Narissa, Aerien, Aragorn, Gandalf, Amrothos und Irwyne aus EdorasImmer weiter führte der Weg nach Süden durch das Hargtal ins Gebirge hinauf. Zunächst war das Tal breit, mit sanften Hängen, und von vielen Gehöften gesäumt. Von einigen Höfen stieg Rauch auf, und diese wirkten, als wären sie vor nicht allzu langer Zeit erst gebaut worden, während die übrigen verlassene Ruinen waren.
"Das Volk Rohans kehrt allmählich zurück", erklärte Gandalf.
"Aber längst nicht alle", bemerkte Narissa, mit einem Blick auf die deutlich zahlreicheren Ruinen. Gerade führte der Weg an einem großen Haus vorüber, dessen Dach vollkommen verschwunden war. Die Balken der Wände ragten wie abgebrochene Zähne in den kalten Winterhimmel.
Irwyne, die mit einem Mal blass war und unbehaglich wirkte, sagte: "Es sind viele getötet worden, als Mordor kam. Und manch einer möchte vielleicht nicht an den Ort zurückkehren, an dem er Familie verloren hat." Sie blickte zu Boden, und fügte leiser hinzu: "Ich kann das gut verstehen."
Narissa warf ihr einen Blick zu. "Was ist passiert?", fragte sie sanft. "Ich meine - natürlich nur, wenn du darüber sprechen möchtest."
Irwyne lächelte schwach. "Schon gut. Es ist jetzt zwei Jahre her, also... Als Mordor Rohan besetzt hatte, wurden meine Eltern von Orks getötet, gar nicht weit von hier. Ich habe nur überlebt, weil Amrûn mich gerettet hat."
"Amrûn klingt nicht wie jemand aus Rohan", warf Aerien, die an Narissas rechter Seite ritt, ein, und Irwyne schüttelte den Kopf. "Nein, Amrûn ist - war ein Elb. Er ist in Lórien gefallen, als Saruman angegriffen hat."
"Das tut mir leid, ich... ich weiß wie das ist", sagte Narissa.
Irwyne richtete sich ein wenig im Sattel auf, und setzte ein tapferes Lächeln auf. "Aber ich habe neue Freunde gefunden - und Familie. Und jetzt ist Gandalf hier, also wird Mordor Gondor bestimmt nicht erobern. Als er nach Rohan gekommen ist, sind die Orks auch vertrieben worden."
Narissa erwiderte nichts. Sie hoffte nur, dass Aragorn und Gandalf genug sein würden, um Gondor zu helfen...
Der Weg führte immer weiter das Tal hinauf, durch ein wieder bewohntes Dorf, das Gandalf
Unterharg nannte, dann durch ein Wäldchen einen steileren Hang wie eine Schwelle hinaufführte. Oben hatte es offenbar vor kurzem kräftig geschneit, und in der aufkommenden Dämmerung hätte Narissa die Ruinen eines Dorfes an der Westseite des Tales unter der dicken Schneedecke übersehen.
"Hierher ist offenbar noch niemand zurückgekehrt", sagte sie, und stellte überrascht fest, dass ihr Atem kleine Wölkchen vor dem Mund bildete. Tatsächlich war es hier oben deutlich kälter als noch in Edoras.
Gandalf warf einen langen Blick in Richtung der Ruinen, und sagte dann geheimnisvoll: "Einige schon. Für eine kurze Zeit."
Narissa warf Irwyne einen fragenden Blick zu, doch diese zuckte nur mit den Schultern und meinte: "Gandalf spricht gern in Rätseln, das weiß jeder, der ihm begegnet ist."
"Ich spreche nicht in Rätseln, meine Liebe", erwiderte Gandalf, der den kurzen Austausch mitbekommen hatte. "Ich spiele lediglich auf Ereignisse an, die mit euch beinahe nichts zu tun haben." Sein Blick streifte Irwyne, und er fügte hinzu: "Fast nichts jedenfalls."
Irwynes Mund bildete ein stummes
Oh, bevor sie sagte: "Das ist Hochborn, oder? Dann haben Oronêl und Kerry hier Kerrys Vater getroffen, das hat Oronêl mir erzählt." Beide Namen kamen Narissa bekannt vor - Kerry war das Mädchen, dass Helluin suchen wollte, und Oronêl war oft in Irwynes recht verworrenen Erzählungen vorgekommen, doch sie fragte nicht weiter nach. Stattdessen betrachtete sie Umgebung, die unter einer dicken Schneeschicht verborgen lag. Unten am Fuß des Gebirges hatte der Schnee höchstens als feine Schicht auf den Dächern gelegen, doch hier mussten sich die Pferde geradezu eine Spur hindurch bahnen. Sie schätzte, dass der Schnee hier beinahe einen ganzen Fuß hoch lag.
"Ich wusste gar nicht, dass so viel Schnee liegen kann", sagte sie leise zu Aerien, die den Kopf schüttelte. "Ich hatte davon gehört, aber gesehen... du weißt ja, in - da wo ich herkomme, fällt kein Schnee."
"Es gefällt mir ganz gut", meinte Narissa. "Die Landschaft sieht dadurch so unberührt aus. Irgendwie unschuldig und friedlich. Wenn es dabei nur nicht so kalt sein müsste." Sie schauderte unwillkürlich. In Aldburg hatten sie wärmere Kleidung bekommen, was auch dringend notwendig gewesen war, doch selbst durch den pelzbesetzten Mantel begann Narissa die Kälte zu spüren. Wenigstens schienen Gandalf und Irwyne genug davon zu haben, die Ruinen anzustarren, und setzten sich wieder in Bewegung, weiter das Tal hinauf.
Die Sonne war beinahe vollkommen hinter den westlichen Bergspitzen verschwunden, als sie das Ende des Hargtals erreichten. Die steilen Berghänge traten hier eng zusammen, und nach Süden hin versperrte ihnen ein beinahe senkrechter Hang den Weg.
"Und jetzt?", fragte Narissa, als sie ihr Pferd gezügelt hatte. "Ich dachte, hier führt ein Weg weiter nach Gondor, aber das sieht wie eine Sackgasse aus." Sie sah sich im schwindenden Licht um, konnte aber keinen Pfad entdecken.
"Das ist unser Weg", sagte Aragorn unter seiner Kapuze hervor, und deutete auf die Felswand vor ihnen. "Ein gewundener Pfad führt dort hinauf nach Dunharg. Doch es ist kein Weg, den man im Dunkeln und im Schnee nehmen sollte. Wir werden bis zum Morgengrauen rasten."
Während die anderen das Lager bereiteten, bemerkte Narissa, dass Aerien allein auf einem einzelnen Felsblock saß und nach Norden das Tal hinunter blickte. Narissa setzte sich leise neben sie, und stieß sie sanft mit dem Finger an.
"He. Ist alles in Ordnung?"
"Ja. Nein. Ich weiß nicht recht." Aerien seufzte tief, wehrte sich aber nicht dagegen, dass Narissa ihre Hand ergriff. "Die ganze Zeit habe ich das Gefühl, mich an irgendetwas wichtiges nicht erinnern zu können."
Narissa erwiderte nichts, doch sie spürte ihr Herz schneller schlagen. Früher oder später würde vermutlich ohnehin herauskommen, was in Durthang geschehen war, doch sie konnte es nicht über sich bringen, etwas zu sagen. Zumindest nicht jetzt. Stattdessen strich sie einfach stumm mit dem Daumen über Aeriens Handrücken, bis diese tief durchatmete und sagte: "In letzter Zeit... hatte ich beinahe vergessen, wie schön es in dieser Welt sein kann."
Narissa folgte ihrem Blick das Tal hinunter. Die letzten Sonnenstrahlen ließen die schneebedeckten Bergspitzen rötlich erstrahlen, während das Tal bereits in tiefem Schatten lag. Dennoch war es nicht vollständig dunkel, wenn die weiße Schneedecke schien geradezu von selbst zu leuchten. "Mhm. Wenn es dabei nur nicht so eisig wäre."
"Wäre es wärmer, würde der Schnee schmelzen", erwiderte Aerien. "Aber du musst dich nicht daran gewöhnen, ich glaube, in Gondor wird es wärmer sein. Vor allem an der Küste, in Dol Amroth."
"Ich kann es kaum erwarten."
Der Morgen zog gerade erst klar und kalt herauf, als sie schon wieder aufbrachen. Im ersten Tageslicht erkannte Narissa nun auch den gewundenen Weg, der den Hang hinaufführte, und dem sie nun folgten. An jeder Kehre des Weges standen grob gemeißelte, bedrohlich wirkende Steinstatuen. "Die Puckelmänner nennt man sie", erklärte Irwyne. "Niemand weiß genau, wer sie gemacht hat und warum, doch sie stehen hier schon seit die Rohirrim nach Rohan gekommen sind."
Als sie schließlich oben ankamen, hatte sich die Sonne über die östlichen Berge geschoben, und Narissa genoss die Strahlen auf ihrem Gesicht, auch wenn sie kaum wärmten. Sie hätte sich trotz der Kälte gerne ein wenig umgesehen, doch Aragorn und Gandalf schienen es eilig zu haben, und ritten bereits ohne anzuhalten weiter, direkt auf den drohenden, massigen Berg zu, der ihnen nach Süden im Weg stand. Am südlichen Rand der Hochebene führte zwischen Reihen stehender Steine ein schmaler Pfad weiter, auf dem sie nur hintereinander reiten konnten.
Sie kamen zwischen Geröllfeldern auf beiden Seiten des Pfades hindurch, und schließlich, als der gewaltige Berg direkt vor ihnen aufragte, durch einen kleinen Wald dunkler Bäume, an dessen Ende sich eine schmale Höhlung in der Felswand öffnete.
"Die Pfade der Toten", sagte Amrothos, der bereits abgesessen war. "Zumindest sind sie das früher gewesen. Die Toten sind fort, aber ein besonders angenehmer Weg ist es trotzdem nicht."
"Und doch der sicherste und kürzeste Weg zwischen Gondor und Rohan", erwiderte Gandalf, der einen weißen Kristall an die Spitze seines Stabes gesetzt hatte. Er sagte leise ein unverständliches Wort, und der Kristall leuchtete auf und verbreitete ein weißes Licht.
Aragorn hatte gerade eine Fackel entzündet, und fügte hinzu: "Wenn man nicht den weiten Weg über das Kap von Andrast auf sich nehmen möchte - und dazu fehlt uns die Zeit."
Gandalf setzte sich an die Spitze. "Folgt mir. Die Toten mögen fort sein, doch der Weg ist dunkel und gefahrvoll, wenn man den Pfad nicht kennt."
In dem Tunnel, der sich lang hinzog und viele Biegungen machte, war die Luft stickig und trocken, und Narissa fühlte sich eingeengt und gefangen. Irgendwann verlor sie das Zeitgefühl, und sie hätte nicht sagen können, ob sie erst seit einigen Augenblicken in den Tunneln unterwegs waren, oder schon seit Tagen. Sie blickte stur geradeaus auf Aeriens Rücken, den sie im schwachen Licht der Fackel und von Gandalfs Stab geradeso erkennen konnte, und die Wärme ihres Pferdes neben ihr versicherte ihr, dass sie nicht alle längst gestorben waren.
Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit die sie stumm im Dunkeln marschiert waren, verbreiterte sich der Gang, und von vorne fiel ein kaltes Licht hinein. Schon im nächsten Augenblick stolperte sie hinter Aerien hinaus ins Licht des Tages.
Die Sonne war, seit sie die Pfade der Toten betreten hatten, schon weit den Himmel hinaufgeklettert, und schien ihnen jetzt von Süden aus beinahe direkt ins Gesicht. Narissa schloss für einen Augenblick die Augen und genoss die Sonnenstrahlen, bevor sie sich nach den anderen umsah.
Aerien, Irwyne und Amrothos wirkten alle ebenso blass und erschöpft wie sie selbst sich fühlte, während Gandalf vollkommen unverändert aussah. Aragorn stand ein wenig abseits und blickte über das grüne Tal hinunter nach Süden.
Hier auf der südlichen Seite des Gebirges lag weitaus weniger Schnee als in Rohan. Nur die höchsten Hänge waren schneebedeckt, und weiter unten wurde die weiße Schicht immer dünner und hörte schließlich ganz auf. Jenseits der Hänge des Gebirges breitete sich ein hügeliges, grünes Land aus, mit kleinen Wäldern und weiter im Süden kahlen Getreidefeldern. Und ganz weit im Süden glaubte Narissa den fernen Glitzer der Sonne auf dem Meer wahrzunehmen, aber vielleicht war das auch eine Sinnestäuschung.
Während sie noch nach Süden über das Land blickte, warf Aragron mit einer plötzlichen Bewegung seine Kapuze ab.
"Ich möchte mich nicht wie ein Dieb in der Nacht nach Gondor schleichen", sagte er. "Dies ist mein Königreich, vom Gebirge bis zum Küstenstrich, und zumindest für diesen Augenblick will ich Elessar sein, der König von Gondor, und nicht Streicher aus dem Norden."
Er wandte sich zum Rest der Gruppe an, und in diesem Augenblick schienen sämtliche Furchen und Spuren von Zeit und Leiden aus seinem Gesicht verschwunden zu sein, und er wirkte ganz und gar wie ein König. Ohne ein bewusste Entscheidung ging Narissa auf ein Knie nieder, den Schnee nicht achtend, und sagte: "Ich werde dir bei allem was kommt so gut zur Seite stehen, wie ich kann. Mein Vorfahr Palandras schwor deinem Vorfahr Isildur einst einen Eid -
Nai i vorondar endoron, hyarna yo formenya i utúlië númenórello, óven astaroya sé oht'ill ta nai hain númeheruvir ohilyar. Nai tiruvantes i hárar mahalmassen mi númen.. Und daran werde ich mich halten." Als Kind hatte sie die Quenya-Worte auswendig gelernt, und sie nie vergessen.
Auf einmal kniete Aerien neben ihr, und senkte den Kopf. "Es gibt keinen Eid, den meine Vorfahren deinen schworen, also werde ich die erste sein. Doch ich schwöre, ich werde an deiner Seite kämpfen, bis die Dunkelheit besiegt ist und darüber hinaus... mein König."
Mit langsamen Schritten trat Amrothos näher, und auf seinem Gesicht mischten sich ungläubiges Erstaunen und Ehrfurcht. "Ich hatte eure Rückkehr für unmöglich gehalten", sagte er, bevor er an Narissas anderer Seite auf die Knie ging. "Mein Schwert und alle Hilfe, die ich euch bieten kann, stehen euch zur Verfügung, mein Lehnsherr."
Aragorn räusperte sich, und der Augenblick verging. Mit einem Mal sah er nicht mehr aus wie ein König aus alter Zeit, sondern wie der Waldläufer, mit dem sie seit Mordor gereist waren. "Ich danke euch, meine Freunde, und... erhebt euch." Er setzte seine Kapuze wieder auf, und wandte sich an Amrothos und Irwyne. "Ich muss euch bitten, geheimzuhalten, was ihr gerade erfahren habt. Sprecht mit niemandem darüber, bis ich selbst beschließe, mich zu offenbaren." Beide nickten, Amrothos ernst und Irwyne eifrig, während Aragorn sich Gandalf zuwandte, dessen Miene nicht zu deuten war.
"Verzeih mir, alter Freund. Doch ich konnte nicht anders."
"Was geschehen ist, ist geschehen", erwiderte der Zauberer. "Lass uns hoffen, dass der Feind keine Späher in der Gegend hat. Mordor wird noch früh genug erfahren, dass der König nach Gondor zurückgekehrt ist, und die Vergeltung wird dann rasch erfolgen - und zwar hart."
Aragorn, Gandalf, Amrothos, Irwyne, Narissa und Aerien nach Gondor