den Griff der Tür zu Thorongils Arbeitszimmer. "Und Warnung bringe ich ebenfalls", fuhr die weibliche Stimme fort, und Thorongils Stimme antwortete: "Ich werde euch gerne anhören - wenn ihr mir zuerst euren Namen verratet." Nach einem Moment der Stille erwiderte die Frau: "Ich bin..."
"Ta-er as-Safar", beendete Edrahil den Satz für sie, während er die Tür aufzog und in den Raum trat. Ta-er fuhr herum, und ihre Augen weiteten sich einen winzigen Augenblick vor Überraschung, bevor sie ihr Gesicht wieder völlig unter Kontrolle hatte.
"Edrahil", sagte sie. "Ihr seid also aus Umbar entkommen."
"Mit der nicht unbeträchtlichen Hilfe des Mannes, vor dem ihr steht." Edrahil nickte in Thorongils Richtung, der hinter seinem Schreibtisch, die Hände auf die Tischplatte gestützt, stand, und die beiden aufmerksam beobachtete.
"Ihr seid also jene Ta-er", sagte er schließlich. "Die meinen Plan zu Hasaëls Ermordung gewaltig ins Wanken gebracht hat", ergänzte Edrahil, und ein Anflug der Verärgerung huschte über ihr Gesicht. "Ihr seid nicht der einzige in Umbar mit Plänen gewesen, und falls es euch besänftigt - ich wusste von eurem Plan ebenso wenig wie ihr von meinem. Wir sind uns nicht mit Absicht in die Quere gekommen."
"Was geschehen ist, ist geschehen", meinte Edrahil darauf. "Und ich bin auch nicht daran interessiert, jemandem die Schuld dafür zu suchen - und wenn, würde ich eher in Salemes Richtung blicken. Was mich viel mehr interessiert, ist der Grund für eure Anwesenheit hier."
"Das würde mich auch interessieren", warf Thorongil ein, der dem Austausch aufmerksam gelauscht hatte. "Ihr habt unsere Wachtposten an der Küste gefunden, und verlangt, dass man euch zu mir bringt - nun, hier seid ihr."
"Wie ich bereits sagte, komme ich mit einer Botschaft zu euch - und mit einer Warnung", begann Ta-er, und warf Edrahil einen Seitenblick zu. Als dieser keine Anstalten machte, zu gehen, und Thorongil ihn nicht aus dem Raum schickte, fuhr sie fort: "Wie Edrahil bereits weiß, gehöre ich dem Silbernen Bogen an, einer Gruppe, die an Frieden und Ordnung in ganz Harad interessiert ist - ganz ähnlich wie ihr."
"Das war vor Suladâns Angriff", erwiderte Thorongil. "Im Augenblick sind wir nur mit dem Wiederaufbau beschäftigt."
Ta-er trat einen Schritt an den Tisch heran. "Und danach?", fragte sie. "Was werdet ihr dann tun?"
In Thorongils Gesicht zuckte ein einzelner Muskel, doch er antwortete ohne Zögern: "Was wir immer getan haben. Mein Vater ist dafür gestorben, meine Schwester ist dafür gestorben, und meine Nichte musste dafür aus ihrer Heimat fliehen."
"Ich weiß wo sie ist", sagte Ta-er unvermittelt. Edrahil richtete sich ruckartig aus seiner an die Wand gelehnten Position auf und ließ sie bislang vor der Brust verschränkten Arme sinken. Das war interessant.
Auch Thorongil hatte sich abrupt aufgerichtet. "Ihr habt Narissa gesehen?"
"Allerdings. Im Augenblick ist sie in der Festung des Silbernen Bogens, in Sicherheit. Und bevor ihr fragt: Ja, sie ist freiwillig dort."
Thorongil warf Edrahil einen Blick zu, der lächelte und sagte: "Anscheinend haben wir den armen Hares umsonst auf die Suche geschickt."
"Das ist die Botschaft, die mir aufgetragen wurde zu überbringen, falls die Insel bewohnt ist", fuhr Ta-er fort. "Doch jetzt, wo ich sie gesehen habe, sollten wir vielleicht etwas weitergehen. Ich schlage vor, dass wir uns..."
"... verbünden?", beendete Thorongil den Satz fragend, und begann nachdenklich hinter seinem Schreibtisch hin und her zu gehen. Als sein Blick Edrahil streifte, nickte dieser langsam. Nach dem, was er in Umbar von Ta-er gesehen hatte, waren die Mitglieder des Silbernen Bogens äußerst fähige Kämpfer und Spione, und schienen ähnliche Absichten wie er und Thorongil zu haben. Er sah es zumindest als lohnenswert an, über ein Bündnis zu sprechen.
Schließlich blieb Thorongil stehen, und sagte: "Also gut. In Angesicht dessen, was ihr in Umbar getan habt, und der Tatsache, dass sich meine Nichte bei euch befindet, werde ich eine Zusammenarbeit in Betracht ziehen. Allerdings... würde ich zuvor gerne mit eurem Anführer sprechen. Herausfinden, was wirklich eure Ziele sind. Denn, verzeiht wenn ich das sage, in diesen Zeiten fällt es schwer, einfach so zu vertrauen."
Ta-er neigte zustimmend den Kopf. "Ich bin nicht beleidigt, denn ihr habt recht - erst Recht seit Salemes Verrat."
Edrahil war erleichtert. Einen Augenblick lang hatte er befürchtet, Thorongil könnte einem Bündnis einfach so zustimmen, doch der Herr des Turmes war ebenso geschickt wie Edrahil gehofft hatte.
"Ich werde diese Botschaft überbringen", sprach Ta-er weiter. "Doch mein Besuch hat einen weiteren Zweck: Eine Warnung. Der Silberne Bogen ist nicht der einzige, der von der Rückkehr der Turmherren in ihre Heimat Gerüchte gehört hat. Wir haben erfahren, dass auch andere davon wissen könnten - Andere, die euch nicht wohlgesonnen sind."
Thorongils Gesicht verdüsterte sich bei diesen Worten. "Ich hatte gehofft, ein wenig länger verborgen zu bleiben. Sei es wie es sei, ich danke euch für die Warnung. Kehrt schnell zu euren Leuten zurück, denn vielleicht würde ein Bündnis uns helfen, diesen Sturm zu überstehen."
"Ich werde sofort aufbrechen", erwiderte Ta-er mit einem Nicken, doch Thorongil schüttelte den Kopf. "So habe ich es nicht gemeint. Ihr könnt die Nacht hier verbringen und morgen gestärkt aufbrechen."
Ta-er lächelte, und meinte: "Das wird nicht nötig sein. Ich bin es gewohnt, schnell und lange zu reisen und wie ihr schon sagtet, in dieser Sache ist Eile von Nöten."
Mit diesen Worten wandte sie sich in einer fließenden Bewegung ab, und verließ den Raum. Edrahil seufzte. "Einen Hang zu dramatischen Abgängen hat sie jedenfalls."
"So wie ihr einen zu dramatischen Auftritten, mein Freund", gab Thorongil zurück, und ließ sich in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch sinken. "Also, was führt euch herüber - falls es nicht ausnahmsweise ein reiner Freundschaftsbesuch ist?"
Edrahil lächelte, und zog die Karte hervor, die er zusammengerollt in seinem Ärmel getragen hatte. "Kein reiner Freundschaftsbesuch, aber etwas erfreuliches, denke ich." Er breitete die Karte aus und deutete auf eine schmale Bucht südlich von ihnen, am Fuß der großen Gebirgskette sie sich von dort entlang der Küste nach Süden zog. "Hier ist die Rossigil zuletzt gesehen worden, und nach allem was ich weiß... könnte sie auch jetzt noch dort sein."
Thorongil sprang so heftig von seinem Stuhl auf, dass Edrahil unwillkürlich zusammenzuckte. "Ihr habt sie gefunden?"
"Vermutlich", wehrte Edrahil ab. "Wie ich schon sagte, ganz sicher kann ich nicht..."
"Ich werde sofort aufbrechen", fiel Thorongil ihm ins Wort. "Und wer wird mit Ta-er und ihrem Anführer sprechen?", fragte Edrahil, doch Thorongil winkte ab. "Bis dahin bin ich längst zurück. Und wenn nicht... Melíril und ihr. Ich vertraue euch beiden, und ihr seid beide fähig zu erkennen, ob ein Bündnis lohnenswert wäre, oder eine Gefahr für uns darstellen könnte."

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #8 am: 29. Jan 2017, 13:46 »
Narissa und Aerien aus der Mehu-Wüste

Das kleine Ruderboot schaukelte sanft auf den kleinen Wellen, während sie rasch dem Hafen von Tol Thelyn näher kamen. Narissa, die sich im Heck des Bootes niedergelassen hatte und gespannt nach vorne blickte, fragte: "Ist die Thoroval nicht hier?"
"Nein", erwiderte Langlas hinter ihr. Die Anstrengung des Ruderns war seiner Stimme beinahe nicht anzumerken, denn er war ein kräftiger Mann. "Sie ist losgesegelt um die Rossigil zu suchen."
Narissa wandte den Blick nicht vom Hafen ab, in dem ein weiteres Schiff vor Anker lag, dessen gereffte schwarze Segel ihr ein flaues Gefühl im Magen verursachten. "Und was ist das? Habt ihr ein Korsarenschiff gekapert?"
Langlas lachte, und schüttelte den Kopf. "Nein, das nicht gerade. Aber trotzdem ist es ihm zu verdanken, dass wir hier sind." Und auf den misstrauischen Blick, den Narissa ihm zuwarf, ergänzte er: "Nein, das heißt nicht, dass wir ein Bündnis mit Umbar oder irgendwelchen Korsaren eingegangen sind. Du wirst es sehen."

Schließlich stieß der Bug des Bootes, in dem Aerien saß und die ganze Zeit über stumm auf die Wellen geblickt hatte, mit einem dumpfen Geräusch gegen die niedrige Kaimauer des Hafens, auf der sich bereits eine kleine Menschenmenge versammelt hatte. Viele Gesichter waren ihr bekannt, doch auch das ein oder andere neue Gesicht entdeckte sie. Als sie hinter Langlas an Land kletterte, ergriff Aerien, die das Boot als erste verlassen hatte, ihre Hand und drückte sie. "Das müssen wir unbedingt nochmal machen", sagte sie leise und mit leuchtenden Augen, und Narissa flüsterte zurück: "So oft du willst - und ich hatte dir ja versprochen, dass wir irgendwann eine Schiffsreise machen."
Bevor Aerien etwas erwidern konnte, trat eine elegant gekleidete, dunkelhaarige Frau, die einen Jungen von vielleicht acht Jahren an der Hand hielt, vor, und sagte: "Willkommen zuhause, Narissa." Obwohl die Frau Narissa unbekannt war, war ihre Stimme warm, und so erwiderte Narissa ohne Misstrauen: "Ich danke euch für das Willkommen - auch wenn ihr mir gegenüber im Vorteil seid, denn ihr kennt meinen Namen und ich euren nicht."
Ein feines Lächeln umspielte die Mundwinkel der Frau, als sie antwortete: "Mein Name ist Minûlîth, einst aus dem Haus Minluzîr und nun... aus dem Haus der Turmherren." Auch wenn die Namen, die Minûlîth genannt hatte, eindeutig nach Schwarzen Númenorern klangen, konnte Narissa nicht umhin, sie auf Anhieb zu mögen. Die Menschen hier schienen sie ohne Widerspruch als eine Anführerin zu akzeptieren, und außerdem hatte Narissa Ta-ers Bericht über die Geschehnisse in Umbar nicht vergessen.
"Auch wenn ihr meinen Namen schon wisst: Ich bin Narissa, Tochter Herlennas vom Turm, und dies", sie machte eine Bewegung in Richtung Aerien, "ist Aerien Bereneth - die beste Freundin die man sich wünschen kann."
"Ich freue mich, euch kennen zu lernen", sagte Aerien ein wenig zurückhaltend, und bevor Minûlîth etwas erwidern konnte, deutete der Junge an ihrer Hand in Richtung des Turmes und sagte: "Seht nur, er leuchtet!" Alle wandten sich in diese Richtung um, und tatsächlich - die Sonne war erneut durch die Wolken gebrochen, und ließ den Turm in ihrem Schein geradezu erstrahlen.
"Ein merkwürdiger Zufall...", meinte Minûlîth leise. "Sie sind gerade heute erst damit fertig geworden."
"Und die Zufälle werden noch merkwürdiger", brummte eine Narissa bekannte Stimme, und zu ihrer Überraschung sah sie Edrahil ein Stück abseits stehen und mit einem Stock in Richtung Süden, aufs Meer hinaus deuten. "Dort kommt der Herr des Turmes." Von dort näherten sich zwei Schiffe mit weißen Segeln, die Narissa sofort erkannte. Vorneweg kam die Thoroval, Hallatans Schiff, und das größere Schiff dahinter war die Rossigil, das Schiff, mit dem Ciryatan von Eldalondë nach Mittelerde gesegelt war.
"Jetzt bekommst du noch mehr alte Dúnedain-Geschichte zu Gesicht", wisperte sie Aerien zu, während ihr Herz beim Anblick der Schiffe immer schneller schlug.

Sobald die Rossigil am Kai angelegt hatte, sprang ein Mann, der Narissa wie eine jüngere Version ihres Großvaters vorkam, leichtfüßig über die Reling an Land, ohne auf eine Planke zu warten. "Sind wir etwa erwartet...", rief er laut und fröhlich, doch als sein Blick auf Narissa fiel, verstummte er. "Nein, das ist doch... du siehst aus wie sie", sagte er leise, und Narissa versuchte mit trockenem Mund etwas zu sagen, brachte aber keine Ton heraus. Es war Minûlîth, die geistesgegenwärtig die Vorstellung übernahm. "Dies ist Thorongil, Sohn Hadors, Herr von Tol Thelyn... und Narissa, Tochter Herlennas vom Turm."
Thorongil kam langsam heran, und Narissa war froh, Aeriens beruhigende Gegenwart an ihrer Seite zu spüren. "Du siehst ihr wirklich ähnlich", sagte Thorongil heiser, und Narissa brachte ebenso mühsam heraus: "Und du siehst aus wie Großvater." Ihr Onkel zog sie plötzlich in eine feste Umarmung, die Narissa erst zaghaft und dann ebenso fest erwiderte. Auch wenn sie ihn an diesem Tag zum ersten Mal in ihrem Leben sah, war er doch alles, was ihr an Familie geblieben war - fast alles. Sie lächelte, als sie an Aerien dachte, während Thorongil sie plötzlich hochhob als wäre sie ein kleines Mädchen, und lachend einmal im Kreis herum herumwirbelte. Als er sie wieder auf die Füße stellte lachten beide. Thorongil legte Narissa den Arm um die Schultern und führte sie in Richtung Minûlîth, die lächelnd zugesehen hatte.
"Auch wenn ich sicher bin, dass Melíril sich bereits angemessen vorgestellt hat, hat sie doch gewiss das wichtigste ausgelassen."
"Angedeutet", warf Minûlîth ein, und Thorongil zog eine Augenbraue in die Höhe. "Nun, auf jeden Fall ist dies Melíril, oder Minûlîth, die Herrin meines Herzens." Minûlîth errötete leicht, während Thorongil den Jungen zu sich heranzog und fort fuhr: "Und dies ist Túor - unser Sohn, und Erbe des Turmes."
Narissa ging langsam vor Túor auf die Knie. Von ihrer Familie war mehr übrig, als sie zu hoffen gewagt hatte - und durch Túor würde sie sogar fortbestehen. "Ich bin Narissa", sagte sie leise, und als sie seine Hand ergriff ging ein Strahlen über das Gesicht des Jungen. "Und ich bin Túor", erwiderte er. "Kannst du mir beibringen, wie man kämpft?"
"Túor!", sagte Minûlîth streng, und Thorongil schüttelte langsam den Kopf. "Eins nach dem anderen, junger Mann. Fürs erste sollten wir Narissa ankommen lassen, und ihr alles erzählen, was geschehen ist."
Narissa beugte sich vor, und flüsterte Túor verschwörerisch ins Ohr: "Natürlich kann ich dir ein paar Sachen zeigen." Erneut erstrahlte ein Lächeln auf seinem kindlichen Gesicht, und Narissa erhob sich rasch. "Das würde mir sehr gefallen", sagte sie Thorongil gewandt, und zog dann Aerien, die ein wenig abseits gestanden hatte am Arm neben sich. "Aber vorher möchte ich dir Aerien vorstellen, die beste Freundin die ich jemals hatte."
"Jeder Freund meiner Familie ist ein Freund von mir", erwiderte Thorongil, ergriff Aeriens Hand und hauchte einen Kuss darauf. "Sei willkommen."
"Danke", sagte Aerien, und an ihrer Stimme erkannte Narissa, dass sie glücklich und zugleich ein wenig überwältigt war. "Ich bin froh, dass ich hier sein kann."
"Tut mir leid, dass ich das jetzt tun muss", warf Narissa ein. Zum Glück hatte sich die Menge inzwischen einigermaßen aufgelöst. "Aber... Aeriens Familie kommt aus Mordor."
"Mordor...", stieß Thorongil hervor, und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Auch Aerien war blass geworden, und warf Narissa einen Blick zu, der nur Was tust du? bedeuten konnte. Lediglich Minûlîth zeigte keinen Schrecken, oder verbarg ihn zumindest äußerst gut.
"Ah, dann kommst du aus dem Haus Balákar?", fragte sie interessiert. "Es freut mich sehr, dass du jetzt stattdessen hier bist." Noch immer herrschte betretenes Schweigen, und Minûlîth ließ einen beinahe genervten Blick über Thorongil, Edrahil, Hallatan und Langlas schweifen, die ihren Schock in verschiedensten Stufen der Offenheit zeigten. "Meine Güte", sagte sie schließlich. "Nun tut nicht so, als hättet ihr einen Geist gesehen. Habt ihr alle vergessen, aus was für einer Familie ich komme?" Ihr Finger deutete der Reihe nach auf die Männer, als sie fortfuhr: "Und trotzdem hast du mich eben als die Herrin deines Herzens bezeichnet - was ich übrigens sehr schön fand. Und du, Edrahil, warst bereit mit mir in Umbar zu bleiben und gegen Hasaël zu kämpfen und bist mir sogar in in brennendes Haus gefolgt, und ihr beiden", die deutete auf Hallatan und Langlas, "hattet offensichtlich kein Problem damit, mich als Herrin der Insel zu akzeptieren. Also lasst das arme Mädchen in Ruhe, sie ist mit ihrer Familie genug gestraft, und freut euch lieber dass sie hier ist und nicht in Mordor."
Narissa wäre Minûlîth in diesem Moment am liebsten um den Hals gefallen, und ein Blick auf Aeriens Gesicht verriet ihr, dass es ihrer Freundin kein bisschen anders ging. Schließlich räusperte Thorongil sich verlegen, und sagte: "Melíril beschämt uns alle - und zu recht. Verzeih mir meinen Schrecken, Aerien, und sei erneut willkommen auf Tol Thelyn." Als Narissa Aeriens Hand ergriff, sagte Edrahil: "Und es war gut getan, es zu verraten - denn ein solches Geheimnis kommt früher oder später ans Tageslicht, und dann wäre unsere Reaktion vermutlich anders ausgefallen."
Mit einem leicht gezwungenen Lächeln erinnerte Narissa sich an den Moment, in dem sie selbst von Aeriens Abstammung erfahren hatte - und an ihre eigene Reaktion darauf.
"In jedem Fall gibt es viel zu erzählen und zu besprechen", ergriff Thorongil wieder das Wort. "Aber ich denke, das hat bis morgen Zeit. Für heute sollten wir uns von unseren Reisen erholen - zumindest die, die auf Reisen gewesen sind." Er zwinkerte Minûlîth und Edrahil zu, ergriff Minûlîths Hand und ging mit ihr und Túor in Richtung eines der reparierten Häuser davon.
"Ich erwarte nach wie vor einen Bericht über Qúsay", sagte Edrahil, der zurückgeblieben war, mit strenger Stimme. "Aber das hat wohl ebenfalls bis morgen Zeit. Vielleicht solltet ihr die Gelegenheit nutzen..." Mit einem Augenzwinkern ging er ebenfalls langsam davon, und ließ Narissa und Aerien inmitten des geschäftigen Treibens am kleinen Hafen alleine zurück.

Narissa atmete tief durch, und genoss den Augenblick, bevor sie sagte: "Im Südwesten der Insel gibt es einen kleinen Bach. Er fließt zwischen zwei Hügeln hindurch zum Meer hinunter, und an seiner Mündung liegt ein kleiner Sandstrand." Als Kind war sie oft dort gewesen, wenn sie Zeit für sich gebraucht hatte. "Etwas oberhalb des Strandes steht ein alter Leuchtturm, der seit über tausend Jahren nicht mehr benutzt wurde." Narissa hoffte, dass dieser Ort unbeschädigt geblieben war, denn dort gab es nichts was für die Angreifer von Interesse gewesen wäre. Im dem Turm gab es hinter ein paar lockeren Steinen einen kleinen Hohlraum, in dem Narissa heimlich einige Kissen und Decken aufbewahrt hatte, denn hin und wieder hatte sie in dem alten Leuchtturm eine Nacht verbracht, wenn sie sich mit ihrem Großvater gestritten hatte - was nicht allzu selten vorgekommen war.
"Such den Leuchtturm, und warte dort auf mich", schloss sie, und Aerien fragte verwundert: "Und was machst du in der Zeit?"
"Das... ist ein Geheimnis", erwiderte Narissa lächelnd, und gab Aerien in aller Öffentlichkeit einen raschen Kuss, woraufhin diese ihr mit dem Finger drohte. "Na los, auf mit dir. Geh ein bisschen erkunden."
« Letzte Änderung: 30. Jan 2017, 11:33 von Eandril »

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Auf dem Weg zum Leuchtturm
« Antwort #9 am: 29. Jan 2017, 18:56 »
Aerien beschloss, auf Narissas Rat zu hören, und sich die Insel genauer anzusehen. Nach einem kurzen Spaziergang durch den kleinen Hafen, dessen Anlegeplätze nun durch die drei großen Schiffe bis auf einen gefüllt waren, zog es sie zu dem großen weißen Turm, der sich in der Ferne erhob. Sie schloss sich einer kleinen Gruppe von Menschen an, die dem ausgetretenen Weg vom Hafen zum Turm folgten und offensichtlich Bauarbeiten daran durchführen wollten, was Aerien an den Werkzeugen erkannte, die sie trugen. Nachdem die Thelynrim ihre anfängliche Skepsis überwunden hatten kam schnell ein angenehmes Gespräch auf.
"Das sieht man selten, dass einem jemand, der aus Mordor stammt, nichts Übles will," sagte eine Frau in Aeriens Alter, die ihre langen blonden Haare zu einem kunstvollen Zopf geflochten trug. "Wobei ich zugeben muss, dass die Insel erst zweimal angegriffen wurde, und noch nie von Orks oder anderen Wesen des Dunklen Herrschers - bislang waren es immer fehlgeleitete Haradrim. Ich heiße übrigens Laedris. Und du bist Aerien, richtig?"
"Genau," bestätigte Aerien. Laedris war ihr sofort sympathisch, und schon nach kurzer Zeit plauderten sie über dies und das, als würden sie sich schon lange kennen. "Ich hoffe, mit der Zeit vertrauen die Thelynrim mir nicht nur wegen dem Wort eurer strengen Herrin," sagte Aerien.
"Nein, sorge dich nicht," antwortete Laedris. "Herrin Melíril hat ja selbst eine ähnliche Vorgeschichte wie du. Das große Schiff mit den schwarzen Segeln gehört ihr und war bei vielen Korsarenangriffen mit dabei. Fürst Beorn sollte die Segel wirklich durch weiße ersetzen, wie er schon mehrfach vorgeschlagen hat."
"Ist Beorn der richtige Name von Narissas Onkel?" fragte Aerien neugierig.
"Ja - er ist Beorn III., Hadors Sohn, Herr des Turms und von Tol Thelyn. Beeindruckend, nicht wahr? Zu schade, dass sein Sohn noch so jung ist!" meinte Laedris mit einem Zwinkern.
"Du bist sowieso viel zu geschwätzig für meinen kleinen Túor," mischte sich eine belustigte Stimme ein. Die beiden jungen Frauen fuhren überrascht herum. Hinter ihnen stand Minûlîth, die der Gruppe offenbar gefolgt war.
"Verzeiht meine Worte, Herrin!" entschuldigte Laedris sich hastig. "Ich habe unbedacht gesprochen."
"Das hast du," bestätigte Minûlîth streng - doch dann lächelte sie. "Keine Sorge, Mädchen. Es ist gut. In diesen Zeiten tun uns Späße hin und wieder gut."
"Kanntet Ihr meine Großmutter, Azruarî?" fragte Aerien höflich.
"Ich war noch ein kleines Mädchen, als sie fortging um das Falkenauge von Aglarêth zu heiraten," erzählte Minûlîth. "Ist sie noch am Leben?"
"Ja," bestätigte Aerien. "Ich habe sie nur selten zu Gesicht bekommen, aber meine Mutter sagte mir, sie habe alles, was sie wusste, von meiner Großmutter gelernt und sie ist der Grund, warum meine Eltern mir den Namen Azruphel gaben."
"Ein ungewöhnlicher Name für jemanden, der so weit weg vom Meer wohnt," sagte Minûlîth lächelnd. "Und wie ich sehe, hast auch du deinen Namen in die Elbensprache übersetzt, wie meine Schwester und ich es getan haben."
"Ich tat es auf Anregung Aragorns, des Königs von Gondor," gab Aerien zu.
"Interessant," befand Minûlîth und betrachtete Aerien einen langen Moment. Dann sagte sie: "Du musst mich nicht als Herrin ansprechen. Wir sind Verwandte - durch Blut vereint, und, wenn mich nicht alles täuscht, durch Liebe zum Haus der Turmherren. So ist es doch, oder nicht?"
Aerien errötete und blickte zu Boden. "Du hast natürlich recht, Melíril."
Minûlîth lachte leise. "Oh, ich sehe schon, die Erziehung von Mordor steckt noch sehr tief in dir. Du hat nie gelernt, was Liebe wirklich bedeutet, nicht wahr? Dann sei froh, dass du jemanden gefunden hast, die dir dabei hilft, es herauszufinden."
"Das bin ich," sagte Aerien. "Das bin ich."

Sie kamen in Sichtweite der kleineren Gebäude, die rings um den Turm standen und eines nach dem anderen repariert wurden. Minûlîth erzählte Aerien und Laedris gerade von einer ihrer Reisen mit Thorongil in den tiefen Süden, doch dann sagte sie entschuldigend: "Ich werde euch beide auf später vertrösten müssen. Es gibt im Turm einige Dinge, um die ich mich kümmern muss. Laedris, du kennst deine Aufgaben. Aerien - für dich werde ich sicherlich etwas finden, falls du helfen möchtest. Aber für heute schlage ich vor, dass du dir die Insel ansiehst, dich einlebst und dir alles ansiehst. Ich hoffe, wir können dir hier eine gute neue Heimat bieten." Sie hielt einen Moment inne, dann blickte sie Aerien nachdenklich an und sagte: "Du und Narissa - ihr bleibt doch hier, oder? Immerhin ist Tol Thelyn Narissas Zuhause, und ich glaube nicht, dass du dich freiwillig von ihr trennen willst. Nun - wie dem auch sei, Beorn und ich heißen dich willkommen, und du wirst hier immer eine Heimat finden, wenn du sie möchtest."
"Und wenn sie sich nicht doch als Verräterin herausstellt," fügte eine neue Stimme hinzu. Es war der Mann, den Narissa als Edrahil vorgestellt hatte.
"Edrahil, bitte. Sie hat sich von Mordor losgesagt. Lass das arme Mädchen in Ruhe," sagte Minûlîth befehlend. "Sie hat schon genug durchgemacht, da musst du ihr nicht noch mit deiner Griesgrämigkeit das Leben schwer machen. Du hast doch heute einiges zu feiern: Beorn hat dank deinem Hinweis die Rossigil gefunden, der Wiederaufbau geht gut voran, und ein Vogel aus Dol Amroth ist eingetroffen. Hast du die Nachricht schon gelesen?"
"Natürlich habe ich das," gab Edrahil etwas missmutig zurück. "Sie war das, was ich erwartete. Zufriedenstellend, aber nichts Überraschendes."
"Ich sehe schon, wir sollten wirklich eine Frau für dich finden, die dir hin und wieder die Ohren langzieht," scherzte Minûlîth. "Denn sonst muss ich das übernehmen, und das wird mir auf Dauer zu anstrengend."
"Wage es ja nicht, dich auch nur nach einer Kandidatin umzusehen," erwiderte Edrahil, doch inzwischen war ein kleines Lächeln auf sein Gesicht getreten. "Ich finde es sowieso heraus."
"Wir werden sehen, Meister Edrahil," gab Minûlîth ungerührt zurück. Und damit ließ sie ihn stehen und betrat den Turm.
"Mach bloß keinen Ärger, Mädchen," brummte der Gondorer in Aeriens Richtung.
"Ich gebe mir Mühe, Herr Edrahil," gab sie pflichtbewusst zurück. Die Art und Weise, wie Edrahil sie durchdringend anblickte, gab Aerien das Gefühl, dass dieser Mann tatsächlich alles sah und erfuhr, was auf der Insel geschah. Wie als ob er einen Palantír benutzen würde, dachte sie.

Edrahil hatte sie erfolgreich vom Turm verscheucht. Aerien beschloss daher, den Leuchtturm zu finden, den Narissa ihr beschrieben hatte. Auf dem Weg dorthin traf sie auf eine weitere Gruppe Thelynrim, die ebenfalls äußerst beschäftigt aussahen und einen halb zerstörten Bauernhof auf halbem Weg zum Leuchtturm wieder aufbauten. Als Aerien jedoch herankam, unterbrach einer der Arbeiter sein Werk und trat ihr entgegen. Er deutete eine Verbeugung an und stellte sich vor: "Mein Name ist Hírilorn, Hallatans Sohn. Was führt die edle Dame zu meinem bescheidenen Hof?"
Aerien fand nicht gerade, dass sie momentan nach einer edlen Dame aussah - sie trug einfache haradische Kleidung aus weitem, hellen Stoff und ihre graue Hose aus Durthang, dazu die breiten Lederstiefel die sie auf ihrem Weg von Mordor bis hierher getragen hatte, abgesehen von den beiden Anlässen in Qafsah an denen sie Sahírs Kleid getragen hatte. Ihr Haar war zum typischen Pferdeschwanz gebunden und auf ihrem Rücken hing ihr Bastardschwert.
"Hallo, Hírilorn," sagte sie daher einfach und ging nicht auf sein höfisches Gerede ein. "Ich bin auf dem Weg zum alten Leuchtturm, um mich dort mit Narissa zu treffen."
"Lasst mich Euch den Weg weisen!" bot der junge Mann hilfsbereit an. Aerien fragte sich, was wohl dahintersteckte, bis einer der übrigen Arbeiter rief: "Du musst dir schon mehr Mühe geben, wenn du über sie an Narissa herankommen willst, Hírilorn Silberzunge!" Die übrigen Männer lachten. "So ist das also," sagte Aerien lächelnd. "Hattest du gehofft, wenn du dich mit mir anfreundetst, stelle ich dich vielleicht Narissa vor? Die Erbin des Turms, noch unverheiratet?" Hírilorn blickte etwas betreten zu Boden, und das genügte Aerien als Antwort. "Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest - Fürst Beorn hat bereits einen männlichen Erben."
"Darum ging es mir nicht," gab Hírilorn zu. "Wir alle dachten, Narissa wäre beim Fall der Insel getötet worden. Und jetzt, da sie wieder aufgetaucht ist, und keinen Mann hat..." er ließ den Satz unvollendet.
Verdammt, Narissa, müssen dir denn wirklich überall wo wir hin kommen die Männer nachlaufen? dachte Aerien verärgert, doch sie ließ sich nichts anmerken. "Ich denke, ich finden den Leuchtturm alleine, vielen Dank," sagte sie. "Es sieht sowieso ganz danach aus, als hättet ihr hier noch genug zu tun."

Sie ließ Hírilorns Bauernhof hinter sich und kam nach einiger Zeit an den Bach, den Narissa ihr beschrieben hatte. Aerien folgte dem Verlauf des Gewässers, zwischen den Hügeln hindurch, und gelangte an den kleinen, versteckten Strand. Die Sonne schien noch immer warm auf sie herab, und so zog Aerien die Schuhe aus und rannte einige Minuten glücklich durch den warmen, weichen Sand, bis sie schließlich vor dem alten Leuchtturm stand. Die Tür war nur angelehnt und ließ sich problemlos öffnen. Drinnen war es weniger dunkel als Aerien erwartet hatte, denn durch viele kleine Fenster fiel das Tageslicht herein. Aerien wollte gerade die Stufen hinauf zur Spitze des Turms erklimmen, als ein plötzlicher Windstoß die Tür fest zuschlug und ihr einen ordentlichen Schreck einjagte. Und als sie versuchte, die Tür wieder zu öffnen, stellte sie fest, dass sie klemmte.
Bei allen sieben Sternen, dachte Aerien. Muss das gerade jetzt passieren? Sie versuchte, die Tür mit ihrem Schwert aufzuhebeln, doch diese gab nicht nach. Aerien gab den Versuch schließlich auf, da sie befürchtete, die Klinge könnte abbrechen. Sie beschloss, das beste aus der Situation zu machen und den Turm von oben bis unten zu durchsuchen. Narissa wird schon kommen und die Tür von außen aufbekommen, sagte sie sich. Und als sie schließlich hinter einem losen Stein eine alte Decke sowie mehrere Kissen gefunden hatte, machte sie es sich auf dem Teppich im oberen Stockwerk des Turms gemütlich, an einem der Fenster, das ihr einen wunderbaren Blick auf das Meer bot. Kaum hatte sie sich in die Decke gewickelt spürte sie, dass sie in der vorherigen Nacht zu lange wach geblieben war. Aerien gähnte, und es fiel ihr immer schwerer, die Augen offen zu halten während sie ihren Blick über das Meer schweifen ließ. Bereits nach wenigen Minuten war sie fest eingeschlafen.
« Letzte Änderung: 15. Sep 2017, 08:53 von Fine »
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Re: Tol Thelyn
« Antwort #10 am: 30. Jan 2017, 10:53 »
Den ganzen Weg zum Turm hinauf hatte Narissa das dringende Bedürfnis zu singen, tanzen und springen. Doch sie beherrschte sich, und eilte ohne zu zögern weiter, antwortete nur kurz angebunden auf die freundlichen Zurufe alter Bekannter, und erreichte schließlich den Turm. Er sah genauso aus wie am Tag vor dem Angriff, doch als sie durch die Türöffnung, in der noch die Tür fehlte, hineintrat, sah sie, dass sich vieles verändert hatte. In der runden Halle, die das unterste Stockwerk des Gebäudes einnahm, fehlten noch sämtliche Einrichtungsgegenstände, und stattdessen war der Boden mit Werkzeugen und Baumaterialien vom Wiederaufbau übersät.
Narissa stieg langsam die Treppe hinauf, die sich an der äußeren Wand des Turmes emporwand. Die unteren Stockwerke schienen am meisten unter dem Feuer gelitten zu haben, denn hier war beinahe nichts wieder zu erkennen. Doch auch als sie weiter nach oben kam stellte sie fest, dass große Teile der Außenwand neu waren - offenbar hatte das Feuer auch hier gewütet, und Teile der oberen Stockwerke schienen eingestürzt gewesen zu sein.
Schließlich erreichte sie das zweitoberste Stockwerk, das sie selbst bis vor dem Angriff bewohnt hatte. Langsam und unsicher drückte sie die frisch getischlerte Holztür auf, und betrat das Zimmer, in dem sie über zehn Jahre lang gelebt hatte. Nur wenige Möbel standen dort, doch bei ihrem Anblick zog sich Narissas Herz zusammen. Das Bett hatte das Feuer anscheinend beinahe unbeschadet überstanden, nur zwei der Beine waren etwas geschwärzt, und auch der kleine Tisch vor dem Fenster, das auf den Hafen hinausblickte, war noch da. Dort hatte sie oft gesessen, gelesen und auf das Meer hinausgeblickt.
Gedankenverloren ließ sie sich auf der Bettkante nieder, und wessen Verdienst es gewesen war, das Zimmer wieder einigermaßen herzurichten - und wann es geschehen war. Narissas Blick fiel auf die schwere Truhe, die neben dem Bett stand. Sie stand auf, kniete sich davor auf den Boden und öffnete sie ein wenig mühsam. Drinnen lagen einige wenige Kleidungsstücke, die ihr gehört hatten, und zuunterst das, was sie gehofft hatte zu finden. Narissa nahm das dunkelblaue Kleid vorsichtig aus der Truhe, und hielt es sich vor den Körper. Wie hatte das das Feuer überstehen können?
"Als wir gehört haben, dass du noch lebst, hat Thorongil dafür gesorgt, dass dein Zimmer so gut wie möglich wieder hergerichtet wird", erklang Minûlîths Stimme von der offen stehenden Tür her. "Er hat mir erzählt, dass diese Truhe wohl durch den Fußboden gebrochen sein und im untersten Stockwerk gelandet sein muss. Dort hat er sie jedenfalls gefunden, die meisten Kleidungsstücke zerstreut und verbrannt, und drinnen nur dieses eine Kleid."
"Fast wie ein Wunder...", sagte Narissa leise, und strich über den samtigen Stoff des Kleides. Ihr Großvater hatte es ihr einmal, an ihrem zwanzigsten Geburtstag, aus Umbar mitgebracht, und seit jenem Tag hatte sie es nie mehr getragen - schließlich waren Kleider unpraktisch zum Kämpfen und Klettern.
"Willst du es tragen?", fragte Minûlîth, und Narissa nickte. "Ja. Irgendwie... hatte ich gehofft, dass es überlebt hat."
"Ich kann dir dabei helfen", bot Minûlîth an, und betrachtete sie dabei prüfend. "Und dich dabei noch ein bisschen hübscher machen, als du ohnehin bist." Narissa spürte sich selbst ein wenig erröten, als sie antwortete: "Das... würde mich sehr freuen, denn ich... weiß nicht so recht, wie..."

Nur wenig später betrachtete Narissa sich in dem kleinen Spiegel, den Minûlîth ebenso wie eine Menge Schminkzeug irgendwo hergezaubert hatte. Sie trug das dunkelblaue Kleid, dass weniger prunkvoll war als jenes, das Aerien in Qafsah getragen hatte, aber trotzdem in seiner Schlichtheit elegant wirkte. Das Kleid ließ ließ Arme, Schultern und den oberen Rücken komplett frei. Darunter saß es eng am Körper, betonte die Taille, fiel von den Hüften an in lockeren glatten Falten über die Beine hinab und endete kurz über den Knien. Auch ihre gewohnten Stiefel trug Narissa nicht mehr, sondern feine weiße Schuhe, die Minûlîth ihr geliehen hatte, und die den Fußrücken freiließen. Die größte Veränderung hatte Minûlîth allerdings mit ihrem Gesicht vollbracht, ihre Haare zu einer ebenfalls schlichten, aber eleganten Frisur hochgesteckt sodass ihr zu beiden Seiten ein paar wenige Strähnen das Gesicht umrahmten. Dann hatte sie mit Puder ein wenig Farbe auf ihre Wangen gezaubert, die gebogene Narbe ein wenig abgeschwächt aber nicht ganz verdeckt, mit einem schwarzen Stift ein wenig Schatten unter die Augen und über die Augenlider gelegt, sodass Narissas Augen ein wenig größer wirkten, und zuletzt roten Lippenstift aufgelegt. Während Narissa sich jetzt im Spiegel betrachtete, roch Minûlîth nacheinander an mehreren Parfümfläschchen, bis sie Narissa eines davon entgegenstreckte und sagte: "Wie wäre es damit?"
Narissa nahm das Fläschchen vorsichtig entgegen, und roch daran. Der Geruch erinnerte sie ein wenig an einen Frühlingsmorgen auf der Insel, wenn Tau auf den Grasspitzen glitzerte und ein frischer salziger Wind vom Meer hereinwehte. "Das gefällt mir", erwiderte sie, und Minûlîth tupfte ihr ein wenig davon auf die Innenseiten beider Handgelenke, und unter die Ohren auf den Hals. Dann streifte Narissa sich das Medaillon von Elenosse wieder über den Kopf, dass genau auf ihrer Brust zu liegen kam und dessen Silber auf dem dunkelblauen Stoff besonders gut zur Geltung kam.
"Fertig", sagte sie, atmete tief durch, und Minûlîth nickte zufrieden. "Allerdings. Für wen du das tust, er kann sich glücklich schätzen... oder sie?" Narissa errötete zu ihrer Überraschung ein wenig unter Minûlîths Blick, und diese lachte. "Ich will nicht leugnen, dass ihr nicht ungewöhnlich seid. Aber mach dir keine Sorgen, ich verurteile keine Form der Liebe - in Umbar hatte ich zwei Wachen, die heimlich das Bett miteinander geteilt haben. Oder sie dachten zumindest, dass es ein Geheimnis wäre."
Narissa erwiderte das Lächeln zaghaft, und sagte dann: "Danke, Minûlîth. Ich glaube nicht, dass ich das ohne dich hinbekommen hätte."
"Alles für meine Nichte - so darf ich dich doch nennen?", fragte Minûlîth, und Narissa erwiderte sofort: "Ich würde mich freuen." Dann fiel sie Minûlîth um den Hals, die ihr sanft über den Rücken strich und dann sagte: "Na, vielleicht solltest du dir davon noch ein bisschen was aufsparen... Nun geh."

Als Narissa den Turm verließ, darauf bedacht, niemandem aufzufallen, sank die Sonne im Westen bereits. Sie folgte eilig dem Pfad zum alten Leuchtturm, bis sie zu Hírilorns halb zerstörtem Bauernhof kam, der offenbar langsam wieder aufgebaut wurde. Bereits aus der Ferne konnte sie Hallatans Sohn mit einigen anderen Männern arbeiten sehen, und beschloss, einen kleinen Bogen um den Hof zu machen, denn auch wenn Hírilorn nie aufdringlich geworden war, war seine Freundlichkeit ihr gegenüber doch so groß, dass seine Absichten nie wirklich ein Rätsel gewesen waren. Also gehörte er nicht zu den Personen, die sie in ihrem momentanen Aufzug unbedingt sehen sollten.
Ungesehen erreichte sie den kleinen Bach, und folgte ihm durch das Tal hinab zum Strand, wo Aeriens Schuhe einsam und verlassen im Sand standen. Aerien selbst war nicht zu sehen, doch im hellen Sand waren jede Menge Spuren von nackten Füßen, die schließlich zu dem alten Leuchtturm führten.
Die Tür des Leuchtturms war fest verschlossen, und Narissa musste grinsen. Auf diese Falle war sie selbst bereits hereingefallen, denn von innen ließ sich die Tür, deren Angeln sich mit der Zeit ein wenig verzogen hatten, wenn sie einmal zugefallen war nur mit einem bestimmten Trick öffnen. Das erste Mal als ihr das passiert war, hatte sie am Morgen an der Außenmauer herunterklettern müssen, was ihr Großvater als eine "gute Übung" abgetan hatte. Dennoch hatte er ihr kurz darauf gezeigt, wie die Tür von innen aufzukriegen war. Einen kurzen Moment spielte Narissa mit dem Gedanken, auch jetzt an der Mauer hinaufzuklettern und Aerien einen Schrecken einzujagen, doch die Gefahr dabei das Kleid zu beschädigen oder sich die Schminke zu verschmieren, war ihr zu groß. Stattdessen begnügte sie sich damit, leise die Tür aufzuziehen, und ebenso leise die gewundene Treppe nach oben hochzusteigen.
Als sie im oberen Stockwerk angekommen war, musste sie über den Anblick, der sich ihr bot, lächeln. Aerien hatte offenbar ihr altes Versteck gefunden, und lag nun in eine Decke gewickelt auf mehreren Kissen friedlich schlafend vor einem der Fenster. Narissa ging leise neben ihr in die Knie, und flüsterte ihr ins Ohr: "Zeit zum Aufstehen, Schlafmütze."
Aeriens Augenlider flatterten, bevor sie langsam die Augen öffnete und verschlafen sagte: "Wie spät ist es?"
Narissa erhob sich wieder, und stemmte die Hände in die Hüften. "Du hast über hundert Jahre geschlafen. Ich bin Narissas Urenkelin, äh... ebenfalls Narissa."
Aerien rieb sich die Augen, blinzelte ein paar mal verwirrt bei ihrem Anblick, und dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. "Ich glaube dir", erwiderte sie, während sie sich aus der Decke schälte und auf die Beine kam. "Die echte Narissa hat nie so ausgesehen."
"Bis heute", gab Narissa zurück, und drehte sich einmal schnell im Kreis, wobei der Stoff ihres Kleides raschelte. "Ich musste mich schließlich revanchieren, auch wenn es nicht ganz so schön ist wie dein Kleid in... Qafsah."
"Es ist... wunderschön", erwiderte Aerien langsam, und verbesserte sich dann: "Nein. Du bist wunderschön." Erneut spürte Narissa sich erröten, und erwiderte: "Minûlîth hat mir dabei geholfen. Das Kleid hat mein Großvater mir zu meinem zwanzigsten Geburtstag aus Umbar mitgebracht, und durch irgendein Wunder hat es den Brand des Turmes überstanden. Gerade, als hätte es auf diese Gelegenheit gewartet..."
"Mhm...", machte Aerien nur, trat einen Schritt näher, zog Narissa dann plötzlich in ihre Arme und küsste sie, heftig, gierig, wie nie zuvor. Schließlich löste Narissa sich, rang um Atem und sagte keuchend: "So... stürmisch. Ich scheine wohl etwas richtig gemacht zu haben."
"Allerdings", flüsterte Aerien heiser, und sie prallten erneut zusammen. Diesmal strichen Aeriens Hände über Narissas nackten Rücken, fuhren die Konturen der Schulterblätter nach, während Narissas Hände bebend, unsicher unter Aeriens Obergewand glitten und langsam über die zarte Haut ihres unteren Rückens tasteten. Ein Kribbeln überlief Narissas ganzen Körper, als Aeriens Hände den kleinen Knoten erreichten, der ihr Kleid hinter dem Rücken zusammenhielt. Wenn dieser Knoten gelöst wurde, fehlte nicht viel, und das Kleid würde herunterfallen.
Sie unterbrach den Kuss, nahm Aeriens erhitztes Gesicht in beide Hände, und flüsterte: "Bist du dir sicher?" "Ich war mir noch nie zuvor bei etwas so sicher", erwiderte Aerien ebenso leise, und Narissa spürte ihr Herz einen kleinen Sprung vor Aufregung und Nervosität machen.
"Hast du sowas schonmal erlebt?", fragte sie, während Aerien langsam, viel zu langsam an dem Knoten zog. "Ich weiß nicht", wisperte Aerien, und der Knoten löste sich. "Im Traum?"
Nun hielt das Kleid nur noch an Narissas Körper, solange sie keine großen Bewegungen machte, und Aerien legte die Hände auf ihre Hüfte. Narissa biss sich auf die Lippe, und mit einer kleinen Bewegung von Aeriens Händen glitt das Kleid fließend herunter und landete um Narissas Füße. Aerien sog scharf die Luft ein, und Narissa konnte den Blick nicht von ihren leuchtenden Augen abwenden.
Aerien legte ihr die Hände auf die Schultern, fuhr mit den Daumen die Schlüsselbeine entlang, und wanderte dann langsam tiefer.
"Du bist das Schönste, was ich je gesehen habe", flüsterte sie, und mit einem seligen Lächeln fragte Narissa: "Schöner als das Meer?"
"Mit Abstand", gab Aerien zurück, und als ihre tastenden Finger Narissas Brüste erreichten, atmete diese scharf ein und packte mit einer raschen Bewegung den Stoff von Aeriens Oberteil. "Ich finde es ungerecht, dass ich nackt bin und du nicht", sagte sie mit rauer Stimme. "Das sollten wir dringend ändern."

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

Fine

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Narissas Heimat
« Antwort #11 am: 30. Jan 2017, 15:29 »
Es war bereits spät in der Nacht, als Aerien erwachte. Neben ihr lag Narissa, halb verdeckt von einer der Decken, die sie sich teilten, und ihr regelmäßiger Atem schuf eine sehr friedliche und beruhigende Atmosphäre in dem kleinen, runden Raum. Durch das kleine Fenster fiel helles Mondlich hinein. Aerien stand mehrere Minuten staunend da und beobachtete, wie sich das Licht auf den Wellen spiegelte. Ein kühler Windhauch fuhr ihr durchs Haar und verwirbelte es. Sie hob eine der Decken auf und wickelte sie um ihren nackten Körper, ehe sie sich wieder dem Meer zuwendete.
Es sieht so friedlich und gleichzeitig so gewaltig aus, dachte sie. Sie stellte sich vor, wie es wohl wäre, auf einem der großen Schiffe über die Wellen zu gleiten, einem unentdecken Land und unzähligen aufregenden Abenteuern entgegen. Wo wir gerade bei "aufregend" sind...
Sie drehte sich um und setzte sich neben Narissa auf eines der Kissen. Vorsichtig platzierte Aerien den Kopf ihrer schlafenden Freundin auf ihrem Schoß, ohne sie dabei zu wecken. Sie dachte daran, wie der Abend verlaufen war, und spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen bei der Erinnerung an das aufstellten, was Narissa getan hatte. Was sie mit ihr getan hatte. Aerien war keine Jungfrau mehr gewesen, doch die Gelegenheiten, bei denen sie in Mordor mit jemandem geschlafen hatte waren selten, und stets rein körperlicher Natur gewesen. Es hatte ihr sehr geholfen, dass Narissa diejenige gewesen war, die als erste die Hüllen fallen gelassen hatte. Die Sicherheit, die ihr die Insel und der abgelegene, vergessene Leuchtturm boten, waren ebenfalls dabei behilflich gewesen, dass Aerien sich schließlich sicher genug gefühlt hatte und Narissa nicht davon abgehalten hatte, sie auszuziehen. Und was dann folgte war... traumhaft gewesen.

Nach einer halben Stunde regte sich Narissa und schaute verschlafen zu Aerien hoch. "Das ist die beste Art und Weise, auf die man nur aufwachen kann," sagte sie lächelnd.
Aerien erwiderte das Lächeln und strich sanft durch das weiße Haar, das längst nicht mehr die kunstvolle Form hatte, in die Minûlîth es gebracht hatte. "Ich weiß," erwiderte sie leise.
"Also, das war..." begann Narissa, und Aerien beendete den Satz für sie: "...einfach wunderbar."
"Mhmmm," machte Narissa. "Du sagst es."
Noch immer streichelte Aerien ihr sanft durchs Haar. "Womit habe ich nur so ein Glück verdient?" fragte sie verliebt.
"Schätze, es hat mit deinem Aussehen zu tun," erwiderte Narissa. "Du bist nämlich einfach unwiderstehlich." Sie setzte sich auf und blickte Aerien erwartungsvoll an.
"Dasselbe könnte ich über dich sagen," sagte Aerien und schloss ihre Freundin in eine herzliche Umarmung, die nach einigen langen Minuten mit einem Kuss endete. "Ich hätte nie gedacht, dass wir..." setzte Aerien an, und ließ den Satz unvollendet. Sie spürte, wie die Hitze in ihre Wangen zurückkehrte.
"Ich schon," erwiderte Narissa mit einem schiefen Lächeln. Dann zog sie die Decke beiseite, die Aeriens Oberkörper bedeckte und war bei ihr, ehe Aerien reagieren konnte. "Ich habe es gehofft."

Der folgende Morgen kam, und mit ihm ein strömender Regen. Da das Fenster des kleinen Zimmers nicht verschlossen war, wurden Aerien und Narissa schließlich von den dicken Regentropfen geweckt, die der Wind hereinwehte. Hastig zogen sich die beiden an, und Aerien staunte erneut über das wunderschöne Kleid, das Narissa in Ermangelung anderer Bekleidung wieder angezogen hatte. Nun, da Aerien wusste, was darunter lag, fand sie den Anblick umso ansprechender. "Meine Stiefel!" fiel es ihr ein als sie sah, wie Narissa in die weißen Schuhe schlüpfte, die Minûlîth ihr geliehen hatte.
"Die stehen wohl noch vor der Tür," stellte Narissa fest und musste lachen.
"Wie kommen wir denn jetzt nur zurück zum Turm?" fragte Aerien verdrossen. Der Regen kam ihr sehr ungelegen - sie wollte die Insel erkunden, das Innere des Turms kennenlernen und vor allem dorthin gehen, wohin Narissa ging. Und ihre Freundin hatte ihr bereits gesagt, dass sie noch so einige wichtige Gespräche führen musste.
"Na wie wohl," sagte Narissa. "Wir laufen - oder hast du zufällig Grauwind irgendwo gesehen?" Sie hatten die Pferde bei Yinzen im Versteck am Festland gelassen und er hatte versprochen, sich gut um die beiden zu kümmern.

Als sie am Turm ankamen waren sie nass bis auf die Haut. Narissa klopfte lautstark an die Tür und war wenig erfreut, als der junge Hírilorn aufmachte. Das kurze Kleid verdeckte nun, da es nass war, weniger, als Aerien recht war. Sie stellte sich schützend vor Narissa, denn immerhin trug sie Kleidung, die Schultern und Arme bedeckte. "Kommt herein, kommt herein, meine Damen," beeilte Hírilorn sich zu sagen, als er seine Sprache wieder gefunden hatte. Seine Blicke waren Aerien unangenehm, weshalb sie erleichtert aufatmete, als Minûlîth die Treppe zu den höher gelegenen Stockwerken hinab kam.
"Ihr armen Dinger," sagte sie mitleidsvoll und mit einer befehlsgewohnten Geste gab sie einer Bediensteten zu verstehen, dass sie frische Kleidung für Aerien und Narissa holen sollte. "Wie ich sehe, habt ihr euch vom Regen überraschen lassen," fuhr die Herrin der Insel fort. "Am besten geht ihr erst einmal in dein Zimmer, Narissa. Ich lasse euch dann Sachen zum Umziehen bringen; ich habe da ein paar Stücke gefunden, die euch gut passen sollten."
"Du hast ein Zimmer im Turm, nur für dich allein?" fragte Aerien begeistert, und Narissa nickte. Sie ergriff Aeriens Hand und führte sie die Treppe hinauf, weiter und weiter in die Höhe, bis Aeriens Beine zu schmerzen begannen. Auf der zweitobersten Ebene hielt Narissa schließlich an und öffnete eine neu aussehende Tür, die in ein kleines Zimmer führte. Als sie ihrer Freundin ins Innere folgte, ließ Aerien neugierig ihren Blick durch den Raum schweifen.
"Er sieht nicht mehr wirklich so aus wie vor einem Jahr," erklärte Narissa.
"Aber es ist deiner," erwiderte Aerien. "Hier bist du aufgewachsen." Es fühlte sich aufregend an, an einem so persönlichen Ort von Narissa zu sein. Der Blick, der sich ihr durch das Fenster bot, war atemberaubend, kein Vergleich zu der Aussicht aus dem kleinen Leuchtturm. Man konnte weit nach Norden über das Meer blicken und am rechten Rand des Sichtfeldes war die Küste zu sehen, die sich nach Nordwesten hin bis zum Kap von Umbar hinaufzog.
"Dann kennst du jetzt meine Heimat, und in Qafsah warst du auch schon," erwiderte Narissa. "Und eines Tages könnten wir vielleicht nach..."
"Sprich nicht davon," unterbrach Aerien sie etwas schärfer, als sie beabsichtig hatte. "Nicht hier. Nicht jetzt."
"Ich verstehe," antwortete Narissa und strich ihr beruhigend über den noch immer tropfnassen Kopf.
Minûlîth kam herein, gefolgt von Laedris, die einen Stapel Kleider trug. "Ihr habt Glück, dass meine Schwester nicht all ihre Sachen mit nach Gondor genommen hat," sagte Thorongils Frau im geschäftigen Ton.
"Deine Schwester ist in Gondor?" wiederholte Narissa neugierig. "Hat sie ebenfalls..."
"Sie dient Sauron ebenfalls nicht mehr - oder besser gesagt tat sie es niemals, genau wie ich. Sie hat ihren Verlobten nach Dol Amroth begleitet als dieser die Prinzessin nach Hause gebracht hat."
"Prinzessin?" wiederholte Aerien staunend, und gleichzeitig sagte Narissa: "Ich sehe schon, hier ist in meiner Abwesenheit so einiges passiert."
Minûlîth nickte. "Viel Gutes, aber auch einige nicht so gute Dinge. Wenn du dich umgezogen hast, solltest du mit Edrahil reden - er wartet auf deinen Bericht, Nichte. Er wird dir sicherlich gerne erzählen, was seit deinem Aufbruch aus Umbar passiert ist."
"So, werde ich das?" erklang Edrahils Stimme hinter ihr. Minûlîth drehte sich um und der Blick wurde frei auf Edrahil, der im Türrahmen lehnte.
"Kommt jetzt zu deiner Ungehaltenheit auch noch Ungeduld hinzu, Edrahil?" sagte Minûlîth. "Wie du vielleicht sehen kannst, ziehen sich die Mädchen hier gleich um. Zeig gefälligst etwas Anstand."
Edrahil zog eine Augenbraue nach oben. "Nun gut. Ich werde in meinem Arbeitszimmer zwei Stockwerke weiter unten auf dich warten, Narissa. Aber lass' dir bitte nicht zuviel Zeit."
"Ich mag ihn nicht sonderlich," flüsterte Aerien ihrer Freundin zu.
"Er ist nur ein alter, schlecht gelaunter Mann," gab Narissa ungerührt zurück. "Du wirst dich schon mit ihm vertragen."

Um Edrahil zu ärgern ließen sie sich besonders viel Zeit, während sie die nasse Kleidung gegen frische Sachen tauschten. Aerien ertappte sich dabei, wie sie Narissa beobachtete und blickte errötend zu Boden. Schließlich suchte sie sich ein recht schlichtes, rotes Kleid aus, das einen runden Ausschnitt und kurze Ärmel besaß. Narissa hingegen wählte ein ähnlich geschnittenes Kleid in den Farben der Turmherren: weiß bis zur Taille, Oberteil und Ärmel in saftigem Gelb. Aerien fand, dass sie darin ganz bezaubernd aussah. Sie umarmte Narissa und ergiff dann ihre Hand. "Komm, lassen wir Edrahil nicht noch länger warten, ehe er uns gar nicht mehr ausstehen kann," sagte sie.
"Du willst wirklich mitkommen?" fragte Narissa etwas verwundert.
"Natürlich," erwiderte Aerien. Wieso auch nicht?
"Ich dachte nur, es könnte vielleicht langweilig werden," sagte Narissa. "Wobei ich natürlich verstehen kann, dass du so sehr wie ich wissen willst, was in Umbar passiert ist. Also gut - gehen wir."
Gemeinsam stiegen sie die Treppen zu Edrahils Zimmer hinab.
« Letzte Änderung: 15. Feb 2017, 14:01 von Fine »
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Re: Tol Thelyn
« Antwort #12 am: 2. Feb 2017, 18:03 »
Edrahil hob den Kopf, als Narissa und Aerien sein neues Zimmer im Turm betraten. Er hatte das halbrunde Gemach, das durch eine hölzerne Wand in Schlaf- und Arbeitsbereich geteilt wurde erst am Tag zuvor bezogen, und verfluchte seine Entscheidung im Stillen bereits - die lange Treppe tat seinem Knie keineswegs gut.
"Meine Einladung galt eigentlich nicht euch beiden", sagte er ungehalten, aber wenig überrascht. Er sah den rebellischen Ausdruck auf Narissas Gesicht, und kam ihrem Widerspruch zuvor: "Also, Narissa: Raus." Der rebellische Ausdruck verwandelte sich in Überraschung, als die Mädchen rasche Blicke tauschten.
"Aber ihr habt gesagt...", setzte Narissa an, doch Edrahil unterbrach sie kurzerhand: "Ich weiß was ich gesagt habe. Entweder geht ihr beide, oder nur du."
Erneut tauschten die beiden intensiv Blicke aus, bis Aerien Narissas Hand drückte und beinahe unmerklich nickte. Edrahil konnte sich gerade noch daran hindern die Augen zu verdrehen, und bedeutete Aerien, sich auf den Stuhl ihm gegenüber zu setzen, sobald Narissa das Zimmer verlassen und die Tür dabei ein wenig zu heftig hinter sich zugezogen hatte. Und dabei hatte Edrahil geglaubt, nach Valion und Valirë auf alles vorbereitet zu sein.
"Du weißt vermutlich bereits, worum es mir geht", sagte Edrahil ohne Umschweife, beugte sich leicht vor und faltete die Hände auf dem bereits mit Papieren und Karten übersäten Tisch. Aerien nickte, und antwortete: "Ja. Es geht darum, wo ich herkomme, und ihr wollt wissen, ob ich wirklich und endgültig mit Mordor gebrochen habe." Edrahil stellte fest, dass sie ihm direkt ins Gesicht blickte, seinem forschenden Blick nicht auswich und nicht nervös wirkte. Lediglich ein kleines bisschen Unbehagen glaubte er zu erkennen, doch sie verbarg es meisterhaft. Wenn sie tatsächlich die Wahrheit sagte, könnte ihm aus Mordor eine überaus wertvolle Waffe in die Hände gefallen sein.
"Allerdings", erwiderte er. "Minûlîth ist eine äußerst kluge Frau, die ihr Vertrauen nicht leichtfertig verschenkt, und normalerweise würde ihr Urteil mir genügen. Doch in deinem Fall mag ihr Blick für die Wahrheit durch ihren Wunsch, dass mehr aus ihrem Volk ihrem Weg folgen, getrübt sein." Bevor Aerien etwas entgegnen konnte, hob er die Rechte und gebot ihr, zu schweigen - und stellte erfreut fest, dass sie keine Anstalten machte, trotzdem zu sprechen. Im Gegensatz zu Narissa hatte sie offenbar keine Schwierigkeiten damit, sich im rechten Moment unterzuordnen und zuzuhören, bevor sie sprach.
"Ich will dir damit nichts vorwerfen, denn ich glaube, dass du zumindest jetzt gerade aufrichtig bist." Das war die Wahrheit, denn mit den Jahren hatte Edrahil gelernt, Lüge sorgfältig von Wahrheit unterscheiden zu können, ohne dass sein Gegenüber viel sagte. Und entweder war Aerien eine unglaublich meisterhafte Lügnerin, wie sie ihm noch nie begegnet war, oder sie stand tatsächlich im Moment gegen Mordor - oder zumindest zu Narissa. Das war ein wichtiger Unterschied, und er plante herauszufinden, was von beidem es war.
"Worauf ich hinaus will - es ist nicht zu übersehen, was zwischen dir und Thorongils Nichte abläuft", fuhr er fort, und Aerien zeigte erneut kaum eine Reaktion außer einer leichten Röte auf den Wangen. Das ist gut, dachte er bei sich. Während Narissa ihm in diesen Belangen noch etwas ungeschliffen und ungestüm zu sein schien, würde Aerien eine perfekte Spionin abgeben können, falls sich die Gelegenheit ergab.
Edrahil sprach weiter: "Und da liegt das Problem. Bist du erst durch sie auf den Gedanken gekommen, dich von Mordor abzuwenden? Denn die Liebe ist eine gefährliche Sache, und sollte sich eines Tages etwas ändern - was ich euch nicht wünsche - muss ich wissen, ob du eine Gefahr für uns wärst." Er verstummte, und wartete ruhig Aeriens Antwort ab.
Schließlich sagte sie langsam, wohlüberlegt: "Als ich Narissa das erste Mal traf, hatte ich bereits lange zuvor mit Mordor gebrochen. Ich begann an den Wahrheiten, die mir über den Westen erzählt wurden zu zweifeln, als ich etwas über Tar-Míriel las, und herausfand, dass sie ebenfalls diesen Anhänger getragen hatte." Sie zog den fünfzackigen Stern aus dem Ausschnitt ihres Kleides hervor, und Edrahil merkte sich sein Aussehen genau. Später würde er versuchen, etwas darüber herauszufinden um zu überprüfen, ob dieser Teil von Aeriens Geschichte der Wahrheit entsprechen konnte.
"Je mehr ich über Gondor und Arnor und die Dúnedain des Westens las, desto mehr wollte ich auch ihre Seite der Geschichte kennenlernen", fuhr Aerien fort. "Und so sprach ich schließlich im Dunklen Turm mit dem einzigen Menschen, der mir die Wahrheit darüber erzählen konnte: Aragorn, dem König von Gondor."
Edrahil gab sich die größte Mühe, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen, doch es schien ihm nicht ganz zu gelingen und ein kleines Lächeln erschien auf Aeriens Gesicht. Also sagte er: "Nun, ich will nicht leugnen, dass mich das überrascht. Es war also wirklich keine Lüge Saurons, dass er noch am Leben ist, und du weißt, wo er gefangen gehalten wird..." Er verstummte, und begann nachzudenken. Auf der einen Seite hatte er Aerien, die sich in Mordor auskannte und wusste, wo Aragorn gefangen gehalten wurde - und auf der anderen Narissa, die ihr Leben lang darin ausgebildet worden war, heimlich in feindliches Territorium einzudringen. Die offensichtliche Beziehung der beiden gab dem ganzen allerdings eine gewisse Unwägbarkeit - dass beide bereit wären, sich für die jeweils andere in größte Gefahr zu begeben, mochte hilfreich sein, doch falls es notwendig sein sollte, die andere für das Gelingen der Mission zu opfern auch den Erfolg ihrer Aufgabe gefährden.
Edrahil unterbrach seinen Gedankengang, und bedeutete Aerien, fortzufahren. "Er brachte mich schließlich zu dem Entschluss nach Gondor zu gehen, denn ich hatte begriffen, dass Sauron der Grund für den Krieg, den die Nachfahren Númenors gegeneinander führen, ist. Er ist böse, und er muss besiegt und vernichtet werden."
"Darin sind wir uns einig", erwiderte Edrahil. "Wenn ich dich richtig verstehe, richtest du dich allerdings gegen Sauron selbst, und nicht unbedingt gegen deine Verwandten in Mordor."
Aerien erwiderte seinen Blick standhaft, und nickte. "Ich glaube, kein Mensch wird böse geboren - und erst recht keiner der Númenorer. Sie werden dazu gemacht, und wenn Sauron fort ist... vielleicht könnten wir Frieden haben, und diesen lange geführten Krieg beenden." Bei diesen Augen glänzten Aeriens graue Augen. Offensichtlich stand sie fest hinter dieser Idee, die ein Problem sein konnte. Denn Edrahil würde nicht zögern, sämtliche Schwarzen Númenorer in Mittelerde auszulöschen, wenn er die Gelegenheit dazu hätte. Und deshalb würde die nächste Antwort auch darüber entscheiden, ob er Aerien trauen konnte - oder nicht.
"Antworte mir ehrlich, auch dir selbst gegenüber", forderte er sie auf. "Falls es dazu kommt, wärst du dennoch bereit, auch gegen deine Familie zu kämpfen und sie im Zweifelsfall zu töten?" Aerien schwieg einige Zeit, und Edrahil drängte sie nicht zu einer Antwort. Er wusste, dass er eine überaus schwierige Entscheidung von ihre verlangte, und schuldete ihr die Zeit, ausreichend darüber nachzudenken.
Irgendwann antwortete Aerien langsam: "Ich habe in Qafsah gegen meinen Vetter Karnuzîr gekämpft und habe ihn aus einem Fenster gestoßen, obwohl ich wusste, dass er dabei sterben könnte." Sie sah auf, und blickte Edrahil fest in die Augen. "Nicht alle von ihnen sind rettungslos verloren - einige von ihnen sicherlich, aber vielleicht nicht alle. Ich würde versuchen, sie zu retten, doch wenn es nicht anders geht, keinen anderen Weg gibt... dann würde ich nicht zögern."
Edrahil verspürte Erleichterung über diese Antwort. Es war nicht ganz das gewesen, was er sich erhofft hatte, und Aerien musste es gewusst haben. Und trotzdem war sie absolut ehrlich gewesen, und nun wusste Edrahil, woran er war.
"Nun, in diesem Fall...", begann er, und lächelte. "Ich freue mich, dich hier zu haben, Aerien. Und ich hoffe, du nimmst mir mein Misstrauen nicht allzu übel - jahrelange Gewohnheit."
Aerien schüttelte den Kopf, und Edrahil sagte ein wenig lauter, doch ohne zu rufen: "Narissa."

Sofort wurde die Tür aufgestoßen, und Narissa stürmte mit funkelnden Augen ins Zimmer. Edrahil seufzte, und sagte: "Ich hätte wissen müssen, dass du lauschen würdest."
Ohne Aufforderung ließ das Mädchen sich in den Stuhl neben Aerien fallen, schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme und entgegnete: "Was hätte ich denn solange machen sollen, nachdem ihr mich rausgeworfen hattet?"
"Ich weiß nicht", meinte Edrahil gedehnt. "Karten spielen? Ein neues Kleid anprobieren? Messer werfen?" Der vernichtende Blick, den Narissa ihm zuwarf, genügte als Antwort.
"Nun, ich hoffe das Gehörte war auch für dich interessant - um nichts in der Welt würde ich dich langweilen wollen", fügte er ironisch hinzu, und Narissa, die Aeriens Hand ergriffen hatte, erwiderte ein wenig abwesend: "Ihr habt kaum etwas über mich gefragt."
Edrahil schnaubte amüsiert. "Mein liebes Mädchen, du bist nicht der Mittelpunkt von allem. Und außerdem gibt es über dich nicht viel, was man nicht erfahren kann, wenn man dich ein wenig beobachtet und dir zuhört. Du trägst das Herz auf der Zunge, könnte man sagen, hast es aber auch am rechten Fleck. Und deshalb würde ich nun gerne wissen, was du von Qúsay hältst."
Einen kurzen Augenblick schwieg Narissa rebellisch, doch als weder Edrahil noch Aerien eine Regung zeigten, ächzte sie. "Großartig. Lauter ernsthafte, beherrschte Menschen." Sie schnitt eine Grimasse, und Edrahil sah Aeriens Mundwinkel zucken, als Narissa berichtete: "Nun, ich glaube Qúsay meint es tatsächlich ernst mit dem was er sagt. Er plant nicht, nur die Herrschaft über Harad an sich zu reißen und dann gegen Gondor vorzurücken, und auch nicht, den Thron Gondors zu beanspruchen. Und er scheint tatsächlich ein überzeugter Feind Mordors zu sein."
Edrahil nickte langsam. Qúsays Abstammung von Castamir war ihm inzwischen nicht mehr unbekannt, und es erleichterte ihn, dass der Malik diesen offenbar nicht durchsetzen würde. "Das war auch mein Eindruck, als ich ihn getroffen habe", ergänzte Aerien zu Edrahils Überraschung. "Ich war in Begleitung eines Mannes namens Beregond aus Minas Tirith in Aín Sefra, und wir sind sogar ein Stück gemeinsam mit Qúsay gereist - auch, wenn er sich uns da noch nicht als Qúsay vorgestellt hatte."
"Also gut", meinte Edrahil. "Wie es aussieht, können wir diesem Bündnis vertrauen - ich werde sehen, was ich tun kann um Qúsay zu helfen. Falls ihr erfahren wollt, was in Umbar alles geschehen ist, muss ich euch leider enttäuschen, denn ich habe einiges zu erledigen. Aber ihr könntet Minûlîth danach fragen... oder Bayyin."
"Bayyin?", stieß Narissa hervor, und sprang von ihrem Stuhl auf. "Er ist auch hier? Warum habe ich ihn noch nicht gesehen?"
"Er ist vermutlich dabei zusammenzutragen, was von der Bibliothek das Feuer überstanden hat, und..." Edrahil unterbrach sich, als Narissa bereits aus dem Zimmer gestürmt war, und schüttelte langsam den Kopf. Dann sagte er zu Aerien, die sich mit einem etwas unsicheren Gesichtsausdruck erhob und in Richtung der Tür ging: "Mach dir keine Sorgen - der Schreiber ist in Umbar auf ganz andere Gedanken gebracht worden, was Frauen angeht."

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

Fine

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Bayyins Nachforschungen
« Antwort #13 am: 8. Feb 2017, 21:07 »
Der Turm von Tol Thelyn verfügte über weitläufige Kellergewölbe, in denen unter anderem eine kleine Bibliothek untergebracht war. Aufgrund der unterirdischen Lage war nur ein kleiner Teil davon den Flammen zum Opfer gefallen. Als Aerien (die sich unterwegs mehrfach verlaufen hatte, da Narissa längst außer Sicht gewesen war als sie Edrahils Zimmer verlassen hatte) endlich dort ankam fand sie ihre Freundin dort an einem großen Tisch stehend vor, in der Gemeinschaft eines jungen haradischen Mannes, der die weiten und einfachen Gewänder eines Schreibers trug und sich gerade prüfend über eine alte Karte beugte.
"Hier, siehst du?" sagte Bayyin (denn um ihn handelte es sich bei dem jungen Mann offensichtlich) und zeigte auf eine Stelle auf der Karte. "Dort entspringt der Harnen-Fluss und nur eine Meile nördlich davon ist der Zugang eingezeichnet."
Aerien kam näher und erkannte, dass die Karte die Gebiete um Mordor, Harondor und Nah-Harad zeigte.
"Ist das Arandirs Karte von dem angeblichen geheimen Weg nach Mordor?" fragte Aerien mit einem etwas schärferen Unterton als sie beabsichtigt hatte und setzte sich neben Narissa auf einen der Hocker, die im Raum verteilt herumstanden.
Bayyin blickte erstaunt auf. "Ja, das ist die Karte, die ich in den Archiven des Fürstenpalastes von Umbar fand," erklärte er und wandte sich ihr dann zu. "Mein Name ist Bayyin," stellte er sich höflich vor.  "Und du musst Aerien sein, wenn mich nicht alles täuscht." Er beobachtete sie interessiert.
"Ganz richtig," bestätigte Aerien und schenkte Bayyin ein Lächeln. Doch dann blickte sie zu Narissa hinüber, die noch kein Wort gesagt hatte und weiterhin auf die Karte starrte. Aeriens Gesichtsausdruck wurde vorwurfsvoll als sie ihrer Freundin leise zuflüsterte: "Du bist einfach weggerannt und hast nicht auf mich gewartet."
Narissa blinzelte und wandte schließlich den Blick von der Karte ab. "Was? Äh - ach so; ich dachte, dich interessiert dich vielleicht gar nicht so sehr, was ich mit Bayyin zu bereden habe. Oder - vielleicht auch nicht. Als Edrahil sagte dass er hier ist, bin ich gleich losgelaufen um ihn zu sehen," sagte sie.
"Ohne mir zu sagen wohin du gehst," erwiderte Aerien und ertappte sich dabei, dass sie schmollend die Lippen verzog.
Narissas Verwunderung wurde größer. "Du hast mich doch jetzt auch so gefunden, oder etwa nicht?"
"Ich habe mich einige Male verlaufen in diesen blöden Kellern hier," antwortete Aerien. Sie konnte nicht verstehen, warum es Narissa so egal zu sein schien. "Ich wollte doch... bei dir sein." fügte sie leise hinzu.
"Ich gehe ja nicht weg," erwiderte Narissa. "Ich wollte nach Bayyin sehen und ihn fragen, wie es ihm ergangen ist, und was er herausgefunden hat."
An dieser Stelle räusperte sich der Schreiber und sagte etwas unbeholfen: "Ja, also... dazu vielleicht noch folgendes...  die Informationen über den geheimen Pfad  sind wirklich nur aus dieser einen Quelle belegt; niemand sonst (abgesehen von Arandir vom Turm) hat jemals davon berichtet. Ob dieser Weg also tatsächlich existiert kann ich momentan nicht sicher sagen."
Aerien vergaß ihren Ärger auf Narissa und studierte die Karte nachdenklich. "In Mordor ist dieser Pfad jedenfalls nicht bekannt, und man sollte eigentlich meinen, dass der Dunkle Herrscher sein Land in- und auswendig kennt nachdem er bereits zwei Zeitalter dort gelebt hat."
"Wenn Arandir den Weg hier so deutlich und eindeutig eingezeichnet hat, dann muss es ihn geben," entgegnete Narissa entschlossen. "Es gäbe keinen Grund für ihn, so etwas einfach zu erfinden."
"Nehmen wir für den Moment einmal an, der Pfad existiert wirklich," sagte Bayyin bedacht und fuhr die blaue Linie, die den südlichen Grenzfluss Harondors darstellte mit seinem Zeigefinger nach. "Man müsste dem Verlauf des Harnen hier... bis zu seiner Quelle folgen, und von dort... hier in den niedrigen Ausläufern des Schattengebirges ungefähr eine Meile weiter nach Norden wandern. In Arandirs Reisebericht steht, dass es dort einen großen Felsen gibt, der den Pfad verdeckt, und in den er einen weißen Baum eingraviert hat. Wie der Weg all die Jahrhunderte über unentdeckt geblieben ist, kann ich auch nicht sagen."
"Auf der anderen Seite liegt der südwestliche Teil von Nurn," stellte Aerien fest. "Nurn ist der einzige Ort in Mordor, an den etwas wächst, und dort werden Sklaven zur Arbeit auf großen Feldern gezwungen. Aus Nurn kommt die Nahrung für die Armeen Mordors."
"Ist der südwestliche Teil in irgend einer Art besonders?" fragte Narissa.
"Dort gedeiht nur sehr wenig, weil das Land von Gebirge zum Salzmeer von Rhûn sehr steil abfällt und sehr felsig ist," erklärte Aerien. "Außerdem gibt es dort berüchtigte wilde Bestien, die in Höhlen leben und nachts zwischen den Klippen umherstreifen. Das sind zwar nur Gerüchte, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass da etwas wahres dran ist."
"Klingt nicht sehr einladend," kommentierte Narissa.
"Nun, es ist jedenfalls äußerst interessant, die Sichtweise von jemanden kennenzulernen, der Saurons Land von innen gesehen hat," sagte Bayyin. "Wenn du einmal etwas Zeit übrig hast, würde ich gerne alle wichtigen Informationen darüber schriftlich festhalten... dabei würde ein Dokument entstehen, wie es in keiner anderen Bibliothek Harads zu finden wäre!" Bayyin Augen hatte einen Glanz angenommen, der die beiden Mädchen nun doch etwas überraschte.
"Nur zu," ermutigte Narissa. "Ich werde derweil nach meinem Onkel suchen; ich habe noch ein paar Fragen an ihn."
"Aber..." begann Aerien, doch Narissa unterbrach sie. "Wir sehen uns dann später wieder," sagte sie etwas kurzangebunden und eilte hinaus.

Etwas missmutig beantwortete Aerien Bayyins Fragen, die sich vor allem um Gebräuche und Gesetzesgebung in Mordor drehten, doch auch über die Befestigungsanlagen wollte der Schreiber alles wissen. Eine ganze Stunde dauerte es, bis Bayyin sich schließlich höflich bei Aerien bedankte und sich dann seinen Notizen widmete. Aerien fand den Ausgang diesmal ohne Umwege und stand schließlich unentschlossen in der Eingangshalle des Turmes. Sie wusste nicht, ob sie Narissa suchen sollte; zumal sie nicht einmal wusste, wo sie anfangen sollte. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass Narissa an diesem Tag auf Abstand zu ihr ging und verstand nicht, wieso. Nachdem sie sich am vergangenen Abend so nah wie noch nie gekommen waren... Was, wenn sie plötzlich gemerkt hat, dass ihr all das zu viel ist? Was wenn ich irgend etwas gemacht oder gesagt habe, das sie verschreckt hat? Was wenn sie mich nicht mehr haben will? Ein schrecklicher Gedanke jagte den nächsten und Aerien musste sich erst einmal setzen und tief durchatmen. Doch es gelang ihr einfach nicht, sich zu beruhigen.
"Du hast nichts falsch gemacht," sagte Minûlîths Stimme neben ihr und Aerien blickte auf. Die Herrin des Turms stand auf der Treppe, auf die Aerien sich gesetzt hatte und blickte wissend auf sie herab. "Aber du musst etwas langsamer machen, mein liebes Mädchen. Jetzt, wo du die Liebe entdeckt hast, stürzt du dich darauf wie jemand, der seit Wochen nicht richtig gegessen hat. Du bist... ein klein wenig zu anhänglich, Aerien."
"Anhänglich?" wiederholte Aerien betroffen. "Was meinst du damit?"
"Narissa und du, ihr teilt jetzt eure Leben miteinander, aber das bedeutet nicht unbedingt, dass ihr auch jede einzelne Minute miteinander verbringen müsst." Minûlîth machte eine Pause und blickte Aerien prüfend ins Gesicht. "Etwas hat sich seit gestern verändert, nicht wahr? Ich kann mir denken, was geschehen ist, und ich freue mich für euch beide. Aber diese Nähe, die du erlebt hast, ist nichts, was für einen dauerhaften Zustand tauglich ist. Du musst Narissa auch etwas Freiraum lassen, verstehst du? Dann wird sie ganz von allein wieder deine Nähe suchen, wie es sicherlich auch vor... gestern Abend war."
Aerien musste zugeben, dass Minûlîth auf eine Art recht hatte, aber noch wollte sie es sich nicht eingestehen. Also schwieg sie und starrte die Eingangstür des Turms an, die wegen des anhaltenden Regens geschlossen war und nicht wie am Vortag offen stand.
"Ein Vorschlag meinerseits," sagte Minûlîth sanft. "Setz dich in Narissas Zimmer ans Fenster und schau ein Weilchen auf das Meer hinaus. Es übt noch immer Faszination auf dich aus, das spüre ich. Sei geduldig und mach deine Gedanken frei von allen Ängsten, einen Fehler gemacht zu haben. Wenn du abwartest, bis Narissa zu dir kommt, wirst du, glaube ich sehen, dass sie deine Nähe nicht abgeschreckt hat."
Aerien blickte der Frau ins Gesicht, die ungefähr im selben Alter wie ihre Mutter sein musste. Und sie erkannte, wie weise Minûlîth war.
"Vielleicht hast du recht," murmelte Aerien nachdenklich und stieg langsam die Treppen hinauf.

In Narissas Zimmer angekommen stellte sie das Bett unter das Fenster und kniete sich darauf so hin, dass sie ihre Arme auf das Fenstersims abstützen und aufs Meer hinaus blicken konnte. Der Regen hielt noch immer an, doch im Westen schien die Sonne hinter den Wolken hervor und zauberte etwas an den Himmel, das Aerien noch nie gesehen hatte und nun staunend betrachtete: einen Regenbogen.
« Letzte Änderung: 28. Apr 2017, 15:49 von Fine »
RPG:

Eandril

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Re: Tol Thelyn
« Antwort #14 am: 9. Feb 2017, 19:34 »
Narissa fand ihren Onkel in dem kleinen Garten hinter dem Turm, in dem sie als Kind viel Zeit verbracht hatte. Er saß auf einer der steinernen Bänke mit dem Rücken zur Mauer des Turmen, unter eine über drei hölzernen Pfählen aufgespannten Plane, die den sanften Regen abhielt. Als er Narissa durch den Regen herankommen sah, lächelte er und sagte zu Túor, der neben ihm auf der Bank gesessen hatte: "Na los, mein Sohn - such dir jemand anderen zum ausfragen. Vielleicht erzählt dir Hallatan ein bisschen was über sein Schiff, oder über die Rossigil..."
Der Junge glitt langsam von der Bank, doch die Enttäuschung in seinem Gesicht war sichtbar, bis Narissa leise zu ihm sagte: "Morgen zeige ich dir ein paar Tricks zum Kämpfen - wie versprochen." Ein Strahlen ging über das Gesicht ihres jungen Vetters, und er eilte deutlich fröhlicher in Richtung des Hafens davon. Narissa ließ sich an seiner Stelle neben ihrem Onkel auf der Bank nieder, und sagte nach einem Moment des Schweigens: "Großvater hat nie viel von dir gesprochen - bis vor einiger Zeit dachte ich sogar, du wärst tot."
"Das kann ich mir denken", erwiderte Thorongil mit einem leicht gequälten Lächeln. "Mein Vater und ich... hatten leider nie das beste Verhältnis. Wir hatten oft Streit, und als ich neunzehn Jahre alt war, lief ich davon."
"Er war nicht immer einfach...", meinte Narissa. "Aber... ich hätte ihn nie im Stich lassen können."
Thorongil schüttelte den Kopf. "Ich habe meinen Vater immer geliebt, auch nach unserem Streit. Doch ich war jung und dumm und die Verantwortung, eines Tages seinen Platz einzunehmen, so zu sein wie er... der Gedanke machte mich verrückt."
Narissa wollte gerade widersprechen, einwerfen, dass sie ebenfalls jung war und trotzdem nicht davonlaufen würde... bis sie sich daran erinnerte, wie erleichtert sie bei der Erkenntnis gewesen war, dass sie niemals das Erbe ihre Großvaters antreten müsste.
"Ich verstehe, glaube ich", antwortete sie langsam, und Thorongil fuhr fort: "Das einzige, was ich damals bedauerte war, meine Schwester zurück zu lassen." Er lächelte bei der Erinnerung, und Narissa spürte ihr Herz schneller schlagen, als das Gespräch auf ihre Mutter kam. "Herlenna war damals... dreizehn, und der Mensch auf der Welt, den ich am meisten liebte. Sie war immer fröhlich, trug gerne helle Kleider, und hatte ein Talent dafür, jeden aufzumuntern. In ihrer Anwesenheit war die Welt ein besserer Ort. Sie konnte allerdings auch so stur sein, dass nicht einmal unser Vater dagegen ankam. Doch er konnte nie lange böse auf sie sein... auf mich leider schon."
Er sah Narissa eine zeitlang an, betrachtete sie eindringlich. "Du erinnerst mich an sie - sie hatte dieselben grünen Augen, und diesen Hauch von Sommersprossen. Und wie mir scheint, hast du eine gehörige Portion ihrer Sturheit geerbt."
Narissa errötete ein wenig, und blickte zu Boden, auf den hellen Kies des Gartenwegs, an dem die Bank stand. Sie wusste nicht recht, was sie darauf erwidern sollte, und so schwieg sie bis ihr Onkel mit rauer Stimme sagte: "Es ist ein kaum vorstellbarer Gedanke, dass sie... nicht mehr da ist. Dass sie tot ist. Denn das ist sie, nicht wahr?"
Narissa nickte zur Antwort nur stumm, und eine einzelne Träne tropfte in ihren Schoß. Sie hatte den Tod ihrer Mutter akzeptiert, doch das machte es nicht viel leichter, darüber zu sprechen. Ebenso wortlos legte Thorongil ihr einen Arm um die Schultern, und nach kurzem Zögern bettete sie den Kopf auf die Schulter ihres Onkels.
"Ich war bei ihr, kurz bevor...", brachte sie schließlich mühsam heraus. "Sie war... sie hatte Frieden gefunden, und sie wollte gehen."
"Das ist alles, was ich wissen muss", erwiderte Thorongil. "Dass sie nicht gelitten hat."
Erneut schwiegen sie eine Weile, während der Regen sanft auf die Plane trommelte. Schließlich fragte Thorongil leise: "Wer... ist dein Vater? Lebt er noch?"
Narissa befreite sich sanft aus seinem Arm, blickte ihm in die Augen und schüttelte dann langsam den Kopf. "Mein Vater war Yaran, ihm gehörte ein Gasthaus in Qafsah. Er hat meine Mutter sehr geliebt und sie ihn, glaube ich, auch. Jedenfalls waren sie glücklich miteinander."
"Es freut mich, das zu hören", erwiderte Thorongil. "Sie hatte es verdient, glücklich zu sein - solange es möglich war." Bei dem Ausdruck in Augen schmerzte Narissa, was sie als nächstes sagen musste, umso mehr: "Yaran war allerdings nicht... mein leiblicher Vater. Das ist Suladân."
"Suladân", sagte Thorongil zunächst verständnislos. "Der Herr von Qafsah, der sich Sultan der Haradrim nennt... und Mordors treuester Diener."
Narissa nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Bei dem Gedanken an den Sultan ergriff sie wie immer ein großer Zorn. Sie versuchte sich sein Gesicht vorzustellen, wenn sie ihm ihren Dolch ins Herz rammen würde, doch vergeblich - sie wusste nicht einmal, wie er aussah.
"Und er hat Herlenna... hat sie...", sagte Thorongil stockend, und Narissa sah, wie sich der selbe Zorn in seinem Gesicht ausbreitete, als sie antwortete: "Sie hatte keine Wahl, außer sich stattdessen töten zu lassen."
Sie sahen sich schweigend an, während etwas Finsteres in Thorongils Augen trat. "Ich werde ihm für dich danken", sagte er schließlich langsam und mit fester Stimme. "Ich werde ihm danken... bevor ich ihn töte. Bevor ich ihm sein schwarzes Herz aus dem Leib schneide. Ich werde jeden töten, der meiner kleinen Schwester etwas angetan hat."
"Nein, Onkel", erwiderte Narissa, und schüttelte langsam den Kopf. "Suladân gehört mir. Durch ihn mag mein Leben begonnen haben, doch danach hat er Stück für Stück alles zerstört, was mir lieb und teuer war - fast alles." Dabei wanderten ihre Gedanken zu Aerien, die womöglich noch immer in der Bibliothek war, und sich von Bayyin ausfragen lassen musste, und mit einem Mal überkam sie ein schlechtes Gewissen. Sie hätte ihre Freundin nicht einfach so stehen lassen sollen - und das zwei Mal an einem Tag, und nachdem sie...
"Ich verstehe", meinte Thorongil. "Doch ich werde alles tun, damit es so geschieht. Er muss bestraft werden." Ruckartig erhob er sich von der Bank, und ging zwei Schritte den kiesbestreuten Weg entlang, bevor er sich erneut zu Narissa umdrehte und traurig lächelte. "Ich wollte dir eigentlich einiges über mich erzählen - was ich all die Jahre getrieben habe, und wie ich zurückgekehrt bin. Wie ich Edrahil und Minûlîth aus Umbar herausgeholt habe, und wie wir die Rossigil aufgespürt haben... Und ich wollte so viel über dich erfahren. Aber jetzt nicht, jetzt... kann ich nicht."
Narissa nickte langsam, und spielte unbewusst mit einem kleinen Blatt, dass sie von einer Blume abgerissen hatte. "Wir haben Zeit", antwortete sie leise. "Und ich... könnte jetzt ebenfalls nichts über mich erzählen. Morgen vielleicht."

Als ihr Onkel den Garten mit langen, langsamen Schritten verlassen hatte, blieb Narissa noch einige Zeit sitzen, lauschte dem sanften Geräusch des Regens, und drehte das Blatt gedankenverloren zwischen ihren Fingern. Das Gespräch hatte sie mehr mitgenommen als sie zuerst gedacht hatte. Ihr war zuvor nicht bewusst gewesen, wie gern ihr Onkel seine Schwester gehabt hatte, und wie schwer ihn die Nachricht von ihrem Tod getroffen haben musste - und die Nachricht, wer ihr Vater war. Mit einer raschen Bewegung riss Narissa das Blatt in zwei Teile, ließ die Hälften zu Boden schweben, und stand auf. Sie wollte sich nicht in diesen Gedanken verlieren, und sehnte sich nach Gesellschaft. Nach der Gesellschaft einer bestimmten Person.
Im Keller des Turmes traf sie nur Bayyin an, der tief über seine Notizen gebeugt an einem Tisch stand, und ihr nur wenig Aufmerksamkeit schenkte. Anscheinend war Aerien ihm inzwischen entkommen, und so fragte Narissa: "Weißt du, wohin Aerien gegangen ist?"
Bayyin hob nur kurz den Blick, schüttelte den Kopf und antwortete: "Nein, keine Ahnung." Narissa wandte sich ab, denn offensichtlich wollte er nicht gestört werden, und eilte die Treppe wieder nach oben in die Eingangshalle, wo sie Laedris über den Weg lief.
"Laedris!", sprach sie die blonde junge Frau an. Laedris war nur ein Jahr älter als sie und als sie auf die Insel gekommen war, die Wortführerin unter den Kindern in der kleinen Siedlung gewesen. Sobald Narissa sich jedoch ein wenig eingewöhnt und Schock und Trauer überwunden hatte, hatte es einen kleinen Machtkampf zwischen ihr und Laedris gegeben, aus dem Narissa siegreich hervorgegangen war. Aus der Rivalität war schließlich Freundschaft geworden, zwar keine besonders enge, doch Narissa freute sich, dass Laedris dem Angriff entkommen war. "Hast du Aerien gesehen?"
"Ja, sie hat eben mit Herrin Melíril gesprochen - du hast sie nur knapp verpasst", antwortete Laedris, und stellte den Eimer mit Wasser, den sie getragen hatte, ab. "Ich glaube, sie ist hochgegangen in dein Zimmer - oder sollte ich euer Zimmer sagen?" Sie zwinkerte Narissa zu, die zu ihrer eigenen Überraschung spürte, wie sie errötete. Es hatte anscheinend nicht einmal einen Tag gebraucht, bis sich die Art der Beziehung zwischen ihr und Aerien unter sämtlichen Thelynrim herumgesprochen hatte.
"Danke, Laedris", sagte Narissa, und begann rasch die Treppe hinaufzusteigen, bevor Laedris ihr womöglich weitere Fragen stellen konnte. Sie wollte jetzt nicht über Aerien sprechen, sondern bei ihr sein.
In ihrem Zimmer angekommen, sah sie Aerien auf ihrem Bett am Fenster knien, und hinaus auf das Meer schauen. Narissa lächelte, zog leise die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel ebenso leise im Schloss herum. Dann trat sie hinter Aerien an das Bett, blickte an ihr vorbei durchs Fenster und sah den Regenbogen, der sich über dem Wasser gebildet hatte.
"Wunderschön, nicht wahr?", fragte sie leise, und Aerien gab zur Antwort nur einen zustimmenden Laut von sich. Narissa ließ ihre Finger leicht von Aeriens rechter Schulter zur linken und zurück wandern, und fragte ein wenig besorgt: "Du bist mir doch nicht etwa böse, weil ich dich mit Bayyin allein gelassen habe."
Aerien schüttelte den Kopf, wobei ihre Haarspitzen über Narissas Hand strichen. "Nein, bin ich nicht." Dann riss sie den Blick vom Regenbogen los, sah Narissa an und lächelte ein wenig verlegen. "Naja, vielleicht ein bisschen. Und ich hatte Angst, dass... ich dich verschreckt habe, und dass... dass du nicht..."
Narissa lächelte, und stieß sie sanft rückwärts auf die Matratze des Bettes. "Dass ich nicht was, hm?" Dann küsste sie Aerien leidenschaftlich und lange, und als der Kuss endete sagte sie ein wenig atemlos: "Nie im Leben könntest du mich damit verschrecken... ich werd's dir zeigen!" Damit kniete sie sich über Aerien, nahm ihr Gesicht in ihre Hände, und küsste sie erneut.

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