Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Arnor

Das Auenland

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Fine:
Mehrere Stunden vergingen. Wie spät es war konnte sie nicht sagen. Die drei Gefährten waren gegen Mittag erwischt worden und von ihren Feinden nicht allzu weit fortgeschafft worden. Nachdem sie von Schlangenzunge verhört worden war hatte ihr sein Diener Gared kurz darauf eine Schüssel voll lauwarmem Brei gebracht, von dem er behauptet hatte es wäre essbar. Sie hatte vorsichtig davon probiert und anschließend ernsthafte Zweifel an dieser Aussage gehabt. Doch schon bald war der Hunger stärker geworden und sie hatte die Schüssel schließlich geleert. Ihr Bewacher hatte sie anschließend alleine gelassen.

Weil der Raum keinerlei Fenster bis auf das in der Tür besaß konnte sie nicht erkennen, ob es bereits Abend geworden war. Ihr Zeitgefühl sagte ihr, dass die Sonne wohl bald untergehen würde, aber sie konnte sich einfach nicht sicher sein. Ihr Rücken schmerzte vom langen Sitzen und ihre Handgelenke waren von den Fesseln gerötet. Die werden sich noch wundern wenn sie mich losbinden, schwor sie sich. Ohne einen Kampf würde sie sich nicht nochmal fesseln lassen. Wie gerne würde sie aufstehen und im Raum herumgehen oder sich sogar auf den schmutzigen Boden legen. Alles war besser als weiterhin am Tisch festzusitzen. Sie seufzte tief und ließ den Kopf auf die Tischkante sinken. Vielleicht würde sie ja irgendwie Schlaf finden können.

Sie schrak hoch als die Tür mit einem Poltern aufgerissen wurde. Schlangenzunge war zurückgekehrt. Er war allein und hatte nichts als einen Korb mit geschnittenem Brot dabei.
"Hier. Iss etwas, meine Liebe," sagte er in einem Ton, der geradezu freundlich klang. Misstrauisch nahm sie den Korb entgegen und sah ihm ins Gesicht. Doch darin konnte sie nichts lesen. Was führt er jetzt im Schilde? fragte sie sich.
"Nun mach' schon," sagte er nachdrücklich. "Es wird spät und wir haben noch viel zu besprechen."
Sie schenkte ihm einen letzten zweifelnden Blick und begann schließlich zu essen. Er sah ihr einige Zeit lang schweigend zu. Kerry fühlte sich unbehaglich. Schlangenzunge beobachtete sie ganz genau, mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht. Sie hatte keine Ahnung, was dies zu bedeuten hatte.
"Warum verheimlichst du deine Herkunft?" wollte er schließlich wissen.
"Das ist doch ganz einfach," antwortete sie mit vollem Mund. "Als ich aus Rohan fliehen musste kam ich durch Dunland. Dort sind wir nicht gerne gesehen wie du vielleicht weißt, Gríma", sagte sie mit Betonung auf seinem rohirrischen Namen.  "Und hier in Eriador gibt es dank den Machenschaften deines Meisters nun viele Dunländer. Sie sind noch immer nicht sehr gut auf die Eorlingas zu sprechen."
"Das stimmt," sagte Schlangenzunge. "Seit letztem Jahr sind die Grenzen der Riddermark für Dunländer nicht mehr so leicht zu passieren, seitdem Mordor deine Heimat nicht mehr beherrscht."

Kerry hielt mitten im Kauen inne. Rohan ist frei? Das hatte sie nicht gewusst. Ich könnte nach Hause gehen, fuhr es ihr durch den Kopf. Schlangenzunge sah ihr die Überraschung sofort an.
"Nachrichten aus dem Süden kommen nicht oft den Grünweg hinauf," sagte er. Doch Kerry hörte ihm kaum zu. Ich könnte nach Hause gehen. Abwesend strich sie sich die Haare zur Seite. Aber was gibt es dort für mich noch? Wer wird auf mich warten? Sie kannte die Antwort. In Rohan gab es niemanden mehr. Alle Überlebenden ihres Dorfes waren mit ihr in den Norden geflohen. Alle bis auf einen. Doch er ist ganz sicher auch längst tot, in den Kriegen im Osten gefallen.

Schlangenzunge schien schließlich genug davon zu haben, ihr beim Essen zuzusehen und nahm ihr den halbleeren Brotkorb weg. "Schluss damit," sagte er, nun wieder im unfreundlichen Ton. "Du wirst mir jetzt genau sagen wo du herkommst und wer mit dir ins Auenland gekommen ist."
"Und wenn ich mich weigere?" wagte sie zu fragen.
"Dann wirst du hier bleiben bis du vor Erschöpfung und Hunger zusammenbrichst. Du hast die Wahl."
Sie zweifelte keinen Moment daran dass er seine Drohung ohne weiteres in die Tat umsetzen würde. Also wog sie ihre Möglichkeiten ab und entschloss sich, sein Spielchen mitzuspielen, auch wenn ihr noch nicht ganz klar war, worum es sich dabei handelte.
"Nun gut," sagte sie. "Mein wahrer Name ist Déorwyn aus Hochborn. Ich bin vor vier Jahren nach Eriador gekommen."
"Gute Entscheidung," lobte Schlangenzunge und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. "Jetzt erzähl' mir, warum du im Auenland bist und wer dich hergebracht hat."
Kerry sah ihm nicht in die Augen. Sie dachte an Gandalf und sein unerklärliches Verschwinden. Er hat die Hobbits und mich im Stich gelassen, dachte sie bitter. Ob er wohl die Nerven verloren hat und zu den Grauen Anfurten abgehauen ist?. Nun kam ihr das Gesicht des Waldläufers Rilmir in den Sinn. Nein, dachte sie. Irgendetwas Wichtiges muss passiert sein. Er würde mich nicht einfach so zurücklassen wenn es nicht dringend wäre. Kerry straffte sich innerlich und hatte ihre Entscheidung gefällt.
"Zwei der Dúnedain-Waldläufer kamen mit mir." Sie würde Gandalf nicht verraten. "Einer trug lange Gewänder und eine Verkleidung, um Saruman ähnlich zu sehen und die Wachen zu täuschen."
Gríma sah sie nachdenklich an. Ob er mir glaubt? Sie hielt seinem Blick stand und wartete.
"Ich brauche ihre Namen. Sag sie mir," fordete er.
"Erst sagst du mir was du mit Merry und Pippin gemacht hast!" konterte sie.
"Deinen Hobbit-Freunden geht es gut. Ich habe sie in Gewahrsam. Ihr Wohlergehen hängt von deinem guten Benehmen ab! Jetzt heraus mit den Namen!" antwortete Schlangenzunge.
Ich darf nicht zulassen, dass er den Hobbits etwas antut, dachte sie. Glücklicherweise hatte ihr Rilmir einmal von seinen Vorfahren erzählt, die auf der Insel Númenor gelebt hatten. Zwar hatte sie sich wie üblich keine der Namen merken können, wusste aber ungefähr wie sie klangen. "Hallatan und Faeril heißen sie," sagte sie also geradeheraus.
Eine Pause entstand, in der Schlangenzunge sie abschätzend musterte. Oh nein, dachte sie. Er glaubt mir nicht. Er glaubt mir nicht!
"Die Dúnedain sind nun Diener meines Meisters," erklärte Schlangenzunge schließlich. "Ich werde ihn über den Verrat der beiden unterrichten und ihr Stammesführer wird sich schon bald um sie kümmern." Sie versuchte, sich ihre große Erleichterung nicht anmerken zu lassen und setzte einen niedergeschlagene Mine auf.

Mit einem beinahe zufriedenen Gesichtsausdruck stand er auf und ging zur Tür. Er klopfte zweimal mit der Faust dagegen und Gared kam herein, ein Bündel aus Stoff im Arm. Schlangenzunges Diener legte das Bündel vor ihr auf dem Tisch ab und begann, ihre Fesseln zu lösen. Neugierig stand sie auf und entfaltete das Bündel. Es war ein weißes Kleid aus feinem Stoff, das nach der Art der edlen Damen Rohans geschnitten war. Misstrauisch blickte sie zu Schlangenzunge hinüber. "Und was soll das hier?" wollte sie wissen.
"Deine Kleidung ist schmutzig, meine Liebe," antwortete er. "Gared wird dir gleich Wasser bringen damit du dich waschen kannst."
"Meine Kleidung ist vollkommen in Ordnung," protestierte sie heftig. Sie hatte nicht vor, sich für Schlangenzunge hübsch zu machen. Das kommt überhaupt nicht in Frage!
Gared trug gerade zwei grobe Decken herein und legte sie in einer der Ecken des Zimmers aus. Anscheinend sollte sie dort schlafen. Außerdem stellte er zwei große Wassereimer dazu.
Schlangenzunge schien ihr Protest wütend zu machen. "Du wirst dich saubermachen und umziehen," sagte er im Befehlston, "oder nichts mehr zu Essen bekommen." Und dabei blieb es, denn die beiden Männer verließen den Raum und sperrten die Tür ab.

Ratlos stand sie da. Sollte sie erneut tun, was Schlangenzunge von ihr verlangte? Einige Tage kann ich bestimmt ohne Essen auskommen, überlegte sie. Doch was würde sie davon haben? Gandalf und Rilmir wussten nicht, dass sie gefangen genommen worden war und würden nicht kommen, um sie zu retten. Einige Zeit rang sie mit sich selbst und überwand sich schließlich. Es hilft nichts, dachte sie. Irgendwann gebe ich dann doch nach. Also würde sie sich den Hungerstreik von vornherein ersparen.
Zunächst löschte sie ihren Durst mit dem Wasser, das Gared gebracht hatte. Dann schaffte sie den zweiten Eimer in die Ecke, die von der Tür aus am wenigsten zu sehen war und streifte ihre Kleidung vorsichtig ab. Einige kleine Schnitte und blaue Flecken kamen darunter hervor. Ihre Abenteuer seit Bree hatten Spuren hinterlassen. Sie wusch sich so gut es ging und trocknete sich mit einer der Decken ab. Schließlich zog sie sich bis auf die Hose und das Lederoberteil wieder an und hielt das weiße Kleid hoch. Ganz schön schick, dachte sie. Ihre Familie war nicht arm gewesen, aber ein Kleid wie dieses hatte sie noch nie getragen. Mit einer seltsamen Faszination streifte sie es über. Fast bedauerte sie, dass es im Raum keinen Spiegel gab. Doch da wurde ihr mit einem Mal wieder klar, wo sie war und warum sie das tat. Ich muss aufmerksam bleiben, dachte sie.

Mit gemischten Gefühlen legte sie eine der Decken um sich und kauerte sich in der Ecke zusammen um sich warmzuhalten, denn ihre Haare waren noch recht nass.
Im Gang vor ihrer Tür war es stets hell geblieben, obwohl es längst Nacht geworden sein musste. So blieb es auch im Raum immer gleich hell. Es störte sie, nicht zu wissen wie spät es war. Während ihr Haar langsam trocknete fragte sie sich, was Schlangenzunge nun wohl mit ihr vorhatte. Sie fürchtete, dass das Kleid nur der Anfang sein könnte. Sie fülhte sich unwohl darin und vermisste ihre festere Alltagskleidung bereits.

Schließlich flocht sie ihr Haar zu einer in Rohan weit verbreiteten Flechtfrisur, die sie lange nicht verwendet hatte. Gerade als sie die letzte Strähne festzupfte ging die Tür wieder auf. Schlangenzunge betrat den Raum und stellte sich vor sie. Unverhohlen ließ er den Blick über ihr Gesicht und ihren Körper gleiten.
"Sehr gut, sehr gut. Du kannst ja doch vernünftig sein, meine liebe Déorwyn. So siehst du aus wie...
...wie edle Damen Rohans aussehen sollten." Er wandte sich ab und ging im Raum auf und ab. "Du musst wissen, mein Meister hat ein Bündnis mit... der Königin geschlossen. Und mit den übrigen Anführern der freien Völker natürlich," fügte er hinzu.
"Das glaube ich dir nicht," antwortete Kerry. "Nach allem, was er den Eorlingas angetan hat würden sie ihm nie mehr trauen."
"Es ist wahr. Aber es tut nichts zur Sache," sagte Schlangenzunge. "Ich meinte damit nur, dass wir keine Feinde sein müssen. Du kannst hier bei mir bleiben und... mir Gesellschaft leisten. Mich bei meinen Aufgaben unterstützen, wenn du möchtest."
Sie musste an sich halten um nicht laut loszulachen. "Dir helfen? Wobei? Bei der Unterdrückung des Auenlands?" Niemals würde sie ein Teil davon werden. Zwar fand sie Hobbits ab und an albern und weltfremd, doch lag es ihr fern, ihnen einen Lebensstil aufzuzwingen, den sie nicht selbst gewählt hatten.
Gríma blickte sie mit einem undeutbaren Blick an. "Ich diene den Anweisungen meines Meisters. Er führt im Osten Krieg gegen Sauron. Die Hobbits und ganz Eriador mit ihnen werden ihren Teil dazu beitragen."
Er stand auf und kehrte zur Tür zurück. "So oder so, du wirst hier bleiben. Wie angenehm dein Aufenthalt für dich und für deine beiden kleinen Freunde sein wird hast du selbst zu entscheiden." Er warf ihr einen letzten Blick zu, der jedoch nicht auf ihr Gesicht gerichtet war. Empört drehte sie sich weg und wandte ihm den Rücken zu.

Sie hörte, wie die Tür hinter ihr geschlossen wurde und atmete schwer aus.
Was sollte sie nur tun? Merry und Pippins Wohl lag offenbar in ihrer Hand. Schlangenzunges Geliebte zu spielen kam aber nicht in Frage. So tief werde ich nicht sinken, dachte sie mit wachsender Verzweiflung, als sie es sich so gut es ging mit den Decken in einer Ecke zum Schlafen gemütlich machte.

Fine:
Mehrere Tage vergingen, in denen sie Schlangenzunge nur selten zu Gesicht bekam.  Anscheinend hatte er mit wichtigeren Dingen zu tun als sich mit ihr zu befassen. Sie durfte sich inzwischen in dem kleinen Haus frei bewegen, kam sich aber nicht weniger als Gefangene vor. Es gab nur einen weiteren Raum, in dem mehrere fest verschlossene Kisten gelagert wurden. Keinen Keller und kein Dachgeschoss. Immerhin besaß das zweite Zimmer ein Fenster, das ihr durch die dicken eisernen Gitterstäbe den Blick nach draußen bot. Sie erkannte das Dorf nicht, in dem sie sich befand. Gegenüber stand eine große Mühle, die durch ein neues, eisernes Schaufelrad betrieben wurde. Zur Rechten führte eine Brücke über den kleinen Fluß, der durch das Dorf floss. Zur Linken ging die Straße leicht ansteigend einen Hügel hinauf weiter. Zu beiden Seiten standen neu errichtete Häuser aus Backsteinen.

Kerry wurde immer unruhiger. Es gab nichts zu tun als abzuwarten, was sie frustrierte. Mehrfach versuchte sie die Eingangstür aufzubrechen, aber ihre Bewacher waren äußerst gründlich gewesen. Im gesamten Haus ließ sich kein geeigneter Gegenstand finden. Nichts fand sie, was sie als Waffe hätte verwenden können. Beim Betreten des Hauses waren die Wachen stets mindestens zu zweit und würden sich nicht überrumpeln lassen. Sie wusste nicht einmal, wohin sie gehen und was sie tun sollte wenn sie es tatsächlich nach draußen schaffen würde. Sie glaubte nicht, dass sie sehr weit kommen würde.

Also spielte sie die brave Gefangene und versuchte den Anschein zu erwecken, dass sie sich ihrem Schicksal gefügt hatte. Schlangenzunge schien erfreut darüber zu sein. "Jetzt verstehst du es," sagte er. Oh, ich verstehe nur allzu gut, du schmieriger léasere von einem Mann, dachte sie. Warte nur, bis ich dich soweit habe, dass du die Wachen wegschickst um mit mir allein zu sein. Du wirst dich noch wundern. Doch Schlangenzunge schien nicht gewillt zu sein, irgendetwas dem Zufall zu überlassen. Er kam nie allein zu ihr und blieb nie lange. Es schien ihm gefallen, ihr ungestraft durchs Haar oder über das Gesicht zu streichen, was sie nur unter größter Beherrschung ertrug.

Am vierten Tag ihrer Gefangenschaft wurde sie grob aus ihrem Mittagsschlaf gerissen, als Gared sie schüttelte. "Aufstehn, Mädchen. Mach' dich hübsch für den Meister." Mit diesen Worten legte er ein weiteres, ordentlich zusammengelegtes Kleid vor ihr ab. Obendrauf lag eine einfache, silbern glänzende Halskette. Schlangenzunges Gehilfe ging und schloss die Tür hinter sich. Eilig zog sie sich um und machte sich die Haare zurecht. Es gefiel ihr nicht, sich so zu behandeln zu lassen, doch sie wusste dass sie das Vertrauen Grímas gewinnen musste um eine Fluchtmöglichkeit zu erhalten.

"Sieh dich an," sagte Schlangenzunge als er hereinkam. "Schön wie die Morgenröte über der Westfold."
"Ich bin nicht aus der Westfold," gab sie patzig zurück.
Schlangenzunge schien es nicht zu stören. Mit einem Wink schickte er Gared zur Tür, an der dieser stehen blieb um sie zu bewachen. Der oberste Diener Sarumans trat zu ihr und stellte sich vor sie, in unangenehme Nähe. Er war nur ein kleines Stück großer als sie. Einen langen Augenblick starrte er sie einfach nur an. Dann wandte er den Blick ab und begann, sie langsam zu umrunden. Kerry blieb unbewegt stehen und wartete ab.
"Aus deinen Hobbit-Freunden ist nichts herauszubekommen, meine Liebe. Bevor wir ihnen... nun ja, bevor wir ihnen weh tun müssen, was du sicherlich nicht möchtest, wäre es schön, wenn du ein Wort mit ihnen reden könntest. Überzeuge sie davon, mir zu erzählen, was ich wissen will. Dann wird ihnen nichts geschehen."
Oh! Mutiger Merry! Tapferer Pippin! Sie haben nichts verraten. Ihre Achtung vor den beiden stieg gewaltig an. Also besteht vielleicht noch Hoffnung, sie heil hier raus zu bringen. Vielleicht wenn Schlangenzunge mich zu ihnen bringt... Ihre Gedanken rasten und sie bemerkte kaum, was Schlangenzunge tat, bis sie seine kalte Hand auf ihrer linken Wange spürte. Instinktiv machte sie einen Schritt rückwärts und stieß an die harte Wand. Schlangenzunge folgte ihr. Er war jetzt ganz nah, so nah dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte. Sein Blick fixierte ihre Augen und seine andere Hand legte sich auf ihre Hüfte.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Ihr Blickfeld war von Gríma ausgefüllt sodass sie nicht sehen konnte, was Gared tat. Behält mich wahrscheinlich genau im Blick, dachte sie. Sie stand mit dem Rücken zur Wand, im wahrsten Sinne des Wortes.
Er versucht, mich zu küssen, wurde es ihr klar, als Schlangenzunge sich bewegte.

Weiter hinten im Raum erklang ein dumpfes Geräusch und etwas sehr Schweres fiel zu Boden. Schlangenzunge schien es nicht zu bemerken, schier gebannt in dem Augenblick der körperlichen Nähe. Dann erklang eine vertraute Stimme vom Eingang her.
"Ich unterbreche die Zärtlichkeiten ja nur ungerne, wirklich. Aber ich fürchte, mein Freund hier besteht darauf dass Herr Schlangenzunge einen wichtigen Termin einzuhalten hat."
Der Dúnadan! fuhr es Kerry durch den Kopf und sie stieß Schlangenzunge heftig von sich. Vollkommen überrascht taumelte er rückwärts, fing sich wieder und drehte sich um. Rilmir stand im Eingang und ließ lässig eine schwere Keule mit der Hand kreisen. Gared lag vor ihm bewusstlos am Boden.
"Wer seid Ihr? Was wollt Ihr? Ihr habt kein Recht, hier einzudringen, Waldläufer! Ihr steht unter meinem Befehl! Ich befehle Euch, auf der Stelle von hier zu verschwinden!" rief Schlangenzunge mit echter Entrüstung und Verärgerung.
"Oh, natürlich, natürlich! Wir werden sogleich von hier verschwunden sein. Komm, Kerry, es wird Zeit zu gehen."
"Sie bleibt hier!" äußerte sich Schlangenzunge im Befehlston.
"Ich fürchte, ich muss darauf bestehen, Herr Schlangenzunge," antworte Rilmir mit einem Lächeln. "Und auch Ihr selbst werdet mitkommen."
"Ich gebe hier die Befehle!" rief Gríma, doch er klang bereits recht verunsichert. "Ich bin Sarumans Stellvertreter!"
"Es wird Zeit für eine neue Aufgabe für dich," sagte eine neue Stimme - und Gandalf betrat den Raum. Gandalf! dachte Kerry und sie spürte, wie sich ein echtes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Gandalf! Beinahe hätte sie vor Freude geweint, obwohl sie nicht genau wusste, weshalb. Schlangenzunge hingegen war noch bleicher als sonst geworden und sah aus, als hätte er einen Geist gesehen.
"Du!" flüsterte er. "Du ... du bist besiegt! Geschlagen! Verzaubert bist du! Saruman hat es mir gesagt, ja gesagt hat er es! Er ... er trägt deinen Stab!"
"Oh, der?" antwortete Gandalf gerade zu fröhlich. "Sorge dich nicht um meinen Stab, Herr Schlangenzunge. Wie du sehen kannst, habe ich bereits einen guten Ersatz gefunden." Und er stützte sich auf den von Tom Bombadil geschenkten braunen Stab.
Kerry durchquerte den Raum und fiel Rilmir um den Hals. "Wo seid ihr nur gewesen?" fragte sie vorwurfsvoll, doch voller Erleichterung. Der Dúnadan hielt sie im Arm, doch Gandalf antwortete.
"Du wirst es sehen, Kerry. Du wirst es gleich sehen." Mit diesen Worten ging er hinaus und winkte Kerry hinter sich her. Sie löste sich von Rilmir und ging dem Zauberer hinterher, während der Waldläufer Schlangenzunges Hände auf dem Rücken zusammenband. Er schien nicht mehr dazu imstande zu sein, Widerstand zu leisten: zu sehr hatte Gandalfs Auftreten ihn erschüttert.

Sie verließen das Haus durch die Eingangstür, die von außen aufgebrochen worden war. Kerry blinzelte im hellen Sonnenlicht und kniff die Augen zusammen. Als sie sich an das Licht gewöhnt hatte staunte sie nicht schlecht. Auf der Straße standen ungefähr zwei Dutzend in grau gekleidete, hochgewachsene Gestalten, die Bögen, Schwerter und Speere trugen. Einige trugen Kapuzen, doch den meisten schien es zu warm dafür zu sein. Einer trat zu Gandalf und sprach leise mit dem Zauberer. Da erkannte sie seine Stimme schließlich: Es musste Belen sein, der Anführer jener Waldläufer, die sie auf der Wetterspitze getroffen hatte. Es kam ihr vor, als wäre es eine Ewigkeit her. Gandalf und Rilmir haben die Dúnedain gefunden, die Saruman nicht dienen! Belen nickte ihr freundlich zu und ihr Herz wurde leicht. Und machte gleich darauf einen freudigen Sprung, als sie zur Brücke hinberblickte, auf deren Geländer zwei kleine Gestalten saßen und die Beine baumeln ließen.

"Merry! Pippin!" rief sie und eilte auf die Hobbits zu. Es war ihr egal, was sie von ihr dachten oder ob es ihnen peinlich war. Sie drückte beide fest an sich. "Ich bin so froh dass es euch gut geht!" sagte sie.
"He, Kerry," sagte Pippin grinsend. "Du weißt doch, dass wir auf uns aufpassen können."
"Du sagst es, Pip," fügte Merry mit einem äußerst zufriedenen Gesichtsausdruck hinzu. "Sag mal, Kerry," fuhr er dann fort, "Du hast nicht zufällig eine Portion Pfeifenkraut dabei, oder? Hübsches Kleid übrigens."
"Pfeifenkraut aufzutreiben wird unsere geringste Sorge sein," sagte Gandalf, der hinzugetreten war. Der Zauberer strahlte. Ganz anders als noch auf der Oststraße, dachte Kerry. Der Erfolg hat ihm seine Zuversicht zurückgebracht.. "Mit der Hilfe des Sternenbunds - den freundlichen Waldläufern hinter mir - werden wir jetzt anfangen, alle Diener Sarumans aus dem Auenland vertreiben. Den obersten Halunken haben wir schon erwischt!" fügte er in Richtung Schlangenzunges hinzu, der von Rilmir abgeführt wurde.
"Meinen ersten Kuss hab' ich mir anders vorgestellt," sagte Kerry und lachte. Gandalf und die Hobbits stimmten lauthals mit ein.

Fine:
"Hobbingen und Wasserau sind jetzt frei von Sarumans Strolchen," sagte Pippin fröhlich. "Gandalf und die Dúnedain kamen mitten durchs Ostviertel und haben sie vollkommen überrascht. Wie sie uns gefunden haben weiß ich aber nicht."
"Das war nicht schwer," erklärte Gandalf. "Die Waldläufer können sehr überzeugend sein. Es hat nicht lange gedauert bis wir jemanden gefunden hatten, der uns verriet wo ihr gefangen gehalten werdet." Gandalf blickte die beiden Hobbits und Kerry streng an. "Ihr habt Glück gehabt, dass wir euch retten konnten. Es wird nicht immer so einfach sein," warnte der Zauberer sie.
Kerry blickte schuldbewusst zu Boden. "Es war meine Schuld, Gandalf. Ich habe vorgeschlagen, nach Hobbingen zu gehen. Merry und Pippin sind mir nur gefolgt. Ich war nicht vorsichtig genug."
"Ach Unsinn, Kerry. Du kennst Gandalf noch nicht so lange wie wir es tun," mischte sich Merry ein. "Wir haben uns erwischen lassen, das stimmt, aber Gandalf übertreibt. Als die Dúnedain uns gefunden haben standen wir kurz davor, uns selbst zu befreien. Stimmts, Pip?"
"Stimmt genau, Merry!" pflichtete Pippin ihm bei. "Ich hatte die Fesseln schon fast durchtrennt, wie damals am Fangorn!"
Kerry bewunderte die ungebrochene Zuversicht der Hobbits. Sie haben Recht behalten - es ist noch einmal alles gut gegangen. Und doch war es für mich keineswegs "einfach". Was wird wohl noch alles auf mich zukommen?

"Wie gehen wir jetzt weiter vor, Gandalf?" fragte sie neugierig.
"Belen und seine Freunde haben Kundschafter vorausgeschickt bevor wir nach Hobbingen kamen," antwortete er ihr. "Kurz bevor wir dich befreiten haben sie uns berichtet, dass der Großteil von Sarumans Dienern von Michelbinge hierher unterwegs ist. Das kommt uns gerade recht. Wir werden sie in eine Falle locken."
Der Zauberer blickte an ihr herunter und lächelte. "Aber zunächst solltest du dir vielleicht etwas, hm, passenderes anziehen. In einem Kleid wie deinem lässt es sich nicht gut kämpfen."
Da hat er wohl recht, dachte Kerry.

Ihre Sachen waren noch an Ort und Stelle, und eilig zog sie sich um. Zwar hatte sie gehofft, so herausgeputzt wie sie gewesen war vielleicht endlich einen tieferen Eindruck auf Rilmir gemacht zu haben, aber vermutlich hatte der Dúnadan im Moment ganz andere Sorgen. Sie suchte ihre Ausrüstung zusammen und fand schließlich ihr Schwert und ihre Tragetasche in einer der Hütten auf der anderen Straßenseite. Inzwischen war der Nachmittag vorangeschritten und der Abend würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die Dúnedain Belens sammelten sich und gemeinsam mit Merry, Pippin, Gandalf und Kerry brachen sie in südwestlicher Richtung auf.

Zwei Stunden nach Sonnenuntergang lag Kerry versteckt hinter einem großen Strauch oberhalb der Straße nach Michelbinge. Zu beiden Seiten der Straße stiegen hier Böschungen an und der Hohlweg dazwischen zog sich ungefähr dreihundert Meter dahin. Die Dúnedain des Sternenbundes hatten diesen Ort für ihren Hinterhalt ausgewählt. Belen, der von einigen auch Aravorn II. genannt wurde, hatte zusätzliche Unterstützung durch einige kampfbereite Hobbits erhalten, die Bögen trugen. Auch die Dúnedain hielten Pfeil und Bogen bereit. Jetzt kommt es also wirklich zum Kampf, dachte Kerry aufgeregt. Sie wusste nicht, ob das gut oder schlecht war.

Rilmir kniete zu ihrer Linken und hielt in westlicher Richtung Ausschau, in wachsamer Stille versunken. Merry und Pippin hingegen unterhielten sich leise darüber, wem das letzte Stück elbischer Wegzehrung zustünde. Wenn Kerry nicht genau gewusst hätte, dass die beiden sobald es zum Kampf kommen würde sofort einsatzbereit sein würden, hätte sie ihnen das Lembas weggenommen. So aber drehte sie sich jedoch einfach auf den Rücken und betrachtete die Sterne, die am wolkenlosen Himmel gut zu erkennen waren, und lächelte. Das ist jetzt schon eher ein Abenteuer nach meinem Geschmack, dachte sie zufrieden. Jetzt, da sie Schlangenzunge entkommen war und Gandalf offenbar zu neuer Tatkräftigkeit erwacht war hatte sie ebenfalls neue Zuversicht geschöpft. Nimm dich in Acht, Saruman. Wir kommen.

Der Ruf einer Eule erklang von der anderen Seite - das verabredete Zeichen, dass ihre Feinde gesichtet worden waren. "Schleiereule," sagte Pippin. "Es geht los."
Kerry wollte sich aufrichten und einen Blick nach Westen riskieren, doch Rilmir bedeutete ihr, liegen zu bleiben. "Bleib' unten, Kerry. Sie dürfen uns nicht entdecken bevor wir uns ihnen zeigen," sagte er leise.
"Die werden uns schon nicht sehen, Dúnadan," antwortete sie, blieb aber dann still. Von weitem hörte sie jetzt die herannahende Meute: ein lärmender, undisziplinierter Haufen Strolche und Banditen. In den Jahren in denen sie sich im Auenland als Herren aufgespielt hatten war ihnen offenbar noch nie zuvor wirkliche Gegenwehr entgegengeschlagen. Anders konnte sich Kerry ihre Unvorsichtigkeit und Überheblichkeit nicht erklären. Ihre Füße kribbelten vor Anspannung als sie vorsichtig auf die Straße spähte.

Die Diener Sarumans kamen heran und traten in den Hohlweg ein und rückten vor. Kerry konnte sie jetzt sehen: Ungeschlachte und rohe Menschen, mit Waffen aller Art und vielen Fackeln in den Händen. Offenbar hatten sie vor, Hobbingen und Wasserau eher in Brand zu setzen als sie an ihre unbekannten Feinde zu verlieren. Es waren über hundert von ihnen, und sie waren laut. Heimlichkeit ist wohl nicht ihre Stärke, dachte Kerry. Beinahe bis zum Ende der Böschungen kamen sie, als Gandalf ihnen auf der Straße entgegentrat.

"Halt!" rief er mit lauter, gebieterischer Stimme. "Hier endet euer Weg. Legt die Waffen nieder und es wird euch nichts geschehen. Doch eure Herrschaft über das Auenland ist beendet."
Die Horde war stehengeblieben und Kerry sah viele ungläubige Gesichter. "Scharker," hörte sie einige der Männer sagen.
"Was hat das zu bedeuten, alter Mann? Geh' uns aus dem Weg," äußerte sich schließlich einer der Vordersten.
Gandalf rührte sich nicht. "Die Waffen runter, hab' ich gesagt. Entscheidet euch schnell!"
"Das ist nicht Saruman," sagte ein anderer Mann. "Das ist bloß ein Trick!"
Die Menge setzte sich wieder in Bewegung. Da stand gegenüber von Kerry einer der Dúnedain auf und hob die Hand. Sie glaubte, Belen zu erkennen.
Ohne ein weiteres Kommando begannen nun die Pfeile zu fliegen, viele mehr als Kerry erwartet hatte. Die Waldläufer waren ausgezeichnete Bogenschützen und schossen ihre Pfeile in schneller Folge ab. Obwohl es nur zwei Dutzend Dúnedain und dazu einige Hobbits waren dauerte es nicht lange, bis auf der Straße niemand mehr am Leben war. Erschrocken über diese Brutatlität schlug sie die Hand vor den Mund. Oh, dachte sie. oh, das ging schnell.

Kerry blickte zu Rilmir hinüber, der weiterhin nach unten starrte. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Er hatte getötet, kaltblütig fremde Menschen erschossen, von denen er nicht einmal wusste, weshalb sie hier waren. Vielleicht hatten einige von ihnen gar nicht zu Sarumans Dienern gehört und waren einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Nicht alle hatten nach Dunländern oder den Menschen aus Enedwaith ausgesehen. Gewiss war auch der eine oder andere Mann aus dem Breeland dabei gewesen, überlegte Kerry mit leichtem Entsetzen. So viele Tote. So viel Blut da unten.
"Sie haben bekommen, was sie verdient haben," sagte Rilmir kalt, der ihren Blick bemerkt hatte. "Das Auenland ist nun wieder frei."
Aber um welchen Preis? dachte sie.

Fine:
Der Regen prasselte auf die Straße und fegte alle Spuren des Blutvergießens hinweg. Fleißige Hobbits hatten den Weg bereits freigeräumt, doch das Blut der Erschlagenen war nicht so leicht zu entfernen gewesen. Kerry hatte den Anblick nicht lange ertragen und hatte sich mit Merry und Pippin zurück nach Hobbingen geflüchtet. Jetzt saßen sie gemeinsam im "Efeubusch", einem kleinen Gasthaus das an diesem Tag zum ersten Mal seit langem wieder geöffnet hatte. Gandalf und die Dúnedain würden ebenfalls bald eintreffen um zu besprechen, wie es nun weiter gehen sollte.

Kerry gähnte. Es war bereits Mitternacht und sie sehnte sich danach, zu schlafen und die Erlebnisse des Abends zu vergessen. Pippin, der ihr gegenüber saß und einen vollen Krug vor sich stehen hatte schien die Schlacht nicht im Mindesten zu belasten. Die Hobbits waren ausgelassen und bester Laune, wie es schien.
"Das nenne ich mal einen erfolgreichen Tag," sagte er fröhlich. "Wir haben einen wichtigen Schritt zur Befreiung des Auenlandes getan und Saruman ordentlich die Suppe versalzen."
"Sehr richtig, Pip, sehr richtig," stimmte Merry mit vollem Mund zu. "Auf Gandalf ist eben Verlass! Und wir drei haben natürlich ebenfalls dazu beigetragen."
Kerry hatte genug. "Wie könnt ihr beiden hier sitzen und feiern? Hundert Menschen sind tot, erschossen von unseren finsteren Freunden. Dabei wussten wir nicht einmal, ob sie wirklich alle Diener Sarumans waren," sagte sie vorwurfsvoll.
"Kerry, so ist der Krieg nun einmal," antwortete Merry. "Sie kamen mit der offensichtlichen Absicht her, die Hobbits und das Auenland weiter zu unterdrücken. Wir haben sie aufgehalten."
"Gandalf hat ihnen die Möglichkeit gegeben sich zu ergeben," warf Pippin ein. "Sie haben sich dagegen entschieden."
Kerry musste zugeben, dass das stimmte. Der Zauberer war den Strolchen auf der Straße offen entgegen getreten und sie gebeten, die Waffen abzulegen. Sie versuchte, sich in deren Lage zu versetzen und stellte fest, dass sie wohl ebenfalls gedacht hätte, dass der alte Mann keine Gefahr darstellen würde. Und dennoch...Dieser Sieg fühlt sich einfach... nicht richtig an, dachte sie müde.

Gandalf, Rilmir und Belen betraten das Gasthaus und kamen an ihren Tisch. Alle drei sahen äußerst zufrieden aus. "Meine Männer haben sich verteilt und jagen nun die letzten verbliebenen Diener Sarumans innerhalb des Auenlandes," erklärte Belen. "Die Grenzer werden ab sofort unter der Führung des Thains ein wachsames Auge darauf haben, dass keine weiteren Banditen ins Auenland gelangen werden. Ich werde ihnen vier meiner Leute zur Seite stellen um sie zu lehren, Hinterhalte und Fallen zu stellen und Feinde am Eindringen ins Auenland zu hindern."
"Gut gemacht," lobte Gandalf. "Dann können wir unsere Aufmerksamkeit schon bald auf den Rest von Eriador richten."
"Wie lautet dein Plan, Mithrandir?" wollte Belen wissen. "Der Bund der Sieben Sterne wird dich ohne Vorbehalte unterstützen. Es ist gut, einen Zauberer auf seiner Seite zu wissen."
Gandalf überlegte einen Moment. "Wir müssen die Stützpunkte Sarumans in Eriador finden," sagte er dann. "Wenn seine Diener keinen Ort mehr haben, an den sie sich zurückziehen können, wird es einfacher für uns, ihre Machenschaften zu beenden."
"Ich hoffe, wir können die Flüchtlinge aus all dem heraushalten," äußerte sich Rilmir. "Sie kamen in den Norden um dem Krieg zu entkommen und nun bringen wir den Krieg zu ihnen."
Er hat Recht, dachte Kerry. Mit einem Mal kam ihr das gesamte Vorhaben, in Eriador einen Krieg gegen Saruman anzufangen, sehr unbedacht vor.
"Wir werden es versuchen, so gut es geht," antwortete Gandalf. "Vielleicht werden uns einige von ihnen unterstützen. Sarumans Einfluss muss auch für sie spürbar geworden sein."
"Im Breeland nehmen die meisten Menschen an, der Krieg im Osten sei zu ihrem Besten," meinte Belen. "Dabei geht es dort nur um Sarumans selbstsüchtige Ziele."
"Solange sich seine Aufmerksamkeit auf den Osten richtet können wir unseren Zug machen," sagte Gandalf. "Wo liegt der nächste Stützpunkt der Dúnedain Helluins?"
"Das versteckte Lager an der Sarnfurt," sagte Rilmir.
"Außerdem die Feste der Erben Isildurs am Abendrotsees," ergänzte Belen. "Dort lagern gewiss große Vorräte, denn in der alten Halle gibt es viel Platz."
"Dann lasst uns nach Norden ziehen," entschied Gandalf. "Die Sarnfurt liegt zu nahe an Tharbad und den Gebieten im Süden, wo sich die Diener Sarumans sammeln. Außerdem wäre es ein wichtiger symbolischer Sieg, wenn Belen den alten Ahnsitz der Stammesführer den Händen Helluins entreißt, der sein Erbe vergessen hat."
Belen nickte zustimmend. Für ihn schien die Abstammung von Isildur sehr wichtig zu sein.
"Dann sei es beschlossen," sagte der Waldläufer. "Ich werde einen Teil meiner Männer nach Süden entsenden, um falsche Spuren zu legen. Der Rest wird uns zum Abendrotsee begleiten."

Sie verbrachten die Nacht im Efeubusch. Kerry schlief schon bald ein und hatte einen traumlosen Schlaf. Am folgenden Morgen waren die Schrecken des letzten Abends bereits verblasst, doch ganz vergessen würde sie den Anblick der toten Männer wohl nie.
Merry und Pippin erwarteten sie vor dem Gasthaus. Sie sahen aufbruchsbereit aus und trugen ihre Elbenumhänge. "Ihr kommt mit?" fragte Kerry neugierig. Sie hatte vermutet, dass die Hobbits lieber im Auenland bleiben wollten.
"Wir brechen auf, aber nicht nach Norden" erklärte Pippin zuversichtlich. "Wir gehen jetzt erstmal nach Michelbinge."
"Pip und ich werden sicherstellen, dass das Auenland frei vom Einfluss Sarumans bleibt," fügte Merry hinzu. "Wir wollen unseren Teil dazu beitragen, Sarumans Pläne zu durchkreuzen, und gleichzeitig in unserer Heimat wieder für Ordnung sorgen."
"Außerdem haben wir Faramir und Éowyn ein Versprechen gegeben," sagte Pippin.
Wie mutig und entschlossen sie sind! dachte Kerry. Bei Hobbits steckt wirklich mehr hinter ihrem Äußeren, als das Auge sehen kann.
Zum Abschied umarmte sie die beiden Hobbits fest. Sie hoffte, Merry und Pippin bald wiederzusehen.

Die Dúnedain sammelten sich um ihren Anführer Belen. Dieser zog sein Schwert und reckte es empor. "Der erste Schritt ist getan," rief er. "Die Schreckensherrschaft Sarumans wird enden und Arnor und Eriador werden wieder frei sein. Für die Dúnedain! Für Arnor! Für Mittelerde!"
"Für Mittelerde!" riefen sie alle wie aus einem Mund.


Gandalf, Belen, Rilmir und Kerry mit dem Sternenbund zur Feste der Dúnedain

Azaril:
Aldoc und Girion von der Sarnfurt

"Tuckbergen?"
Die Frage des Menschen aus Thal mochte nur aus einem einzigen Wort bestehen, aber es war dennoch unmissverständlich, was er damit meinte. Voraus lag eine Siedlung der Hobbits, eine Ansammlung großer Smials – Hobbithöhlen –, in welchen eine bestimmte, große Familie wohnte: Die Tuks.
Aldoc nickte. "Tuckbergen. Meine Heimat. Es ist nur ein paar Monate her, seit ich das letzte Mal hier war, aber es kommt mir vor wie Jahre. Ich habe fast das Gefühl, dass jeder, den ich einst dort kannte, nun verschwunden ist."
"Hast du Angst?", fragte Girion ihn.
"Angst? Nein. Aber ich bin aufgeregt. Und betrübt."
"Betrübt?" Der Krieger hob die Augenbrauen. "Warum?"
"Weil ich mit leeren Händen zurückkomme", erklärte Aldoc. "Ich wurde vom Thain entsandt, um bei den Mächtigen von Mittelerde um Hilfe zu ersuchen. Und ich bin kläglich gescheitert."
"Du hast mich mitgebracht", meinte Giron lächelnd. "Zählt das denn gar nicht? Stelle mich doch als Vertreter des Volkes von Thal dar."
"Eines Volkes ohne Heimat, auf der Flucht, schwach und vertrieben", fasste der Hobbit die Situation der Menschen aus Thal kurz zusammen. Girions Blick verdüsterte sich daraufhin merklich. "Tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen."
"Warum? Du hast doch recht. Thal gibt es nicht mehr, und mein Volk ist in alle Himmelsrichtungen verstreut, manche in den Eisenbergen, viele in Rohan, der ein oder andere in Eriador. Wir werden in den anderen Menschenvölkern aufgehen, früher oder später. Daran können wir jetzt nichts mehr ändern."
Ohne Zweifel düstere und deprimierende Gedanken, aber das war dieser Tage nicht mehr ungewöhnlich. Sauron hatte in allen Herzen Verzweiflung gesät, auch wenn sich manche mutig dagegen stemmten und nicht nachgeben wollten. Es war dunkel geworden in Mittelerde. Nicht wortwörtlich, aber es hatte sich eine Dunkelheit über die Gemüter fast aller gelegt, die noch am Leben waren. Manche ergaben sich dieser Dunkelheit einfach. Andere kämpften, jeder auf seine Art. Aldoc war entschlossen, nicht aufzugeben, solange es auch nur einen winzigen Funken Hoffnung gab.
Die Großsmials von Tuckbergen rückten immer näher. Auf dem Weg hierher waren sie noch zwei Mal einigen patrouillierenden Rüpeln über den Weg gelaufen und hatten öfters welche aus der Ferne gesehen, aber je weiter sie nach Norden gekommen waren, je näher an die Heimat seiner Familie, desto seltener waren die fremden Menschen geworden. Als wagten sie sich aus irgendeinem Grund nicht mehr in diesen Teil des Auenlandes. Ein gutes Zeichen. Hoffentlich.
Als Aldoc schließlich ein paar Minuten später zum ersten Mal seit Langem einen Fuß in die Siedlung setzte, in der er geboren und aufgewachsen war, durchlief ihn ein angespanntes Schaudern. Fast erwartete er schon, dass jeden Moment Pippin und Merry um die Ecke kämen, auf der Flucht vor einem wütenden Erwachsenen, der Aldoc nun ebenfalls für einen der Übeltäter hielt, weshalb er sich seinen beiden Freunden auf deren Flucht anschließen musste.
Aber natürlich geschah nichts dergleichen. Er war kein Kind mehr, und die beiden sogenannten Unruhestifter auch nicht. Seufzend ließ er die Schultern hängen, als die Erinnerung schwand und die düstere Realität der Gegenwart zu ihm zurückkehrte. Mit gesenktem Kopf starrte er auf den Weg vor sich, plötzlich nicht mehr fähig, auch nur einen weiteren Schritt zu setzen.
Es war so still. So ruhig. Fast, als wären seine Befürchtungen wahr geworden, und all die Leute, die er kannte, wären verschwunden.
"Aldoc?" Girion beugte sich mit besorgtem Gesichtsausdruck zu ihm herunter. "Ist alles in Ordnung bei dir?"
Der Hobbit schüttelte seine Starre ab und hob dann wieder den Kopf. "Mit geht es gut, Girion. Wir sollten als erstes zum Smial von Thain Palad..."
Er hielt mitten im Satz inne, als plötzlich eine Hobbitfrau mit goldenem Haar zwischen zwei Smials erschien. Sie sah sich kurz nach beiden Seiten hin um und erstarrte ebenfalls, als sie Aldoc erblickte. Ungläubig blinzelte sie, trat dann einen Schritt auf ihn zu, ehe sie schlagartig auf ihn zu rannte und sich ihm in die Arme warf. "Aldoc! Du bist zurück!"
"Äh..." Der junge Abenteurer war vollkommen verdutzt, erwiderte die überschwängliche Umarmung jedoch, während ihn zugleich ein Gefühl innerer Wärme ergriff. "Guten Morgen, Petunia."
Sie löste sich wieder von ihm, ließ jedoch ihre Hände auf seinen Schultern verweilen und sah ihn empört an. "Guten Morgen? Du kommst nach Monaten, in denen ich um dich gebangt habe, endlich nach Hause, und alles, was du zu sagen hast, ist guten Morgen?"
"Also... j-ja, so i-ist es", stammelte er. Seine Gedanken schwirrten wirr durch seinen Kopf. Was sollte er sagen? Wie konnte er sie besänftigen? "Es ist aber auch ein schöner Morgen. Ich meine, du bist an diesem Morgen besonders schön."
Petunia blinzelte überrascht. "War das gerade ein Kompliment? Von dir?"
"Ich... ähm... war es das?" Aldoc sah hilfesuchend zu Girion hinüber, der das Ganze jedoch nur mit einem amüsierten Schmunzeln beobachtete. Petunia folgte Aldocs Blick und schien jetzt erst den Menschen an seiner Seite zu bemerken. Erschrocken wich sie zurück. "Wer ist das, Aldoc?"
"Girion, letzter Fürst von Thal, sehr erfreut", stellte der Krieger sich vor und hielt ihr höflich eine Hand hin.
"Ein echter Fürst, tatsächlich?", fragte die Hobbitfrau mit deutlicher Skepsis im hübschen Antlitz und schüttelte zögernd die dargebotene Hand.
"Glaub ihm kein Wort, er will sich nur vor uns ahnungslosen Hobbits aufspielen", sagte Aldoc, der sich inzwischen wieder ein wenig beruhigt hatte. Sein Herz raste jedoch noch immer vor Freude, Petunia wiederzusehen. "In Wirklichkeit ist Girion ein Spitzel Sarumans."
Sofort ließ sie die Hand los. "Im Ernst? Du bringst einen Schergen dieses Mannes hierher?"
"Ich fühle mich verpflichtet, zu erwähnen, dass dein Freund Aldoc Tuk hier ebenfalls ein Spion des weißen Zauberers ist, kleine Lady", meinte Girion in einem geradezu lächerlich ernsten Tonfall. "Er hat vor, so viele Informationen wie möglich zu erlangen und euch dann zu verraten und sie an den Statthalter von Tharbad weiterzugeben."
Petunia runzelte die Stirn und sah Aldoc tadelnd an. "Ich nehme an, dahinter steckt eine lange Geschichte?"
Der junge Tuk nickte. "Ja."
"Dann kommt doch mit ins Smial meines Vaters", bot sie an. "Dort könnt ihr beiden mir alles erzählen."
Aldoc nickte Girion zu und gemeinsam folgten sie Petunia zur größten Hobbithöhle der Siedlung, wo der derzeitige Thain wohnte, Paladin Tuk der Zweite. Auf dem Weg dorthin räusperte sich der Mensch vernehmlich. "Ähm... dürfte ich vielleicht deinen Namen erfahren, kleine Lady?"
"Oh!" Petunia hielt sich verlegen eine Hand vor den Mund. "Tut mir leid, ich habe ja ganz vergessen, mich vorzustellen." Sie verbeugte sich leicht vor dem Menschen. "Ich bin Petunia Tuk, die jüngste Tochter von Thain Paladin Tuk."
Girion nickte. "Und du bist Aldocs Frau?"
Schlagartig hielten die beiden Hobbits an und riefen gleichzeitig: "Natürlich nicht!" Dann sahen sie sich gegenseitig verärgert an und setzten ihren Weg wortlos fort.
"Ah... ich verstehe", murmelte Girion und folgte ihnen.

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