Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Rhun

Gebiete westlich des Meers von Rhûn

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Eandril:
Sie ritten einige Stunden in der Dunkelheit weiter nach Osten, immer entlang der zerklüfteten Gebirgsflanke nördlich von ihnen, während nur das blasse Mondlicht ihren Weg beschien. Doch auch der Mond ging schließlich unter, und Milva zügelte ihre Stute. "In dieser Finsternis ist es nicht klug, weiterzureiten. Und wir sollten jetzt weit genug von dem Überfall entfernt sein."
„Ich nehme jeden Augenblick dankbar entgegen, den ich nicht auf diesem harten Pferderücken verbringen muss.“, erwiderte Aivari und sobald sie zum Stehen gekommen waren, sprang er vom Pferd und lockerte einen Moment seinen verspannten Körper.

Auch Milva saß ab, lehnte sich dann mit dem Rücken an einen bemoosten Stein und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Auch wenn die Nacht kühl war, wollte sie es lieber nicht riskieren ein Feuer zu entzünden. "Ich wusste nicht, dass es so weit im Süden auch Zwerge gibt. Was führt euch in diese Gegend?"
„Eine lange Geschichte.“, erwiderte der Zwerg stöhnend, während er sich im farblosen Sternenlicht auf den begrasten Boden gesetzt hatte.
„Ich will sie euch kurz zusammenfassen: Ich war lang nicht mehr im Norden, in meiner Heimat. Aus dem Westen komme ich. Habt Ihr schon einmal von Dol Guldur gehört? Die finstere Festung im Elbenwald? Dort kämpfte ich an der Seite von Elben und Menschen in einer großen Schlacht. Doch kampfesmüde bin ich geworden und nun helfe ich meiner Weggefährtin in den Osten Mittelerdes zu gelangen.“
Inari, die sich ebenfalls in das noch leicht warme Gras fallen gelassen hatte, notierte einen kurzen Blick von Milva, als Aivari auf sie zu sprechen kam.
Birken und Espen, die nur wenig Laub trugen und sich in der Nähe leicht im Winde neigten, spannten ein dunkles Netz vor den fahlen Sternenhimmel, während ihre Pferde in der nahen Umgebung grasten.
»Ich stamme vermutlich aus dem Osten«, sagte Inari nun, während ihr Blick in der Dunkelheit auf dem vom Wind gebeugten Gras lag und sie mit der Hand über die weichen Halme strich. »Ich suche jemanden, den ich in Gortharia vermute und vom dem ich mir mehr Auskunft darüber erhoffe. Ich bin als Sklavin nach Rhûn gekommen.«
Sie schwieg wieder und schien damit zu bedeuten, dass sie in diesem Augenblick nicht mehr dazu sagen wollte.
Milva wusste nicht viel zu sagen. Dol Guldur war für sie nur ein Name aus fernen, sagenhaften Ländern gewesen, ein Name der Unheil bedeutete. Und jetzt sprach sie mit jemandem, der dort gewesen war und offenbar noch viel weiter herumgekommen war. Ein so erfahrener Begleiter konnte ihr mit Sicherheit nützen, und sie stellte fest, dass der Zwerg ihr nicht unsympathisch war. Im Gegensatz zu den Zwergen die sie im Norden getroffen hatte, wirkte Aivari offen und freundlich, und wenig wie ein typischer Zwerg - wozu vermutlich auch Bart und die wenig stämmige Statur beitrugen.
"Ich komme aus Dorwinion", erwiderte sie vorsichtig, und drehte dabei gedankenverloren die Ähre eines Grashalms zwischen den Fingern. Sie fragte sich, wie viel sie den beiden offenbaren konnte - allerdings waren sie mit Sicherheit Feinde des Königs. In der Dunkelheit rief eine Eule. "Wenn ihr vom Norden sprecht, meint ihr dann den Erebor oder die Eisenberge?", fragte sie Aivari. Sie wusste nicht, woher ein Zwerg sonst kommen konnte.
„Im Norden liegen von hier aus die Eisenberge“, sagte Aivari und deutete beiläufig mit einer Hand in die Richtung, die er für Norden hielt. „Der Erebor lag für mich stets im Westen meiner Heimat und die Länder Rhûns im Süden. Selbst noch zu Zeiten als sich unsere Völker bekriegt haben, wusste mein Volk den Wein aus Dorwinion zu schätzen. Bis weit in die Kriegsjahre hinein wurde Riavod als neutrale Handelsstadt anerkannt.«
Wenn Aivari davon sprach, spürte er gleich wieder den feinherben Saum des rötlichen Branntweins, den es in den Hallen der Eisenberge zu jedem Mahl in aller Reichhaltigkeit eingeschenkt gab. Zu viele Monde waren schon vergangen seit er die Vorberge des Eisengebirges hinaufgeklettert war und wieder hinunter in das grüne Land mit seinen vielen Furten und kleinen raschen Bächen gewandert war – mit Fjóla an seiner Seite.

Riavod war die größte Stadt, in der Milva je gewesen war, und dort hatte sie auch den Bogen, den sie jetzt trug, erworben. Von dort waren auch hin und wieder die Strafexpeditionen gegen den Wald der Herrin, die sie in die Irre geführt hatte, aufgebrochen, und seit dem letzten Debakel, bei dem einige Soldaten ihr doppeltes Spiel erkannt hatten und entkommen waren, war sie nicht wieder dort gewesen. Milva schloss für einen Moment die Augen, und sagte dann: "Wenn ihr möchtet, übernehme ich die Wache." Nach der Aufregung des Überfalls hätte sie vermutlich sowieso nicht schlafen können, und außerdem wollte sie noch ein wenig über den Zwerg und seine ziemlich geheimnisvolle Begleiterin nachdenken.
Aivari nickte in stillem Einvernehmen und streckte sich auf dem grasigen Boden aus, Inari war offensichtlich deutlich erschöpfter als ihr Gefährte und bereits eingenickt. Milva erhob sich und setzte sich auf den Stein an den sie bislang ihren Rücken gelehnt hatte. Sie lauschte dem Wind in den nahen Bäumen, und beobachtete den langsamen Zug der Sterne über den nächtlichen Himmel.

Milva, Aivari und Inari weiter nach Gortharia...

Fine:
Zarifa, Cyneric und Salia aus Gorak


Drei Meilen außerhalb der Hauptstadt des Fürstentums Gorak hatte Cyneric schlussendlich genug. Er konnte es nicht länger mitansehen.
“Zarifa,” sagte er zu der jungen Frau. “Bist du wirklich schon einmal auf dem Rücken eines Pferdes gesessen?”
Zarifa, die vor ihm ritt, und verzweifelt versuchte, sich aufrecht im Sattel zu halten, gab ihm keine Antwort. Cyneric lenkte sein Reittier neben ihres und zwang sie so dazu, endlich Blickkontakt aufzubauen. Er versuchte, nicht allzu vorwurfsvoll auszusehen, doch ganz konnte er es sich nicht verkneifen. Denn Cyneric hatte es eilig, nach Gortharia zu kommen, wo ein weiterer, womöglich entscheidender Hinweis auf den Aufenthaltsort seiner Tochter auf ihn wartete. Und Zarifa, die durch ihre fehlenden Reitkünste dafür sorgte, dass sie seit ihrem Aufbruch aus Gorak nur langsam vorangekommen waren, stand diesem Ziel nun im Wege.
Salia erlaubte sich ein untypisches Kichern. Das Mädchen war erneut aufgetaut und hatte ihre emotionslose Haltung aufgegeben, die sie in der Anwesenheit Rylthas oder Morrandirs stets innehatte. Doch Ryltha war vermutlich bereits in Gortharia angekommen und auch Morrandir war weit weg. Cyneric war froh darüber, denn die “echte” Salia gefiel ihm deutlich besser als die junge Frau namens Teréssa, die unter der Kontrolle der Schattenläufer stand.
Zarifa ließ die Schultern hängen, schien jedoch noch immer nicht bereit zu sein, die Scharade aufzugeben. “Ich weiß, wie man reitet,” gab sie trotzig zurück.
“Das sehe ich,” erwiderte Cyneric. “Dann hast du ja sicher nichts dagegen, wenn wir es ab sofort etwas schneller angehen lassen?” Er versetzte Zarifas Pferd einen Klaps auf das Hinterteil, und das Tier machte einen Satz vorwärts. Zarifa schrie auf und klammerte sich verzweifelt an den Hals des Pferdes, bis es eine halbe Meile weiter endlich anhielt und sich ein Büschel Gras vom Straßenrand genehmigte.
Cyneric und Salia schlossen grinsend zu ihr auf. Der Blick, den Zarifa den beiden zuwarf, war geradezu tödlich. “Ihr haltet euch wohl für die größten Witzbolde unter der Sonne,” giftete sie.
“Nun, hin und wieder macht Cyneric tatsächlich etwas, das mich zum Lachen bringt,” meinte Salia selbstzufrieden. “Gesteh’ es dir endlich ein, Zarifa. Du hast noch nie zuvor ein Pferd von oben gesehen.”
“Das macht nichts. Ich habe meiner Tochter das Reiten beigebracht, ich kann es auch dir beibringen,” bot Cyneric der jungen Frau an.
“Wie großzügig von dir,” antwortete Zarifa missmutig. “Ich bin aber nicht deine Tochter.”
“Komm. Steig aus dem Sattel und klettere auf Rynescéads Rücken. Er ist viel umgänglicher als dieser Ostling-Klepper, den Salia dir in Gorak ausgesucht hat,” meinte Cyneric. Rynescéad, sein rohirrischer Hengst, schnaubte bestätigend und warf Zarifa einen gutmütigen Blick zu.
“Ich weiß nicht recht. Er ist so... so groß.”
“Weil er ein Kriegsross ist,” erklärte Salia. “Er muss groß und kräftig sein, um bei einem Ansturm von Reitern maximalen Schaden anzurichten und einen schwer gerüsteten Reiter überhaupt tragen zu können.”
“Dein Gewicht wird er kaum spüren. Und er wird dich nicht fallen lassen, wenn ich ihn darum bitte. Solange du ihn nicht ärgerst, natürlich.” Cyneric lächelte.
Zarifa stieß einen entnervten Seufzer aus. Doch tatsächlich kletterte sie unbeholfen aus ihrem Sattel und ließ sich von Cyneric auf Rynescéads Rücken helfen. “Ich... schätze, wir beide könnten vorerst Freunde sein,” sagte sie unsicher zu dem Pferd. Rynescéad schlug mit dem Schweif und sagte nichts.
“Siehst du, er hat dich bereits ins Herz geschlossen,” meinte Cyneric. “Sonst lägst du bereits im Staub der Straße.”
“Sehr ermutigend, vielen Dank.”

Sie rasteten, nachdem sie bei Sonnenuntergang die Bergregion des Fürstentums Gorak hinter sich gelassen hatten und auf die Ebene zwischen Gortharia und dem Gebirge westlich des Meeres von Rhûn gekommen waren. Da sie damit rechneten, innerhalb zwei weiterer Tage in der Hauptstadt anzukommen, hatten sie nicht besonders viele Vorräte mitgenommen. Salia warf einen argwöhnischen Blick auf Zarifa, die beim Abendessen eine sehr großzügige Portion verspeiste. Cyneric hielt die Schattenläuferin mit einem zur Vorsicht mahnenden Blick davon ab, etwas zu sagen. Zarifa sah noch immer einigermaßen abgemagert aus und hatte vermutlich lange keine vollwertigen Mahlzeiten bekommen. Cyneric und Salia hingegen waren wohlgenährt und würden es verkraften, bis zu ihrer Ankunft in Gortharia den Gürtel ein wenig enger zu schnallen.
Wie er Zarifa so beobachtet, fiel Cyneric auf, dass das Mädchen nun müde und geradezu abgelenkt zu sein schien. Sie beteiligte sich nicht an dem Gespräch, das er mit Salia über dies und das führte, und wirkte wie ausgewechselt. Am Mittag hatte sie noch mit den beiden gescherzt und sich angeregt unterhalten, doch offenbar waren ihre Gedanken nun zu den Dingen, die ihr zugestoßen waren geschweift. Cyneric war hin- und hergerissen, ob er mit ihr darüber sprechen sollte und rang sich schließlich dazu durch, eine Frage zu stellen.
“Alles in Ordnung mit dir, Zarifa?”
“Lass mich in Ruhe,” zischte sie aggressiv und wandte demonstrativ den Blick ab. Cyneric tat ihr den Gefallen.
In derselben Nacht fiel es ihm schwer, Schlaf zu finden. Während von Salia schon bald ein leises, regelmäßiges Schnarchen zu hören war, drangen von Zarifa, die etwas abseits lag, leise Geräusche zu ihm hinüber, die sich verdächtig nach Weinen anhörten.
Als er sich vorsichtig erhob, um nachzusehen, sagte Zarifa: “Nein, nein, ich will das nicht... fass mich nicht an, nein, verschwinde... lass mich in Ruhe...”
Sie musste im Schlaf gesprochen haben, denn ihre Stimme verlor sich in undeutlichen Geräuschen und Schniefen. Offenbar durchlebte sie im Schlaf eine ihrer traumatischen Erinnerungen. Cyneric war voller Mitleid für das Mädchen. Er wusste nicht, was er tun konnte, um Zarifas Leiden zu beenden. Vermutlich kann nur die Zeit diese Wunden heilen, dachte er, während er trotz der Geräusche versuchte, einzuschlafen.

Am folgenden Tag kamen sie deutlich schneller voran. Die Schrecken der Nacht schienen für Zarifa vorerst vergessen zu sein und sie ließ sich von Rynescéad im raschen Trab entlang der breiten Straße tragen, die Gorak und Gortharia verband. Zu ihrer Linken war nun wieder das Meer von Rhûn aufgetaucht, das den Horizont mit seinem schier endlosen blauen Band verzierte. Es war kalt geworden, denn auch in Rhûn nahte nun der Winter. Über die flachen Ebenen zwischen Gortharia und den Braunen Landen strichen in dieser Jahreszeit oft tückische, kalte Winde, wie auch an jenem Tag. Unterhaltungen wurden beinahe unmöglich. So ritten sie schweigend hintereinander her, die Gesichter mit dicken Schals verhüllt, und hofften, dass der Wind ihren Ritt nicht allzu sehr verlangsamen würde. Die Windrichtung wechselte oft, sodass sie mal Gegen- und dann wieder Rückenwind hatten. Die Landschaft, die nur wenig Abwechslung bot, zog an Cyneric vorbei. Hier und da sah man vereinzelte Bäume oder kleine Erhebungen, doch bis auf diese Ausnahmen war das Land westlich von Gortharia erstaunlich flach und hauptsächlich von einem kurzen, bräunlichem Gras bewachsen.
Gegen Abend ließ der Wind endlich nach, und sie beschlossen, selbst nach Sonnenuntergang noch eine oder zwei Meilen weiterzureiten. Sie hatten bereits zwei Drittel des Weges hinter sich, doch Cyneric wollte gerne am Mittag des nächsten Tages in der Hauptstadt ankommen, um womöglich noch am selben Tag einen Blick in den geheimnisvollen Brunnen Anntírad zu werfen.
Salia durchschaute ihn beinahe sofort. Während der Mond als schmale Sichel hinter ihnen langsam aufging, lenkte sie ihr Pferd neben seines und sagte: “Dir ist hoffentlich bewusst, dass sich weder Ryltha noch Morrandir nach deinen Wünschen richten werden. Sie haben dir einen Blick in die Tiefen Anntírads versprochen, doch die Formulierung des Zeitraums “nach deiner Rückkehr aus Gorak” ist, nun, sehr dehnbar.”
Damit sprach sie nur Cynerics eigene Befürchtungen aus. Er traute den Schattenläufern nicht so sehr, wie er es sich wünschte, und eine leise Stimme in seinem Inneren sagte ihm schon länger, dass sie ihn nur für ihre selbstsüchtigen Zwecke gebrauchen und ihm die Belohnung verweigern würden. Aber... was würde sie davon abhalten, ihm einen so harmlosen Wunsch wie die Kenntnis über den Aufenthaltsort seiner Tochter zu verweigern? Fürchteten sie etwa, dass er sofort alles stehen und liegen lassen würde, und...
Ihm ging ein Licht auf. Natürlich, dachte er und ärgerte sich über sich selbst. Sie wissen, dass ich Rhûn verlassen werde, wenn ich weiß, wo mein kleines Mädchen ist. Und das wollen sie nicht, weil ich... nun, weil ich offenbar zu nützlich für sie geworden bin. Er warf Salia einen fragenden Blick zu, und fand seine Befürchtungen bestätigt.
“Ich glaube nicht, dass sie dir freiwillig zeigen werden, wo Déorwyn sich befindet,” sagte sie niedergeschlagen.
“Was habe ich nur an mir, das die Schattenläufer so dringend brauchen? Weshalb können sie mich nicht gehen lassen?”
“Ich wünschte, ich wüsste es, Cyneric,” erwiderte Salia. “Ich wünschte wirklich, ich würde alle Antworten kennen. Aber das tut niemand.”
“Nein, vermutlich nicht. Du hast recht,” gab er zu. “Als ich zum ersten Mal in den Brunnen blickte, zeigte er mir nur Eindrücke und Bilder meiner Tochter, und bestätigte mir somit, dass sie am Leben war. Sie sah älter aus, als an dem Tag, als ich den Fehler meines Lebens beging und meine Familie verließ. Doch ich glaube, dass Morrandir und Ryltha schon längst wussten, wo Déorwyn sich in jenem Moment aufhielt.”
“Wie sonst hätten sie dir garantieren können, dass sie nicht inzwischen gestorben ist?”
“Also war das, was ich im Brunnen sah, im Vornherein von den beiden festgelegt worden.”
Salia legte den Kopf schief. “Nein, so funktioniert es nicht. Ich glaube nicht, dass sie so große Kontrolle über das Wasser haben. Du hast gesehen, wo Déorwyn war, als du hineingeblickt hast, aber es war nur einer von vielen Eindrücken. Du wusstest nicht, welcher der neuste war. Ryltha und insbesondere Morrandir können so etwas unterscheiden. Doch sie haben es nicht getan, als du hineinblicktest.”
“Und werden es wohl auch diesmal nicht tun.”
“Ich fürchte, sie werden dir irgendwann notgedrungen einen Blick in den Brunnen gewähren, und dann wirst du wieder eine Vielzahl von Eindrücken und Bildern sehen. Und noch immer nicht wissen, wo du nach deiner Tochter suchen sollst. Dann werden sie dich auf das nächste Mal vertrösten. Und so weiter, und so fort.”
“Ich... ich muss es dennoch versuchen,” sagte Cyneric, der ratlos war und nicht wusste, wie er auf diese Enthüllung reagieren sollte. “Vielleicht... vielleicht, wenn ich genauer hinsehe, und mich konzentriere...”
“Ich weiß es nicht, Cyneric. Ich schätze, wir werden es sehen, wenn es soweit ist...”

Als sie am folgenden Mittag nur noch eine Meile von Gortharia entfernt waren und die rötlichen Mauern und die Silhouette des Königspalastes in der Ferne aufragten, fiel ihnen auf, dass auf der Straße deutlich mehr los war, als normal zu sein schien. Mehr Menschen als üblich schienen die Stadt verlassen zu wollen. Und aus den Gesprächsfetzen, die sie aufschnappten, reimten sie sich rasch zusammen, was der Grund dafür war.
“Die Schwarze Rose ist zerschlagen worden!” klagten einige Leute. “Wer wird nun eintreten für die Rechte der Armen?”
“Der König greift mit neuer Härte gegen Unruhestifter durch! Einige der Gehenkten waren gewiss unschuldig. Es ist nicht mehr sicher in Gortharia für uns,” sagten andere, die zwielichtiger aussahen.
“Die Goldröcke haben Blut geleckt! Schon bald werden die Straßen sich rot färben,” befürchteten wieder andere.
Öffentliche Hinrichtungen waren etwas, was Cyneric bislang fremd gewesen war. Er war froh, dass er dieses grausame Schauspiel verpasst hatte. Zarifa, die wieder schweigsam geworden war, schien glücklicherweise die meisten Ostling-Dialekte nicht zu verstehen. Nun würde Cyneric dafür sorgen müssen, dass Gortharia nicht den Tod des Mädchens bedeutete.
Als das Westtor der Stadt immer näher kam, musste er sich schließlich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte, wie er das bewerkstelligen sollte...


Cyneric, Zarifa und Salia nach Gortharia

Fine:
Cyneric und Ryltha aus den Braunen Landen


Cyneric fühlte sich wie als wäre die Zeit um viele Monate zurückgedreht worden. Erneut durchquerte er die weiten unbewaldeten Ebenen die zwischen dem Düsterwald und dem Meer von Rhûn in Begleitung einer Frau, der er misstraute, aber der er aus Gründen folgte, die er selbst nicht ganz verstand. Je weiter sie nach Osten kamen, desto schlechter schien das Wetter zu werden. Kalte Winde fegten über die weiten, von halbhohem Gras bewachsenen Lande, seitdem sie irgendwo entlang der kaum sichtbaren Straße die Grenze zum Reich von Rhûn überquert hatten und ließen Pferde und Reiter bei jeder Böe bis in die Knochen spüren, dass der Winter noch lange andauern würde. Die große Weite zwischen Rhovanion und Gortharia war größtenteils baumlos und bot nur wenig landschaftliche Abwechslung. Cyneric wünschte sich beinahe, sie würden endlich in der Hauptstadt der Ostlinge ankommen, doch gleichzeitig war er ganz froh darüber, dieser Stadt der Intrigen und Geheimnisse noch ein Weilchen fern zu bleiben.

Schließlich trennte sie nur noch ein letzter Tagesritt von den roten Mauern Gortharias. Ryltha war wieder lebhafter geworden und fing an, am gemeinsamen Lagerfeuer die unterschiedlichsten Geschichten zu erzählen, denen Cyneric mit wechselndem Interesse und zumeist notgedrungen lauschte.
"Der alte Geldsack, Castav, scheint sich mittlerweile für ein ganz hohes Tier zu halten," plauderte die Schattenläuferin munter drauflos, während sie am Morgen vor ihrer Ankunft in der Hauptstadt eine kurze Rast einlegten. "Hat seine Ohren stets offen nach Geheimnissen und seine Finger schon bis zum Königspalast ausgestreckt. Als ich nach dem Desaster mit den Stahlblüten - woran du schuld bist, Cyneric - in eines seiner Lagerhäuser einbrechen musste, um etwas Gold zu beschaffen, besaß dieser ergraute Narr doch tatsächlich die Frechheit, nicht nur Wachen zu postieren, sondern auch noch Fallen im Inneren aufzustellen!"
Cyneric hatte dafür nur ein müdes Anheben der Augenbrauen übrig. "Wie dreist von ihm," seufzte er teilnahmslos.
"Ich hatte meine liebe Not damit, ungeschoren aus der Sache herauszukommen," fuhr Ryltha fort, als hätte sie ihn gar nicht gehört. "Als ich durch das Lagerhaus schlich, habe ich die Wachen darüber reden hören, dass der alte Castav es sich wohl in den Kopf gesetzt hat, seine Enkelin zu einer Kämpferin zu machen. Das ist im gortharischen Adel schon eine ziemlich ungewöhnliche Sache und darüber hinaus ist die kleine Melina auch noch die Erbin des ganzen Anwesens. Ich weiß nicht, was der Alte sich dabei denkt. Wenn das Mädchen im Kampf einen Unfall erleidet, steht Haus Castav ohne Nachfahren da."
Cyneric kaute lustlos auf einem trockenen Stück Brot herum. "Du scheinst dich ja ganz schön dafür zu interessieren," merkte er an.
Ryltha grinste. "Es ist meine Aufgabe, so viel Wissen wie möglich zusammenzutragen. Natürlich interessiere ich mich für schwerreiche Adelige mit gefährlichen Ambitionen - da lässt sich sicherlich eines Tages Kapital heraus schlagen."
"Natürlich," brummte Cyneric nur.
"Branimir Castav ist nur einer von unzähligen Ostlingen, die Pläne für Gortharia haben," plauderte Ryltha unbekümmert weiter. "Und je mehr ich über all diese Pläne weiß, desto leichter ist es für die Meisterin, diese Pläne zu lenken und zu Gunsten unserer Sache zu gebrauchen."
"Macht sie dir keine Angst?" wollte Cyneric wissen.
"Wer - Mêril?" Ryltha lachte, aber es war keines ihrer gewöhnlichen, zuversichtlichen Lachen. Es lag keine Selbstsicherheit darin. "Solange ich meine Aufgabe gut erfülle, habe ich nichts zu befürchten. Da sollten sich eher Andere Sorgen machen!"
"Du meinst Salia," schlussfolgerte Cyneric. "Sag' mir endlich, was ihr Schattenläufer mit ihr gemacht habt."
"Wir? Überhaupt nichts. Solange sie brav ihr Wasser trinkt, wird es ihr gut gehen."
"Dieses Zeug vernebelt ihr den Verstand. Sie ist nicht sie selbst."
"Sie ist gehorsam. Und das ist alles, was zählt. Denn wenn es keine Zweifel mehr gibt, die sie zurückhalten, ist sie tödlicher, als es Morrandir oder ich je sein könnten."
"Das ist es also," meinte Cyneric düster. "Ihr benutzt Salia nur. Sie ist eine Waffe für euch, mehr nicht."
"Du verstehst es nicht," hielt Ryltha dagegen. "Dies ist die Lebensart der Drei Schatten. Mór, Daé, Ránt - Dunkelheit, Schatten, Fluss. Von diesen drei war der Schatten Daé von jeher die Klinge, die das Herz unserer Feinde durchbohrte. Wir alle sind tödlich, doch der Schatten geht uns voran und bildet die Speerspitze. Der Fluss umgibt uns und durchdringt die Stadt, um nach Wissen und nach Zielen zu suchen. Die Dunkelheit bedeckt uns und gibt uns Schutz und Führung. So ist es schon seit jeher gewesen und so wird es auch immer bleiben."
"Ein bemitleidenswertes Leben," meinte Cyneric. "Ich wünschte, du würdest erkennen, wie gefangen du bist."
Ryltha starrte ihn sprachlos an. Ehe sie auch nur ein Wort sagen konnte, hatte Cyneric sich erhoben und sein Gepäck in seinen Satteltaschen verstaut.
"Die Sonne steht bereits hoch," merkte er an. "Wir sollten weiterreiten."

Gegen Abend kamen sie in Sichtweite der roten Wälle Gortharias. Der große Felsen, auf dem die Stadt stand erhob sich am Nordende der Halbinsel, die ein Stück ins Binnenmeer hinein ragte und glich einem trotzig gegen die Fluten ausgestreckten Arm. Inzwischen war die Straße gut ausgebaut und mit breiten Steinen gepflastert. Eine große Zahl von Menschen war unterwegs. Die meisten strömten auf der Straße zur Stadt hin, und nur wenige kamen ihnen entgegen.
Hier und da schnappte Cyneric einige Worte auf, die der Geräuschkulisse der Menschenmassen entstiegen, doch den Großteil konnte er nicht verstehen. Immer wieder hörte er jedoch den Namen Balanjar heraus.
Ryltha war den Tag über sehr einsilbig und zurückgezogen gewesen, doch nun sah die Schattenläuferin aus, als hätte sie einen Geist gesehen. Ihre sonnengebrannte Haut war bleich geworden und Cyneric glaubte, zum ersten Mal zu sehen, dass Ryltha tatsächlich entsetzt war.
"Was ist los? Wovon reden die Leute da?" wollte Cyneric wissen.
Ryltha sah ihn an, doch ihr Blick schien geradewegs durch ihn hindurch zu gehen. "Balanjar," wiederholte sie leise den Namen, der ringsum ständig genannt wurde.
"Du meinst das südliche Fürstentum Rhûns?" wollte Cyneric es genauer wissen.
"Balanjar brennt," sagte Ryltha und schien es in diesem Augenblick erst selbst richtig wahrzunehmen. "Die Orks aus Mordor sind über Balanjar gekommen und haben die Zeltstadt eingeschlossen. Die Menschen sagen... sie sagen...."
"Was sagen sie?"
"Sie sagen, die Orks würden angeführt von..." Ryltha schüttelte sich und ihre Miene wurde ernst und wieder erfüllt mit Konzentration. "Nein. Das kann nicht sein. Ich muss sofort mit Morrandir sprechen. Cyneric - du nimmst dir ein Zimmer in einem der Gasthöfe, ganz egal in welchem. Hier!" Sie warf ihm vom Rücken ihres Pferdes einen Geldbeutel zu, der prall gefüllt in Cynerics Hand landete. "Warte dort auf mich! Ich werde dich finden, wenn die Zeit gekommen ist. Geh nicht auf die Straße, wenn du es vermeiden kannst und mach' keine Dummheiten! Ich muss herausfinden, was wirklich in Balanjar geschehen ist und ob die Gerüchte wahr sind."
"Welche Gerüchte?" rief Cyneric ihr noch hinterher, als Ryltha ihr Pferd mit einem Schrei antrieb und davonpreschte.
Diese verdammte Frau, dachte Cyneric verärgert und durcheinander. Es war längst zu spät, Ryltha zu verfolgen - er steckte mitten im Getümmel der Menschen, die zum Großteil zu Fuß auf das westliche Stadttor Gortharias zuströmten. Um mit seinem grünen Umhang weniger aufzufallen stieg Cyneric vom Rücken seines Rosses ab und führte Rynescéad am Zügel auf die Mauern zu.
Castav, dachte er. Den Namen sollte ich mir merken. Vielleicht kann dieser Mann mir helfen, Milva zu finden, wenn die Schatten sich weigern sollten.


Cyneric und Ryltha nach Gortharia

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