Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Rhun

Gebiete westlich des Meers von Rhûn

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Fine:
Cyneric und Ryltha aus Süd-Rhovanion


Je weiter sie nach Osten kamen desto mehr Menschen begegneten ihnen. Cyneric fiel auf, dass die einfachen Leute im Fürstentum Gorak großen Respekt vor Ryltha und ihren Soldaten zu haben schienen. Doch nicht nur Respekt konnte er erkennen, sondern vor allem auch Furcht und Vorsicht. Ob der König das Volk wohl durch seine Soldaten unterdrücken lässt? fragte er sich.
"Die einfachen Leute haben nichts davon, dass der Krieg gegen das Königreich Thal und die Zwerge gewonnen wurde," erklärte Ryltha als er sie danach fragte. "Alle geplünderten Schätze und die Einnahmen dadurch fließen direkt in die Kasse der Reichen und Mächtigen in Gortharia. In den Fünf Fürstentümern sind es die vom König eingesetzten Fürsten, die in seinem Namen das Volk ausbeuten. Hier in Gorak regiert noch der gemäßigste der Fürsten, doch auch er muss aus dem Weg geräumt werden. Darum werden wir uns kümmern, wenn die Zeit reif ist."

Niemand hielt sie an, obwohl sie immer wieder anderen Soldaten begegneten. Ryltha schien eine Freigabe von einem der Gerenäle oder hohen Heerführer zu haben und wurde überall durchgewunken. Während sie das Land durchquerten, erzählte sie Cyneric von dessen Geschichte. Gorak war einst ein eigenständiges Reich gewesen, dessen Lage in den Bergen westlich des Meeres von Rhûn eine Eroberung stets erschwert hatte.
"Die Hauptstadt des Fürstentums liegt unterhalb dieser Gipfel," sagte sie und zeigte nach links, wo die Berge seit einiger Zeit in der Ferne zu sehen waren. "Zwar ist das Gebirge nicht sonderlich hoch im Vergleich mit den Roten Bergen im tiefen Osten oder den Eisenbergen im Norden, doch dafür ist es sehr unwegsam. Große Heere kommen dort kaum durch, wenn sie nicht die verborgenen Wege und Passagen der Bergbewohner kennen. Gorak wurde im Zuge der Expansion des gortharischen Reiches vor über hundert Jahren zwar erobert, allerdings war dies nur durch Verrat und Bestechung möglich. Der damalige König erkaufte sich das Wissen über den Zugang zur Hauptstadt und die Verräter öffneten ihm sogar die Tore. Gorak fiel innerhalb nicht einmal eines Tages."

Cyneric hörte hauptsächlich zu, stellte hin und wieder eine Frage, doch die meiste Zeit war es Ryltha, die sprach. Cyneric war beeindruckt von dem Wissen, dass die Frau besaß. Sie schien nicht nur über die Völker und Reiche des Ostens bestens Bescheid zu wissen sondern besaß auch eine überraschende Kenntnis von den Ereignissen in Rhovanion und Gondor.
"Dieser ganze Krieg dient nur dazu, die Interessen der Mächtigen zu vertreten," sagte sie. "Die einfachen Leute auf beiden Seiten leiden nur darunter und haben am Ende gar nichts davon."
"Von den Orks kann man das wohl nicht wirklich sagen," warf Cyneric ein.
"Das ist etwas anderes, Cyneric, das merkst du ja selbst," antwortete Ryltha. "Bei den Orks gilt das Recht des Stärkeren und das Gesetz der Furcht. Wenn sie nicht mehr Furcht vor dem Dunklen Herrscher als vor den Soldaten des Westens hätten hätten sich die Orks von Mordor längst selbstständig gemacht, das kannst du mir glauben. Bei den Orks gibt es keine "einfachen Leute", die einfach nur ihr Leben leben und eine Familie gründen oder versorgen wollen. Diese Kreaturen leben für den Krieg. Wenn es keinen Krieg gibt, fangen sie durch Überfälle und Plünderungen selbst einen an."
Cyneric nickte. Er hatte in den Schlachten des Ringkriegs schon mehr Orks gesehen, als er jemals gewollt hatte. Das sie seine Heimat, die Riddermark, verwüstet hatten, war auch nicht wirklich hilfreich.
"Ob in Rohan oder Rhûn, in Gondor, Harad, Thal oder Khand, es ist überall das Gleiche," fuhr Ryltha fort. "Du wirst dort wie hier Leute finden, die kein Interesse am Krieg haben, aber von machthungringen Anführern dazu gezwungen werden. Das sind einfache Bauern oder Stadtbewohner, die in Frieden leben wollen."
"In Rohan zogen wir in den Krieg als uns der König rief," sagte Cyneric. "Wir ritten nach Gondor, weil die Leuchtfeuer brannten und weil das Reich ansonsten gefallen wäre, nicht weil wir gezwungen wurden."
"Das ist doch Unsinn, Cyneric," fiel Ryltha ihm ins Wort. "Natürlich warst du gezwungen, vielleicht nicht durch Gewalt, aber doch durch Lehns- und Treueschwüre. Und was habt ihr Reiter Rohans davon gehabt? Rohan und Gondor fielen unter den Schatten und eure Heimat brannte. Eorls Eid? Zwang der einfachen Leute zum Krieg. Leuchtfeuer? Genau das Gleiche. Das gibt es in Rhûn auch, es nennt sich Kriegspflicht. Ich sage es ja: Es ist überall das Gleiche."

Cyneric wollte ihr widersprechen, sah aber dass es sinnlos war. Die Frau würde ihre Meinung so leicht nicht ändern. Natürlich wusste er, dass Eorls Eid nicht aus Zwang oder Hunger nach Macht entstanden war sondern ein Versprechen zweier Königreiche darstellte, sich gegenseitig in schweren Zeiten beizustehen. Gondor und Rohan hatten einander schon oft ausgeholfen und waren zusammen stärker als alleine. Das Ganze diente auch den einfachen Leuten, deren Heimat durch manchmal notwendige Kriege geschützt wurde. Wenn der Feind ins eigene Land einfiel musste jeder zur Waffe greifen, um sie zu verteidigen, so einfach war das.

"Genug davon," sagte Ryltha und schwieg den Rest des Rittes durch das Fürstentum Gorak. Cyneric brannte darauf, sie wieder nach dem zu befragen, was sie über das Schicksal seiner Tochter wusste, doch die Frau setzte sich an die Spitze der Gruppe und blockte jeden Versuch, mit ihr zu sprechen, ab. So gingen drei Tage vorbei, in denen das Gebirge zu ihrer Linken langsam vorbeizog und durch das Meer ersetzt wurde, das am dritten Tag in Sicht kam.
"Wir sind fast da," kommentierte Ryltha. "Heute erreichen wir Gortharia. Zeit, dich noch unauffälliger zu machen, Cyneric."
Er erhielt eine Rüstung wie sie die Soldaten Rhûns trugen: ein bronzene Schuppenpanzer, ein unpraktischer Helm inklusive Tuch, das den Mund bedeckte, und rötliche Lederbekleidung. Den grauen Umhang legte er ab und seine rohirrische Rüstung wurde sorgfältig zwischen mehreren großen Felsen verborgen. In diesem Versteck fanden sich auch typische gortharische Waffen: Eine gekrümmte Klinge, eine Hellebarde und ein bronzener, viereckiger Schild. Es waren ungewohnte Waffen, doch Cyneric würde sich damit zufrieden geben wenn er dadurch nicht auffallen würde.
"Sehr gut," kommentierte Ryltha. "Jetzt bist du ein normaler Soldat in meiner Einheit. Ich besitze das Rekrutierungsrecht, kann also problemlos erklären wieso ich einen Soldaten mehr in meinem Regiment habe. Fürs Erste werden wir dich in einer der Kasernen unterbringen. Alles weitere erzähle ich dir, wenn wir dort angekommen sind. Auf geht's!"

Sie setzten sich wieder in Bewegung und ritten über die Ebene, bis am späten Nachmittag in der Ferne die Stadt Gortharia in ihrem Blick immer größer wurde.


Cyneric und Ryltha nach Gortharia

Eandril:
Milvas Einstieg

Natürlich hatte sie kein Glück. Einen Tag nachdem sie den Rehbock erlegt hatte, zogen schwere Regenwolken vom Meer im Osten heran, blieben in den Bergen hängen und durchnässten Milva gründlich. Außerdem stellte sie bald darauf fest, dass sie zu weit nach Osten und in die Nähe Goraks, der Hauptstadt des gleichnamigen Fürstentums geraten war. Auch wenn das Land weitaus weniger dicht besiedelt war als Dorwinion, je mehr Leute desto mehr Soldaten, und je mehr Soldaten desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass Milva erkannt wurde. Innerlich verfluchte sie die Herrin der Quelle, dass sie sie auf diesen Auftrag geschickt hatte.
Zwar war sie zuvor bereits bis an den Nordrand der Berge vorgedrungen, doch so weit im Süden kannte Milva sich kein bisschen aus. Sie rückte den Bogen auf dem Rücken zurecht und tastete in ihrer Tasche nach der Sehne, die sich aufgerollt in einer wasserdichten Hülle befand. Dann wandte sie trotz des Regens, der stetig auf sie herabströmte, dem Dorf weiter unten im Tal den Rücken zu und stieg den Berghang wieder hinauf, bis zu der kleinen ebenen Lichtung, wo sie ihr Pferd zurückgelassen hatte.
"Ich fürchte er könnte sonst sterben...", äffte sie die Stimme der Herrin nach, und stapfte mit wütenden Schritten durch das feuchte Laub. "Du hast eine Schuld zu bezahlen... Ich muss verrückt gewesen sein, mich dazu überreden zu lassen", stieß sie gerade hervor als sie die braune Stute mit der Blesse auf der Stirn, die sie in der Nähe von Holmgard gekauft hatte, erreichte. Das Pferd wieherte empört, und Milva strich ihm beruhigend über den nassen Hals. "Na na." Sie spähte unter der Kapuze hindurch auf den schmalen Pfad dem sie bislang nach Süden gefolgt war und der sich laut dem Holzfäller, dem sie gestern begegnet war, nach einigen Meilen teilen würde. Wo genau sie sich befanden hatte ihr der Mann auch nicht sagen können, sein Wissen endete an jener Weggabelung. Milva seufzte, und schwang sich wieder auf den Rücken ihres Pferdes, wobei sie einen Schauer aus Wassertropfen versprühte.
"Wenn doch nur dieser Regen aufhören würde, nicht wahr?" Sie stieß der Braunen sanft die Hacken in die Flanken, und das Pferd setzte sich langsam, beinahe unwillig in Bewegung. Offenbar zerrte der Regen an den Nerven der Stute ebenso wie an denen ihrer Herrin. "Ich weiß ja", murmelte Milva vor sich hin, während sie mit der Rechten nach dem hinter ihr auf dem Pferderücken befestigten Gepäck, darunter die Reste des Rehbocks, tastete.  "Weder du noch ich sind freiwillig hier... bescheuerte Herrin."

Nach etwa einer Meile erreichte sie tatsächlich die Weggabelung, von der der Holzfäller gesprochen hatte. Ein Pfad bog nach Südosten ab, vermutlich direkt in die Gegend von Gorak, der andere führte geradewegs weiter nach Süden direkt auf einen hohen Berg zu. "Wenn das so weiter geht, geht der wahrscheinlich auch im Osten drumrum", grummelte Milva. Sie zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, denn inzwischen tropfte das Wasser bereits von dort auf ihre Nasenspitze. "Aber was solls", meinte sie mit einem schicksalsergebenen Seufzer, und lenkte ihr Pferd auf den rechten Pfad. "Irgendwo muss ich lang, da kann ich ebenso gut den hier nehmen." Für einen Augenblick wünschte sie sich, ihr Vater wäre hier und könnte ihr sagen was zu tun wäre, doch sie verdrängte den Gedanken rasch wieder. Sie war nicht länger Maranya, die Tochter des Wilderers. Sie war Milva, und sie wusste sich selbst zu helfen.
Immerhin sah der Pfad, für den sie sich entschieden hatte, deutlich weniger begangen aus, also hatte sie vielleicht Glück und würde den Südrand der Berge erreichen ohne auf weitere Siedlungen zu treffen.

Dieses Mal hielt ihr Glück an, und sie erreichte ohne weitere Zwischenfälle die große Ebene südlich der Berge von Gorak - und sogar der Regen hörte auf.

Eru:
Aivari in Begleitung Kazimirs, des Ostlings, und Inaris aus dem südlichen Rhovanion...


Das Grau des Morgens schimmerte schwach, das rhythmische Klappern der Pferdehufe auf dem begrasten Boden stimmte in die dampfende Atmung der beiden rhûnischen Rösser ein.
Kazimir war ab und an mit einem kleinen Feuer beschäftigt, gerade groß genug um ein paar der Vorräte genussvoller zu machen und in den Nächten etwas Wärme zu spenden, aber auch nicht so groß um Aufmerksamkeit zu erregen.
Sie brachen stets wieder auf, ehe es heller Tag war.
Aivari war nicht wirklich begierig darauf weiter in den Osten zu gelangen. Er hatte nicht eine gute Sache über die Völker gehört, die diese Lande bewohnten und sein Leben lang hatte er sie in den Gebieten südlich und östlich der Eisenberge bekämpft. Sogar sein bescheidenes Haus hatte er damals an sie verloren, das er mit eigener Kraft für seine Familie erbaut hatte.

Aber so unversehens war Inari in sein Leben eingetreten, als es einem unehrenhaften Ende nahte, dass er dem Mädchen nun helfen musste. Sie war jung, noch nicht einmal volljährig und begab sich vermutlich in törichte Gefahr, wenn sie alleine reiste.
Aivari dachte immer noch über ihre Geschichte nach, die ihn sehr betroffen gemacht hatte als sie ihm früher am Tag davon erzählt hatte.


»Es gibt nicht vieles, an das ich mich aus dieser Zeit erinnere. Angst, Rat- und Hilflosigkeit. Kummer, Zorn, viele Tränen der Verzweiflung. Und immer die Fratzen großer, dunkler Gestalten in rote und schwarze Stoffe gekleidet. Sie lachten und kannten kein Mitleid, auch nicht mit einem kleinen Kind.«


Aivari war zufrieden, dass die Entscheidung, die er und Inari spätestens treffen mussten, sobald sie in das Land Rhûn kamen, noch einige Tage aufgeschoben war; und er überließ es Kazimir, die Geschwindigkeit zu bestimmen mit der sie ritten, denn er hatte nicht den Wunsch, den Gefahren so bald entgegenzueilen, die ohne Zweifel vor ihnen lagen, welchen Kurs sie zuletzt auch immer einschlagen würden.


»Entrissen aus der Heimat, von Menschen, die ich liebte und die mich liebten. Aus Geborgenheit und Freiheit wurden Einsamkeit und Tyrannei. Gefangenschaft, Unterdrückung, Sklaverei. Meine ersten zusammenhängenden Erinnerungen an diese Zeit handeln von dem beschwerlichen Leben in kleinen Lagern mit anderen Knechten und Leibeigenen. Das Wort Sklave wurde immer vermieden, obwohl man uns stets wie solche behandelte. Von meiner Kindheit gibt es nicht viel mehr zu berichten als Trostlosigkeit und das Streben nach dem eigenen Überleben. So schwer diese Zeit auch war, sie hat mich geprägt und gestärkt.«


An keinem Tag seitdem Aivari und Kazimir auf die Ostlinge der Schwarzen Rose und Inari getroffen waren, hatten sie irgendeine Spur von Feinden gesehen. Die eintönigen grauen Stunden vergingen ereignislos. Das hügelige, teils felsige Land wechselte sich mit trockenem, nur noch sehr spärlich begrastem Land ab. Bäume waren bis zum Horizont keine mehr zu erkennen.


»Als ich alt genug war ein Schwert zu halten ohne unter der Last in die Knie zu gehen, wurde ich wie viele andere Leibeigene in die Kriegspflicht berufen und einem Sklavenhalter namens Aulis verkauft, der selbst General in der königlichen Armee war. Auch Leute aus deinem Volk sind zu dieser Zeit meiner Klinge zum Opfer gefallen, doch stets hätte die Fahnenflucht und Verweigerung der Kriegspflicht den Tod für mich bedeutet und viele Gleichgesinnte, die ich kannte, fanden so ihr Ende.«


Es gab kein Zeichen von irgendwelchen Lebewesen, die sich bewegten, ausgenommen Vögel. Deren gab es einige am Himmel. Sie zogen ihre Kreise und gierten nach Aas oder geschwächten kleineren Tieren. Ein- oder zweimal hörten die drei das Rauschen und Schlagen von Adlerflügeln, und als sie aufschauten, sahen sie die weit aufgespannten Schwingen eines prächtigen Tieres, das über den Himmel zog. Kazimir erklärte, dass die Adler, die in den Bergen von Gorak lebten, zu den prachtvollsten Tieren zählten, die er kannte. Und das es nicht mehr weit war bis sie die Gebirgszüge erreichen würden und damit auch das Königreich Rhûn.


»Bei einem Feldzug gegen das Königreich am Erebor, östlich des finsteren Elbenwaldes, entehrte mein Besitzer Aulis unseren Kommandanten. Der Narr betrank sich eines Nachts im Heerlager und verspottete den ohnehin dünnhäutigen Mann. Es kam zu einer Rangelei mit den Leibwachen und einem unglücklich geschwungenen Messer.
Noch in der selben Nacht setzte man ihn in der Wildnis aus. Ich sah mich näher an meiner Freiheit als je zuvor, doch das Sklavenrecht wird hoch gehalten unter Rhûnmenschen und so musste ich ihm in Ketten in die Verbannung folgen. Er war schon immer eine Bestie gewesen ohne jeden Wert für das Leben seines Gefolges. Doch seine eigene Dummheit und die Konsequenzen, die er nun zu tragen hatte, ließ er die folgenden Tage an mir aus.
Doch ohnehin hätten wir beide rasch unseren Tod in der Wildnis gefunden, wenn nicht Orks der siegreichen Truppen am Erebor auf dem Weg zur Verstärkung Dol Guldurs uns verloren in der Einöde aufgegriffen und uns als Sklaven in die dunkle Feste gebracht hätten. Es war ein bittersüßer Moment für mich, denn Aulis' Fall war ein tiefer gewesen. Vom hohen General in der Armee zum geringsten Sklaven, von Orks ausgepeitscht. Dort wurden wir gezwungen bei der Befestigung zu helfen, bis sie uns vor der Schlacht in die Kerker sperrten. Und so traf ich auf dich oder du auf mich. Das werden wir wohl nie endgültig klären können.«
Sie hatte zum Schluss aufgelacht und Aivari hatte sie deshalb in Ruhe gelassen, denn ihre Stimme hatte sich bis zu diesem Punkt stetig verfinstert.


Am nächsten Tag begann sich die Landschaft rasch zu verändern. Die flache Ebene stieg an und wurde steinig. Bald kamen sie durch ein felsiges Land und steile Hänge thronten vor ihnen. Abbröckelnde Felsklippen aus grauem, verwittertem Gestein, mit dunklen Gewächsen überzogen. Und hinter diesen erhoben sich hohe Bergkämme gespickt von übergrünen Tannen. Der Anblick war nach Tagen des Flachlandes imposant, wenngleich das Gebirge nicht mit den Nebelbergen oder auch nur dem Einsamen Berge zu vergleichen war.

»Die Berge von Gorak«, sagte Kazimir, als sie in Sichtweite kamen. »Spätestens hier betreten wir die bewohnteren Lande Rhûns und viel weiter kann ich euch nicht begleiten.«
Sie brachten die Pferde zum Stehen und Aivari und Inari bedankten sich erneut bei dem Ostling.

»Möge dein Weg nach Rohan oder Gondor, wohin immer es dich ziehen mag, von weniger Gefahr sein als deine vorherige Reise. Unser Dank ist dir gewiss und sollten sich unsere Wege noch einmal kreuzen, werde ich mich nach zwergischer Tradition erkenntlicher zeigen, als es mir jetzt möglich ist.«
»Ich freue mich auf den Tag, Aivari. Doch gebt Acht. Je weiter ihr das Königreich des Thronräubers betretet, desto gefährlicher wird es für euch. Fremde sind hier nicht mehr willkommen. Reitet rasch und ohne lange Rast. Lebt wohl.«

So trennten sich ihre Wege erneut und Aivari war dankbar, dass er in der Ödnis der Braunen Lande auf den zerborstenen Karren gestoßen war und dem Ostling helfen konnte. Wer wusste schon wie lange er ohne seine Hilfe für diesen Weg gebraucht hätte und ob es jemals zu einem Wiedersehen mit Inari gekommen wäre.

»Du hast mir immer noch nicht erzählt, wo du nun hinzureiten gedenkst«, stellte Aivari fest, nachdem Inari das graue Pferd wieder in Bewegung gesetzt hatte.

»Ich habe jetzt die Freiheit zu ergründen wo ich herstamme und was man mir genommen hat. Und warum«, erwiderte Inari mit stolzer Stimme und so entschlossen hatte Aivari das junge Mädchen seit sie sich begegnet waren noch nicht erlebt.
Sie wirkte plötzlich um einige Jahre gereift und auch einen Moment nicht mehr so zerbrechlich wie er sie seit ihrer Begegnung in Dol Guldur empfunden hatte.
»Und dazu muss ich zurück nach Gortharia, der Königsstadt am Meer von Rhûn, wo ich lange Jahre meines Lebens in Armut und Knechtschaft verbracht habe. Ich muss jemanden finden, der mir als Sklave stets zu fern war, doch mit deiner Hilfe komme ich vielleicht an ihn heran. Ich weiß jedoch nicht genau, ob er sich gerade in der Stadt befindet. Ein guter Ausgangspunkt sollte sie dennoch sein. In Rhûn gelten unsere Leben aber nicht viel und wir setzen uns großer Gefahr aus.«

»Ich bin dir gefolgt, um dir behilflich zu sein und zwar so weit du meinen Beistand brauchen solltest. Keinem von uns ist ein Eid auferlegt worden, dem anderen beizustehen. Der Abschied von meinem Volk im Lager vor Dol Guldur war bitterer als ich es mir nach den Taten im Kerker der Feste erhofft hatte. Und mich drängt es auch nicht gerade in die vom dunklen Herrscher befallenen Menschenlande im Osten zu gehen. Doch es wäre treulos dir gegenüber. Ich bin bis hierher mitgekommen, und ich sage dir jetzt Folgendes: Nun, da wir vor dieser letzten Entscheidung stehen, ist es mir klarer als je zuvor, dass ich dich nicht verlassen kann.«

Inari wandte sich auf dem Pferd herum und schenkte dem Zwerg eine feste Umarmung.
»Danke«, hörte er sie schluchzen und er spürte ihre Freudentränen an seiner Wange,a ls sie ihr Gesicht gegen das seine drückte. Aivari lachte vor Frohsinn aus seinem Bart und schon bald setzten sie ihren Weg voller Tatendrang fort, weiter gen Osten, wo Inari die Stadt Gortharia von hier aus vermutete.

Die inzwischen achte Nacht ihrer Reise brach an. Es war still und windlos; noch hatten sie das Gebirge von Gorak zu ihrer linken Flanke, der Ostwind hatte sich gelegt. Der schmale Mond war früh im fahlen Sonnenuntergang verschwunden, aber hoch oben war der Himmel klar, und obwohl im Westen der Gebirsgkette große Wolken gestanden hatten, die noch schwach schimmerten, blinkten im Osten helle Sterne.
Aivari lag noch wach da, Inari war so entkräftet gewesen, dass sie an diesem Abend rasch eingeschlafen war.

In diesem Augenblick war ein Surren von Bogensehnen zu hören. Mehrere Pfeile schwirrten über Aivari hinweg, und einige fielen zwischen ihn und Inari, die nur etwa zwei Fuß entfernt lag. Durch ein glückliches Geschick traf keiner der Pfeile sein Ziel.
Aivari sprang auf, rüttelte Inari wach und rief ihren Namen. Sie kam zum Glück schnell zu Sinnen und erkannte hastig aufspringend die Gefahr, in der sie sich befanden. Sie rannte zu dem grauen Ross, das ein Stück neben ihnen geschlafen hatte. Kurz bevor sie es erreichte traf ein Pfeil es in den Rücken und laut wiehernd riss es sich von der provisorischen Anlegestelle los und preschte in die Dunkelheit davon.

Ein weiterer Pfeil traf Inari zwischen den Schultern, und sie taumelte mit einem Schrei nach vorn. Der Pfeil prallte an ihrem rohirrischen Panzerhemd ab, doch die Wucht des Aufschlags bereitete ihr dennoch einen stechenden Schmerz. Ein anderer durchbohrte Aivaris Kapuze; und ein Dritter stak im Boden direkt neben ihm.
Der Zwerg glaubte schwarze Gestalten zu sehen, die auf sie zukamen. Sie schienen schon sehr nahe zu sein...

Eandril:
Der Südrand der Berge von Gorak war zerklüftet und fiel in steilen Felsklippen zur Ebene im Süden ab. Milvas Weg führte sie durch dunkle Tannenwälder immer weiter hinab, denn zuvor hatte der schmale Pfad sich weit an einem Berghang hinauf gewunden. Dabei hatte sie eine einigermaßen belebte Straße überqueren müssen, die von einem Minendorf nach Osten ins Herz des Fürstentum führte, doch zu ihrem Glück begegnete sie keinen Soldaten.

Als der Pfad schließlich unter den Bäumen hervortrat und auf die Ebene hinausführte, zügelte Milva ihr Pferd, denn vor ihr auf der Ebene waren drei sehr unterschiedliche Gestalten auf Pferden zu sehen. Eines war offensichtlich ein ganz normaler Mann, der gerade zu den beiden anderen sprach, doch die beiden anderen waren deutlich interessanter. Milva saß ab und schlang die Zügel um einen niedrigen Ast. Dann ging sie leise ein paar Schritte weiter, immer im Schatten der Bäume. Bevor sie nicht wusste, wen sie vor sich hatte, würde sie sich auf gar keinen Fall zu erkennen geben.
Die beiden anderen Gestalten waren deutlich kleiner als der Mann, wobei die eine menschliche Proportionen hatte und die andere gedrungen wirkte, wie ein... Zwerg.
"Hm", machte Milva nachdenklich. Natürlich war sie bereits Zwergen begegnet, denn die Eisenberge waren nicht allzu weit von ihrer Heimat entfernt und auf dem großen Markt waren oft zwergische Händler von dort oder vom Erebor weiter im Westen gewesen. Aber dennoch... was trieb ein einzelner Zwerg so weit im Süden? Die dritte Person war zwar nicht viel größer als der Zwerg, wirkte aber eindeutig menschlich.

Während Milva noch in Gedanken versunken war, wendete der größere der Menschen sein Pferd und ritt nach Westen davon, während der Zwerg und sein Begleiter - oder seine Begleiterin, denn als sie ihr Pferd wendete erkannte Milva die eher weiblichen Proportionen der Gestalt - ihren Weg nach Osten fortsetzten.
"Na, es kann nicht schaden ihnen zu folgen", sagte sie leise vor sich hin. "Vielleicht Flüchtlinge, oder aber..." In jedem Fall musste Milva ebenfalls nach Osten, und bevor sie sich der Absichten der beiden nicht sicher war, wäre es besser vorsichtig zu sein. Sie ging zu ihrer Braunen zurück, saß auf und ließ sie langsam aus dem Wald hinaus auf die Ebene traben.
"Schön Abstand halten, dann kann nichts passieren." Sie hatte schon oft königliche Soldaten verfolgt, aber dass war in ihrer Heimat, wo sie jeden Stein und jeden Strauch gekannt hatte, gewesen. Hier war Milva sich längst nicht so sicher, doch zu ihrem Glück war die Ebene im Osten weder vollkommen flach noch kahl. Solange sie also keinen Verdacht erregte, würden der Zwerg und seine Begleiterin also nicht bemerken, dass ihnen jemand folgte.

Den ganzen Tag folgte Milva den anderen ohne einen Zwischenfall, und als die Nacht hereinbrach ritt sie langsam weiter, bis sie vor sich den schwachen Schein eines Lagerfeuers in der Dunkelheit erkannte. Sie saß ab, und band ihr Pferd mit den Zügeln an einer Kiefer fest. Sie klopfte dem Pferd den Hals, und sagte: "Irgendwann sollte ich dir einen Namen geben, hm?" Die Stute schnaubte leise, und Milva kraulte die Blesse auf ihrer Stirn. "Aber nicht jetzt, denn mir fällt nichts gutes ein. Du musst dich wohl oder übel gedulden."

Bevor sie sich zum Schlafen im Gras ausstreckte, verzehrte sie den letzten Rest des gebratenen Rehs. Inzwischen hatte des Fleisch einen strengen Geschmack angenommen, war aber noch essbar, und obwohl Milva das Gesicht verzog war sie durchaus daran gewöhnt. In ihrer Heimat hatte sie auch nicht jeden Tag wildern können, denn die Gefahr erwischt zu werden war viel zu hoch gewesen.
Sie hatte sich gerade auf dem Rücken ausgestreckt, den Bogen zur Sicherheit neben sich liegend, und die Augen geschlossen, als sie das schmerzerfüllte Wiehern eines Pferdes hörte, und gleich darauf Hufschlag, der sich von Osten näherte.
Binnen eines Herzschlages war Milva auf den Beinen, ihren Bogen in der Hand - doch sie hatte noch keinen Pfeil auf die Sehne gelegt, und lauschte gespannt. Während das einzelne Pferd immer näher kam, waren vom Lagerplatz der anderen gedämpfte Rufe, und dann schnelle Fußtritte und das unverkennbare Schwirren von Bogensehnen zu hören.
"Verflucht", stieß Milva zwischen den Zähnen hervor, und lief los. Sie wusste nicht, wer dort wen angriff, und warum. Aber sie handelte aus den gleichen Gründen, aus denen sie einen verwundeten Flüchtling unter Gefahren zur Herrin gebracht hatte, und warum sie nun hier war: Sie konnte helfen.

Schon nach kurzem Lauf sah sie im schwachen Licht der Sterne und des Mondes den Zwerg und seine Begleiterin nach Norden, auf die Berge zu rennen, während mehrere schattenhafte Gestalten sie verfolgten und immer wieder Pfeile auf sie abschossen. Noch  im Laufen zog Milva den ersten Pfeil aus ihrem Köcher, legte an, spannte die Sehne und schoss. Der Pfeil flog in die Dunkelheit davon, schien aber nichts zu treffen. Also blieb sie stehen, und legte erneut an. Diesmal zielte Milva etwas sorgfältiger und ruhiger, und dieses Mal traf der Pfeil einen der Verfolger direkt in den Rücken.
Die Gestalt fiel in vollem Lauf, und einer ihrer Gefährten konnte nicht ausweichen und stolperte ebenfalls. Im nächsten Moment ragte einer von Milvas Pfeilen aus seinem Nacken, doch während der erste noch lautlos gestorben war, hatte dieser noch Zeit einen gurgelnden Schmerzensschrei aus zu stoßen.
Von dem Schrei ihres Kameraden alarmiert blieben auch die anderen Verfolger stehen und fuhren zu Milva herum.
Ich stehe hier wie eine Zielscheibe, hatte sie gerade noch Zeit zu denken, bevor sie den nächsten Pfeil fliegen ließ. Und noch einen. Und noch einen. Bei jedem Schuss fluchte Milva leise vor sich hin, und zwar über sich selbst.

Ein Mann ging zu Boden, und dann ein weiterer, doch noch immer standen vier weitere die sich jetzt von ihrem Schock erholt hatten, und begannen zurück zu schießen. Ein Pfeil schlug direkt vor Milva in den Boden, und ein weiterer pfiff direkt an ihrem linken Ohr vorbei, doch sie hatte keine Wahl als weiter zu schießen. Weglaufen wäre in diesem offenen Gelände ihr Tod gewesen. Sie verfehlte den nächsten Gegner um Haaresbreite, und dennoch ging er mit einem Schmerzensschrei zu Boden. Offenbar hatten die Verfolgten die Gunst der Stunde genutzt und waren ihren Angreifern in den Rücken gefallen.

Eru:
»Lauf!«
Aivaris angeraute Stimme schallte durch die Nacht. Inari, die gerade noch ihre beste Fluchtmöglichkeit in die Dunkelheit davonreiten sah, bejahte den Ausruf des Zwerges und sprintete an seiner Seite auf die in der Entfernung nur schwer zu deutenden Berghänge zu, die vielleicht eine halbe Meile entfernt waren. Hier auf offenem Feld ohne eine Fernkampfwaffe waren sie leichte Ziele.

Der Wind schien wieder aufzufrischen oder die kalte Luft war nun spürbarer. Raschelnd rieben die Gräser beim Lauf aneinander und übertönten das leise Sirren, mit dem sich die Pfeile üblicherweise ankündigten. Doch nachdem ein oder zwei Pfeile noch hinter ihnen im Boden eingeschlagen waren, war plötzlich ein Schmerzensschrei zu vernehmen, der aus dem Halbdunkel hinter ihnen kam. Die beiden Flüchtenden hielten einen Moment inne und spähten in die andere Richtung. Die Augen hatten sich allmählich wieder an die Dunkelheit gewöhnt und es folgten weitere Rufe aus der Ferne. Pfeile surrten durch die Luft, Sehnen schwirrten und Flüche wurden ausgestoßen. Offenbar wurden nun ihre Angreifer überfallen.

Damit änderte sich auch der Plan Inaris und Aivaris, denn ihre beste Aussicht war nun ihre Feinde in den Nahkampf zu verwickeln.
»Hier nimm. Das ist unsere beste Möglichkeit«, sagte Aivari zu der neben ihm stehenden jungen Frau, die ihn um etwa einen Kopf überragte. Daraufhin reichte er ihr den Griff seines schwarzen Schwertes, das er noch immer in Leinen gewickelt auf dem Rücken getragen hatte.
Sie nahm es mit einem Nicken an, während er seine Kriegsbeile vom Gürtel löste und in die Richtung zurück lief, in der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten.

Schon nach einigen Schritten sahen sie einen dunkelhäutigen Mann auf dem Boden liegen, heftig hustend. Er spuckte und ein dicker, langer Faden Blut blieb ihm im Barte hängen. Sie ignorierten den tödlich verletzten Ostling, denn unweit erkannten sie weitere ihrer Verfolger stehen, die jedoch von ihnen abgewandt waren und ihre Geschosse in eine andere Richtung schossen.
Diesmal hörte er das Schwirren der Sehnen noch lauter und sah einen Pfeil durch die Dunkelheit fliegen. Steil nach oben stieg er empor, verlangsamte den Flug und fiel in gekrümmter Bahn herab. Aivari rührte sich nicht. Der Pfeil trat fast senkrecht in einen Ostling ein, der nur noch zwei Schritt von ihm entfernt stand. Fast sofort steckte daneben im gleichen Winkel schon ein zweiter, der sein Ziel aber verfehlte.
Rasch liefen das Mädchen und der Zwerg auf die restlichen Männer zu und bevor der am nächsten stehende Mann reagieren konnte, steckte ihm bereits Azanuls Klinge in der Brust. Röchelnd ging er zu Boden.
Ein Schwirren und ein trockener Aufschlag. Der nächste Ostling sank von einem Pfeil getroffen in die Knie. Der Schaft mit Adlerfedern ragte aus seinem Kopf.

Aivari schaute in die Richtung, die der gefiederte Schaft anzeigte und er wusste, woher der Schuss gekommen war. An die fünfzig Schritte entfernt stand auf offener Fläche schwer zu erkennen eine Gestalt. Sie beschoss die Ostlinge unnachgiebig mit ihrem Bogen.
Keine Zeit einzuhalten, streckte Aivari den letzten Ostling in der Nähe mit einem gezielten Wurf seines Beils in den Hals nieder, während Inari gerade die blutbeschmierte Klinge Azanuls aus einem zu Boden gegangenen Mann zu seiner Linken zog.

Die Dunkelheit war so dicht wie das Schlehengestrüpp, das sie an den Berghängen entdeckt hatten. Der Zwerg sah nun niemanden mehr in der Nähe.
Langsam löste er deshalb die Gürtelschnalle, hielt beide Beile weit von sich und warf sie weg. Dann hob er beide Hände, sehr langsam, sich in der Finsternis umschauend und bedeutete Inari das selbe zu tun. Sie ließ Azanul mit einem dumpfen, metallenen Geräusch in das fußhohe Gras fallen.
Die Gestalt ging langsam auf sie zu und bald konnte man sie im fahlen Sternenlicht genauer erkennen.
Es handelte sich um eine junge Frau, etwa von Inaris Größe und Statur.
Ihr honigblondes Haar wurde an der Stirn von einem Band zusammengehalten.
Sie hielt den Bogen in der Hand, jedoch keinen Pfeil auf der Sehne, weshalb Aivari und Inari ihre Arme wieder senkten.
Die Bewegungen der Fremden zeugten von Geschick und obwohl dort ein Gewirr von trockenen Zweigen lag, hörte man keinen einzigen unter ihren Füßen zerbrechen.

»Habt Dank für eure Hilfe!«, rief Aivari ihr entgegen. »Wir hegen keine dunklen Absichten in eurem Land. Wir sind auf der Durchreise in die Königsstadt.«

»Das habe ich mir gedacht.« Die Bogenschützin beugte sich vor, drehte die vor ihr liegende Leiche auf den Rücken - nachdem sie ihr den Pfeil aus dem Nacken gezogen hatte - und schreckte zurück, als sie im fahlen Mondlicht die Rüstung der königlichen Soldaten von Gortharia erkannte. »Na großartig«, stöhnte sie, und wandte sich wieder an Aivari. »Wie es aussieht, haben wir die selben Feinde, also... Ich bin ebenfalls nach Gortharia unterwegs, und vielleicht können wir einander helfen.«

Der Zwerg wechselte einen raschen Blick mit Inari, die mit den Schultern zuckte, jedoch nicht beunruhigt schien.
»Wir könnten Eure Hilfe gebrauchen«, meinte sie dann halb zu Aivari, halb zu der fremden Frau. »Es ist einige Zeit her seit ich zuletzt in Gortharia war und aus dieser Richtung habe ich mich der Stadt noch nie genähert.«
»Diese Menschen«, warf Aivari ein. »Waren Anhänger von diesem Goran nehme ich an?«
Inari und die fremde Frau nickten zugleich. Die Kleidung der gefallenen Ostlinge erinnerte fern an die Kluft der normalen Soldaten, welche die Leute der Schwarzen Rose östlich des Düsterwaldes getragen hatten. Doch sie waren verzierter, prunkvoller.
»Mein Feind ist jedoch jeder Mensch, der es zulässt, das ein anderer ihm in Ketten dient«, fügte Inari noch hinzu. »Das macht mich zu einer Feindin Gorans aber auch anderer Ostlinge. Wenn das für euch kein Problem darstellt, können wir unseren Weg gerne gemeinsam fortsetzen.«
Inari wirkte auf den Zwerg mit jedem Tag, den sie weiter nach Osten vorstießen bitterer, obwohl sie ihrem Ziel näher kamen. Trotzdem schien die neue oder alte Umgebung sie in eine noch stärkere Abwehrhaltung zurückzuwerfen.
»Interessante Einstellung«, erwiderte die andere. »Damit werdet ihr euch in Rhûn sicherlich viele Freunde machen, aber ich habe damit kein Problem.« Sie schien die beiden aufmerksam zu mustern, und ihr Blick blieb für einen Augenblick an Inaris rohirrischer Rüstung hängen. »Jedenfalls seht ihr ganz eindeutig nach jemandem aus, der nicht in diese Gegend gehört, also sollte ihr euch vielleicht unauffälligere Kleidung besorgen bevor wir Gortharia erreichen.«

Aivari bemerkte unversehens zwei Pferde ganz in der Nähe. Offenbar hatte sich Radko, der graue Hengst, den sie von Milan dem Ostling bekommen hatten, zu einem Artgenossen gerettet. Der Pfeil, der es in den Rücken getroffen hatte, war abgebrochen, steckte aber noch im Fleisch. Sie näherten sich den Tieren, denn das zweite Pferd gehörte offenkundig der Fremden.
Mit ruhiger Hand strich Aivari über die Nüstern des Tieres und beruhigte es, während Inari den abgebrochenen Pfeil aus dem Tier zog. Nicht jedoch ohne ein kräftiges Aufbäumen und schmerzliches Wiehern des Pferdes. Aivari holte ein paar heilsame Kräuter aus seiner Tasche am Gürtel, zerrieb sie zwischen den Fingern und trug sie behutsam auf die Wunde auf, die sie mit einem der Leinentücher verbanden, die sie von Kazimir bekommen hatten. So sattelten sie alle auf, Aivari hinter Inari auf Radko.
»Mein Name ist im Übrigen Aivari und das ist Inari...«
Das Mädchen schenkte der Fremden ein knappes Lächeln, während die Pferde sich in Bewegung setzten.
»Die Ähnlichkeit ist reiner Zufall.«, fügte der Zwerg mit einem kurzen Lachen hinzu. Er wollte noch einen Spruch über die wahrscheinliche Einvernehmlichkeit ihrer Eltern äußern, doch ließ es dann lieber sein. Er wusste nicht ob Inari den Namen schon trug als sie als Kind nach Rhûn gebracht worden war oder sie den Namen erst als Sklavin bekommen hatte. Und verärgern wollte er sie nun wirklich nicht. So erntete er nur ein verschmitztes Kichern des Mädchens.
»Man nennt mich Milva«, erwiderte die Bogenschützin, blickte dabei stur gerade aus in die Nacht, und ließ keinerlei Emotionen erkennen. Ihr Tonfall sagte eindeutig, dass sie jetzt nicht weitersprechen wollte, und so verließen sie den Schauplatz des Überfalls in einvernehmlichem Schweigen.

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