Aldoc und Girion aus dem Auenland"Wer seid ihr und was wollt ihr hier?", fragte sie der Torwächter mit krächzender Stimme.
Aldoc hob überrascht eine Augenbraue. "Du kennst mich, Arnie."
"Hm? Oh ja, Aldoc Tuk, nicht wahr?" Arnie, einer der Torwächter von Bree, ein alter Mann, der schon hier gewesen war, als Aldoc das erste Mal nach Bree gekommen war, schien den Hobbit nun endlich zu erkennen. "Ja, ich erinnere mich. Tut mir leid, neue Vorschriften, ich kann dich nicht mehr einfach hineinlassen. Vor allem wegen deines Nachnamens."
"Klar, natürlich", seufzte Aldoc genervt. "Wir Tuks sind in dieser Gegend inzwischen berühmt. Unter anderen Umständen würde ich mich ja freuen…"
"Gibt es ein Problem?", mischte sich nun der zweite der beiden Wächter hier am Westtor von Bree ein, und dieser war keineswegs ein alteingesessener Breeländer, sondern ein Fremder, den Aldoc noch nie zuvor gesehen hatte. Er war in Eisen gerüstet und mit einem Speer bewaffnet und mutete somit weitaus bedrohlicher an als Arnie, der wahrscheinlich keiner Fliege was zu leide tun könnte.
"Nein, es gibt kein Problem", entgegnete Aldoc. "Nur ein kleines Gespräch unter alten Freunden." Er warf Arnie einen unmissverständlichen Blick zu. "Und dieser alte Freund wird uns jetzt bestimmt hineinlassen, nicht wahr?"
Arnie kratzte sich kurz nachdenklich am Kopf, nickte aber schließlich. "Ich denke, das geht in Ordnung, solange du keine Probleme machst. Hast du verstanden? Mach uns ja keine Probleme! Ich öffne jetzt das Tor."
"Nicht so schnell", hielt der andere Wächter ihn auf und sah zu Girion. "Was ist mit diesem da? Der sieht gefährlich aus."
"Ich nehme das als Kompliment." Girion schenkte dem Mann ein Lächeln, das jedem gewöhnlichen Menschen wohl das Blut in den Adern hätte gefrieren lassen. "Wir sind im Auftrag des Statthalters von Tharbad unterwegs, Lutz Farnrich. Ich deute deinen Gesichtsausdruck einmal so, dass dir der Name etwas sagt. Wenn du uns nun also bitte hineinlassen würdest."
"Ihr kennt den Statthalter?" Der Blick des Wächters huschte nervös vom Menschen zum Hobbit und wieder zurück. Dann schien ihm jedoch ein Gedanke zu kommen und er fasste sich wieder. "Nun, dann macht es euch sicherlich nichts aus, wenn ich euch jetzt sofort zu ihm bringe. Ich bin mir sicher, er kann es kaum erwarten, euren Bericht zu hören. Das heißt, sofern ihr ihn überhaupt tatsächlich kennt."
"Lutz ist hier?", fragte Aldoc überrascht. "In Bree?"
"Er ist gestern erst angekommen", erklärte Arnie. "Kenn' den noch von früher, der war mal nicht mehr als ein einfacher Mann hier in Bree, wie ich und Gerstenmann und all die Anderen. Ist ganz schön weit aufgestiegen, der Gute. Hat sich mit den hohen Herrschaften, die im Osten Krieg führen, gutgestellt. Gerissen. Sehr gerissen."
Aldoc schüttelte ungläubig den Kopf. Arnie schien nicht den Hauch einer Ahnung zu haben, wem Lutz seinen Posten wirklich zu verdanken hatte oder unter wessen Herrschaft sich Bree und ein großer Teil von Eriador im Moment befanden. Hatte er überhaupt schon einmal den Namen Saruman gehört? Vermutlich nicht. Aldoc musste an die bewaffneten Breeländer denken, auf die sie an der Brandyweinbrücke getroffen waren. Mit welchen Lügen waren sie gelockt worden? Wofür, dachten sie, würden sie kämpfen? Wahrscheinlich für dasselbe, was auch Aldoc erreichen wollte: Die Freiheit von den Unterdrückern. Nur dass die Identität dieser Unterdrücker in seinen und ihren Augen jeweils eine andere war.
"Genug geschwätzt, ich bring die beiden jetzt zum Statthalter", beharrte der andere Wächter. "Hältst du hier die Stellung, Arnie?"
"Natürlich!", Mit Elan salutierte der ältere Mann vor dem Fremden. Der seufzte nur und schüttelte den Kopf. "Ich schicke besser jemanden vorbei, um dir zu helfen." An Aldoc und Girion gewandt fuhr er fort. "Und ihr beide kommt jetzt mit mir. Werden wir mal sehen, ob sich Lutz Farnrich an euch erinnert."
Wohl oder übel waren sie gezwungen, dem Wachmann zu folgen. Aldoc konnte Girion ansehen, dass er sich überlegte, den Wächter zu überwältigen, sobald sie einmal in der Stadt waren, und obwohl es auch Aldoc in den Fingern juckte, legte er seinem Freund beschwichtigend eine Hand auf den Unterarm.
"Lass uns erst einmal sehen, wie sich die Dinge entwickeln", raunte er dem Menschen aus Thal zu. "Lutz hat keinen Grund, wütend auf uns zu sein. Er sollte nichts davon wissen, dass wir meinen Leuten in Michelbinge geholfen haben. Vielleicht ist das sogar eine gute Gelegenheit, um ihm falsche Informationen über die Geschehnisse dort unterzuschieben."
Girion nickte stumm und unternahm vorerst nichts. Schweigend folgten sie dem Wächter durch die Straßen von Bree. Die Stadt hatte sich seit Aldocs letztem Besuch überhaupt nicht und zugleich aber auch gravierend verändert. Was gleich geblieben war, waren die Gebäude, noch immer dieselben alten Steinbauten und oben am Hang des Breeberges gelegenen Smials wie schon vor jener Ewigkeit, vor der er zuletzt hier gewesen war. Verändert hatten sich dagegen die Leute. Es waren viele Fremde in den Straßen unterwegs, die meisten bewaffnet, und selbst unter den alteingesessenen Einwohnern hatte sich etwas verändert.
Aldoc vermochte es nicht genau zu benennen, aber es fühlte sich irgendwie düsterer an als einstmals, als drückte irgendetwas auf die Gemüter sämtlicher Menschen und Hobbits aus Bree. Und doch wirkten sie nicht deprimiert, jedenfalls nicht auf eine Weise wie die Hobbits im Auenland, die so lange unterdrückt worden waren, oder die Elben in Bruchtal, denen die nahende, große Dunkelheit zu schaffen machte. Nein, es schien auch eher eine Art Zorn in der Luft zu liegen. Eine unheimliche Stimmung war das hier.
"Das ist nicht das Bree, wie ich es kenne", murmelte Aldoc. "Es ist alles so… falsch. Hier war es mal fast so friedlich wie im Auenland. Jetzt sieh dir nur all die bewaffneten Menschen an."
"Überrascht mich nicht", entgegnete Girion. "Das ist heutzutage doch überall so. Mich würde es eher wundern, wenn sie alle fröhlich und unbewaffnet wären. Diese Leute sind vielleicht ein leichtgläubiges Völkchen, aber selbst sie wissen vom Krieg. Und Krieg zehrt selbst an den fröhlichsten Gemütern."
"Manchmal können einem deine depressiven Ansichten gehörig die Laune verderben, Girion."
"Ach, du warst guter Laune? Davon habe ich aber nichts gemerkt."
Der Wächter, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte, brachte den Halbling und den Menschen aus Thal zu einem Haus, das Ersterer nur zu gut kannte.
Das Gasthaus "Zum Tänzelnden Pony", stellte Aldoc fest.
Sagt bloß, Lutz hat es als seine Residenz gewählt. Dieser Schuft.Der Wachmann klopfte kurz an und trat dann ein, nachdem er sie angewiesen hatte, erst einmal draußen zu warten, mit der deutlichen Warnung, dass es unschöne Konsequenzen haben würde, wenn sie diese Gelegenheit nutzten, um wegzulaufen. Weit wären sie aber ohnehin nicht gekommen, denn nach nicht einmal einer Minute kam der Mann bereits wieder heraus und teilte ihnen mit, dass Lutz sie nun empfangen würde.
Der Schankraum des Tänzelnden Ponys war kaum wiederzuerkennen. Bis auf die Theke, hinter der stets Gerstenmann Butterblume, der Wirt dieses Gasthauses, anzutreffen gewesen war, stand nichts mehr dort, wo es einmal gestanden hatte. Die Tische und Bänke waren größtenteils an die Wände gerückt worden, sodass der Raum nun weit und leer wirkte, und nur in der Mitte war noch ein Tisch übrig geblieben, um den mehrere Stühle herum standen. Dort saßen fünf Männer, die anscheinend in irgendein Kartenspiel vertieft waren – und einer von ihnen war unverkennbar Lutz Farnrich, der Statthalter von Tharbad.
"Ah, wen haben wir denn da?", rief Lutz lächelnd, als Aldoc und Girion eintraten. "Girion, mein Freund, setz dich doch zu uns. Du musst sicher erschöpft sein von der langen Reise. Hier, wir haben noch einen Platz frei."
"Danke, aber ich stehe lieber", lehnte Girion ab, wobei weder Sympathie noch Abneigung aus seiner Stimme zu hören waren. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und stand stramm wie ein richtiger Soldat. "Ich habe wie verlangt ein Auge auf diesen Hobbit, Aldoc Tuk, gehabt."
"Ja, natürlich hast du das", sagte Lutz, als gebe es nichts Selbstverständlicheres auf der Welt. Erst jetzt wandte er sich Aldoc zu. "Ah, tatsächlich, da ist ja der Hobbit. Ich hatte dich zuerst nicht gesehen, wegen deiner Größe, du weißt schon. Ich nehme an, du hast getan, was ich von dir verlangt habe? Andernfalls befände sich ja dein Kopf nicht mehr dort, wo er jetzt ist."
"Ja", antwortete Aldoc. Jetzt war es an der Zeit, Lutz mit Lügen zu füttern. Er hatte sich auf dem Weg hierher schon eine glaubhafte Geschichte zurechtgelegt, die der Statthalter ihm bestimmt abkaufen würde. Und wenn der dann seine Truppen losschickte, um Merry, Pippin und den Thain zu erledigen… Aldoc verkniff sich ein Lächeln. "Ich habe Informationen über die Ruhestifter, die euch interessieren könnten. Zwei von ihnen…"
"Diese Halblinge interessieren mich nicht mehr", unterbrach ihn der Statthalter brüsk. "Bald werde ich sie alle unter meinem Stiefel zermalmen, gleich nach diesen aufrührerischen Waldläufern."
Ah, es ist jetzt also dein Stiefel, Lutz?, dachte sich der junge Abenteurer.
Nicht mehr Sarumans? Spiel dich nicht so auf, du bist im Großen und Ganzen auch nur ein Niemand. Aber viel wichtiger als das… was genau meinte er damit? Wenn Lutz einfach so sagte, er könne auf einmal den Sternenbund vernichten, dann sollte man das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Der Breeländer mochte vielleicht seine eigene Bedeutung für Saruman überschätzen, aber das änderte nichts daran, dass er wahrscheinlich über einige wichtige Informationen verfügte. Auf einmal erschien es Aldoc nur noch nebensächlich, Lutz mit Falschinformationen über die Geschehnisse im Auenland zu versorgen. Lieber sollte er herausfinden, was genau hier vor sich ging.
Doch Girion kam ihm zuvor. "Wie meint ihr das, Statthalter? Diese Dúnedain werden zahlreicher und zahlreicher. Sicher braucht es viele Krieger, um sie zu besiegen."
"Das stimmt", nickte Lutz. "Deswegen bin ich hier in Bree, um zu rekrutieren. Diesen gutgläubigen Bauern muss klar werden, welche Bedrohung nördlich von hier lauert. Bis jetzt ist der Krieg für sie etwas Fernes, nur ein vages Konzept, das sie nicht wirklich etwas angeht, aber das wird nicht mehr lange so bleiben. Bald schon werden die Verräter ihre gierigen Finger nach diesen Landen ausstrecken und ihre tyrannische Herrschaft weit über die Mauern von Fornost hinweg ausbreiten. Wir müssen das um jeden Preis verhindern. Deswegen werde ich morgen eine Rede halten. Ich werde die Lügen dieses sogenannten Sternenbundes entlarven und die Menschen von Bree wachrütteln! Sie sollen zu den Waffen greifen und gegen die Unterdrückung durch diese Verräter ankämpfen, bevor es zu spät ist. Versteht ihr das? Hier geht es um die Freiheit von Bree, nein, von ganz Eriador!"
Oh ja, genau darum geht es, entgegnete Aldoc wütend, allerdings nur in Gedanken.
Aber nicht die Dúnedain des Sternenbundes sind die Unterdrücker, sondern ihr seid es. Die Diener Sarumans! Heuchlerischer Bastard. Dir geht es doch nur um Macht. Dich interessiert die Freiheit dieser Leute einen Dreck. Oh, wie gerne hätte er das Lutz ins Gesicht gesagt! Aber Aldoc hing zu sehr an seinem Kopf, um das zu wagen.
"Und ihr erzählt uns das, weil…?", fragte der Halbling.
"Weil ich eine Aufgabe für euch habe", antwortete Farnrich. "Ihr kommt eigentlich genau zum richtigen Zeitpunkt. Ich befürchte, dass mir morgen nicht jeder richtig zuhören wird. Es wird solche geben, die ihre Ohren vor meinen Worten verschließen. Sie wissen nicht, worauf sie sich einlassen. Deshalb werde ich es ihnen persönlich verdeutlichen müssen. Da kommt ihr beiden ins Spiel. Ihr werdet euch unter die Menge mischen und darauf achten, ob jemand widerspenstig ist. Findet diejenigen, die sich nicht überzeugen lassen, und bringt sie zu mir."
In anderen Worten wollte er also herausfinden, ob es in Bree irgendwelche Aufrührer gab, die sich ihm nicht so einfach beugten. Im Ernst, wem wollte er durch diese bedachte Ausdrucksweise etwas vormachen? Findet die Verräter, so lautete der Auftrag, nicht mehr und nicht weniger. Es hätte auch gereicht, es ihnen genau so zu sagen. Auf diese Weise jedoch um den heißen Brei herumzureden und dabei ernsthaft anzunehmen, Aldoc und Girion würden nicht verstehen, worum es ihm wirklich ging, und glauben, er wolle tatsächlich nur das Beste für die Einwohner von Bree… das war eine Beleidigung für Aldocs Intelligenz!
Dennoch gab er sich weiterhin unterwürfig. Er hatte keine andere Wahl, vor allem, wenn er die muskulösen Gefährten des Statthalters betrachtete, denen bisher noch kein Wort über die Lippen gekommen war. Das war auch nicht nötig. Ihre bedrohliche Präsenz sagte alles. Diese Männer waren keine Freunde von Lutz, die mit ihm nach langer Zeit mal wieder ein wenig Karten spielten, nein, sie waren offensichtlich seine Leibwächter. Vermutlich wäre nicht einmal Girion allen vieren dieser Kerle auf einmal gewachsen.
"Einverstanden", sagte der Abenteurer daher. "Wir werden die Leute finden, die ihr sucht. Sollen wir sie gleich zu euch bringen oder nur ihre Namen in Erfahrung bringen?"
"Die Namen sollten genügen", erwiderte Lutz. "Aber wenn ihr sie gleich herbringen könnt, umso besser. Aber behandelt diese Angelegenheit diskret. Ich will keinen Aufruhr verursachen."
"Verstanden", nickte der Hobbit. "Es wird geschehen, wie ihr verlangt."
"Ausgezeichnet." Lutz lächelte wie jemand, der glaubte, jemanden anderen auf unheimlich raffinierte Weise überlistet zu haben. "Das wäre dann alles. Ich erwarte euch dann morgen nach meiner Rede."
Nachdem Aldoc und Girion die Taverne verlassen hatten und endlich aufatmen konnten, wandte sich der Mensch, sobald sie außer Hörweite etwaiger Wachen oder Anhänger von Lutz waren, mit sorgenvoll gerunzelter Stirn an den Hobbit. "Und was machen wir nun?"
"Na, was wohl?", entgegnete Aldoc. "Wir tun genau das, was Lutz uns aufgetragen hat. Wir suchen die Aufrührer." Er setzte ein fieses Lächeln auf. "Und dann schließen wir Freundschaft mit ihnen."