Nicht lange später erreichte Hilgorn schwimmend, von der hier kaum noch spürbaren Strömung des Gilrain angeschoben, eines der Schiffe, die im Hafenbecken trieben. Dieses und ein anderes Schiff hatten sich nach dem Einsturz der Brücke ein wenig vom Ostufer entfernt um überlebende Soldaten aus dem Wasser zu ziehen, während die übrigen die tobende Orkmasse auf dem Ostufer noch immer mit einem Hagel aus Pfeilen und Wurfgeschossen überschütteten.
Die Besatzung des Schiffes, auf das Hilgorn zusteuerte, hatte ihn offenbar bereits erwähnt, denn direkt vor ihm wurde ein Seil ins Wasser heruntergelassen. Hilgorn ergriff das Seil und begann die hölzerne Schiffswand zu ersteigen, während die Besatzung von oben zog. Als er keuchend aufwärts kletterte - es war anstrengender als er erwartet hatte, und die Kämpfe der Nacht forderten ihren Tribut - konnte er den Schiffsnamen lesen, der in silbriger, geschwungener Schrift in das Holz eingelassen worden war:
Falthaleth. Hilgorn konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Von allen Schiffen in der Flotte Dol Amroths war er ausgerechnet auf dem seines Bruders gelandet.
Er erreichte die Reling und stieg tropfnass an Deck, wo sich sofort eine Wasserpfütze um seine Füße bildete. "Sind noch viele andere im Wasser?", fragte er, und strich sich das nasse Haar aus den Augen. Einer der Seemänner, die ihn an Bord gezogen hatten, erwiderte: "Ein paar noch. Aber keine Sorgen, wir fischen sie schon auf." Der Mann streckte Hilgorn ein flaches Fläschchen entgegen. "Hier. Das wärmt dich auf." Bei dieser vertraulichen Anrede wurde Hilgorn klar, dass sein Gegenüber keine Ahnung hatte, wer er war - er hielt ihn für einen einfachen Soldaten. Hilgorn war nicht allzu verwundert darüber, denn natürlich waren die Generäle der Armee den meisten Mitgliedern der Marine ebenso wenig bekannt, wie deren Befehlshaber innerhalb der Armee. Außerdem ähnelte Hilgorn, ohne seine Rüstung und nass wie er war, vermutlich nur sehr wenig seinem üblichen, deutlich gepflegteren Selbst. Im Augenblick kümmerte ihn die Aufklärung des Missverständnisses auch wenig, also nahm er wortlos das Fläschchen entgegen, und nahm einen ordentlichen Zug. Die scharfe, rauchige Flüssigkeit rann seine Kehle hinunter, und sofort schien sich Wärme in seinem gesamten Körper auszubreiten. Man musste es seinem Gesicht angesehen haben, denn der Seemann klopfte ihm mit einem breiten Grinsen auf den Rücken und sagte: "Gut, was? Das Wasser des Lebens nennen wir es, sowas wird nur drüben im Westen von Anfalas gebraut, meiner schönen Heimat."
"Genug geredet, zurück an die Arbeit", polterte eine Hilgorn sehr gut bekannte Stimme. Aldar kam mit festen Schritten die Treppe von der Brücke hinunter, und funkelte den Seemann an, der hastig das Fläschchen wieder an sich nahm, verschloss und in seiner Tasche verstaute. "Es gibt noch jede Menge Landratten aus dem Wasser zu fischen. Und wer weiß, vielleicht lässt und der Admiral dann noch ein paar Orks schießen..." Der Matrose salutierte, doch das Grinsen war auf sein Gesicht zurückgekehrt. "Dann will ich mein bestes tun, Käptn."
Als der Mann die Reling entlang verschwunden war, wandte Aldar sich Hilgorn zu, und lachte laut auf. "Sieh an. Mein kleiner Bruder auf meinem Schiff, und das erste was er tut, ist sich mit dem Stoff meiner Leute volllaufen zu lassen..."
"Es wurde mir geradezu aufgezwungen", erwiderte Hilgorn, und konnte nicht anders, als ebenfalls zu lachen. Die ganze Anspannung der Schlacht fiel mit einem Schlag von ihm ab, und für einen Augenblick vergaß er sogar, dass ihr Lage trotz des kleinen Vorteils, den sie mit dem Einsturz der Brücke erreicht hatten, nicht unbedingt rosig aussah.
"Du darfst es meinen Leuten nicht nachsehen, dass sie dich nicht erkannt haben", meinte Aldar schließlich. "Immerhin..."
"Keine Sorge", unterbrach Hilgorn ihn. "Würde ich einen eurer Kapitäne aus dem Wasser ziehen, würde ich ihn vermutlich auch nicht sofort erkennen. Und ich weiß ja ohnehin, dass unter euch Seeleuten ein anderer Umgang herrscht, als zwischen den Soldaten und ihren Offizieren", fügte er hinzu, auf das Gespräch zwischen Aldar und dem Matrosen anspielend.
Sein Bruder zuckte mit den Schultern. "Hm. Wir sind eben nicht so steif wir ihr Landratten. Und wo wir gerade davon sprechen, wir sollten dich vielleicht so bald wie möglich dorthin zurück bringen, nicht wahr?" Hilgorn nickte. "Allerdings. Die Orks mögen für den Augenblick am Ostufer festsitzen, und die Nazgûl scheinen verschwunden zu sein, doch sie werden sich sicher nicht damit zufrieden geben, das Ostufer eingenommen zu haben - sie vernichten, was von Gondor übrig ist."
"In diesem Fall wirst du an Land gebraucht", meinte Aldar, und pfiff ohrenbetäubend auf zwei Fingern. Sofort stürzten zwei Schiffsjungen herbei, die sich in ihrem Eifer, dem Kapitän zu helfen, beinahe gegenseitig über den Haufen rannten. "Das ist General Hilgorn, der die tapferen Männer dort drüben in der Schlacht angeführt hat", stellte Aldar ihn vor, und deutete dabei auf das Westufer, wo sich die Verteidiger sammelten und neu formierten. "Und nebenbei ist er auch noch mein Bruder, also seht zu, dass ihr ihn so schnell und sicher wie möglich mit dem Beiboot ans Ufer bringt. Worauf wartet ihr noch?"
Hilgorn hatte kaum Zeit gehabt, sich erneut von Aldar zu verabschieden, so schnell hatten ihn die Schiffsjungen zum Beiboot geführt und durch das Hafenbecken wieder an Land gerudert. Auf dem Platz hinter der zerstörten Brücke angekommen, stellte er erfreut fest, dass die überlebenden Offiziere trotz seines Verschwindens und Turins Tod die Nerven nicht verloren hatten, sondern den Rückzug weiterhin organisiert und bereits Wachen am Flussufer aufgestellt hatten, die jede Bewegung des Feindes beobachten sollten. Hilgorn befahl außerdem, Boten nach Norden den Gilrain hinauf zu entsenden, und die Nachricht von der Schlacht so rasch wie möglich zu verbreiten - je eher die Wachen jenseits von Linhir gewarnt wurden, desto besser.
"Was ist mit Kommandant Turin?", fragte Balvorn schließlich, und die Gruppe der Offiziere, die sich vor einem Haus am Westende des Platzes versammelt hatte, lauschte gespannt. "Ist er ebenfalls ins Wasser gestürzt?" Hilgorn schüttelte den Kampf. "Er ist auf der Ostseite gefallen - ich habe es gesehen. Er war ein tapferer Soldat und ein guter Anführer, und sein Tod wird nicht vergessen und vergeben werden, ebenso wie der, jedes einzelnen Soldaten, der in dieser Nacht gefallen ist." Er sah sich um, und entdeckte einige hölzerne Kisten, die achtlos aufeinander gestapelt worden waren. Rasch erkletterte er den Stapel, sich seines Erscheinungsbildes nur allzu bewusst, und hob seine Stimme.
"Männer Gondors! Eine ganze Nacht habt ihr gegen die Horden Mordors gekämpft. Wir waren allein, in der Unterzahl, und sogar das Wetter selbst schien gegen uns zu stehen. Und wofür? Für eine zerstörte Brücke, könnte man sagen. Für nichts." Langsam verstummten jegliche Gespräche unter den erschöpften Soldaten, und sie alle lauschten Hilgorns Stimme, die weit über den Platz trug. Er ließ den Blick über die Gesichter seiner Soldaten schweifen, die ihn erschöpft, gespannt, mit grimmiger Entschlossenheit oder leiser Verzweiflung anblicken, und er wusste, dass dieser Moment nach der Schlacht ebenso wichtig war, wie jeder Augenblick des Kampfes - denn wenn sie Verzweiflung die Oberhand gewann, würde es keine weiteren Schlachten mehr geben, nur noch Flucht, Tod und Sklaverei. "Doch nichts von dem, was wir heute getan haben, war am Ende vergeblich", fuhr Hilgorn fort. "Wir werden nicht in der Lage sein, Mordor weiter zurückzudrängen als bis zum Gilrain, doch das wussten wir vorher bereits. Es ist jetzt unsere Aufgabe, die Grenzen unserer Macht zu erkennen - und gleichzeitig zu erkennen, was wir mit der Kraft, die wir haben, tun können. Westlich dieses Flusses leben eure Familien, eure Verwandten und Freunde, das Volk Gondors, in Frieden und Freiheit. Es ist an uns, diese Freiheit zu verteidigen. Mordor mag bis zum Gilrain gekommen sein, doch sie werden keinen Schritt weiter kommen! Unsere Wachsamkeit wird niemals nachlassen, und von diesem Tag an werden wir keinen Feind ungestraft einen Fuß auf das Westufer des Gilrain setzen lassen!" Verhaltener Jubel brach unter den Soldaten aus, doch leider nur vereinzelt.
"Die Horden Mordors sind endlos!", rief eine einzelne Stimme. "Wie können wir hoffen, sie für immer aufzuhalten?" Hilgorn suchte zornig die Menge nach dem Sprecher ab, konnte ihn aber nicht entdecken.
"Das müssen wir nicht", erwiderte er schließlich. Er hätte es gern vermieden, so weit zu gehen, denn er wollte keine Hoffnung in den Männern wecken, die sich am Ende womöglich nicht erfüllen würde - doch nun hatte er keine andere Wahl mehr. "Wir müssen nur eine zeitlang aushalten, ich weiß nicht wie lange. Doch eines Tages werden Verbündete kommen, und gemeinsam mit ihnen werden wir selbst die Dunkelheit von Mordor besiegen können!
Die Welt ist groß, und es leben viele Völker darin, die von Saurons Tyrannei bedroht werden. Es kämpfen bereits Elben des Nordens an unserer Seite, und mehr werden kommen, wenn Herrin Mithrellas aus dem Norden zurückkehrt. Viele von euch waren hier, als wir gemeinsam mit Qúsay und seinen Haradrim diese Stadt eroberten. Nur ihretwegen haben wir heute hier gekämpft, und sie werden zurückkehren, sobald die Gefolgsleute Mordors im Süden besiegt sind.
Und denkt an die zahlreichen Völker des Ostens! Lange hat Gondor gegen sie Kriege geführt, doch auch sie werden eines Tages erkennen, dass der falsche Gott, dem sie folgen, nur Tod und Verderben für die Menschheit bringt - wenn wir ihm lange genug standhalten. Wir mögen nur ein kleiner Teil eines viel größeren Krieges sein, doch wir sind der entscheidende Baustein! Söhne Gondors, die Welt schaut auf uns, das Symbol für den Widerstand gegen Mordor. Und weil ansonsten die Welt unter den Schatten fällt, werden wir standhalten - zur Not bis in die Ewigkeit!" Er wollte das Schwert ziehen und in die Höhe recken, stellte allerdings fest, dass seines gerade auf dem Grund des Gilrain lag. Also stieß er notdürftig die blanke Faust in die Luft, und zu seiner unendlichen Erleichterung war der Jubel, mit dem die Soldaten antworten, viel lauter als vorher.
Hilgorn räusperte sich, während er vom Kistenstapel herunterkletterte. "Ich brauche eine neue Rüstung", stellte er an Balvorn gerichtet fest. "Und ein neues Schwert."
"Ich werde mich darum kümmern", erwiderte der Adjutant. "Allerdings habt ihr so wie ihr ausseht vermutlich mehr Eindruck auf die Männer gemacht als in voller Rüstung - ihr habt eure gesamte Ausrüstung verloren, und seid dennoch bereit, weiterzukämpfen." Von dieser Seite hatte Hilgorn es noch nicht betrachtet, doch was Balvorn sagte, ergab im Nachhinein Sinn. "Wir haben außerdem Nachricht vom Tírn Aear erhalten", fuhr Balvorn fort. "Zwei seiner Patrouillenschiffe haben ein Schiff entdeckt und zum Ufer geleitet, das von Süden kam und offenbar durch den Sturm vom Kurs abgetrieben wurde."
"Also wollte es eigentlich weiter nach Osten... ins von Mordor besetzte Gebiet", schlussfolgerte Hilgorn. "Ich werde es mir ansehen, bevor ich nach Dol Amroth aufbreche."
Hilgorn zu den Gebieten rings um Linhir