Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Gortharia
In den Straßen von Gortharia
Eandril:
Czeslav hatte verstimmt, aber nicht wütend auf Milvas zaghafte Entschuldigung für ihr fernbleiben reagiert, und nur gebrummt, dass so etwas bitte nicht so schnell wieder vorkommen sollte. Das hatte Milva auch keineswegs vor.
Am nächsten Tag begann es zu regnen, und hörte nicht wieder auf. In der Nacht waren schwere, dunkle Wolken über Gortharia aufgezogen, und der Regen begann sanft am Morgen und wurde bis zum Mittag immer heftiger. Den Vormittag verbrachte Milva damit, in ihrem kleinen Zimmer ihren Bogen zu pflegen - sie ölte die Sehne sorgfältig ein damit sie geschmeidig blieb und nicht an kleinen Stellen spröde wurde, polierte und ölte die Wurfarme, und überprüfte alles aufmerksam auf kleinste Risse. Auch nachdem sie ihn schon einige Zeit besessen hatte, konnte sie sich an diesem Stück der Bogenbauerkunst noch immer nicht satt sehen, und bereute keine einzige Münze, die sie dafür hergegeben hatte.
Doch auch an ihrem Bogen konnte sich Milva nur eine begrenzte Zeit festhalten. Gegen Mittag begann sie, sich zu langweilen, und beschloss, ein wenig durch die Stadt zu streifen. So wenig sie die Stadt auch mochte, es konnte doch nicht schaden, sie ein wenig besser kennen zu lernen - jetzt wo es so aussah, als würde sie längere Zeit hier verbringen. Sie wollte das kleine Haus gerade verlassen, als Ana aus der Küche in den schmalen Flur hinaus trat. Als die Alte Milva sah, schnalzte sie mit der Zunge und sagte: "Aber du kannst doch bei diesem Regen nicht auf die Straße gehen. Nicht in der Rache des Meeres."
Milva, die sich gerade die Stoffkapuze über den Kopf ziehen wollte, stockte bei Anas letzten Worten. "Die Rache des Meeres?", fragte sie. "Was soll das denn sein?"
"Einst war das Meer von Rhûn viel, viel größer als jetzt", begann Ana zu erzählen. "Die ganze große Halbinsel, auf der auf Gortharia liegt, war einst von Wasser bedeckt."
Milva lehnte sich an die Wand des Flures und verschränkte die Arme, während sie der Geschichte lauschte. Anas ruhige Stimme und das sanfte Rauschen des Regens im Hintergrund brachten dunkle Erinnerungen zurück, an ihre Kindheit. Ihre Mutter hatte sie nie gekannt, doch ihr Vater hatte ihr abends oder an Regentagen oft Geschichten erzählt - wenn er nach der Arbeit noch die Kraft dazu gehabt hatte.
"Irgendwann kamen jedoch die Menschen, und sie entdeckten den Schatz, der im Meer schlummerte: Das Salz. Sie bauten Dämme am Meer, und ließen das Wasser dahinter trocknen, um an das Salz zu gelangen. Es gibt Legenden, dass sie von den Geistern des Wassers davor gewarnt wurden, doch sie lachten nur darüber und fuhren mit ihrer Arbeit fort. Eine Zeit lang hatten sie Erfolg, wurden immer reicher und das Meer wurde immer kleiner. Doch eines Tages erhob sich das Meer zu einer gewaltigen Flut. Es überschwemmte die Dörfer der Salzmacher an seinen Ufern, spülte sie fort und verschaffte ihnen mit all ihren Reichtümern ein nasses Grab.
Doch viel von der Macht des Meeres war mit dem verdunsteten Wasser verschwunden, und so konnte es auf diese Weise zwar seine Feinde vernichten, aber nicht sein verlorenes Gebiet zurückerlangen. Und so versucht es nun Jahr für Jahr mit Regen und Stürmen zurückzuholen, was die Menschen ihm einst genommen haben."
Milva kannte derartige Geschichten auch aus ihrer Heimat - die Menschen nahmen der Natur irgendetwas weg, und sie versuchte sich auf solche Weise dafür zu rächen. Eigentlich glaubte sie nicht wirklich daran, doch wenn so viele Leute davon sprachen... vielleicht steckte doch ein Körnchen Wahrheit darin?
"Aber im Grunde ist es doch nur Regen", sagte sie. "Man wird vielleicht nass, aber das bin ich gewohnt." Ana zog besorgt die Augenbrauen zusammen. "Nein, meine Liebe, das ist kein gewöhnlicher Regen. Man sagt, dass Teile der Geister des Meeres, die durch die Taten der Salzsammler in Stücke gerissen wurden, in den Tropfen sind, und wer von ihnen getroffen wird, kann unter ihren Fluch fallen."
Milva schüttelte den Kopf. Sie hatte durch einen Brunnen mit einer viele hundert Meilen entfernten Elbin gesprochen hatte sich mit Leuten verbündet, die einem uralten, körperbeherrschenden Geist folgten. Da schreckte sie eine Geschichte von verfluchten Regentropfen nicht länger.
"Sie werden mir schon nichts tun", sagte sie leichthin. "Schließlich bin ich nicht von hier, und kann auch nichts dafür was ihnen angetan worden ist." Ohne Anas Antwort abzuwarten, öffnete sie die Tür und trat hinaus in den Regen.
Eine Stunde streifte sie in dem Regen, der inzwischen wieder etwas an Wucht verloren hatte und sanft zu Boden strömte, durch die Straßen von Gortharia, und stellte schließlich erfreut fest, dass sie einen Ort wiedererkannte.
Es war der Platz mit der Statue des Dunklen Herrn von Mordor, auf dem zwei Tage zuvor die Schwarze Rose einige Gardisten der Stadtwache getötet hatte. Heute war kein Spielmann am Fuß der Statue zu sehen, und auch sonst war der Platz nicht gerade belebt. Trotzdem spürte Milva plötzlich einen Schlag gegen ihre linke Schulter, und sah sich einer jungen Frau mit Kapuze gegenüber, als sie zornig herumfahren wollte. "Oh, Verzeihung", stieß die Frau hervor, obwohl sie nicht den Eindruck erweckte, als täte es ihr wirklich leid. "Ich habe euch gar nicht gesehen." Mit diesen Worten wandte sie sich um, und ging mit langen Schritten über den regnerischen Platz davon. Milva schüttelte missmutig den Kopf, wobei ein Schwall Wasser von ihrer Kapuze hinunter lief. "Nicht gesehen, klar...", murmelte sie vor sich hin, während sie ihre Kleidung zurecht zog. Sie stockte, als ihre Finger auf einen flachen, weichen Gegenstand trafen, der zwischen Gürtel und Kleidung steckte. Es war ein kleines, gefaltetes Blatt Papier, und als sie es auseinander faltete, erkannte sie darauf eine kleine gezeichnete Rose - mit schwarzen Blütenblättern.
"Das ist doch..." Milva unterbrach sich, und hob den Kopf um zu sehen, wohin die Frau gegangen war. Durch den Regen erspähte sie die schwarze Kapuze auf der anderen Seite des Platzes am Anfang einer Seitengasse. Sie stand nur dort, als würde sie auf etwas warten. Milva seufzte. "Was hab' ich nur verbrochen...", sagte sie zu sich selbst, atmete tief durch und folgte dann der geheimnisvollen Frau über den Platz.
"Könnt ihr mir bitte erklären, was das hier s..." begann sie, als sie die Gasse erreicht hatte, doch die Frau hatte sich bereits wieder abgewandt und war einige Meter zwischen den Häusern entlang gegangen. Sie öffnete eine unscheinbare Tür, und trat mit einer einladenden Geste in Richtung Milva hindurch.
Milva folgte ihr zögerlich. Das ganze erinnerte sie sehr daran, wie Ryltha sie und Aivari in den Untergrund geführt hatte, und es erschien ihr nur logisch, dass die Schwarze Rose ähnliche Wege nutzte. Sie fragte sich allerdings, was die Schwarze Rose von ihr wollte - es gab nur einen Weg das herauszufinden. Und immerhin war die Schwarze Rose ja mit den Schattenläufern verbündet, also war sie vermutlich auch nicht in Gefahr, wenn sie der Frau folgte.
Hinter der Tür ging es eine schmale Treppe hinunter in einen Raum mit steinernen Wänden, der von mehreren Fackeln erhellt wurde. In der Mitte stand die Frau, der Milva gefolgt war, und warf die Kapuze ab als Milva von der letzten Stufe auf den steinernen Boden trat. Es dauerte nur einen kleinen Moment, bis Milva sie wiedererkannte. "Du bist das!", stieß sie überrascht hervor. "Du hast vor zwei Tagen den Gardisten auf dem Platz oben getötet."
Die junge Frau lächelte, und strich sich eine helle und eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn. "Ich dachte mir, dass du mich erkennst", erwiderte sie. "Ich bin Fiora. Und dich nennt man..."
Milva brauchte einen kurzen Moment bis sie erkannte, dass es eine Frage gewesen war. "Milva", antwortete sie schließlich, setzte ihre eigene Kapuze ab und verschränkte die Arme vor der Brust. "Und ihr seid die Schwarze Rose." Es war eine Feststellung, keine Frage.
"Das sind wir", sagte eine männliche Stimme, und ein großer, gut gekleideter Mann trat aus einem in den Schatten verborgenen Nebengang hervor. Als er näher kam erkannte Milva, dass er scharfgeschnittene, edle Gesichtszüge besaß. "Und so wie du dich anhörst, stammst du aus meiner Heimat."
"Aus eurer... Heimat?", fragte Milva verwundert zurück, und der Mann nickte. Ein leidenschaftliches Feuer loderte in seinen Augen, als er antwortete: "Richtig - aus Dorwinion. Ich bin Gudhleif, der Sohn von Vissileif, Erbe von Bladorthin dem Großen und damit dein rechtmäßiger König." Er sprach es nicht aus, doch irgendetwas an seiner Miene ließ Milva zu dem Schluss kommen, dass er einen ehrfürchtigen Kniefall von ihr erwartete.
Diesen Gefallen würde Milva ihm nicht tun, ganz gleich wessen Sohn dieser Mann war - von Bladorthin dem Großen, dem letzten König Dorwinions, hatte sie gehört, doch noch nie davon, dass er noch lebende Nachfahren hatte. Und selbst wenn Gudhleif die Wahrheit sagte, im Augenblick war er sicherlich alles andere als ein König.
Zu ihrem Glück seufzte Fiora hörbar, und sagte: "Bitte, Gudhleif. Wir alle wissen, dass du lieber auf einem Thron in Könugard sitzen würdest als hier im Untergrund herumzukriechen. Aber im Augenblick bist du nun einmal hier, und in der Schwarzen Rose gibt es keine Könige."
Gudhleif verzog das Gesicht, und seine Augen verengten sich. "Sicher? Ich könnte schwören, dass sich unser geschätzter Anführer genau dafür hält..."
"Ulfang hat Schwächen und Stärken wie wir alle", mischte sich eine dritte, ebenfalls männliche Stimme ein, und neben Fiora trat der Spielmann, der zwei Tage zuvor ebenfalls auf dem Platz gewesen war, aus den Schatten hervor. "Aber es wäre vielleicht klüger, über diese Dinge nicht vor unserem Gast zu streiten." Er deutete eine Verbeugung in Milvas Richtung an, und sagte: "Zumindest nicht bevor ich mich vorgestellt habe. Ich bin Vadim, Spielmann und Verschwörer von Beruf, zu euren Diensten." Der Spielmann lächelte, wobei ein Goldzahn im Fackellicht aufblinkte.
Bevor Milva etwas erwidern konnte, schnaubte Gudhleif verächtlich, fuhr mit einem Schwung seines Mantels herum, und verschwand in der Dunkelheit.
Fiora schüttelte den Kopf. "Beachte ihn gar nicht - in Gedanken ist er schon längst König, auch wenn die Wirklichkeit noch ganz anders aussieht. Aber ich würde nun gerne zum Grund deiner Anwesenheit kommen."
"Der würde mich ebenfalls brennend interessieren", gab Milva zurück, und der Spielmann Vadim zwinkerte ihr zu.
"Du warst oben auf dem Platz, vor zwei Tagen", begann Fiora, und Vadim fuhr fort: "Und wie ich gehört habe warst du bereit, dein Leben zu riskieren um mich vor den Gardisten zu schützen - und ich vermute, dass das nicht nur an meinem unschlagbar guten Aussehen lag."
"Ich habe es in deinem Gesicht gesehen", nahm Fiora wieder den Faden auf. "Du hast es satt, wie der König und Mordors Schergen auf den Menschen herumtreten. Du willst nicht länger stumm zusehen."
"Du bist bereit, etwas zu verändern", schloss Vadim, und Milva schüttelte den Kopf. "Ich will, dass sich etwas ändert", sagte sie dann langsam. "Aber... ich fürchte, ich kann euch nicht helfen, denn ich..." Konnte sie diesen beiden verraten, für wen sie arbeitete? Vielleicht gab es eine Möglichkeit...
"Und außerdem hat mir Teressa verraten, dass ihr vom ehemaligen König von Rhûn angeführt werdet - der kein Stück besser war als der jetzige." Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn eigentlich war es Ryltha gewesen, die Milva davon erzählt hatte. Doch Rylthas Name war wahrscheinlich zu bekannt, und wenn Fiora und Vadim von Teressa wussten, wussten sie auch vom Rest der Schattenläufer.
Und tatsächlich beobachtete Milva, wie sich Fioras Augen im Fackellicht weiteten. "Du arbeitest für sie", stieß sie überrascht hervor. Sie machte einen Schritt nach vorne. "Es gibt einiges, was wir besprechen sollten. Wirst du mit uns kommen?" Es war beinahe eine Bitte, und so zögerte Milva nur einen Augenblick, bevor die Neugierde über die Vorsicht siegte.
"Also schön. Ich komme mit euch."
Milva mit Fiora in das Ordensversteck der Schwarzen Rose
Eandril:
Milva aus den Wäldern südlich von Gortharia
Es war Milva gelungen, sich ohne eine weitere Begegnung mit Silan oder Herrin Velmira aus dem Anwesen zu stehlen, nachdem der ganze Jagdtrupp in die Stadt zurückgekehrt war. Sie hatte Sorge davor, dass Herrin Velmira sie erneut auf den Vorfall mit den Wilderern ansprechen könnte - und vor dem, was sie dann womöglich geantwortet hätte. Ihre einzige Hoffnung in dieser Angelegenheit war, dass die Adlige diesen für sie sicherlich unbedeutenden Vorfall schon bald wieder vergessen würde.
Silan war eine andere Angelegenheit. Milva glaubte zwar nicht, dass Velmiras Neffe sie verraten würde, sollte sie etwas unbedachtes sagen, doch wer konnte schon wissen, wer womöglich noch alles zuhörte? Und außerdem, gestand sie sich ein, machte Silan sie mit seinem verdammt guten Aussehen seltsam nervös. Unwillkürlich dachte sie an Cyneric, und fragte sich, was wohl geschehen wäre, hätte er nicht den verdammten Ehrenmann gespielt und ihr eindeutiges Angebot an jenem Abend nicht so eindeutig abgelehnt. Sie schob den Gedanken wieder beiseite, denn es war nicht ihre Art, über verpasste Gelegenheiten nachzugrübeln. Schließlich war sie nicht in Cyneric verliebt, sondern nur betrunken und auf der Suche nach ein wenig Spaß gewesen... Vielleicht war es besser, dass er standhaft geblieben war.
So in Gedanken versunken bemerkte Milva nicht sofort, dass jemand sie von der Seite angesprochen hatte, und reagierte erst beim zweiten Mal: "Fräulein? Wenn ihr mir bitte folgen würdet, mein Herr wünscht euch zu sprechen." Milva blieb stehen, und betrachtete den Mann, der sie angesprochen hatte, was ihr einen Schwall Schimpfwörter einer alten Frau eintrug, als diese um sie herumgehen musste. Der Mann war im mittleren Alter, vielleicht dreißig oder vierzig Jahre alt, und trug die Kleidung eines Dieners. Das Livree war grün, und auf der Brust war klein ein Wappen aufgenäht, das Milva nicht genau erkennen konnte. Sie verschränkte die Arme, trat einen Schritt zur Seite an den Straßenrand um einem herankommenden Karren auszuweichen, und erwiderte: "Ich bin ganz sicher kein Fräulein, und bevor ich nicht eine Ahnung habe, wer dich schickt, werde ich sicherlich nicht mit dir mitgehen." Als der Diener ihr an den Straßenrand folgte, erkannte Milva, dass es sich bei dem aufgenähten Wappen um eine goldene Weinrebe, die sich um einen schwarzen Stab rankte, handelte. Leider hatte sie überhaupt keine Ahnung, wem dieses Wappen gehörte - und mit dem Adel Gortharias kannte sie sich ebenso wenig aus.
"Mein Herr ist der ehrenwerte Händler Gleb Vseslavich", antwortete der Diener in einem Tonfall, der eindeutig erkennen ließ, dass ihre Weigerung ihn einfach zu begleiten, ihn gekränkt hatte. Milva konnte sich gerade noch daran hindern, die Augen zu verdrehen. "Ich habe nie von einem Gleb... wie auch immer... gehört", gab sie zurück. "Du musst mich verwechseln."
"Ganz sicher nicht. Mein Herr hat euch eindeutig beschrieben, und ich besitze ein hervorragendes Gedächtnis." Bevor Milva etwas erwidern konnte, zog er eine Rosenblüte aus seinem Livree hervor, mit so dunklen blauen Blättern, dass sie beinahe schwarz wirkte. "Außerdem hat er mir aufgetragen, euch das hier zu geben, wenn ihr misstrauisch seid." Milva nahm die Blüte, die der Diener ihr entgegenhielt, zögerlich entgegen. Offenbar handelte es sich hierbei um den Versuch eines Mitglieds der Schwarzen Rose, mir ihr Kontakt aufzunehmen. Milva überlegte fieberhaft - warum sollte jemand von der Schwarzen Rose mit ihr sprechen wollen, warum jetzt, und vor allem: Wer? Milva glaubte nicht, dass dies hier Fioras Art wäre. Fiora hätte sie vermutlich selbst aufgesucht, also wer blieb übrig? Ulfang? Aber für den gestürzten König war Milva sicherlich zu unbedeutend, und außerdem konnte er es sich im Augenblick wohl kaum leisten, Diener durch Gortharia auf die Suche nach ihr zu schicken. Nein, es musste jemand sein, der die Schwarze Rose zwar im Geheimen unterstützte, aber nicht von den Soldaten des Königs verfolgt wurde. Leider hatte Milva nicht die geringste Ahnung, wer das sein könnte.
"Also schön...", sagte sie langsam, und zupfte gedankenverloren eines der Rosenblätter aus. "Und was will dein Herr von mir?"
"Er wünscht euch selbst zu sprechen", meinte der Diener in leidendem Tonfall. Einige Meter weiter hatten sich zwei Ochsenkarren auf einer Kreuzung miteinander verkeilt, und die wüsten Beschimpfungen der beiden Fahrer schallten über die Straße. "Ich weiß nicht, worum es geht und selbst wenn, wäre ich nicht befugt mit euch darüber zu sprechen. Also bitte, folgt mir."
Milva seufzte, und zuckte mit den Schultern. "Also schön, warum nicht. Wenn ihn mein Aufzug im Moment nicht stört..." Sie trug ihre übliche, einfache Kleidung - die Jagdausrüstung mit dem Wappen der Bozhidars hatte sie im Anwesen zurückgelassen - und entsprach damit sicherlich nicht dem Bild einer adligen oder wohlhabenden Frau. Außerdem hatte sie noch keine Gelegenheit bekommen, sich nach der Jagd zu waschen, und roch deshalb vermutlich nicht allzu angenehm. Andererseits, jemand der mit der schwarzen Rose zu tun hatte, ließ sich von so etwas wohl nicht abschrecken.
"Er wird sicherlich darüber hinwegsehen können", erwiderte der Diener, konnte allerdings ein beinahe unmerkliches Naserümpfen nicht unterdrücken. Zu ihrer eigenen Überraschung spürte Milva ihre Mundwinkel zucken - sie freute sich auf die Begegnung mit diesem Gleb, obwohl sie sich eigentlich davor fürchten sollte. Aber in den letzten Wochen hatte sie ganz andere, viel gefährlichere Menschen kennengelernt - was sollte ihr da ein einfacher Händler?
"Na gut", meinte sie, und rückte den Bogen auf dem Rücken zurecht. "Dann geh voran, wir wollen deinen Herrn nicht länger warten lassen."
Milva in Glebs Haus
Eandril:
Milva aus Glebs Haus
Die Tage nach Milvas Besuch bei Gudhleif vergingen langsam und ereignislos. Noch zwei Mal brach sie zur mit Mislav und den anderen zur Jagd auf, um Herrin Velmiras Tisch zu bereichern, doch ansonsten hatte sie neben ihren allabendlichen Leseübungen unter Ronvids strenger Aufsicht - bei denen sie frustriert das Gefühl hatte, überhaupt nicht voranzukommen - wenig zu tun. So streifte sie hin und wieder ziellos durch die Straßen Gortharias, während der Sommer sich immer mehr dem Ende neigte, und hatte wieder einmal das Gefühl, am vollkommen falschen Ort zu sein. Sie lernte zwar die Stadt immer besser kennen und fühlte sich weniger verloren, doch der Erfüllung ihres Auftrags kam sie keinen Schritt näher. Seit Cyneric und Salia die Stadt verlassen hatten gab es außerdem niemanden mehr, den Milva um Hilfe bitten könnte, kurz: Sie hatte nicht die geringste Ahnung wie sie es anstellen sollte, an das Testament von Herrin Velmira zu kommen, geschweige denn es im Sinne der Schattenläufer zu verändern.
Bei einem ihrer Streifzüge, es war einige Tage nachdem Cyneric, Salia und Ryltha in Richtung Gorak aufgebrochen waren, wurde Milva plötzlich von einer schmalen Gestalt mit Kapuze am Arm gepackt und in eine menschenleere Seitengasse, die auf einen verwilderten und verlassenen Innenhof führte, gezogen. "Ich bin nicht hier um dich auszurauben", stieß ihr Entführer leise hervor, als Milva sich gegen den Griff um ihren Arm zu wehren begann, und Milva erkannte Fioras Stimme. Auf dem leeren Innenhof angekommen, warf die junge Frau ihre schwarze Kapuze ab, und sagte: "Tut mir leid, aber es ist besser wenn ich auf den Straßen nicht allzu oft gesehen werde - nicht, wenn ich es nicht will." Milva atmete tief ein, und rieb sich die schmerzende Stelle am Arm, wo Fiora zugepackt hatte. Trotz ihrer schmalen Figur besaß Fiora offenbar einiges an Kraft, und Milva war sich ziemlich sicher, dass ihr Griff blaue Flecken zurücklassen würde.
"Ist etwas wichtiges geschehen?", fragte sie, ohne ihre Ungehaltenheit zu verbergen. "Oder ist dir nur langweilig." Fioras Augenbrauen zogen sich unwillig zusammen. "Langeweile habe ich bestimmt nicht. Aber ich habe eine Frage an dich: Haben deine... Freunde etwas mit den Gerüchten zu tun, die man aus Gorak hört?"
Milva schüttelte verwirrt den Kopf. "Ich weiß nicht einmal wovon du sprichst? Was für Gerüchte?"
Fiora ließ sich auf einer halb zusammengebrochenen und bemoosten Steinmauer, die einen abgestorbenen Baum in der Mitte des Innenhofes umgab, nieder, und klopfte mit der linken Hand einladend auf den Stein neben sich. "An sich nichts großes", erklärte sie, während Milva sich zögerlich neben sie setzte. "Es gibt Gerüchte, dass Fürst Radomir seit seiner überstürzten Abreise aus der Hauptstadt - mit der deine Freunde eine Menge zu tun hatten, versuch nicht, mir etwas anderes einzureden - einige Probleme mit seinen Sklaven hatte." Milva zuckte mit den Schultern. "Und? Selbst wenn man wie ich von irgendwo aus den entferntesten Provinzen kommt weiß man, dass jeder Sklavenhalter hin und wieder Probleme mit ihnen hat."
"Nicht Radomir", erwiderte Fiora. "Von ihm hört man so etwas niemals - klar, hin und wieder begehrt mal ein Sklave auf, aber er hat seine Mittel und Wege, dass es nie zu einem Problem wird." Milva begriff allmählich.
"Und du glaubst, die Schattenläufer wären dafür verantwortlich? Dass sie Radomir nach Gorak gefolgt sind?" "Halte mich nicht für dumm oder naiv", gab Fiora zurück, und ihre eigentlich hellbraunen Augen verdunkelten sich, bis sie beinahe schwarz wirkten. "Ich weiß natürlich, dass sie ihm gefolgt sind. Verkleidet als Mitglieder des königlichen Heeres sind sie aufgebrochen, und sind ihm nach Gorak gefolgt."
"Wenn du bereits alles weißt, was willst du dann von mir?", fragte Milva, und bemerkte im selben Augenblick, dass es vielleicht keine gute Idee gewesen war. "Du bist einfach aufzuspüren", erwiderte Fiora mit kalter Stimme, und nicht zum ersten Mal fühlte Milva sich an ihr Gespräch im Friedhof der vergessenen Bücher erinnert - als Fiora ebenfalls mit einem Schlag wie ein anderer Mensch gewirkt hatte. "Viel zu einfach, und jedenfalls einfacher als der Rest deiner Freunde. Deshalb spreche ich mit dir, und nicht mit ihnen direkt. Die Schwarze Rose hat viele Freunde, selbst unter den Sklaven von Gorak. Wenn die Schattenläufer die Sklaven benutzen wollen, um Fürst Radomir zu töten, hätten sie vorher mit mir sprechen sollen, mich um Hilfe bitten."
"Dich?" Milva zuckte mit den Schultern. "Oder meinst du eher, mit König Ulfang?" "Wag es nicht!", zischte Fiora, und ihre Stimme zitterte vor Wut. "Ulfang mag sich für den Anführer der Schwarzen Rose halten, vielleicht ist er das sogar, doch ich werde nicht tatenlos dabeistehen und andere ihre Spiele spielen lassen." Sie atmete tief durch, und schien sich zu beruhigen. Dann schüttelte sie den Kopf, wobei ihr dunkelblondes Haar Milvas Wange streifte. "Ich... verzeih mir, ich hätte mich nicht so..." Fiora verstummte, offenbar ratlos, was sie hatte sagen wollen. Milva starrte auf den staubigen Boden, ebenso ratlos und unsicher, was sie tun sollte, bis Fiora sich gefangen hatte. "Ich könnte deinen Freunden in Gorak helfen", meinte sie schließlich mit erneut fester Stimme. "Du muss mir nur sagen, was sie vorhaben."
Milva schüttelte den Kopf, und konnte ein kleines, bitteres Lachen nicht unterdrücken. "Ich habe keine Ahnung, was sie vorhaben. Ich bekomme das erzählt, was ich wissen muss, und kein bisschen mehr. Ich weiß nicht, wie ich jemanden von ihnen erreiche, um ihnen zu sagen was du mir gesagt hast. Ich bin... nur ein Werkzeug für sie, ein Werkzeug um einen kleinen Teil ihres großen Planes zu erledigen."
"Und macht dich das nicht wütend?", fragte Fiora leise, und zu ihrer eigenen Überraschung nickte Milva langsam. Sie hatte geglaubt, zufrieden mit ihrer Rolle zu sein, und froh, möglichst wenig zu wissen. Doch ihr wurde klar, dass sie, seit sie ein wenig von jener Welt gekostet hatte, mehr als das wollte. "Wie ich es mir gedacht habe." Fiora lächelte, als wäre sie äußerst zufrieden mit sich selbst. "Ich kann jetzt nicht viel für dich tun, aber... es wird Gelegenheiten geben."
"Eine Sache gäbe es da...", sagte Milva langsam, während ihr etwas einfiel. "Du könntest mit jemandem sprechen, und ihm helfen, sein Ziel zu erreichen... ohne, dass jemand dabei sterben muss." Fiora zog eine Augenbraue in die Höhe, und wandte Milva interessiert das Gesicht zu. "Ich bin ganz Ohr."
Eandril:
Milva schreckte aus dem Schlaf, als sie leise Geräusche vor dem kleinen Fenster hörte, das von ihrem Zimmer auf die Straße hinaus ging. Es war das gleiche Geräusch, das sie bereits zwei Mal gehört hatte, und beide Male war es Salia gewesen, die an der Wand heraufgeklettert war. Aber Salia war mit Cyneric und Ryltha in Gorak, und konnte noch nicht wieder zurück sein - oder? Ein bisschen Vorsicht schadete nie, also nahm Milva ihr Messer zur Hand, und presste sich an die Wand neben dem Fenster. Sie musste sich ein wenig ducken, denn das Dach war an dieser Stelle zu niedrig, um aufrecht stehen zu können.
Nur wenige Augenblicke schwang das Fenster auf, und mit dem fahlen Licht des anbrechenden Tages sprang eine schlanke Gestalt hindurch. Sie landete ebenso lautlos wie Salia auf dem hölzernen Boden, doch Milva erkannte sofort, dass es sich nicht um Salia handelte, denn das schulterlange Haar war nicht schwarz, sondern dunkelblond. Bevor sie etwas tun könnte, hatte der Eindringling sich bereits zu ihr umgewandt. "Kein besonders freundlicher Empfang", sagte sie, doch auf ihrem Gesicht zeigte sich keine Spur eines Lächelns. Milva warf das Messer aufs Bett, als sie Fiora erkannte. "Warum könnt ihr Leute nicht einfach durch die Tür kommen...", seufzte sie, während Fiora an der Zimmertür lauschte, ob sich im Haus etwas regte. "Ich habe dir doch gesagt, ich möchte ungern von mehr Leuten als unbedingt nötig gesehen werden", gab sie ungehalten zurück. Irgendetwas schien sie aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben.
"Na schön." Milva setzte sich auf das Bett, und blickte Fiora an, die in der Mitte des kleinen Raumes stehengeblieben war, ohne sich zu rühren. "Ist es etwas passiert?" Fioras hellbraune Augen verengten sich, als sie tonlos antwortete: "Die Stadtwache... hat Cáha verhaftet." Milva spürte, wie sich kalte Furcht wie eine Faust um ihr Herz legte. "Und Gudhleif, Rogvolod, und ihre Söhne... nur Gudhleifs jüngsten Sohn nicht, denn er ist verschwunden."
Milva erinnerte sich, wie sie fünf Tage zuvor mit Fiora zu Gudhleifs Haus gegangen war. Gudhleif war nicht sonderlich begeistert gewesen, als er festgestellt hatte, dass Milva Fiora eigenmächtig in ihr Vorhaben eingeweiht hatte, doch schließlich hatte er ihre Hilfe akzeptiert, und sie gemeinsam hatten sie einen Plan erarbeitet, Ántonins Wahl zum Gildenmeister zu verhindern, ohne ihm ernsthaften Schaden zuzufügen. Natürlich wäre sein Ruf in Gortharia, durch die gefälschten Dokumente, die Cáha ihm unterschieben würde, ruiniert und er hätte vermutlich die Stadt verlassen müssen, doch immerhin wäre er mit dem Leben davon gekommen. Bei dem Treffen hatte Milva auch flüchtig Gudhleifs jüngsten Sohn Vsevolod kennengelernt, der von einer Handelsreise in den Süden Rhûns zurückgekehrt war. Hinterher war sie zuversichtlich gewesen, dass alles so kommen würde wie geplant, doch irgendetwas musste fürchterlich schiefgegangen sein.
"Ich weiß nicht, was genau geschehen ist", erzählte Fiora mit ruhiger, beinahe gleichgültiger Stimme weiter. Ihre Augen besaßen einen seltsam Ausdruck, und schienen geradewegs durch Milva hindurchzusehen. "Aber offenbar haben die Goldröcke auf irgendeine Weise Wind von der Sache bekommen. Sie haben Cáha verhaftet, als sie Dvakars Haus gerade verließ, und Gudhleif und seine Familie kurz darauf."
Milva stieß einen Fluch aus, den sie vor langer Zeit von einem zwergischen Händler gehört hatte, und von dem sie keine Ahnung hatte, was er bedeutete. "Und jetzt brauchst du meine Hilfe, um sie zu befreien?"
Ein Muskel auf Fioras Wange zuckte, und zum ersten Mal schien sie Milva wirklich anzusehen. "Dazu... ist es zu spät." Ihr Stimme zitterte ein wenig. "Goran scheint außer sich vor Zorn zu sein - ich weiß nicht warum. Doch er hat ihre sofortige Hinrichtung befohlen. Für heute, eine Stunde nach Sonnenaufgang."
Milva wollte aufspringen, ohne zu wissen, was sie eigentlich vorhatte, doch unter Fioras Blick blieb sie sitzen. "Es ist deine Schuld, weißt du? Du wolltest deinen ach so edlen Händler-Freund retten, und dafür muss Cáha sterben."
"Ich wollte nicht, dass..."
"Natürlich nicht. Was hat es mit diesem Ántonin eigentlich auf sich? Das Mädchen aus der Provinz verirrt sich in der Stadt, und der edle Ritter steht ihr zur Seite und rettet sie. Hast du nie gedacht, dass er vielleicht andere Beweggründe dafür gehabt hat? Dass er nur einen hübschen Körper mit einem naiven Geist vor sich gesehen hat, den er einfach um seinen Finger wickeln kann?" Fioras Stimme zitterte geradezu vor unterdrückter Wut und... Verachtung, und Milva spürte, wie sich in ihr eine große Leere ausbreitete. Vielleicht sollte sie Zorn angesichts solcher Vorwürfe empfinden, doch eine leise Stimme in ihrem Inneren sagte ihr, dass Fiora nicht unrecht hatte. Hätte sie sich nicht von einer naiven Dankbarkeit gegenüber Ántonin leiten lassen, wäre das alles vermutlich nicht geschehen. Nicht nur hatte sie Fioras Freundin Cáha dem Henker ausgeliefert, sie hatte auch König Goran eines möglicherweise mächtigen Feindes beraubt.
"Was möchtest du, das ich tue?", fragte sie leise, und Fiora trat mit einem einzigen langen Schritt an sie heran, krallte eine Hand in ihre Schulter, und zischte: "Du wirst mit mir kommen, zur Hinrichtung. Es ist dein Werk - du sollst es dir selbst ansehen." Milva blickte ihr einen Augenblick in die zornfunkelnden Augen, dann nickte sie.
Milva und Fiora zum Platz des Goldenen Drachen
Eandril:
Milva, Silan und Fiora vom Platz des Goldenen Drachen
Silan führte sie raschen Schrittes durch die Straßen der Stadt, die heute weniger belebt wirkten als üblich. Vermutlich waren genug Leute zur Hinrichtung gekommen, um einen spürbaren Unterschied auf den Straßen zu machen.
Sie erreichten ein schäbig und verlassen wirkendes Haus an der Westmauer der Stadt, vor dessen Tür ein kräftiger, mit einer großen Zweihandaxt bewaffneter Mann, Wache stand. Als er Silan erblickte, trat der Wächter einen Schritt zu Seite und gab die Tür somit frei. "Er hat nicht wieder versucht, davonzulaufen, Herr", sagte er, und Silan nickte nur knapp, bevor er die Tür aufstieß und Fiora und Milva mit einer Geste bedeutete, ihm ins Innere des Hauses zu folgen. Für einen Augenblick fragte Milva sich, was oder wen sie hier finden würden, und ob es nicht vielleicht eine Falle war - doch dann gewann die Neugierde die Oberhand, und sie folgte mit einem Schulterzucken Fiora, die noch immer vollkommen gleichgültig wirkend bereits vorgegangen war, über die Schwelle.
Im Inneren war des dämmrig, und nur wenig Licht schien durch die Spalten der vernagelten Fenster. Auf dem Boden lag eine dicke Staubschicht, auf der deutlich Spuren mehrerer Füße zu erkennen waren. In der Mitte des Raumes stand ein hölzerner Tisch mit mehreren Stühlen, an dem ein Mann saß und den Kopf auf die Arme gelegt hatte.
Als er sie eintreten hörte, hob der Mann den Kopf, und nach einem Augenblick glaubte Milva ihn zu erkennen. "Ist das..."
"Vsevolod - oder Visleif, in der Sprache seiner Vorfahren", beantwortete Silan, der sich neben den Mann gestellt und zu Milva und Fiora umgewandt hatte, ihre noch nicht ganz gestellte Frage.
"Aber...", setzte Milva zu einer weiteren Frage an, doch Silan sprach bereits weiter: "Ich habe gestern Abend von der Verhaftung seiner Familie gehört, und ihn heute Morgen am Stadttor abgefangen - er kam von einer Handelsreise nach Dervesalend zurück. Ich wollte sichergehen, dass nicht er auch noch dem Wüten unseres Königs zum Opfer fällt." Sein Gesichtsausdruck war unmissverständlich verächtlich, als er Goran erwähnte.
"Ich weiß wer ihr seid", sagte Fiora, und sprach damit das erste Mal seit sie den Platz des Goldenen Drachen verlassen hatten. "Silan Bozhidar. Was ich mich frage ist: Woher kennt ihr euch?" Sie machte eine Geste in Richtung Visleif. "Und was liegt euch daran, ihm das Leben zu retten?"
"Wir sind uns vor einigen Jahren begegnet", antwortete Visleif selbst mit ebenso rauer und belegter Stimme wie Fiora. "Und seitdem haben wir uns hin und wieder getroffen. Man könnte uns wohl als Freunde bezeichnen - bis heute jedenfalls." Silan warf ihm einen merkwürdigen Blick zu, eine Mischung aus Verärgerung, Mitleid und Enttäuschung. "Du weißt, dass ich dich nur zu deinem eigenen Besten hier festhalte." Visleif schnaubte verächtlich, doch Silan wandte sich wieder Milva und Fiora zu. "Und es gibt genug Freunde und Menschen, die ich schätzte, die dem Verfolgungswahn des Königs bereits zum Opfer gefallen sind. Ich konnte seine Familie nicht retten, das wäre mein eigener Untergang gewesen, doch ihm konnte ich helfen."
Fiora wirkte nicht überzeugt. "Das ist ja schön und gut. Aber wie kommt ihr auf die Idee, dass wir ihm auf irgendeine Art und Weise helfen könnten? Was glaubt ihr, mit wem ihr es zu tun habt?"
Silan taxierte sie mit verengten Augen. "Nun, ich habe einige Vermutungen. Zum ersten wart ihr sichtlich erschüttert über die Hinrichtung - vor allem ihr." Er nickte in Fioras Richtung. "Und nicht so sehr wie ein normaler Zuschauer über eine Hinrichtung erschüttert ist, sondern als hättet ihr mindestens eines der Opfer zu euren Freunden gezählt." Er legte eine kleine Sprechpause ein, als würde er eine Bestätigung erwarten, doch weder Milva noch Fiora, die noch ein wenig blasser geworden war, sagten etwas. "Und was Milva angeht... nun, sie hat bei der letzten Jagd, die meine Tante ausgerichtet hat, etwas sehr interessantes gesagt. Vielleicht wird das ja geschehen, als ich meine Hoffnung äußerte, dass sich, falls ich mein Erbe antrete, etwas in diesem Reich getan haben wird."
Milva spürte geradezu Fioras vorwurfsvollen Blick von der Seite, und blickte weiterhin stur geradeaus. "Was genau sie damit meinte, habe ich bislang nicht herausgefunden." Silan lächelte leicht über Milvas offensichtliches Unbehagen. "Doch als ich euch bei der Hinrichtung sah, kam mir die Idee, euch mit Visleif zusammenzubringen - denn offensichtlich haben alle vier Menschen in diesem Raum das gleiche Ziel."
Als er fertig gesprochen hatte, legte sich Stille über den Raum. Niemand schien etwas sagen zu wollen, bis Fiora das Schweigen schließlich brach. "Und was wäre dieses Ziel?"
Silan hob eine Augenbraue und wechselte einen raschen Blick mit Visleif. "Nun, grob gesagt - König Goran zu stürzen."
Milva blinzelte überrascht. Sie hatte natürlich von den Schattenläufern - und ihrem einen Gespräch mit Silan - gewusst, dass er König Goran kritisch gegenüberstand. Doch dass seine Ansichten so weit gingen, den König stürzen zu wollen, und dass er das so offen zugab... damit hatte sie nicht gerechnet. Das machte die Mission, die ihr die Schattenläufer aufgetragen hatten noch dringlicher und wichtiger, und sie verspürte einen schuldbewussten Stich als sie daran dachte, wie sehr sie sich in letzter Zeit davon hatte ablenken lassen.
Fiora jedoch schien nicht wirklich überzeugt. "Das ist kein Spiel", sagte sie mit harter Stimme, und blickte Silan, der noch immer lächelte, direkt ins Gesicht. "Ihr seid ein verwöhnter Adelssohn, mit romantischen Vorstellungen von Rebellen, Helden des Volkes. Ihr denkt, das hier ist ein heroischer Kampf, mit edlen Rebellen die gegen den tyrannischen König kämpfen - und am Ende, wer weiß, vielleicht bietet das dankbare Volk euch sogar den Thron dessen an, den ihr ihn seinem Namen gestürzt habt?"
Das Lächeln war von Silans Gesicht verschwunden, als er antwortete: "Meine Liebe - ich kenne noch nicht einmal euren Namen - ihr könnt euch sicher sein, dass ich keinerlei Interesse am Thron von Gortharia habe. Falls ihr es nicht wisst, ich bin ein Bastard. Mein Leben mag besser gewesen sein als das der meisten Menschen, aber ich würde mich nicht als einen verwöhnten Adelssohn beschreiben. Ich musste in meiner Jugend vieles tun um zu überleben, dass sich ein gewöhnlicher Adliger nicht träumen lassen würde. Und völlig unabhängig von meiner Abstammung bin ich noch immer ein Mensch, der in der Lage ist zu erkennen, welches Unrecht in diesem Königreich herrscht. Wenn ihr mir nicht helfen wollt, ist das eure Entscheidung. Aber ich werde bis zum letzten Atemzug dafür kämpfen, das Regime von König Goran zu beseitigen."
Fiora warf Milva einen fragenden Blick zu, und Milva zuckte nur mit den Schultern. Ihrer Meinung nach hatte Silan vollständig aufrichtig geklungen.
"Also schön...", meinte Fiora schließlich langsam. "Ich werde Visleif in die Schwarze Rose aufnehmen- in Gedenken an seinen Vater." Bei der Erwähnung dieses Namens schienen Silans Augen für einen winzigen Moment aufzuleuchten, und sein Gesicht drückte Zufriedenheit aus - als hätte sich eine seiner Vermutungen gerade bestätigt. "Aber ihr... ihr bleibt Milvas Angelegenheit." Sie wandte sich Visleif zu. "Kommt mit mir. Wir werden dafür sorgen, dass euer Vater und eure Brüder gerächt werden - und, dass ihr eines Tages euer Erbe erlangen könnt."
Visleif sah zu Silan, der beinahe unmerklich nickte, und erhob sich dann langsam. "Vielleicht... sollte ich dir doch dankbar sein, dass du mich aufgehalten hast", sagte er an Silan gewandt, und dieser schüttelte den Kopf. "Ich weiß es zu schätzen, aber das ist nicht, was für mich zählt. Für mich zählt nur, dass du am Leben bist, und bereit, den Kampf gegen Goran zu unterstützen." Visleif gelang beinahe ein Lächeln, und als er sich wieder Fiora zugewandt hatte sagte er: "Nun denn, edle Fiora - wollen wir gehen?"
Für einen Augenblick fragte Milva sich, woher er Fioras Namen kannte - sein Vater musste ihm von ihr und der Schwarzen Rose erzählt haben. Fiora warf Milva noch einen warnenden Blick zu, bevor sie gemeinsam mit Visleif auf die Straße hinaustrat, und Milva mit Silan allein ließ.
Milva trat nervös von einem Fuß auf den anderen, doch als sie eine Bewegung zur Tür hin machte, sagte Silan: "Einen Augenblick noch bitte." Seine Stimme klang irgendwie tiefer und sanfter als zuvor. "Ich nehme nicht an, dass du nur in die Dienste meiner Tante getreten bist, weil du Arbeit suchtest."
Sein Blick schien Milva zu durchbohren, und nach einem Augenblick atmete sie tief durch und schüttelte den Kopf. Silan lächelte. "Nun, das habe ich mir bereits gedacht. Für den Augenblick spielt keine Rolle, in wessen Auftrag du handelst, ich möchte nur eines wissen: Was ist dieser Auftrag?"
Milva zögerte einen Augenblick, und so fuhr Silan fort: "Ich schwöre dir, meinetwegen bei meinem Leben, dass du mir in dieser Sache vertrauen kannst. Ich werde keiner sterblichen Seele verraten, was wir in diesem... reizenden Zimmer beredet haben."
"Ich...", begann Milva langsam. Sie blickte Silan in die Augen, und fällte ihre Entscheidung. "Ich soll herausfinden, ob eure Tante euch als Erben eingesetzt hat, und wenn nicht, soll ich das Testament stehlen und es so verändern, dass ihr als Erbe eingesetzt werde, und niemand sonst."
Silan stieß einen überraschten Pfiff aus. "Nun, ich bin geschmeichelt, dass deine Auftraggeber eine so hohe Meinung von mir haben. Nun denn... hast du bereits eine Möglichkeit gefunden, an das Testament zu kommen?"
Milva schüttelte den Kopf. "Nein", erwiderte sie etwas beschämt. "Ich weiß noch nicht mal, wo sie es aufbewahrt."
"Dabei kann ich dir behilflich sein. Meine Tante bewahrt es in einer verschlossenen Kassette auf ihrem Schreibtisch auf, in ihren Privatgemächern. Sie wird nächste Woche ein Fest zu Ehren des Königs geben, also wird sie nicht in ihren Gemächern sein - vielleicht solltest du die Gelegenheit nutzen." Er zwinkerte Milva zu, und ging zur Tür. Als er neben ihr stand, sagte er leise: "Ich werde dafür sorgen, dass keine Wachen vor der Tür stehen. Also dann... bis zu unserem nächsten Treffen." Er trat durch die Tür hinaus, und Milva blieb etwas überwältigt allein zurück.
Milva zum Anwesen der Bozhidars
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