Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Arnor
Das Auenland
Azaril:
"Ist dein Vater nicht hier?", fragte Aldoc, nachdem sie das Smial des Thains durch den runden Eingang betreten hatten. Girion fluchte lauthals über den viel zu niedrigen Türsturz, an dem er sich beinahe den Kopf gestoßen hätte, und danach über die viel zu niedrige Decke, an der er sich beinahe den Kopf gestoßen hätte, und schließlich über den viel zu niedrig hängenden Kronleuchter in dem kleinen Eingangssaal, an dem er sich beinahe den Kopf gestoßen hätte. Aber solange es bei einem beinahe blieb, war Aldoc gewillt, ihn zu ignorieren. Sobald dieses beinahe jedoch zu einem tatsächlich wurde, würde er es als seine Pflicht ansehen, zu lachen.
Petunia schüttelte auf seine Frage hin den Kopf. "Du hast es vielleicht schon bemerkt, Aldoc, aber im Moment sind nur wenige Hobbits in Tuckbergen, hauptsächlich Frauen und Kinder. Die Männer befinden sich allesamt in Michelbinge, zusammen mit einigen Hobbits aus Hobbingen und Wasserau. Die Lage hat sich geändert, seit du das letzte Mal hier warst. Wir haben jetzt den Kampf aufgenommen."
"Dann ist es also wahr?", wollte Aldoc wissen. "Merry und Pippin sind zurück und haben einen Teil des Auenlandes befreit?"
Dieses mal nickte die junge Hobbitfrau. "Sie kamen mit einigen Verbündeten. Nun ja, erst einmal haben sie sich von Grima Schlangenzunge einkerkern lassen, zusammen mit einer Frau namens Kerevally oder so, aber die Verstärkung kam kurz danach. Einige Dúnedain und Gandalf, dieser Zauberer, der auch früher oft hier war. Sie haben den Spieß umgedreht und Schlangenzunge in Ketten gelegt, und als die Rüpel aus Michelbinge kamen, um zurückzuschlagen, haben sie diese in einen Hinterhalt gelockt und vollkommen aufgerieben."
"Dann sind Hobbingen und Wasserau tatsächlich frei?" Aldoc seufzte erleichtert. Ein Lichtpunkt in der Dunkelheit. "Und Michelbinge jetzt auch?"
"Nun ja." Petunia rang nervös die Hände. "Theoretisch schon."
"Was soll das heißen?"
"Am besten setzen wir uns erstmal", schlug sie vor und führte die beiden Gäste in einen gemütlichen Raum mit einem Tisch, einem Kamin und mehreren gepolsterten Sesseln. Girion ließ sich ohne zu zögern in einen davon fallen, wobei dieser bedenklich knarrte, und beklagte sich schon kurz darauf, dass der Sessel viel zu niedrig wäre. Petunia und Aldoc nahmen nebeneinander dicht am Kamin Platz, in dem derzeit jedoch kein Feuer flackerte, nicht einmal ein winziges Flämmchen.
"Petunia?", schallte auf einmal eine Stimme aus dem Nachbarraum, der Küche, zu ihnen herüber. "Haben wir Besuch?"
Kurz darauf erschien eine weitere Hobbitfrau auf der Schwelle zur Küche und musterte die Gäste überrascht. "Ein Langer? Und... wenn das mal nicht Aldoc ist! Meine Güte, bin ich froh, dich wiederzusehen, mein Junge!"
Die Frau, die dasselbe goldblonde Haar hatte wie Petunia, kam mit weiten Schritten auf Aldoc zu und schloss ihn in ihre kräftigen Arme. Aldoc lächelte verlegen. "Es freut mich auch, dich zu sehen, Tante Heiderose."
"Kann ich euch irgendetwas bringen?", fragte Heiderose Tuk, die Frau des Thains, an die beiden unerwarteten Besucher gewandt. "Tee? Oder vielleicht ein wenig Wein?"
"Eine Tasse Tee wäre recht", sagte Aldoc.
"Ihr Hobbits habt Wein?", fragte Girion hingegen. "Den würde ich gern mal probieren!"
"Für mich nichts, Mutter, danke", lehnte Petunia ab, als Heiderose sich an sie wandte. Die ältere Frau nickte und eilte geschäftig zurück in die Küche.
"Das war meine Mutter, Heiderose Tuk", erklärte Petunia dem Krieger aus Thal. "Bis auf sie und mich befindet sich zurzeit niemand hier. Mein Vater und mein Bruder sind in Michelbinge und meine Schwestern in Wasserau."
"Was hast du vorhin damit gemeint, dass Michelbinge nur theoretisch frei sei?", wollte Aldoc wissen. "Wenn Paladin und Peregrin dort sind, und auch noch die Dúnedain und Gandalf, dann werden die Strolche dort wohl kaum eine Chance haben."
"Gandalf ist nicht mehr im Auenland", erklärte Aldocs langjährige Freundin. "Und die meisten der Dúnedain und die Frau, die mit Merry und Pippin eingefangen wurde, auch nicht. Sie haben uns ein paar ihrer Leute hier gelassen, damit sie uns ausbilden, und haben uns dann wieder uns selbst überlassen."
"Bitte erzähl mir alles, was geschehen ist, seit ich von hier aufgebrochen bin, Petunia", bat der Abenteurer.
So begann sie, die letzten Geschehnisse kurz für ihn zusammenzufassen. Offenbar hatten sich Merry und Pippin, nachdem die Dúnedain vom sogenannten Sternenbund und der Zauberer Gandalf abgereist waren, zunächst hier in Tuckbergen mit dem Thain getroffen und sich dann mit seiner Unterstützung daran gemacht, jeden Hobbit in der näheren Umgebung zu sammeln, der bereit war, gegen Scharkers Schergen zu kämpfen, wobei es vor allem Tuks gewesen waren, die sich ihrer Sache angeschlossen hatten. Danach waren sie so schnell wie möglich nach Michelbinge gezogen, ehe sich die verbliebenen Rüpel dort einigeln konnten. Es hatte ein kurzes Gefecht gegeben, in welchem die Hobbits einen raschen Sieg errangen, doch war gegen Ende des Kampfes wohl einigen Menschen die Flucht in den Vorratsstollen von Michelbinge gelungen, der inzwischen auch als Gefängnis für all die inhaftierten Hobbits diente.
"Dort haben sie sich nun verbarrikadiert und drohen, die gefangenen Hobbits umzubringen, wenn der Thain und seine Leute versuchen sollten, den Stollen zu erobern", beendete Petunia ihren Bericht. "So sieht also die aktuelle Situation aus. Wir Hobbits belagern den Vorratsstollen von Michelbinge."
"Und ich nehme an, da es ein Vorratsstollen ist, haben die Strolche mehr als genug Vorräte für eine lange... nun, Belagerung?", vermutete Girion. "Ich sehe, das ist eine verzwickte Lage." Er nippte an dem Wein, den Heiderose inzwischen gebracht hatte. "Mhm... nicht schlecht, nicht schlecht. Ich könnte mich an euren Hobbitwein gewöhnen."
"Der stammt aus Mithlond, nicht aus dem Auenland", merkte Aldoc an.
"Woher willst du das wissen? Ich dachte, du wohnst in einem anderen... äh... wie nennt ihr diese Dinger... Smial?"
"Das mag sein, aber ich habe dem Thain von einer meiner Reisen mal eine Flasche Wein aus Mithlond mitgebracht, und nachdem er gefallen daran fand, habe ich ihm jedes Mal, nachdem ich dort war, eine weitere Flasche mitgebracht", erzählte Aldoc, und fügte leise murmelnd hinzu: "Auch wenn die erste Flasche eigentlich für Petunia gedacht war..."
"Wo wir schon von deinen Reisen sprechen, Aldoc, kannst du gleich damit beginnen, mir von deinen neuesten Abenteuern zu erzählen", meinte Petunia. "Ich brenne schon darauf, zu erfahren, wie es dir ergangen ist."
Aldoc seufzte tief. "Viel zu erzählen gibt es nicht. Ich war in Bruchtal. Es war niemand dort, den ich um Hilfe hätte bitten können. Dann habe ich mich eine Zeit lang in Dunland ausgeruht. Schließlich war ich auch in Tharbad, wo ich ein nettes Gespräch mit dem Statthalter geführt habe. Und jetzt bin ich wieder hier."
Darauf schwieg Petunia kurz. "Aldoc... was genau ist geschehen? Dass du nicht gerne von einer deiner Reisen erzählst, das ist... nicht einmal selten, nein, es ist überhaupt noch nie vorgekommen. Geht es dir gut?"
Nein. Natürlich ging es ihm nicht gut. Nicht, wenn er an all das dachte, was er in den letzten Wochen hatte durchmachen müssen. Erst war ein guter Freund gestorben und er hatte gegen ein Rudel Warge kämpfen müssen, vor denen er höllische Angst hatte, dann war er von Dunländern eingekerkert worden und letztlich zu allem Überfluss noch zu einem unfreiwilligen Spion Sarumans erklärt worden. Und über alledem hatte er auch noch in der einen Aufgabe versagt, die der Thain ihm aufgetragen hatte.
"Ich kenne zwar nicht alle Details seiner Reise, aber er saß wohl einige Zeit in einem finsteren Kerker in Dunland", eröffnete Girion dem Hobbitmädchen, das daraufhin erschrocken aufkeuchte.
"Aldoc!" Sie stand auf und kam zu ihm hinüber. Er wandte sich ab. "Kümmere dich nicht darum, Petunia, es spielt keine Rolle. Letztlich habe ich einfach nur versagt."
"Nein, das hast du nicht", widersprach Petunia und setzte sich auf die Lehne seines Sessels, während sie zugleich seinen rechten Arm nahm und das rote Stoffband löste, welches er sich bei jeder Reise um das Handgelenk band und dessen Farbe nach all den Jahren inzwischen ein wenig ausgeblichen war. "Weißt du noch, woher du dieses Band hast?"
Natürlich wusste er es. Es gab immerhin einen Grund, warum er es auf jede einzelne seiner Reisen mitnahm. Seufzend sah er Petunia in die Augen. "Du hast es mir geschenkt, damals, vor meiner allerersten Reise. Als Zeichen für das Versprechen, das ich dir gab. Ich versprach, nach Hause zurückzukehren."
"Und dieses Versprechen hast du erneuert, nachdem mein Vater dich entsandte, um nach Hilfe zu suchen", erinnerte sie ihn. "Du hast nicht versagt, Aldoc. Nicht mir gegenüber. Du bist zurückgekommen. Und dafür danke ich dir von ganzem Herzen." Sie band ihm das alte Stück Stoff wieder ums rechte Handgelenk. "Und jetzt wirst du mir alles erzählen, verstanden? Das Gute wie das Schlechte."
Azaril:
Einige Stunden nach dem Gespräch mit Petunia stand Aldoc auf der Terrasse des Smials des Thains, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, und blickte von dort aus nach Westen. Vor ihm erstreckten sich die Hügel, Wälder und Felder des Auenlandes, die so friedlich wirkten wie eh und je, scheinbar unberührt von den Geschehnissen der letzten Jahre überall in Mittelerde. Aber die Gefahr war noch lange nicht gebannt, auch nicht hier im Auenland.
"Woran denkst du?", fragte plötzlich jemand hinter ihm. Aldoc warf einen kurzen Blick über die Schulter und erkannte Girion, der vor dem der Terrasse zugewandten Eingang der Hobbithöhle stand.
Nachdem Aldoc von seiner letzten Reise erzählt hatte, angefangen bei seinem Weg nach Bruchtal, über Farodas' Tod und den Aufenthalt im Kerker bis hin zu seinem Gespräch mit Lutz Farnrich und der Überquerung der Sarnfurt, hatte Petunia ihn in die Arme geschlossen und ihm Trost zu spenden versucht. Und obwohl er die Berührung genossen hatte, war es doch nicht das gewesen, was er im Moment brauchte. Jetzt, ein üppiges Hobbitmahl und ausführliches Bad später, stand er hier und dachte über genau das nach: Was er in diesem Moment wirklich brauchte, wirklich wollte. Er war zurück in der Heimat... das sollte ihm eigentlich genug sein, oder? Vor allem nach diesem letzten, gründlich misslungenen Abenteuer.
"Ich denke, ich gehe wieder", antwortete er schließlich auf Girions Frage. Der Mensch stellte sich an seine Seite und sah ihn fragend an. "Wie darf ich das verstehen, Aldoc?"
"Genau so, wie es gemeint ist: Ich gehe wieder. Ich bleibe nicht hier. Ich habe in den letzten Monaten rein gar nichts erreicht. Und das nagt an mir. Ich kann nicht untätig zuhause herumsitzen. Ich bin nicht einmal einen Tag lang zurück und schon zieht es mich wieder in die Ferne. Ich kann wohl einfach nicht lange an einem Ort verweilen, was?"
"Ich kenne dich nicht lange genug, um das beurteilen zu können", meinte Girion. "Aber allein, dass du bereit warst, bis nach Aldburg zu gehen, um deinem Volk zu helfen, zeigt, dass du kein gewöhnlicher Hobbit bist. Vielleicht bist du eher wie einer dieser Waldläufer."
Aldoc hob überrascht eine Augenbraue. "Wie meinst du das?"
"Nun ja, du sagtest selbst, dass du nicht lange an einem Ort bleiben kannst. Du streifst durchs Land, bist mal hier und mal dort." Der Mensch aus Thal zuckte mit den Schultern. "Das hat mich einfach an die Waldläufer des Nordens erinnert. Das ganze Land ist ihre Heimat, nicht nur ein einzelner Platz."
"Das ganze Land... meine Heimat..." Dieser Gedanke gefiel Aldoc. Sehr sogar. Tuckbergen, wo er geboren und aufgewachsen war, würde immer einen besonderen Platz in seinem Herzen einnehmen, aber dennoch... "Ich bin dann wohl in ganz Eriador zuhause, hm? Hätte ich vielleicht früher erkennen sollen."
Für ein paar Minuten schwiegen sie beide, ehe Girion eine Frage stellte. "Hast du schon einen Plan, wohin dich deine nächste Reise führen wird?"
Aldoc überlegte kurz und nickte dann. "Michelbinge, fürs erste. Ich werde sehen, ob ich dort ein wenig helfen kann, und wenn nicht, dann werde ich Gandalf folgen."
"Dem Zauberer? Warum?"
"Er zieht Unheil an", antwortete Aldoc. "In einem guten Sinne."
Girion kratzte sich verwirrt am Kopf. "Muss ich das verstehen?"
"Ich meine nur, wo Gandalf ist, da geschieht etwas. Wichtige Dinge. Er war Teil des weißen Rates, hat in manch einer Schlacht in Rohan und Gondor gekämpft, und kennt jeden, der in den freien Völkern Rang und Namen hat. Falls du es noch nicht mitbekommen haben solltest, ich bin hauptberuflich Abenteurer. Und Gandalf, auch wenn ich ihn nicht sonderlich ausstehen kann, hält ein respektables Arsenal an Abenteuern bereit für jeden, der sich ihm anschließt. Diesen Eindruck habe ich zumindest." Nicht zuletzt auch wegen Bilbos Geschichten.
"Klingt nach einem Mann, den man meiden sollte", meinte Girion.
Das mochte sein, aber das änderte nichts daran, dass dort, wo Gandalf war, oftmals wichtige Dinge geschahen. Aldoc hatte einmal versagt, bei seinem bislang größten Abenteuer. Er hatte den Drachen nicht getötet, die große Schlacht nicht überlebt, den gewaltigen Schatz nicht geborgen. Das würde ihm nicht noch einmal passieren. Er atmete noch. Und solange er das tat, würde er jede weitere Gelegenheit ergreifen, ein richtiges Abenteuer zu erleben wie einst Bilbo Beutlin – und es zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Er konnte Gandalf zwar nicht wirklich leiden, da sein Unterbewusstsein den Zauberer wohl noch immer mit Bilbos Verschwinden an dessen einhundertelften Geburtstag in Verbindung setzte, aber das bedeutete nicht, dass er deswegen nicht bereit war, mit dem Zauberer zu sprechen und mit ihm und den Dúnedain des Sternenbundes zu kämpfen.
Aber ehe er das tat, musste er dem Thain Bericht erstatten und wollte Pippin und Merry wiedersehen. Und vielleicht konnte er ihnen ja auch bei diesem Problem mit den restlichen Rüpeln helfen.
Als Aldoc Petunia an diesem Abend mitteilte, dass er im Morgengrauen bereits wieder nach Michelbinge aufbrechen würde, nahm sie das überraschend gefasst hin. Und keine zehn Sekunden später erfuhr der junge Tuk auch, woran das lag. "Dann komme ich mit", behauptete sie kurzerhand.
Aldoc hätte sich fast an dem Tee verschluckt, den er gerade gemütlich am Kamin trank. Verdutzt sah er die blonde Hobbitfrau an. "W-Wie bitte?"
"Du hast schon richtig gehört. Ich komme mit nach Michelbinge. Das ist immerhin kein weiter Weg und ich bin es leid, nur hier herumzusitzen und abzuwarten, bis sich dort irgendetwas tut. Außerdem muss jemand diesen Menschen hier im Auge behalten."
Girion blickte überrascht auf. "Etwa mich? Nicht nötig, wirklich. Ich ramme euch schon keinen Dolch in den Rücken."
"Das werden wir ja sehen." Petunia musterte ihn mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen. "Es gibt dieser Tage viele Menschen mit einer rechtschaffenen Fassade, die in ihrem Inneren aber verdorben sind wie ein hässlicher Ork."
Das erschien Aldoc ein wenig zu hart. "Ich denke nicht, dass Gir..."
Der Mensch aus Thal hob beschwichtigend eine Hand. "Schon gut, Aldoc, sie hat ja recht. Es ist besser, misstrauisch zu sein. Das ist genau das, was ich dir auf dem Weg hierher auch gesagt habe. Wenn du mich überwachen willst, kleine Lady, dann nur zu. Solange ihr mich weiterhin so großzügig verköstigt, werde ich mich nicht beschweren."
Er führte den Weinkelch in seiner Hand an die Lippen, runzelte dann aber ärgerlich die Stirn. "Schon wieder leer. Habt ihr noch welchen?"
Azaril:
Der Hobbit saß gemütlich im hohen Gras, die Augen genießerisch geschlossen, einen tiefen Zug aus einer Pfeife nehmend und kleine Rauchringe ausstoßend. Aldoc sah ihn eine Zeit lang an und trat dann einen Schritt nach vorne, sodass sein Schatten direkt auf das Gesicht des Halblings fiel, das zuvor noch von der Sonne beschienen worden war. Überrascht öffnete der rauchende junge Mann die Augen.
"Ich hörte, hier sei eine Belagerung im Gange, aber wenn du Zeit findest, dich zurückzulehnen und ein wenig Alter Tobi zu genießen, habe ich mich wohl geirrt", sagte Aldoc.
"Hm... was?" Der Hobbit blinzelte verdutzt. "Ja, da tritt mich mal ein Troll! Aldoc! Du hier? Lange nicht gesehen!"
"Zu lange", stimmte Aldoc seinem Freund Peregrin Tuk zu und schloss ihn fest in die Arme, nachdem dieser sich endlich aus dem Gras erhoben hatte. Es tat gut, Pippin wiederzusehen. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit, waren zusammen aufgewachsen und hatten die Erwachsenen in Tuckbergen seit jeher dazu gebracht, sich verzweifelt die Haare zu raufen. Aber sie waren nicht immer nur zu zweit gewesen. Es fehlte noch der dritte im Bunde. "Sag, Pippin, wo ist Merry?"
"Ich bin hier", meldete sich eine Stimme hinter ihm zu Wort. "Da geht man nur mal kurz austreten, und schon fängt man an, Geister zu sehen. Wir haben uns schon gefragt, wo du schon wieder steckst, Aldoc!"
Der junge Abenteurer drehte sich nun zu Meriadoc Brandybock um, einem weiteren Freund aus Kindheitstagen, den er allerdings nicht ganz so gut kannte wie Pippin. Dennoch schloss er auch ihn freudig in die Arme, ehe er auf die Frage antwortete. "Ach, du weißt schon, ich bin mal hier und mal dort, ganz Eriador ist meine Heimat. Letztens habe ich die kulinarischen Genüsse von Tharbad ausprobieren dürfen und eine kostenlose Besichtigung eines Kerkers in Dunland von Innen erhalten. Und so ganz nebenbei bin ich jetzt auch einer von Sarumans Spionen."
"Tatsächlich? Dann sag ihm aber bitte nicht, dass wir es waren, die bei mehreren Gelegenheiten sein kostbares Pfeifenkraut haben mitgehen lassen", sagte Pippin lachend. "Sonst fühlt er sich womöglich noch verpflichtet, persönlich ins Auenland zu kommen, um an uns Rache zu üben."
Das veranlasste Aldoc dazu, ein fieses Lächeln auf dem Gesicht zu zeigen. "Wenn das so ist, habe ich eine grandiose Idee, wie wir den weißen Zauberer in eine Falle locken könnten."
Daraufhin brachen sie alle Drei in schallendes Gelächter aus. "Oh, es tut so gut, euch zu sehen, Pippin, Merry!"
"Ja, gibt’s denn so 'was?", beschwerte sich Petunia, die mit Girion ein wenig abseits stand. "Ich musste ihn an sein rotes Band erinnern, damit er mir irgendetwas erzählt, aber siehe da, wenn er mit diesen beiden spricht, schafft er es sogar, über seinen Kerkeraufenthalt zu scherzen! Diese drei Bengel waren schon immer einfach so... so... grrrr!"
"Und grrrr heißt was genau?", fragte Girion interessiert.
"Grrrr heißt eben grrrr", antwortete sie. "Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig, Langer!"
Sie befanden sich gut dreihundert Meter vor Michelbinge, auf einem Hügel nahe der Straße. Aldoc, Petunia und Girion waren wie geplant am frühen Morgen aus Tuckbergen aufgebrochen, um den anderen Hobbits bei ihrer Belagerung des Vorratsstollens von Michelbinge zu helfen. Doch hier, ein wenig außerhalb der Siedlung, hatte Aldoc auf einmal ein bekanntes Gesicht entdeckt: Peregrin Tuk hatte mit geschlossenen Augen auf dem Südhang eines Hügels gelegen und den jungen Abenteurer dadurch dazu veranlasst, ihm die Sonne zu nehmen, was schließlich in diesen freudigen Wortwechsel resultiert hatte, über den sich Petunia so beschwerte.
Aldoc scherzte noch ein wenig mit seinem beiden langjährigen Freunden Merry und Pippin, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sein letztes Gespräch mit Pippin hatte kurz vor Frodo Beutlins Umzug nach Krickloch stattgefunden – und danach war ohnehin alles aus dem Ruder gelaufen, sowohl im Auenland als auch im ganzen Rest von Mittelerde. Es war noch gar nicht so lange her, dass Aldoc von der Gemeinschaft des Ringes und infolgedessen von all den Abenteuern erfahren hatte, die seine beiden Freunde im tiefen Süden erlebt hatten.
Sie hatten sich wahrlich viel zu erzählen.
Nachdem Aldoc seinen beiden Freunden kurz Girion vorgestellt hatte, machten sie sich gemeinsam auf den Weg nach Michelbinge, während sie Geschichten über ihre jüngsten Erlebnisse austauschten. So erfuhr Aldoc ein wenig genauer, wie die Befreiung von Hobbingen und Wasserau abgelaufen war. Sein Interesse galt vor allem den Dúnedain des Sternenbundes, über die ihm Merry und Pippin allerdings weniger als erhofft erzählen konnten. Zwar kannten sie die Namen einiger der Mitglieder dieser Widerstandsgruppe, aber darüber hinaus hatten sie wenig über den Sternenbund zu berichten.
"So oder so ist es gut, dass es wenigstens noch ein paar Leute gibt, die sich Saruman entgegenstellen, vor allem nach dem, was in Aldburg geschehen ist", meinte Merry schließlich.
Aldburg. Wenn alles nach Plan verlaufen wäre, hätte er die beiden vermutlich dort getroffen und nicht erst wieder hier im Auenland. Aber Pläne hatten es nunmal an sich, nicht aufzugehen. Aldoc fiel ein, dass er immer noch nicht genau wusste, welches Ergebnis die dortige Versammlung eigentlich geliefert hatte. Aus irgendeinem Grund hatte er es völlig versäumt, Girion oder auch Petunia danach zu fragen.
"Was meinst du damit?", fragte er Merry daher.
"Du weißt es noch gar nicht?" Der Brandybock hob überrascht die Augenbrauen. "Einige der freien Völker haben sich mit Saruman verbündet."
"Sie haben was?" Aldoc musste sich verhört haben. Hatte Merry gerade wirklich behauptet, dass all die mächtigen Fürsten während der Ratsversammlung in Aldburg ein Bündnis mit Saruman geschlossen hatten? Mit Saruman? "Unmöglich."
"Leider ist es wohl doch möglich", meinte Pippin seufzend. "Die Rohirrim wollten mit Saruman Dol Guldur angreifen, wenn ich mich recht entsinne. Und einige Elben sind auch dabei."
Aldoc schüttelte den Kopf und wiederholte sich. "Unmöglich. Aber verdammt... irgendwie klingt es doch plausibel." Er warf einen vielsagenden Seitenblick zu Girion. "Mit Sauron auf dem Vormarsch, wer könnte es da jemandem verdenken, wenn er sich lieber für Saruman entscheidet?"
"Meine Worte", stimmte ihm der Mensch aus Thal zu, der anscheinend nicht zu bemerken schien, dass der Hobbit dabei genau an ihn gedacht hatte. Girion hatte sich ohne weiteres in die Dienste Lutz Farnrichs gestellt, und es war ihm dabei nicht einmal schlecht ergangen. Es musste noch mehr Menschen wie ihn geben, die in Saruman keine Bedrohung sahen oder aber auch schlichtweg das kleinere von zwei Übeln. Dennoch... sich vorzustellen, dass sogar große Fürsten und Könige sich nun Saruman fügten... dunkle Zeiten, wahrlich.
"Wir sind gleich da", merkte Pippin an. "Ich kann dort hinten meinen Vater sehen."
Tatsächlich hatten sie bereits Fuß in die Siedlung Michelbinge gesetzt, den Ort, der im Auenland einer Stadt wohl am nächsten kam und den die meisten Hobbits wohl auch tatsächlich als solche bezeichnet hätten. Aber für Aldoc, der in seinem bislang kurzen Leben doch schon weit herumgekommen war, mutete Michelbinge eher wie ein großes Dorf an oder höchstens wie eine Kleinstadt. Auf jeden Fall kein Vergleich zu Tharbad und erst recht nicht zu Orten wie Mithlond.
Obwohl Michelbinge genau wie Hobbingen und Wasserau in einer recht hügeligen Gegend lag, gab es hier neben einigen wenigen Smials hauptsächlich oberirdische Gebäude aus Holz oder Stein. Peregrins Vater, der amtierende Thain des Auenlandes, Paladin Tuk der Zweite, stand ein wenig vor der Stadthöhle, in der für gewöhnlich der Bürgermeister von Michelbinge residierte und vor welcher unter einem an den Seiten offenen, quadratischen Zelt ein großer Tisch aufgestellt worden war, auf dem verschiedene anscheinend vollgekritzelte Blätter lagen.
"Was ist das, wenn ich fragen darf?", wandte sich Aldoc an Pippin.
"Das ist unser Ralt", antwortete dieser, womit er jedoch lediglich einen verwirrten Ausdruck auf Aldoc Gesicht hervorrief. "Das steht kurz für Ratszelt. Oder eigentlich Kriegsratszelt, um genau zu sein. Dort planen wir, wie wir die Strolche aus dem Vorratsstollen bekommen... und das nun schon seit Tagen. Oder Wochen... die Zeit vergeht im Krieg so schnell."
"Ich glaube, deine Desorientierung, was die Zeit angeht, liegt eher am übermäßigen Pfeifenkrautgenuss", vermutete Aldoc in trockenem Ton. "Aber warum haltet ihr die Besprechungen in diesem Ralt ab und nicht in der Stadthöhle? Dort müsste es doch passende Räumlichkeiten geben, oder?"
"Früher vielleicht." Pippin rümpfte die Nase. "Aber seit diese Rüpel hier waren, ist die Stadthöhle kaum noch betretbar. Ich sage dir, Aldoc, eine solche Unordnung hast du noch nicht gesehen. Wir konnten nicht warten, bis das aufgeräumt war, also haben wir unseren Kriegsrat einfach nach draußen verlegt."
"Kriegsrat... dieser Begriff ist vielleicht ein wenig übertrieben", murmelte der junge Abenteurer. "Und wie gehen die Aufräumarbeiten voran, Pippin?"
"Welche Aufräumarbeiten?"
"Na, du weißt schon, in der Stadthöhle..."
"Ach, die..." Pippin winkte achselzuckend ab. "Als hätten wir Zeit, uns um irgendwelche Aufräumarbeiten zu kümmern. Wir haben eine Belagerung zu führen!"
Ja... genau... eine Belagerung... bei der man nebenbei noch die Zeit hat, sich auf einen sonnigen Hügel zu legen und... ach, vergiss es. Aldoc war für einen Hobbit so aktiv, dass er manchmal vergaß, welch faules und gemütliches Völkchen seine Leute doch eigentlich waren. Offenbar hatte sich auch bei Merry und Pippin sogar nach ihrer großen Reise weit in den Süden nichts daran geändert.
Der Thain blickte auf, als er die kleine Gruppe bemerkte, und sah nacheinander Pippin, Merry, Petunia, Aldoc und schließlich Girion an, bei dessen Anblick er leicht die rechte Augenbraue hob. Überraschenderweise war Girion nicht der einzige Mensch im Ralt. Ein hochgewachsener Mann in einem grauen Mantel, mit einem Bogen am Rücken und einem Schwert an der Hüfte, stand neben Paladin Tuk. Ein Waldläufer der Dúnedain, erkannte Aldoc. Petunia hatte ihm bereits erzählt, dass sie nicht alle abgereist waren. Viele waren allerdings nicht mehr hier... drei oder vier, wenn er sich recht entsann. Hier sah er im Moment jedoch nur diesen einen.
"Willkommen zurück, Aldoc", grüßte ihn der Thain und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Wir hatten uns schon Sorgen gemacht, weil niemand wusste, wo du warst. Nicht einmal Peregrin und Meriadoc, obwohl die sich in den letzten Jahren auch außerhalb der Grenzen herumgetrieben haben."
"Ihr mögt es mir vielleicht nicht glauben, aber außerhalb der Grenzen ist tatsächlich ein sehr großes Gebiet", sagte Aldoc. "Es ist schwer, sich irgendwo außerhalb einfach über den Weg zu laufen. Aber ja, eigentlich hätte ich Pippin und Merry in Aldburg treffen müssen. Es ist einiges schief gelaufen..."
"Wie auch immer, jetzt bist du ja wieder hier." Nun wandte sich der Thain an Girion. "Und du bist?"
"Girion aus Thal", stellte sich der Mensch vor und neigte leicht den Kopf. "Zu euren Diensten."
"Du bist ein Freund Aldocs?"
"Ich kenne diesen jungen Mann noch nicht lange und bin mir auch nicht sicher, wie er von mir denkt, aber ich für meinen Teil betrachte ihn als Freund", antwortete Girion. Aldoc sah ihn überrascht an. Das hatte er nicht erwartet.
"Gut, das reicht mir", meinte Paladin mit einem zufriedenen Nicken. "Wir können immer zwei starke Arme brauchen, die uns zur Hand gehen."
"Ich habe gehört, ihr belagert den Vorratsstollen", lenkte Aldoc das Gespräch nun auf den eigentlichen Grund, warum sie alle hier waren. "Petunia sagte mir, die Strolche hätten sich dort drinnen verschanzt und drohen, die gefangenen Hobbits umzubringen?"
"Allerdings." Dieses Mal war es der Dúnadan, der ihm antwortete. Der Lange verschränkte die Arme vor der Brust. "Diese Bastarde haben Vorräte, Waffen und vor allem Zeit. Uns sind die Hände gebunden. Sobald wir gegen diesen verdammten Hügel vorrücken, schlitzen sie allen Gefangenen die Kehle auf, das behaupten sie jedenfalls. Und wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln, dass sie diese Drohung auch wirklich umsetzen. Immerhin haben ein paar von diesen Kerlen schon vorher Hobbits umgebracht, einige erst vor kurzem, in dem Gefecht, das dieser Belagerung vorausging."
"Und wir können wirklich nichts tun?" Aldoc warf einen kurzen Blick auf eine Karte, die auf dem Tisch lag und anscheinend Michelbinge zeigte. Verschiedene Angriffswege waren auf ihr markiert und mit kurzen Kommentaren versehen worden, aber die Lage schien wirklich verzwickt. Es gab im Grunde nur einen richtigen Eingang in den Stollen und ansonsten nur ein paar Enge Luftschächte, durch die ein Hobbit zwar vielleicht passen würde, aber ein Eindringen durch diese würde niemals unbemerkt bleiben.
"Habt ihr versucht, euch von oben zum Stollen durchzugraben?", fragte er.
"Der Hügel ist tatsächlich ziemlich steinig", erklärte der Waldläufer. "Würden wir dort graben, würden Sarumans Schergen es ohne Zweifel hören. Und dann können wir uns von den Geiseln verabschieden."
"Hm." Aldoc zermarterte sich den Kopf über eine Möglichkeit, in den Stollen einzudringen, ohne dass die Gefangenen getötet wurden, aber ihm fiel einfach nichts ein, was wirklich funktionieren könnte. Und bestimmt waren all die Hobbits hier in den letzten Tagen auch nicht untätig gewesen und hatten sich selbst alle möglichen Gedanken gemacht. Doch wenn ihnen bis jetzt keine Lösung eingefallen war...
"Irgendwelche Ideen?", fragte der Thain. "Eine neue Perspektive zu hören kann nie schaden."
Aldoc musste betrübt den Kopf schütteln. "Nein, nichts."
"Schade", seufzte Paladin. "Ich hatte gehofft, dass du vielleicht auf irgendetwas kommst, vor allem, wenn man bedenkt, dass deine Eltern unter den Gefangenen sind, aber..."
"Bitte was?", unterbrach ihn Aldoc schockiert. "Meine Eltern sind unter den Gefangenen?"
Der Thain sah ihn überrascht an. "Hat dir das noch niemand gesagt? Ich dachte, Peregrin, Meriadoc oder Petunia hätten dir bereits davon erzählt."
Aldoc warf besagten drei Hobbits, die es wohl allesamt nicht für nötig gehalten hatten, ihm dieses kleine Detail zu eröffnen, einen verärgerten Blick zu. Pippin sah nervös auf seine Füße, Merry sah überall hin, nur nicht in seine Augen, lediglich Petunia erwiderte seinen Blick. "Ich wollte den richtigen Zeitpunkt abpassen. Tut mir leid, Aldoc."
"Schon in Ordnung." Irgendwie konnte er auf sie nicht richtig wütend sein. Und auf Merry und Pippin auch nicht. "Wie ist das geschehen? Ich meine, mein Vater... er ist doch noch einer der fügsameren Tuks. Schwer vorzustellen, dass er die Strolche dazu gebracht hat, ihn einzukerkern."
"Nun ja, Reginard war wieder einmal geschäftlich in Wasserau", erklärte Paladin. "Das ist nun schon ein paar Wochen her, es war noch vor Gandalfs Ankunft hier. Einer der Rüpel hat wohl einen abschätzigen Kommentar über seine Frau abgegeben, da hat Reginard gesagt, er habe wenigstens eine hübsche Frau und hätte es nicht nötig, seine Frustration an Anderen auszulassen. Den Menschen hat das nicht gefallen. Sie haben ihn verprügelt und mitsamt deiner Mutter zu den anderen Gefangenen in den Vorratsstollen geworfen. Ich erfuhr erst gut einen Tag später von einigen Augenzeugen davon."
"Gerade er", murmelte Aldoc. "Gerade er beleidigt einen dieser Strolche... das hätte ich wirklich nicht erwartet. Mein Vater ist ein Feigling."
"Ist das deine Art, über deinen Vater zu sprechen?", fragte Girion. "Ich kenne den Mann nicht, aber ich denke, du solltest ihn mit ein wenig mehr Respekt behandeln. Er hat seine Frau, deine Mutter, verteidigt. Das ist für mich wahrlich kein Grund, schlecht über ihn zu reden."
Der junge Abenteurer schloss kurz die Augen. Es war nicht so, als ließe ihn die Gefangennahme seiner Eltern völlig kalt. Es fiel ihm einfach nur schwer, es zu glauben. Reginard war wirklich ein Feigling. Aldoc hätte eher geglaubt, wenn sein Vater die Beleidigungen wortlos über sich hätte ergehen lassen... sich gegen die Langen aufzulehnen, das passte irgendwie nicht zu ihm. So oft hatte er sich gewünscht, sein Vater würde einmal, nur ein einziges Mal, ein wenig Rückgrat beweisen, aber nun... als wäre die Situation nicht schon schlimm genug gewesen.
"Verdammt!", entfuhr ihm schließlich ein zorniger Ausruf und er ließ seine Faust auf den Tisch krachen. Sein Vater Reginard, das war eine Sache... aber auch noch seine Mutter? "Diese verfluchten Bastarde. Wartet nur, bis ich euch in die Finger kriege! Einfach meine Eltern einsperren? Das würde euch wohl so gefallen! Aber nicht mit mir. Nicht mit mir. Das könnt ihr vergessen."
"Nun, das ist die richtige Einstellung", meinte Girion grinsend. "Vielleicht sollten wir dich zu den Strolchen in den Stollen werfen, damit du ihnen dort die Seele aus dem Leib prügeln kannst."
Girion lachte laut über seinen eigenen Scherz, doch Aldoc erstarrte auf einmal, während langsam eine Idee in seinem Kopf Gestalt anzunehmen begann. Mich einfach dort hineinwerfen? Das... das ist es!
Er wandte sich an den Dúnadan. "Sag, wie viele von euch befinden sich momentan noch hier?"
"Außer mir noch drei, warum?", antwortete der Waldläufer.
Aldoc beugte sich mit gerunzelter Stirn über die Karte von Michelbinge und dachte nach. "Ich denke, ich habe da so eine Idee..."
Azaril:
"Bist du dir sicher, dass das funktionieren wird?", fragte Girion flüsternd.
"Sei still, wir sind gleich da", gab Aldoc nur zurück. Er wollte nicht darüber nachdenken, ob sein Plan funktionieren würde oder nicht. Denn wenn er es nicht tat...
Neun Gestalten bewegten sich langsam durch das finstere, stille Michelbinge, nur beleuchtet vom silbernen Mond und den Sternen, deren Licht auch auf den großen Hügel fiel, der vor ihnen lag: Jene Anhöhe, in die der Vorratsstollen der Stadt gegraben worden war. Vier Hobbits, fünf Menschen, wobei Ersteren allesamt die Hände hinter dem Rücken gefesselt worden waren, wenn auch nur lose.
Sie hatten wahrscheinlich nur einen Versuch. Das Leben der gefangenen Hobbits, einschließlich Aldocs Eltern, hing von diesem Plan ab.
Als sie dem Stollen näher kamen, öffnete sich dessen Tür ein Stück weit und ein Mensch sah hinaus, dessen kantiges, unrasiertes Gesicht bereits auf den ersten Blick einen unsympathischen Eindruck machte. "Halt!", rief er. "Keinen Schritt weiter!" Seine Augen musterten die fünf großen Gestalten, die ganz offensichtlich keine Halblinge waren. "Wer seid ihr?"
"Wir sind die Verstärkung", antwortete Girion.
"Verstärkung?" Ein verwirrter Ausdruck trat auf das Gesicht des Feindes.
"Hast du etwa gedacht, die Leute weiter oben würden einfach dabei zusehen, was diese Hobbit-Aufrührer anstellen?" Girion lachte und stieß Aldoc unsanft auf die Knie. Aua! Das wäre auch ein wenig sanfter gegangen! "Lutz Farnrich hat mich und ein paar Andere hierher geschickt, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Wie ich schon sagte. Wir sind die Verstärkung. Michelbinge befindet sich wieder in unserer Hand."
"Tatsächlich?" Der Mensch kniff misstrauisch die Augen zusammen, aber hinter ihm war auf einmal aufgeregtes Gemurmel zu hören. Offenbar versteckten sich dort im Inneren noch ein paar Menschen, die dem Gespräch lauschten. Die Tür wurde ein wenig weiter geöffnet, zwei weitere Gesichter zeigten sich.
Einer von ihnen betrachtete Girion eindringlich, bevor sich ein Ausdruck der Überraschung auf sein Antlitz legte. "He, den da kenn' ich! Den hab' ich in Tharbad gesehen, auf dem Weg hierher!"
Volltreffer! Aldoc jubilierte innerlich. Das war nicht einmal Teil des Plans gewesen, aber wenn dieser Mann Girion kannte und bestätigen konnte, dass er in Lutz Farnrichs Diensten stand, dann umso besser. Auf einmal schienen ihre Erfolgsaussichten eine dramatische Wendung zum Besseren genommen zu haben.
"Mein Name ist Girion", erklärte Aldocs Reisegefährte. "Ich war in Tharbad ein Hauptmann der Stadtwache. Lutz vertraut mir, also hat er mich mit einigen Jungs hierher geschickt. Hier, wir haben die Rädelsführer gefangen genommen. Die können wir gleich zu den anderen Gefangenen stecken."
Er streckte eine Hand in einer deutenden Geste in Richtung der anderen drei Hobbits aus. "Ich darf vorstellen. Paladin Tuk, der Thain. Und Peregrin Tuk und Meriadoc Tuk, die beiden Unruhestifter, die diesen Aufstand erst angezettelt haben."
"Und wer ist der da?", fragte der erste Mensch mit einem Blick auf Aldoc.
"Der?" Girion trat nach ihm, worauf dem jungen Abenteurer ein schmerzhaftes Stöhnen entfuhr. Zu fest, du Idiot! Man könnte fast meinen, du genießt diese verdammte Posse! "Das ist Aldoc Tuk, er war bei den anderen Unruhestiftern, als wir sie in Ketten gelegt haben."
"Noch ein Tuk also?" Der Mann an der Tür rümpfte die Nase. "Wir haben da eine schöne Zelle für euch alle."
Nun endlich öffnete der Mensch die Tür ganz und ließ Girion, die vier Dúnedain und ihre Gefangenen hinein. Das innere des Stollens war eng und ein wenig staubig, viel fürs Putzen schienen diese Menschen jedenfalls nicht übrig zu haben. Girion warf Aldoc einen fragenden Blick zu, doch der schüttelte unmerklich den Kopf. Noch nicht. Nicht, solange wir nicht wissen, wo die Gefangenen sind und wie es ihnen geht.
Der Mann, der ihnen die Tür geöffnet hatte und offenbar der Anführer der verbliebenen Menschen war, führte sie weiter hinein in den Vorratsstollen. Aldoc behielt sein Umfeld genau im Auge, zählte die Feinde – es waren wohl nicht mehr als ein Dutzend – und musterte genau deren Waffen. Ein paar rostige Klingen und Knüppel, mehr nicht. Alles in allem ein ziemlich armseliger Haufen. Wären die Geiseln nicht gewesen, hätten die Hobbits und Dúnedain sie schon längst vertrieben.
Schließlich gelangten sie zu einem Nebenraum, den der Anführer mit einem eisernen Schlüssel aufsperrte. "Werft sie da rein, zu den Anderen."
Girion stieß Aldoc unsanft voran in den behelfsmäßigen Kerker. Und dort waren sie: Gut und gerne zwanzig Hobbits, die allesamt in den Ecken des Raumes kauerten, abgemagert und mit ängstlichen Augen, die sie eilig mit den Händen beschirmten, als das Licht der Öllampe, die der Anführer trug, in den Raum fiel. Sie sahen nicht gut aus, aber immerhin waren sie am Leben. Aldoc sah sich suchend nach seinen Eltern um und fand sie schließlich in der Nähe von Lobelia Sackheim-Beutlin, die eine der wenigen war, in deren Blick sich noch ein wenig Trotz zeigte, trotz ihres hohen Alters und der überaus langen Gefangenschaft – sie war schon inhaftiert worden, ehe Aldoc überhaupt nach Bruchtal aufgebrochen war. Dasselbe galt für den Bürgermeister von Michelbinge, Willi Weißfuß, der sich jedoch in einem deutlich schlechteren Zustand zu befinden schien als die meisten anderen Gefangenen.
"Sind das alle oder habt ihr irgendwo noch mehr von ihnen... untergebracht?", wandte sich Girion an den Anführer. Der verneinte die Frage. "Das sind alle. Ganz schön erbärmlicher Haufen, nicht wahr?"
"Erbärmlich gewiss", sagte Aldoc. "Wie es jeder in einer solchen Situation wäre." Er erinnerte sich an seinen eigenen Kerkeraufenthalt, an die Langeweile, den Mangel an nahrhaftem Essen, die stetige Finsternis. Es machte ihn unermesslich zornig, so viele andere Hobbits in einer ähnlichen, sogar noch schlimmeren Situation zu sehen. Er hatte wenigstens eine Zelle für sich gehabt, aber das hier... das war über alle Maßen entwürdigend. "Es ist Zeit, dem ein Ende zu setzen."
"Wer hat dir denn erlaubt, dein kleines Maul aufzureißen?", fuhr der Anführer der Strolche ihn an und holte mit der linken Hand zum Schlag aus – doch schon Sekunden später besaß er keine linke Hand mehr.
Verdutzt sah der Mensch auf den Stumpf, aus dem in regelmäßigen Stößen das Blut strömte, und schien erst nicht zu realisieren, was gerade geschehen war. Girion stand vor ihm, mit gezogenem, blutigem Schwert. "Hast du ihn nicht gehört? Es ist Zeit, dem ein Ende zu setzen."
Damit begann das Gemetzel. Plötzlich zogen die vier Dúnedain ebenfalls ihre Schwerter, der Thain und seine drei Gefährten befreiten sich binnen eines Augenblicks aus den nicht wirklich festgebundenen Fesseln, und Girion markierte den Beginn der Rückeroberung des Stollens, indem er sein Schwert dem Anführer der Feinde in die Brust rammte.
Innerhalb weniger Sekunden wurden die paar Menschen, die in unmittelbarer Nähe standen, niedergemetzelt, ehe sie überhaupt die Gelegenheit bekamen, auf den überraschenden Angriff zu reagieren. Danach überreichten Girion und die Dúnedain den vier Hobbits schnell deren Waffen. Als sich Aldocs Finger um den Griff seines Schwertes aus Mithlond schlossen, fühlte er einen Schwall von Zuversicht und Stärke durch seinen gesamten Körper strömen.
Die übrigen Menschen reagierten auf zweierlei Weise: Manche von ihnen warfen sich mutig auf die Angreifer, wobei jedoch schnell offenbar wurde, dass sie nicht gegen die im Umgang mit dem Schwert geübten Dúnedain ankamen, und auch nicht gegen Girion, der ebenfalls einst eine Kampfausbildung genossen hatte und den Waldläufern daher in Nichts nachstand. Die andere Hälfte der Rüpel jedoch suchte ihr Heil in der Flucht, wobei sie, sobald sie den Stollen verließen, von einem tödlichen Pfeilhagel empfangen wurden.
Einem der Menschen gelang es, geschwind an den Dúnedain vorbei zu schlüpfen, bevor er in einen Sprint in Richtung des Kerkerraumes verfiel, vor dessen Eingang Paladin, Peregrin, Meriadoc und Aldoc standen, deren Aufgabe darin bestand, für die Dauer des Gefechtes die Gefangenen zu beschützen. Offenbar glaubte dieser Kerl, leichtes Spiel mit ihnen zu haben, obwohl sie in der Überzahl waren. Aber da hatte er sich mit den falschen Hobbits angelegt.
Peregrin Tuk, ein Wächter der Veste von Minas Tirith.
Meriadoc Brandybock, ein Schwert-Than des Königs von Rohan.
Aldoc Tuk, ein Freund der Elben, ausgebildet in Mithlond.
Definitiv drei Hobbits, die man nicht unterschätzen sollte. Der Mensch holte mit seinem kurzen, dolchartigen Schwert aus und zielte offenbar auf Pippin. Als die Klinge herabfuhr, wehrte Aldocs langjähriger Freund sie mit seinem eigenen Schwert ab. Sofort stürmte Merry nach vorne und schlug nach dem Gegner, der nicht rechtzeitig zurückweichen konnte und daher einen blutigen Schnitt am Bein einstecken musste. Keuchend sank der Feind auf ein Knie. Aldoc, der sich, solange der Mensch abgelenkt war, hinter ihn begeben hatte, nutzte die Gelegenheit sofort und stach zu. Das scharfe Schwert aus Mithlond drang beinahe mühelos in den Rücken des Menschen ein und trat in Rot getaucht an der Brust wieder aus.
"Gut gemacht!" Merry und Pippin ließen ihre Schwerter sinken. Für sie war der Kampf damit offenbar beendet. Aber noch war der Mensch nicht tot. Er hob langsam die rechte Hand, mit der er noch immer sein Schwert umklammert hielt. Die beiden Hobbits vor ihm schienen es nicht zu bemerken. Mit einem wütenden Kampfschrei zog Aldoc seine eigene Klinge aus dem Fleisch des Gegners und hackte damit stattdessen auf seine Hand ein. Kreischend ließ der Mensch seine Waffe fallen. Doch Aldoc war noch nicht fertig. Er holte noch einmal aus.
"Aldoc?" Pippin musterte ihn überrascht. "Was tust du denn da? Er ist besiegt!"
"Noch nicht", zischte der Abenteurer und versenkte sein Schwert im Hals des Menschen. Blut schoss in einer Fontäne aus der tiefen Wunde. Aber Aldoc schlug noch einmal zu. Und noch einmal. Bis der Kopf des Mannes schließlich von den Schultern getrennt wurde und einige Schritte weit über den Boden rollte, während der enthauptete Körper zur Seite hin umkippte.
"Was sollte denn das?" Merry starrte entsetzt auf das abgetrennte Haupt. "Das war unnötig! Er war doch schon am Boden! Er hätte uns nicht mehr tun können."
"Ach, tatsächlich?" Aldoc sah seine blutige Klinge und dann die kopflose Leiche an. Seltsamerweise erfüllte der Anblick von keinem von beiden ihn mit Entsetzen. Das Blut pulsierte rasend durch seine Adern. Sein Herz schlug wild in seiner Brust. Verwirrt blinzelte er. "Ja... er konnte sich wohl kaum noch wehren... aber nur ein toter Feind ist ein guter Feind, oder?"
In jenem Moment... als der Mensch seine Waffe noch einmal gegen Aldocs Freunde erhoben hatte... da hatte es kurz in seinem Kopf geknackt. Es war ihm, als wäre schlagartig irgendein Hebel umgelegt worden, von dessen Existenz er nicht einmal gewusst hatte. Nein... etwas ähnliches war schon einmal passiert, unbewusst, vom einen Moment auf den anderen. Damals, als das Wargrudel ihn und Farodas auf dem Weg nach Aldburg angegriffen hatte. Obwohl er zu Beginn gezögert hatte, gebannt durch seine panische Angst vor Wölfen, hatte er doch schließlich drei von ihnen mit seinem Bogen erlegt – gnadenlos, ohne einen weiteren Gedanken an die ausgelöschten Leben zu verschwenden.
Und später war es noch einmal geschehen... im Kerker von Dunland. Auch damals hatte es ihn kaum bekümmert, sein Schwert in dem Wärter zu versenken und seinem Leben ein Ende zu bereiten. Nachdenklich sah Aldoc auf seine blutigen Hände hinab. Jedes Mal, wenn er kämpfte, nein, jedes Mal, wenn er tötete, wurde er... innerlich ruhig. Und verlor sein Gespür für Gnade. Das Wort Blutrausch kam ihm in den Sinn.
Bei dem Gedanken musste er selbst lachen. Ein kleiner Hobbit im Blutrausch? Sauron, nimm dich in Acht!
Das Gefecht – sofern man es überhaupt so nennen konnte – dauerte kaum zwei Minuten. Die Strolche hatten nicht den Hauch einer Chance. Überrascht von den Menschen und Hobbits, die dank Girion den Stollen hatten betreten können, wurden sie binnen kürzester Zeit vollständig niedergemetzelt. Der Krieger aus Thal und die Dúnedain zeigten ebenso wenig Gnade wie Aldoc, sodass der Boden des Vorratsstollens schon bald vom Blut der Feinde getränkt war.
Die gefangenen Hobbits wurden nach draußen gebracht und dort von Heilern behandelt, wenn es ihre Verfassung erforderte. Aldoc schöpfte ein wenig Wasser aus einem nahen Brunnen und wusch sich die Hände. Inzwischen hatte er sich wieder beruhigt. Sein Herzschlag war normal, seine gnadenlose Rage hatte ein Ende gefunden. Inzwischen wunderte er sich selbst darüber, warum er den Menschen enthauptet hatte. Aber er bereute es auch nicht. Dieser Kerl hatte die Waffe gegen Pippin und Merry erhoben. Und wer weiß gegen wie viele Hobbits vor ihnen.
Als er sich umdrehte, um zum Ralt zurückzugehen, sah er sich plötzlich seinem Vater Reginard gegenüber, der ihn von oben bis unten musterte und dann nur in feststellendem Ton drei Worte sprach: "Du bist zurück."
Sie hatten nicht gerade auf freundliche Weise voneinander Abschied genommen, damals. Reginard hatte ihn noch nie verstanden. Hatte von Anfang an versucht, seine abenteuerlustigen Tendenzen zu unterdrücken und ihn zu einem gewöhnlichen, die Gemütlichkeit liebenden Hobbit zu erziehen. Natürlich war das bei Aldoc auf strikte Ablehnung gestoßen. Um ehrlich zu sein, hatte ihr Verhältnis zueinander stets darunter gelitten.
Aldoc nickte. "Ich bin zurück."
Stille. Es schien, als fehlten beiden die Worte. Was hätten sie in dieser Situation auch sagen sollen? ... Es tut mir leid, Aldoc, dass ich dich all die Jahre unterschätzt habe. ... Schon in Ordnung, Vater, ich weiß ja, dass du es immer nur gut gemeint hast. ... Nein. So einfach war das nicht. War es nie.
"Ich werde nicht lange bleiben", teilte Aldoc ihm mit.
"Natürlich nicht." Reginard sah ihn mit wissenden Augen an. Vermutlich war ihm inzwischen klar geworden, dass er seinen Sohn nicht am Reisen hindern konnte. Die nächste Frage überraschte Aldoc jedoch ungemein. "Wohin geht es als nächstes?"
Im ersten Moment war er so verblüfft, dass er seinen Vater nur mit offenem Mund anstarren konnte. Eigentlich war es eine gewöhnliche Frage, nichts Besonderes... aber es kam aus dem Mund von Reginard Tuk, und das änderte alles. Nie, nicht ein einziges Mal in all diesen Jahren, hatte dieser Mann seinen abenteuerlustigen Sohn gefragt, wohin er als nächstes zu wandern gedachte. Worte der Ablehnung und die Aufforderung, zuhause zu bleiben, ja, aber die Frage nach dem Wohin? Niemals. Und auch als Aldoc zurückgekommen war... nicht ein einziges Mal war die Frage gekommen, wo er eigentlich gewesen war. Reginard hatte über die Reisen seines Sohnes stets ein ablehnendes Schweigen gewahrt, als wolle er signalisieren, dass es ihn nicht kümmerte, was dieser aufmüpfige Außenseiter von einem Hobbit jenseits der Grenzen zu schaffen hatte.
Es war nur eine einzige, kleine Frage, aber sie brachte Aldoc gesamtes Verhältnis zu seinem Vater von Grund auf durcheinander.
"W-wohin?", wiederholte er stotternd. "Was interessiert dich das?"
"Ich bin dein Vater", entgegnete Reginard. "Darf es mich nicht interessieren, wohin mein Sohn geht?"
Plötzlich trübte sich Aldocs Laune gewaltig. Eigentlich hätte er froh sein sollen, dass sein Vater sich scheinbar endlich für seine Reisen interessierte, aber stattdessen wurde er einfach nur wütend. "Wohin? Das hättest du vor zwölf verdammten Jahren fragen sollen! All die Zeit hat es dich nicht gekümmert, was ich aus meinem Leben mache, du wolltest mich nur in deine kleingeistigen Vorstellungen zwingen, und jetzt auf einmal, da ich und meine abenteuerlustigen Freunde dich gerettet haben, interessierst du dich wieder für deinen einzigen Sohn? Wohin? Weg von hier, so viel steht fest!"
"Aldoc..." Reginard streckte die Hand nach ihm aus, doch der jüngere Hobbit schlug sie harsch zur Seite, drehte sich wortlos um und ging zurück zum Ralt.
Er hatte noch eine Reise zu planen.
Das Ziel?
Weg von hier.
Azaril:
Knisternd explodierte die Rakete über Michelbinge und verschoss grüne Funken in alle Richtungen, die kurz den Himmel erleuchteten, ehe sie verblassten wie die Zeiten, in denen der graue Pilger noch regelmäßig ins Auenland gekommen war, um kleine Hobbitkinder mit seinem Feuerwerk zu begeistern.
Zwei eben jener Kinder hatten tief im Vorratsstollen ein paar alte Raketen des Zauberers entdeckt und spontan beschlossen, diese anlässlich der gelungenen Befreiung der Gefangenen und endgültigen Rückeroberung Michelbinges hochgehen zu lassen.
"Merry, hast du noch eine?", fragte Pippin mit fast schon kindlicher Aufregung.
Sein Vetter aus Bockland hielt triumphierend eine weitere Rakete hoch und steckte sie gleich darauf in die leere Weinflasche, die die beiden für's Feuerwerk verwendeten und für deren Leerung ein gewisser Mensch aus Thal verantwortlich war, der nun auf einer Bank beim Ralt saß und bereits die nächste Flasche in der einen und einen gefüllten Kelch in der anderen Hand hielt.
Pippin hielt eine kleine, halb abgebrannte Kerze an die kurze Zündschnur der Rakete, die wenige Sekunden später zischend in die Höhe schnellte und weit oben im Himmel detonierte, wo dieses Mal ein blauer Funkenregen in der Form eines Drachen erschien.
"Und ab geht sie!", rief Pippin lachend. "Schnell, Merry, die nächste! Wie viele haben wir noch?"
"Genug, um all die gemütlichen, alten Hobbits in ihren Höhlen und Häusern noch ein wenig länger wach zu halten", meinte Merry grinsend und holte bereits die nächste Rakete aus dem Vorrat. "Wirklich nett von Gandalf, die für uns hier zu lassen. Die sind bestimmt schon ein paar Jährchen alt, aber sie zischen und knallen noch so schön!"
Der einzige, der sich hier nicht in einer Feierlaune zu befinden schien, war Aldoc Tuk. Er hatte Feuerwerke noch nie gemocht, sie waren so laut und nervtötend, und jedes Mal, wenn es in seiner Kindheit ein Feuerwerk gegeben hatte, war das mit großen Mengen an begeisterten, jubelnden Hobbits verbunden gewesen, und wenn Aldoc eines wirklich nicht ausstehen konnte – abgesehen von Wölfen – dann waren es zusammengedrängte, enge, stickige Ansammlungen von Leuten.
In anderen Worten, seine Laune hätte durchaus besser sein können. Aber es lag nicht nur an dem Feuerwerk. Nein, das war eigentlich nur eine nebensächliche Lästigkeit. Ihm ging noch immer das Gespräch mit seinem Vater durch den Kopf. Er wusste, dass seine Reaktion gemein und ungerecht gewesen war, aber er konnte nicht anders, als wütend auf Reginard zu sein. Nie hatte er sich für die Reisen seines Sohnes interessiert, aber nun…
Nur war das immer noch nicht alles. Das Auenland war frei, jedenfalls größtenteils. Die Hobbits in Michelbinge feierten, oder zumindest taten Merry, Pippin und Girion es, während Paladin mit den Pflichten des Bürgermeisters, die er vorläufig übernommen hatte, beschäftigt war und die Dúnedain sich um die verletzten und kranken Halblinge aus dem Kerker kümmerten. Was Aldoc an dieser ganzen Situation störte, war, dass sie im Grunde kaum etwas erreicht hatten. Sie hatten ein paar Menschen aus dem Süden getötet und eine einzelne, für die Maßstäbe von Elben, Zwergen und vor allem Menschen doch recht kleine Siedlung wieder für frei erklärt und ein paar Gefangene befreit.
Aber was änderte das schon an der Zwickmühle, in der sich die freien Völker befanden? Warum feierten sie nach diesem winzigen Schritt? Diesem minimalen Erfolg, so unbedeutend im großen, ganzen Bild? Konnte denn nur Aldoc sehen, dass es noch lange nicht vorbei war? Dass die Zeit, den Sieg zu feiern, noch in ferner Zukunft lag, so sie denn überhaupt jemals anbrach?
"Hey, ihr beiden, nehmt mal die da!", rief Girion Merry und Pippin zu und deutete auf eine rote Rakete im Korb, ehe er den mit Wein gefüllten Kelch an die Lippen setzte und einen kurzen Schluck nahm. "Die Große! Die wird sicher gewaltig krachen!"
Das ließen sich die beiden Hobbit nicht zweimal sagen. Schon kurz darauf erschütterte ein gewaltiges Krachen, wie von Girion prophezeit, den Himmel über Michelbinge und ließ mit Sicherheit sämtliche der Hobbits, die trotz des vorherigen Lärms irgendwie Schlaf gefunden hatten, wieder hochschrecken und hellwach werden. Girion lachte laut auf und nippte noch einmal an seinem Wein.
"Warum trinkst du?", fragte Aldoc leise. Er stand an einen der Seitenpfosten des Ralts gelehnt, kaum drei Schritt von dem einstigen Hauptmann in Tharbad entfernt. "Was soll das, Girion? Hältst du das jetzt wirklich für angebracht?"
"Ein bisschen Alkohol täte dir auch mal gut, würde ich sagen, mein kleiner Freund", entgegnete Girion lächelnd und prostete ihm zu. "Außerdem, was soll ich denn sonst tun? Etwa griesgrämig an einem Pfosten lehnen und bei jedem Knall einer Rakete missmutig das Gesicht verziehen? Nein, danke, diese Rolle füllst du schon zur Perfektion aus."
"Wir sind keinen Schritt weiter", meinte Aldoc. "Ich bin einfach nicht in der Laune, gut gelaunt zu sein."
"Keinen Schritt weiter? So würde ich das nicht sehen. Es mag nur ein kleiner Schritt sein, aber wir haben immerhin etwas erreicht. Die befreiten Halblinge werden es uns ewig danken, deine Eltern eingeschlossen."
"Erwähne jetzt nicht meinen Vater", zischte Aldoc.
"Ich weiß ja nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, aber glaub mir, ein paar Becher Wein und das alles wird dir unwichtig erscheinen und du wirst darüber lachen." Plötzlich wurde Girion ernst und sein Gesicht verdüsterte sich. "Und ein wenig lachen sollten wir alle dieser Tage, nicht wahr? Ich habe heute mehrere Männer getötet. Das ist nie leicht. Deswegen trinke ich jetzt. Damit ich es vergessen und wieder lachen kann. Damit ich einfach… alles… vergessen kann."
Er hob den Kelch wieder an den Mund und trank ihn in einem Zug aus, schenkte dann sofort nach. Etwas an Girions Gesichtsausdruck sagte Aldoc, dass es besser war, ihn vorerst in Ruhe zu lassen. Alles vergessen… meint er seine Familie? Er hat sie verloren, als Thal erobert wurde. Vielleicht will er ja vergessen, um den Schmerz loszuwerden. Er ertränkt nicht nur die Erfahrungen des heutigen Tages im Alkohol, sondern auch seine Trauer.
Aldoc stieß sich von dem Pfosten ab und schlenderte über den Platz, an Merry und Pippin und dem Eingang des Vorratsstollens vorüber und zur Straße, die nach Westen führte. Nach einiger Zeit gelangte er an den Rand von Michelbinge, wo er auf der Kuppe eines der höchsten Hügel der Umgebung stehen blieb und in Richtung Turmberge blickte, über die er so oft gewandert war, in Richtung Mithlond, wo er so viele schöne Erinnerungen erworben hatte, in Richtung Tol Eressea und Aman, zwei Orte, die er vermutlich niemals erblicken würde und die doch irgendwo dort draußen waren, jenseits aller Strecken, die er auf seinen Reisen zurücklegen konnte.
Ein seltsames Gefühl ergriff ihn, der sanfte, aber doch hartnäckige Drang, gen Westen zu ziehen, einmal mehr die Grauen Anfurten zu besuchen, das große Meer zu sehen. Der Drang, ein Schiff zu besteigen. Hinfort zu segeln. Sich auf eine ewige Reise zu begeben, ein ewiges Abenteuer, das niemals enden sollte.
Ich kann nicht bleiben, stellte er wieder einmal fest. Ich muss weiter. Er setzte einen Fuß nach vorne. Ich könnte einfach verschwinden. Bis die Anderen es bemerken, bin ich längst über alle Berge. Ich könnte irgendwo von der Straße abweichen, nach Norden oder Süden gehen, nur die Wanderschaft genießen.
Aber das ist es nicht, was ich wirklich will oder? Nicht nur eine Reise. Sondern ein Abenteuer.
"Wo willst du hin, Aldoc?"
Er erkannte diese Stimme sofort. Es war die eine Stimme, die ihn immer verabschiedet hatte, die immer da gewesen war, wenn er erneut aufbrach, die ihn so oft auch erwischt hatte, als er heimlich aufbrechen wollte. Die ihn immer wieder zurückrief. Und die ihn doch nicht halten konnte.
"Im Moment will ich genau dorthin, wo ich schon bin", sagte Aldoc, als er sich umdrehte und Petunia in die Augen sah. "Im Moment kann ich alle Reisen vergessen. Aber nicht lange."
"Ich weiß", sagte sie leise. "Du wirst bald wieder gehen. Und ich kann nicht mit dir kommen, oder? Du wirst mich wieder hier zurücklassen."
"Warum eigentlich?", fragte der junge Abenteurer. "Warum solltest du nicht einfach mitkommen? Ja, komm mit mir. Begleite mich. Bitte, Petunia."
Sie lächelte ihn an, und dieses Lächeln ließ sein Herz schneller schlagen. Doch dann kam die ernüchternde Antwort. "Nein, Aldoc, ich bleibe im Auenland. Bis zur Grenze kann ich dich begleiten, aber dann musst du alleine weiterziehen."
"Warum?"
"Weil du sonst keinen Grund mehr hättest, zurückzukommen."
Das konnte er nicht abstreiten. Und dass Petunia dies erfasst hatte, zeigte, wie gut sie ihn kannte. Er hob den rechten Arm, wo am Handgelenk noch immer das ausgeblichene rote Band befestigt war. "Schätzte, ich muss mein Versprechen auch dieses Mal wieder einhalten. Und zurückkommen."
"Und wohin geht es als nächstes?"
Aldoc zuckte zusammen. Genau diese Frage hatte ihm Reginard auch gestellt. Aber dieses Mal war es nicht sein Vater, der fragte, und die Situation war eine vollkommen andere. "Der Plan ist im Grunde noch immer derselbe. Ich werde Gandalfs Fährte folgen. Die Dúnedain haben gesagt, er und der Sternenbund seien nach Fornost gegangen. Das wäre demnach mein nächstes Ziel. Ich denke, ich werde die Oststraße nach Bree nehmen und dann den Grünweg nach Fornost. Mit Girion als Begleitung sollte das kein Problem darstellen, trotz all der finsteren Gestalten, die sich dieser Tage im Breeland herumtreiben."
"Bree", murmelte Petunia und schien kurz zu überlegen. "Bis dorthin… vielleicht..."
"Willst du jetzt auf einmal doch mitkommen?", fragte Aldoc hoffend. Er wollte sie dabei haben. Wirklich. Er wollte nicht länger nur tagein, tagaus ihr rotes Haarband anstarren. Er wollte sie. Er traute sich nur nicht, es ihr so offen zu sagen. Aber wenn sie mit ihm kam, ihn auf einem seiner Abenteuer begleitete…
Doch Petunia schüttelte den Kopf. "Vielleicht eines Tages, wenn die Ordnung im Auenland wiederhergestellt wurde. Bis dahin will ich helfen, wo ich kann. Hier zuhause."
Aldoc seufzte resigniert. Er hatte niemals jemand anderen darum gebeten, ihn auf einer seiner Reisen zu begleiten. Farodas war damals auf dem Weg von Bruchtal nach Aldburg aus seinen eigenen Gründen und auch als Führer mitgekommen, und Girion hatte ihn nur auf Befehl des Statthalters von Tharbad ins Auenland begleitet, aber Petunia war die Erste, bei der Aldoc selbst darum bat, dass sie mitkam. Und dennoch wollte sie hier bleiben. Sie hatte ihn abgelehnt. So fühlte es sich jedenfalls an.
Gemeinsam kehrten sie zum Platz vor der Stadthöhle zurück, wo Merry und Pippin inzwischen offenbar damit fertig waren, die alten Raketen aus dem Stollen hochzujagen. Sie saßen nun beim Thain im Ralt und grüßten Aldoc und Petunia freudig, als diese sich zu ihnen gesellten. Aldoc erklärte ihnen kurz, dass er im Morgengrauen weiterzuziehen gedachte. Pippin und Merry würden wie Petunia im Auenland bleiben, aber sie boten an, ihn ebenfalls noch bis zur Grenze zu begleiten, zumal sie ohnehin noch etwas in Bockland zu erledigen hatte.
"Wir müssen dort mal nach dem Rechten sehen", erklärte der junge Brandybock. "Meine Heimat ist zwar theoretisch auch wieder frei, aber uns ist zu Ohren gekommen, dass dort wieder vermehrt Strolche gesehen wurden. Die lassen einfach nicht locker. Also werden wir mit zweien der Dúnedain dorthin gehen und jede zwielichtige Gestalt verjagen, die sich in Bockland herumtreibt."
"Dann zieht ihr... also bis Bockland mit... uns und Petunia bis zur Ostgrenze", fasste Girion lallend zusammen. Aldoc fragte sich, wie der Mensch überhaupt noch einen klaren Gedanken fassen konnte, bei der Menge an Wein, die er bereits hinuntergestürzt hatte. Aber vielleicht war es es ja einfach gewohnt. "Auf frohes… nebeneinander… herreiten, meine winzigen Frettchen… äh, Freundchen!"
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