Odjana vom MarktplatzOdjana schreckte auf. Sie hatte sich eigentlich nur einmal kurz hinlegen wollen, doch nun schien es ihr so, als hätte sie wesentlich länger geschlafen, als sie es vorgehabt hatte. Aus Angst die entscheidende Nacht verpasst zu haben, erhob sie sich aus ihrer Hängematte und verließ ihre Kajüte. Auf dem Deck des Korsarenschiffes schlug ihr der Regen ins Gesicht und sie hörte aufgeregte Rufe. Die Nacht war noch nicht ganz vorbei, doch der Morgen würde in Kürze anbrechen. Odjana sah sich im schwach beleuchteten Hafen von Linhir um. Ihr Schiff war das einzige Schiff der Korsaren, allerdings lagen außerdem noch zwei Handelsschiffe der Haradrim am Kai. Ein weiteres großes Kriegsschiff der Haradrim blockierte die schmale Ausfahrt des Hafenbeckens in den Gilrain.
Odjana folgte den Blicken der wenigen Leuten am Kai und auf den anderen Schiffen, die alle in die selbige Richtung zielten.
Eigentlich hätte Odjana erwartet, dass alles Augenmerk nach Westen ausgerichtet wäre, denn nach dort war das Heer der Haradrim gezogen und von dort erwartete man Nachricht über den Sieg gegen die Menschen aus Gondor. Odjanas Blick wandte sich nun jedoch nach Osten. Erst erkannte sie nichts im Regen, dann wurden zwei riesige Silhouetten in der Entfernung am Nachthimmel sichtbar.
„Nazgûl“, rief einer der Männer und Odjana spürte seine Frucht beim Aufschrei mitklingen. Obwohl sie selbst noch nie einem dieser Geister begegnet war, hatte sie dennoch schon einige Geschichten gehört und sie wusste, dass die Haradrim, obwohl sie mit Sauron verbündet waren, seine obersten Diener verabscheuten.
Im Tiefflug rauschten die beiden Ringgeister auf ihren Fellbestien parallel nebeneinander über den Gilrain und den Hafen von Linhir. Odjana spürte ihren Herzschlag schlagartig beschleunigen, spürte ein großes Unwohl in ihr Aufsteigen und merkte, wie es sich in ihrem Kopf zu drehen anfing, als die Nazgûl über ihren Kopf entlang zogen.
An der westlichen Außenmauer drehten die beiden Nazgûl und flogen in einer riesigen Rechtskurve einmal um Linhir herum, um dann, um die Schleife zu vollenden, noch einmal über den Hafen zu fliegen.
Während sich im Osten die ersten Sonnenstrahlen des Tages zeigten, setzten die Nazgûl ihren Weg nach Westen fort. Beim Überflug über die Stadtmauer ließ einer der Nazgûl ein markerschütterndes Kreischen von sich, welches alle Menschen in Linhir, ob zuvor schlafend oder auf den Beinen, zusammenzucken ließ.
Unsicher, was die Nazgûl zu bedeuten hatten und was nun zu tun war, ließ Odjana ihren Blick noch einmal über den Kai schweifen, nachdem sie die Nazgûl am Nachthimmel nicht mehr erkennen konnte. Wie sie schon fast erwartet hatte, erkannte Odjana das junge Gesicht von Eandril. Es war von Entsetzen und Trauer geprägt. Über die schmale, ausgefahrene Passerelle verließ Odjana das Schiff um zu Eandril zu kommen, der unter einem Dachüberstand auf sie wartete.
Zuletzt hatten die Beiden sich an der westlichen Außenmauer gesprochen und beobachtet wie das Heer der Haradrim davon zog. Auch dort hatte Eandril wieder versucht Odjana auf seine Seite zu ziehen. Teilweise war sie darauf eingegangen, da es nicht schaden konnte sich mehrere Möglichkeiten offen zu halten.
„Zwei Nazgûl“, sprach Eandril nun zu Odjana und versuchte sich unauffällig eine Träne wegzuwischen. „Sie fliegen zur Schlucht“, erklärte Eandril völlig überflüssigerweise weiter, „Sauron ist noch nicht bereit die Haradrim und Linhir aufzugeben. Genau das müssen wir aber erreichen.“ Kurz schwieg Eandril, fuhr dann aber fort: „Was die Nazgûl auch bezwecken mögen, ob sie den Haradrim des Abdul-Aziz den Sieg bringen oder nicht. Wir müssen nun aktiv werden und Linhir von innen heraus übernehmen. Fast alle der treuen Haradrim Saurons kämpfen derzeit in der Schlucht. Nur eine sehr geringe Zahl hält hier die Wache. Mit der Hilfe, der hier gefangenen Krieger Gondors, können wir es schaffen…“
„Und wozu brauchst du mich?“, fragte Odjana, obwohl sie die Antwort zu kennen glaubte. Eandrils Blick wendete sich zum Kriegsschiff der Haradrim am Ausgang des Hafens. „Wir brauchen die Korsaren und ihr Schiff“, erklärte er, „solange das Schiff mit den saurontreuen Haradrim den Hafen kontrolliert, können wir unseren Plan nicht umsetzen.“
Odjana guckte Eandril weiter fragend an bis dieser in seinen Erklärungen weiter ausholte: „Für den Fall, dass es Hinweise gibt, nach denen die Schlacht in der Schlucht verloren werden könnte, wurden Pläne gemacht: Meine Aufgabe ist es dabei den Hafen zu sichern, die Schiffe startklar zu machen und so viele Gefangene wie möglich zu befreien und im Falle des Falles diese mit den Schiffen aus der Stadt in Sicherheit nach Dol Amroth zu bringen. Selbst wenn unser offener Aufstand in der Schlucht verloren geht, wollen wir ein Zeichen setzen. Wir wollen zeigen, dass wir verbündete Gondors sind.“
Bei den Worten „in Sicherheit nach Dol Amroth zu bringen“ hatte Odjana aufgehorcht. Vielleicht schloss sich grade hier der Kreis, dachte Odjana und überlegte wie sie als Retterin der hier Gefangenen nach Dol Amroth kommen würde, wo sie womöglich sogar bei den Kindern von Imrahil eine Audienz bekommen würde.
„Ein ehrbares Ziel“, sprach Odjana ganz ruhig, „aber ich entscheide nicht darüber, ob sich die Korsaren gegen Sauron wenden und ein vollbesetztes Kriegsschiff angreifen. Diese Entscheidung obliegt dem Kapitän.“ „Dem Kapitän, der dein Mann ist. Es dürfte nicht schwer für dich sein ihn zu überzeugen“, ergänzte Eandril und bezog sich auf Odjanas Aussage, die sie Abdaberie gab.“
„Nein“, lachte Odjana kurz auf, „das erzähle ich nur, damit mich nicht jeder von der Seite zuredet, was auch immer ganz gut funktionierte, außer bei dir. –Er ist nicht mein Mann. Ich bin nicht verheiratet.“
Kurz verblüfft, doch schnell wieder gefangen, sprach Eandril mehr zu sich selbst als zu Odjana: „Dann werde ich selbst mit dem Kapitän sprechen.“
„Eine gute Idee, aber er schläft um diese Zeit vermutlich und er ist sicher nicht bester Laune, wenn du ihn jetzt weckst“, erwiderte Odjana. „Unsinn. Niemand schläft mehr. Ganz Linhir ist erwacht beim Kreischen dieses Untiers“, erklärte Eandril und ging auf das Korsarenschiff zu.
Odjana folgte ihm nicht, obwohl sie hoffte, dass Eandril Erfolg haben würde. Sie hatte wenig Lust mit dem Kapitän zu sprechen. Stattdessen überlegte Odjana, ob es nicht Zeit wäre schon jetzt, zu mindestens vorübergehend, auf die Seite der Gondorer zu treten und diese aus ihren Gefängnissen hier in Linhir zu befreien.
Odjana auf die Hauptstraße