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Autor Thema: Barad-dûr, der Dunkle Turm  (Gelesen 8640 mal)

Fine

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Barad-dûr, der Dunkle Turm
« am: 16. Feb 2016, 15:26 »
Azruphels Start:

Azruphel saß nachdenklich am kleinen Fenster in ihrem Gemach und starrte auf die Ebene von Gorgoroth hinaus. Heute noch würde sie nach Westen aufbrechen. Doch bisher hatte sie keinen Plan für ihre Reise gemacht.
Ihr Vater hatte ihr stets drei Regeln eingeschärft. Gut konnte sie sich an den Tag erinnern, als er sie ihr zum ersten Mal beigebracht hatte.
"Erste Regel: Überlebe!" hatte Varakhôr gesagt und sie scharf angeblickt. "Stürze dich nicht in Kämpfe, die du nicht gewinnen kannst, Azruphel. Überschätze dich nicht selbst. Sei vorsichtig und bedacht im Umgang mit Dingen, die dir neu sind."
"Zweite Regel: Halte deine Augen stets offen! Sei aufmerksam und gelehrig, und mache dir deine Umgebung zu Nutze! Erkenne die Schwächen deiner Feinde, und nutze sie aus! Behalte stets den Überblick über die Situation, in der du dich befindest."
"Dritte Regel: Sei auf alles vorbereitet! Handle bedacht und überlegt und mache dir klar, dass sich die Lage jederzeit ändern könnte. Nutze deine Vorteile weise. Wenn Essen da ist, dann iss, denn vielleicht wird die Gelegenheit zu essen schon bald verstreichen. Sei dir bewusst, wie weit du gehen kannst und wo deine Stärken liegen!"

Sie versuchte, die Regeln ihres Vaters auf ihr Vorhaben anzuwenden. Um zu überleben, musste sie vermeiden, Aufsehen zu erregen. Niemand durfte erfahren, wohin sie ging und welche Absichten sie im Herzen trug. Sie würde nur das Nötigste preisgeben. Ihr Status gab ihr einige Freiheiten innerhalb der Grenzen Mordors, doch die Anordnungen Varakhôrs waren eindeutig gewesen: Er wollte, dass sie im Dunklen Turm blieb. Also stand sie vor der Wahl, die Flucht (und damit eine Verfolgung durch Gothmog) zu riskieren oder sich einen glaubwürdigen Grund zu überlegen, der den Truchsess Barad-dûrs überzeugen würde, sie abreisen zu lassen. Ihre Vorteile lagen klar auf der Hand: Der Name ihres Vaters und ihrer Familie würde ihr in Mordor viele Türen öffnen, und wenn sie es bewerkstelligen könnte, eine offizielle Entsendung in die besetzten Gebiete im Westen zu erhalten, würden sich ihr keinerlei Hindernisse in den Weg stellen. Ja. Das kriege ich hin, sagte sie sich.

Sie fand Gothmog in der Halle, die zuvor der Sitz ihres Vaters Varakhôr gewesen war. Gehüllt in orkische Rüstung und einen schwarzen Mantel stand der Truchsess des Dunklen Turms im Raum und fixierte sie mit einem finsteren Blick. Seine Abneigung gegen die Adûnâi(1) von Durthang war Azruphel wohl bekannt.
"Was willst du von mir?" verlangte Gothmog zu wissen.
"Euch über meine Abreise informieren," antwortete sie mit fester Stimme. Halte deine Augen stets offen.
"Die Befehle deines Vaters waren eindeutig. Du hast hier im Turm zu bleiben."
"Die Lage hat sich geändert. Meine Befragung des Gefangenen zeigt endlich Wirkung."
"Was soll das bedeuten?" fragte der Truchsess mit misstrauischem Blick.
"Ich werde ihn dazu bringen, mir zu vertrauen. Dann wird er mir alle Geheimnisse verraten, die er noch vor uns und dem Großen Gebieter verbirgt."
"Wie willst du das erreichen was all die Jahre der Folter nicht konnten? Wieso glaubst du, die du kaum Erfahrung besitzt, besser zu sein als alle anderen in diesem Turm?"
"Weil der Gefangene nicht mit Folter zu brechen ist und seine Hoffnung noch nicht ganz erloschen ist. Seine Hoffnung werde ich nähren, um sein Vertrauen zu gewinnen."
"Wie hast du vor, dies zu erreichen?"
"Indem ich ihm einen Beweis bringe, dass der Westen weiterhin Widerstand leistet," sagte Azruphel selbstsicher. "Ich werde nach Gondor gehen und beschaffen, was dafür benötigt wird."

Gothmog starrte sie lange an ohne zu antworten. Sie hielt seinem Blick stand. Überlebe. Der Augenblick zog sich in die Länge und sie begann zu befürchten, dass er ihr nicht glauben und ihr Plan scheitern würde.
"Du besitzt die Grausamkeit deiner Rasse," sagte Gothmog endlich. "Du wirst seine Seele zerbrechen. Geh also, auf deine eigene Verantwortung - doch erwarte keine Gnade vom Großen Gebieter, solltest du scheitern."
Sie nickte und verbarg ihre Erleichterung. "Ich werde gewiß nicht scheitern. Ich breche noch heute auf."
Gothmog entließ sie mit einer Handbewegung.

Eilig packte sie ihre Besitztümer zusammen. Sie legte ihre Rüstung an, die ihre Schultern, dem Oberkörper und die Hüfte bedeckte und warf einen dunkelgrauen Umhang darüber, denn die Nächte in Mordor waren sehr kalt. Ihr Schwert Lôminzagar(2) trug sie auf dem Rücken. Sie ließ sich mit Proviant versorgen und nahm außerdem ihr Sindarin-Tagebuch und eine Karte der eroberten Gebiete Gondors mit. Dann begab sie sich durch die unteren Ebenen zum Großen Tor, wo eine Eskorte aus zwanzig Orks bereits auf sie wartete. Azruphel setzte sich an die Spitze der Horde und überquerte die lange Brücke, die den Abgrund rings um den Dunklen Turm überquerte. Sie erreichte die Straße nach Nordwesten und begann ihren Weg ins Ungewisse.

Auf einer kleinen Anhöhe einige Zeit später hielt sie an und blickte zurück. Drohend stand die Festung des Gebieters gegen den von dunklen Wolken bedeckten Himmel. Sie spürte beinahe, wie sie der Blick Saurons erfasste - oder bildete sie es sich nur ein? Geh weiter. Dreh dich um und geh weiter. Lasse ihn hinter dir. Blicke nicht zurück, sagte sie sich selbst. Endlich schaffte sie es, den Blick abzuwenden. Die Augen auf die Straße vor ihr geheftet setzte sie ihre Reise fort.


Azruphel nach Durthang


(1) adûnâisch "West-Menschen"
(2) adûnâisch "Nachtklinge"
« Letzte Änderung: 26. Aug 2017, 08:22 von Fine »
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Der Bleiche Herold
« Antwort #1 am: 8. Jul 2019, 18:09 »
Narissa, Aerien, Karnuzîr und Gimli von der Hochebene von Gorgoroth


Je näher sie dem Dunklen Turm kamen, desto weniger gelang es Aerien, den Blick von der gewaltigen Bastion des Bösen abzuwenden. Sie konnte kaum glauben, dass sie sich Barad-Dûr einst voller Vorfreude genähert hatte und dass ihr der Großteil des Jahres, das sie in den Mauern des Turmes verbracht hatte, gut gefallen hatte.
Alles hat sich seither verändert, dachte sie. Die Fesseln an ihren Handgelenken waren zwar nicht so eng gebunden, dass sie ihr Schmerzen bereiteten, doch das grobe Seil, mit dem Karnuzîr sie gebunden hatte, hatte mit der Zeit begonnen, auf Aeriens Haut zu reiben, was ein unangenehmes Brennen verursacht hatte. Sie ging am Ende der kleinen Gruppe, direkt hinter Narissa her, während Gimli als vorderster der drei "Gefangenen" ihrem vermeintlichen Häscher Karnuzîr über die aschene Ödnis von Gorgoroth folgte. Der Turm ragte inzwischen so hoch über ihren Köpfen auf, dass Aerien den Kopf in den Nacken legen musste, um die Spitze zu erkennen. Spätestens jetzt wurde ihr klar, dass ihr Gefühl sie nicht getäuscht hatte. Nicht nur sie selbst hatte sich seit ihrer Flucht aus Barad-Dûr verändert, sondern auch der Turm selbst war ebenfalls einer deutlich sichtbaren Veränderung unterworfen worden. Während Aeriens gesamter Kindheit hatte von der Turmspitze aus stets das flammende Auge des Gebieters von Mordor mit wachsamem Blick auf sein Reich herabgeblickt, und so war es auch bei Aeriens Ankunft in Barad-Dûr gewesen, als sie noch den Namen Azruphel getragen hatte.
"Es ist fort," wisperte sie, mehr zu sich selbst als an jemand Bestimmtes gewandt.
"Was ist fort?" fragte Narissa und blieb stehen.
"Bei meinem Barte," meinte Gimli und zeigte zur Turmspitze hinauf. "Du hast Recht, Mädchen. Sieh mal einer an. Kein Feuerauge mehr an der Turmspitze. Dann steckt wohl doch etwas Wahrheit in deinem Gespür zu stecken. Ha!"
Zwischen den beiden stählernen Klauen, die in großer Höhe nur noch undeutlich zu erkennen waren, hatte sich einst das flammende Auge Saurons befunden. Doch nun war es verschwunden.
"Er ist tatsächlich nicht hier," sagte Aerien leise. "Ich frage mich, was dies zu bedeuten hat."
"Ein feuriges Auge?" hakte Narissa nach. "Hat es so etwas tatsächlich gegeben?"
"Ich denke nicht, dass wir so weit gekommen wären, wenn sein Blick noch immer von dort droben Wacht gehalten hätte," murmelte Karnuzîr. "Dies kommt mir alles sehr schicksalbehaftet vor."
"Oder es ist einfach nur Glück," entschied Narissa.
"Wie dem auch sei, ob nun Glück oder Schicksal - wir sollten es nicht länger herausfordern," sagte Gimli. "Es ist nicht mehr weit bis zum Tor. Gehen wir."

Sie legten die letzte Meile eilig zurück. Die Umgebung von Barad-Dûr hatte einst von Orks und anderen Dienern des Dunklen Herrschers gewimmelt, doch nun waren nur einige vereinzelte Kreaturen des Schattens in der Nähe des Turmes unterwegs. Keine davon schien große Lust zu verspüren, einem Schwarzen Númenorer in den Weg zu treten. So kam die Gruppe schließlich an eine langgezogene, steinerne Brücke, die über einen mit heißer Lava gefüllten Abgrund hinweg zum Tor von Barad-Dûr führte. Da wider Erwarten am Kopfende der Brücke keine Wachen standen, entschloss sich Karnuzîr, den Augen, die sie ohne Frage beobachteten, keinen Grund zum Zweifeln zu geben. Er marschierte mit entschlossenem Schritt voran und ging sogar so weit, Gimli einen groben Schubser zu versetzen, damit der Zwerg sich in Bewegung setzte.
Eine dräuende Hitze ging von dem dunklen Gestein der Brücke aus. Als Aerien sie zuletzt überquert hatte, war sie von einer starken Eskorte von Orks begleitet worden und hatte die ersten Schritte auf ihrer Flucht aus den Schatten getan. Ein Teil von ihr konnte noch immer nicht glauben, dass sie nun freiwillig an den finstersten Ort in ganz Mittelerde zurückkehrte. Doch sie fasste sich ein Herz. Sie war aufgebrochen, um ihr Volk - die Dúnedain von Númenor - zu retten. Und dafür brauchte sie Aragorns Hilfe.
Endlich standen sie vor dem stählernen Tor, das einem geöffneten Maul mit Fangzähnen glich. Unglaublich hoch ragte der Turm über ihnen auf. Als sie den kleinen Vorhof am Ende der Brücke betraten, traten ihnen die Wachen des Turmes entgegen.
Keine einfachen Orks hüteten die Tore Barad-Dûrs. Die Krieger, die der Dunkle Herrscher als Wächter seines Sitzes auserwählte, waren größer als die meisten Menschen und trugen finstere, stählerne Rüstung, auf denen das Rote Auge prangte. Dies waren die Uruks von Mordor, die sich bereits in vielen Kämpfen bewährt hatten und entgegen den meisten Angehörigen ihrer orkischen Rasse eine unvergleichliche Disziplin besaßen.
"Stehen bleiben," knurrte eine der vier imposanten Kreaturen. Der eiserne Helm verschloss das Antlitz des Orks nahezu vollständig und verlieh ihm ein umso bedrohlicheres Aussehen. "Identifiziert Euch, sofort."
"Ich bin Karnuzîr, Sohn des Aglazôr. Ich bringe wichtige Gefangene für den Gebieter," antwortete Karnuzîr so kalt, als würde es ihn nicht im Geringsten scheren, dass er hier an der Schwelle zu einem wahren Hort von Schrecken stand.
"Nie gehört," grollte der Wächter. "Habt Ihr einen Befehl? Vorzeigen, wenn Ihr nicht aufgespießt werden wollt."
"Einen Befehl habe ich nicht. Ich handelte auf eigene Faust, als ich eine vom Turm gesuchte Verräterin in Harad aufspürte und in Gewahrsam nahm. Darüber hinaus habe ich in Nurn einen wertvollen entflohenen Sklaven gefangen. Vielleicht habt ihr ja schon ihm gehört." Er schubste Gimli vor sich und der Zwerg strauchelte.
"Sieh an. Den kennen wir," erwiderte der Torwächter. "Aber das heißt noch nichts. Euer Name - oder zumindest der, von dem Ihr behauptet, dass er zu Euch gehört - klingt nach den Menschen von Durthang. Wenn es um eine Verräterin geht, dann geht es den Herold etwas an. Ich denke, er wird sich für Euch interessieren."
Der Ork gab einem seiner Kameraden ein Zeichen. Daraufhin verschwand dieser im Inneren des Turmes. "Der Meister des Ordens wird sich Eurer annehmen," fuhr der Torwächter fort. "Und wie Ihr sicherlich wisst, gibt es keinerlei Geheimnisse, die man vor dem Bleichen Herold verbergen kann." Bei dieser unheilvollen Feststellung beließ der Ork es.

Der Bleiche Herold! dachte Aerien entsetzt. Dieser Name war selbst in Mordor gefürchtet. Sein Träger war der Anführer des Ordens des Roten Auges, einer Gruppe von besonders fanatischen Dienern des Dunklen Herrschers, deren hauptsächliche Aufgabe es war, den Willen des Dunklen Herrschers in den von ihm beherrschten Landen durchzusetzen. Der Orden jagte sowohl Verräter als auch jene, die sich nach einem Versagen der Strafe ihres Gebieters zu entziehen suchten. Der Bleiche Herold war ein Vollstrecker, der selbst vor den hochrangigsten Dienern Saurons nicht Halt machte, wenn diese seine Aufmerksamkeit erregten. Seinen wahren Namen kannte Aerien nicht - sie wusste nur, dass der Bleiche Herold sein Hauptquartier in der Aschenebene von Lithlad hatte.

Ein Diener in dunklen Roben erschien in dem schmalen Durchang, der sich im Tor Barad-Dûrs aufgetan hatte. "Mein Meister befiehlt, die Gefangenen sowie jenen, der sie hier her brachte, unverzüglich in die Ordenskammer zu bringen."
Die Orks nahmen die Anweisung kommentarlos hin und öffneten das Tor weit genug, dass Karnuzîr und der Rest der Gruppe hindurchgehen konnten. Sie stolperten hindurch, noch immer von ihren Fesseln eingeschränkt, während Aeriens Vetter dem Diener des Bleichen Herolds mit festem Schritt durch die labyrintischen Gänge und Treppen Barad-Dûrs folgte. So kamen sie auf verschlungenen Wegen zu dem Ort, an dem der Orden des Roten Auges im Dunklen Turm seinen Aufgaben nachging.
Der Raum, in den sie nun kamen, war von einem unheilvollen, rötlichen Licht erhellt, das von kleinen Fenstern in drei Metern Höhe kam. Die Kammer war rund und im Zentrum stand ein einfacher Sitz aus Stein. Darauf saß ein Mensch, dessen Gesicht von einer Maske aus Stahl vermummt war. Der Rest seines Körpers steckte in einer dunklen Rüstung, die durch einen breiten, schwarzen Umhang ergänzt wurde. Teile dieses Umhangs hingen einem langen Halstuch gleich auch über Hals, Kinn und Brust der Gestalt. Dies musste der Bleiche Herold sein, der der Legende nach seit vielen Jahrzehnten sein Gesicht nicht mehr der Sonne gezeigt hatte und dessen Haut daher so weiß wie frisch gefallener Schnee geworden war.
"Karnuzîr, Sohn des Aglazôr," sprach der Herold. Seine Stimme ließ Aerien das Blut in den Adern zu Eis werden. Oberflächlich klang der Herold freundlich, doch in seiner Stimme lag etwas Unnatürliches, als würde sie von mehreren Mündern gleichzeitig erzeugt. "Lass mich dich ansehen, mein Junge."
Karnuzîr trat vor und ließ sich vor dem Sitz des Herolds auf ein Knie herab. Die in schwarze Roben und Kapuzen gehüllten Diener des Herolds, acht an der Zahl, hielten derweil seine Gefangenen mit Schwertern und anderen Waffen in Schach. Aerien wünschte sich in jenem Moment, Narissa hätte nicht darauf bestanden, die Dolche zu behalten. Wenn man sie durchsuchen würde, wäre jegliche Hoffnung auf eine erfolgreiche Täuschung dahin.
"Ich kannte deinen Vater gut, Karnuzîr," säuselte der Herold und strich Aeriens Vetter durch die Haare, als wäre Karnuzîr ein Kind. "Schon lange war er uns ein Dorn im Auge. Sein Bruder, der Fürst von Durthang, hätte längst ein Exempel an dem alten Sandläufer statuieren sollen. Und nun hören wir, dass Aglazôr sich einem der niederen Reiche des Südens angeschlossen hat, die in einem sinnlosen Krieg versinken. Was für eine... Verschwendung." Der Herold spuckte das Wort voller Abscheu aus.
"Ich bin nicht mein Vater, Ordensmeister. Ich bin dem Gebieter treu," sagte Karnuzîr. Selbst Aerien konnte keine Furcht aus seiner Stimme heraushören.
"Treu? Das wird sich zeigen, Karnuzîr. Wen hast du dort mit dir gebracht?" zischte der Herold und erhob sich von seinem Stuhl. Direkt vor Aerien blieb er stehen. Sie wagte nicht, ihm in die grausamen, toten Augen seiner Maske zu blicken.
"Als mein Vater die gerechte Sache unseres Gebieters verriet und sich den Kermern für Gold anschloss, wollte ich meine Treue beweisen. Ihn der Gerechtigkeit des Gebieters zuführen. Doch Aglazôr war für mich damals außer Reichweite. Ich hörte jedoch in Qafsah davon, dass ein weiteres Mitglied meiner Familie Verrat am Roten Auge begangen hatte," sagte Karnuzîr. "Hier habe ich sie also nun, Azruphel von Durthang, einzige Tochter des Varakhôr, welcher der Bâr-n'Adûnâi genannt wird."
"Azruphel, in der Tat." Eine stählerne Klaue legte sich unter Aeriens Kinn und zwang sie, aufzublicken. "Einst hatte ich deinen Werdegang mit großem Interesse verfolgt, Kind," raunte der Herold ihr zu. "So schön. So vielversprechend. Bei deinem Potenzial hättest du selbst Azardinîth übertreffen können. Doch dann dieser... enttäuschende Verrat. Welch ein gerissener Vorwand, um den armen Gothmog zu täuschen! Dieses Manöver ging über den Intellekt eines Orks hinaus, fürchte ich. Er war dir nicht gewachsen."
Das Lob des Herolds fühlte sich so falsch an, wie es in Aeriens Ohren klang. Sie konzentrierte sich darauf, ein- und auszuatmen und eingeschüchtert auszusehen. Schon seit sie die Kammer des Ordens betreten hatten, hatte sie sich nicht sonderlich anstrengen müssen, ihre Angst zu zeigen. Die Furcht, die der Bleiche Herold in ihren grauen Augen las, war absolut echt.
"Ein weiterer Gefangener lief mir in Nurn über den Weg," sagte Karnuzîr im Hintergrund. Aerien atmete innerlich auf, als der Herold ihr Kinn freigab und sich aufrichtete.
"Ein Zwerg von gewissem Wert, ja." Der Herold warf einen abschätzigen Blick zu Gimli hinüber, der mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf dem steinernen Boden saß. "Er entlief uns vor einiger Zeit. Es ist gut, dass du ihn zurückgebracht hast, mein Junge. Doch wie ist es dir nur gelungen, ihn gefangen zu nehmen? Du führtest doch bereits Azruphel mit dir, als du nach Nurn kamst, oder etwa nicht?"
"Er war stark geschwächt, als ich ihn fand. Ein Karagâth griff ihn an, glaube ich", erklärte Karnuzîr.
"Ein ungewöhlicher Glücksfall," meinte der Herold, der langsam in der Kammer auf und ab ging. "Nehmen wir an, es entspricht der Wahrheit, was du gesagt hast, Karnuzîr. Doch welcher Weg führte dich überhaupt erst nach Nurn? Liegen die Pässe nach Mordor hinein nicht viel weiter im Norden? Weshalb also der Umweg?"
Karnuzîr benötigte einen Augenblick, ehe er antwortete - ein Augenblick, in dem Aerien beinahe das Herz stehen blieb.
"Ich weiß nicht, wie gut Ihr mein Volk kennt, Ordensmeister," sagte Karnuzîr gedehnt.
"Ich kenne die Adûnai gut genug. Fahrt fort."
"Dann versteht Ihr sicher, dass mit der Rückkehr Azruphels gewisse... Belohungen verbunden sind. Und Ihr versteht, dass auch Andere nach der verlorenen Tochter des Fürsten von Durthang Ausschau hielten. Ich hörte, ihr eigener Bruder Balâkan spürte sie vor einiger Zeit am Rande von Kerma auf."
"Ohne Erfolg zu haben," zischte der Herold. "Und weiter?"
"Ich habe nicht vor, mir meinem Preis unterwegs entreißen zu lassen, damit ein Anderer die Belohnung, die mir zusteht, erlangt," stellte Karnuzîr klar. "Azruphel wird mein sein."
"Dies also ist dein Wunsch. Ich verstehe... doch das erklärt nicht den Umweg, den du durch Nurn nahmst."
"Es war kein Umweg. Ich folgte einem vergessenen Pfad durch das Gebirge hindurch und kam so von der Südgrenze Gondors direkt nach Nurn hinein."
"Einen solchen Pfad gibt es nicht."
"Ich versichere Euch, es gibt ihn. Ich fand einen Hinweis darauf in den Archiven von Tol Thelyn."
"Tol Thelyn... ich kenne diesen Ort. Und er bringt mich zu deinem nächsten Gefangenen, Karnuzîr." Der Herold blieb vor Narissa stehen. Sie begegnete seinem Blick mit einer Entschlossenheit, für die Aerien ihre Freundin am liebsten hier und jetzt fest umarmt hätte. "Ist dies also tatsächlich jenes Kind, das Sûladan mit der Inselspionin zeugte?"
"Sie ist es," bestätigte Karnuzîr.
"Wirklich bemerkenswert," murmelte der Herold unheilvoll. "Weißes Haar ist selten. Wenn man etwas auf alte Legenden und Mythen gibt, ist eine solche Eigenschaft von großer Bedeutung."
"Was meint Ihr, Ordensmeister"? fragte Karnuzîr.
"Es tut nichts zur Sache, mein Junge." Der Herold kehrte auf seinen Sitz zurück. "Karnuzîr, Sohn des Aglazôr. Nur der Blick meines Herrn, des Großen Gebieters von Mittelerde, kann das Innerste einer Seele freilegen und die Wahrheit aufdecken. Doch er ist nicht hier, weshalb nun also mein bescheidenes Urteil genügen muss."
"Der Gebieter ist nicht hier?" fragte Karnuzîr. "Weshalb? Und wohin ist er gegangen?"
"Du verstehst wohl nur wenig von den Kriegsplänen Mordors, wenn du dies nicht selbst weißt," antwortete der Bleiche Herold. "Mich deucht, du hast zu viel Zeit im wilden Süden verbracht..." Er beugte sich vor und fixierte Karnuzîr mit dem toten Blick aus seiner Maske. "Drei große Heere setzte der Gebieter kürzlich in Bewegung und er leerte sein Land, um diese Heere stark genug zu machen. Eines zog gegen Dol Guldur, um den Narren der Weißen Hand auszuräuchern. Eines zog gen Osten, um die Völker Palisors daran zu erinnern, dass das Rote Auge auch sie nicht vergessen hat. Und das dritte Heer... es reist unter der persönlichen Führung unseres Herrn nach Norden, in das Reich von Rhûn. Er hat genügend Macht erlang, um eine körperliche Gestalt anzunehmen, Karnuzîr. Und schon bald werden alle sich vor dieser Gestalt verneigen, wenn sie die kommende Demonstration seiner Stärke gesehen haben."
Karnuzîr gab darauf keine Antwort. Stumm stand er vor dem Sitz des Herolds, das Urteil erwartend. Aerien wagte nicht, sich zu bewegen. Dies nun war der entscheidende Augenblick, von dem alles abhing. Und er zog sich länger und länger hin, bis sie glaubte, sie würde wahnsinnig werden müssen.
"An deiner Verschlagenheit besteht kein Zweifel, Karnuzîr," sprach der Bleiche Herold in die Stille hinein. "Meine Augen und mein Verstand sagen mir, dass jene, die du mir gebracht hast, tatsächlich die sind, für die du sie ausgegeben hast. Und auch du selbst bist zwar nie zuvor in Mordor gewesen, doch dein Gesicht ist für mich allzu leicht zu lesen. Ich kenne dein Verlangen, mein Junge." Der Herold blickte auf Aerien hinab. "Du weißt, dass Azruphels Vater deiner Forderung nur unter großem Zorn zustimmen wird."
"Varakhôr wird keine Wahl haben," sagte Karnuzîr und es gelang ihm tatsächlich, ein grausames Lächeln auf seine Lippen zu zaubern. "Azruphel wird mein sein."
"Das wird sich zeigen. Für's Erste wird die Verräterin hier bleiben, bis ich Zeit gefunden habe, sie gründlich zu verhören." Der Bleiche Herold erhob sich und schlug die Fäuste gegeneinander. Sofort eilte einer seiner Diener herbei. "Gehe mit Karnuzîr und dreien deiner Untergebenen zu den Verliesen," wies der Herold ihn an. "Dort sollen die Gefangenen eingesperrt werden. Bringe Karnuzîr anschließend wieder zu mir zurück, damit er seine Belohung erhalten kann, Varazîr."
Noch während die dunklen Diener Aerien, Narissa und Gimli packten und begannen, sie aus der Kammer hinaus zu zerren, drang der Name an Aeriens Ohr.
Varazîr? Ein kalter Schrecken durchzuckte sie. Erst vor Kurzem hatte sie noch an ihn gedacht... Was, bei allen sieben Sternen, tat ihr jüngerer Bruder hier?
« Letzte Änderung: 20. Jan 2020, 13:33 von Fine »
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Eandril

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Re: Barad-dûr, der Dunkle Turm
« Antwort #2 am: 13. Aug 2019, 15:05 »
Narissa kannte diesen Namen. Sie warf Aerien einen Blick zu, stellte ihr eine stumme Frage. In Aeriens Augen sah sie Angst und Sorge, als ihre Freundin nickte.
Verflucht, dachte sie. Dieser Ort schien ihr bereits ihre ganze Kraft auszusaugen, und jeder schwarze Stein schien nur dazu da, sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Und jetzt hatten sie es auch noch mit einem von Aeriens mörderischen Brüdern zu tun.
"Varazîr...", begann Aerien leise, doch sie wurde unterbrochen als Varazîr nur eine knappe Geste machte und einer seiner Wächter Aerien mit derartiger Kraft ins Gesicht schlug, dass ihr Kopf nach hinten geschleudert wurde. Narissas Hände zuckten, doch bevor sie etwas unüberlegtes tun konnte, packte Karnuzîr ihre Handgelenke und drückte sie mit Macht zusammen, sodass es ihr unmöglich war die Fesseln zu lösen. Karnuzîrs Griff schmerzte, doch Narissa hatte nur Augen für Aerien.
Varazîr packte Aerien am Kinn, und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Blut lief aus Aeriens Nase, am Kinn hinab und über Varazîrs Hand. "Du wirst meinen Namen nicht aussprechen", sagte er leise und eindringlich. "Du bist es nicht wert, ihn auszusprechen. Du bist nicht meine Schwester. Du bist eine Gefangene und eine Verräterin, und du wirst entsprechend behandelt werden."
Er ließ Aerien los, und schüttelte mit einer nachlässigen Bewegung das Blut von seiner Hand. Auf ihrem Kiefer waren rot die Abdrücke seiner Finger zu sehen.
Varazîr nickte seinen Männern zu, und sie setzten sich wieder in Bewegung. Karnuzîr drückte noch einmal warnend zu, bevor er Narissas Handgelenke wieder los ließ. Sie hasste ihn dafür, dass er sie daran gehindert hatte, einzugreifen, doch gleichzeitig war sie ihm dankbar. So nah an der Kammer des Herolds wären sie viel zu schnell entdeckt und überwältigt worden, selbst wenn sie Varazîr und seine Leute hätten besiegen können.
Nur kurze Zeit später, die Narissa jedoch wie eine Ewigkeit vorkam, gelangten sie an eine gewaltige, gewundene Treppe, die sowohl nach oben, als auch in die Tiefe führte. Als Varazîr den Weg nach unten einschlug, wurde Aerien unruhig. Sie warf Karnuzîr einen Blick zu, und deutete mit dem Kopf auf den nach oben führenden Treppenabschnitt. Karnuzîr begriff schnell. "Ich dachte, wir würden sie zum Gebieter selbst an die Spitze des Turmes bringen", sagte er, und Varazîr verharrte, die Füße auf verschiedenen Treppenstufen. "Der Gebieter weilt nicht in Barad-Dûr, wie du weißt", erwiderte er ohne sich umzuwenden. "Was beabsichtigst du, Karnuzîr?"
Als Karnuzîr schwieg, wandte Varazîr sich um, und das Lächeln auf seinen Lippen ließ Narissa erschaudern. "Hast du Verrat im Sinn, Karnuzîr?"
"Niemals", gab Karnuzîr mit fester Stimme zurück, und Varazîr schüttelte leicht den Kopf, scheinbar bedauernd. "Verrat liegt dir im Blut, wie deinem Vater. Tötet ihn."

Karnuzîr, das musste man ihm lassen, reagierte schnell. Seine linke Hand zuckte, ein metallischer Blitz fuhr durch die Luft und der Wurfstern traf einen von Varazîrs Männern mitten in die Stirn. Narissa verzog unwillkürlich das Gesicht, und ihre Narbe schien zu brennen. Im gleichen Augenblick hatte Karnuzîr Aeriens Schwert gezogen und parierte den Hieb eines weiteren Wächters, wurde jedoch von dem dritten Mann von der Seite bedrängt. Varazîr selbst beteiligte sich nicht an dem Kampf, sondern klatschte einmal in die Hände, und ein hoher, dünner Schrei stieg auf und hallte in dem gewundenen Treppenhaus wieder. Mit einem Ruck löste Aerien ihre Fesseln, zog Ciryatans Dolch hinter dem Rücken hervor und rammte ihm dem Mann der Karnuzîr von der Seite angriff in den Nacken. Der Wächter spuckte Blut, und im gleichen Augenblick rammte Gimli dem dritten Mann die Schulter in die Seite. Dieser stürzte die Treppe hinab, schlug mit übelkeiterregenden Geräuschen auf mehreren Stufen auf, und blieb schließlich zusammengekrümmt an der Wand des Treppenhauses liegen.
Karnuzîr wischte sich Blut vom Gesicht und wandte sich Varazîr zu, der kein bisschen beeindruckt wirkte. Er hob die Hand und streckte Karnuzîr die Handfläche entgegen, und plötzlich wurde Karnuzîr nach hinten geschleudert. Als er auf die Treppenstufen prallte, fiel ihm das Schwert aus der Hand und schlug mit einem Klingen auf den schwarzen Stein direkt zu Aeriens Füßen. Sofort hatte Aerien die Klinge in der Hand un deutete mit der Spitze auf Varazîr. "Versuch es nicht einmal", zischte sie. "Du weißt, dass du dazu nicht fähig bist."
Varazîrs Mundwinkel zuckte. "Du kannst dir nicht vorstellen, wozu ich fähig bin." Im gleichen Augenblick war der Widerhall vieler gepanzerter Stiefel aus dem Gang, aus dem sie gekommen waren, zu hören. Das Geräusch kam rasch näher, und ein Trupp schwer bewaffneter Orks stürmte auf den Treppenabsatz zu. Aerien riss den benommen wirkenden Karnuzîr auf die Füße, und blickte Narissa, die als einzige noch auf dem Absatz stand, an.
"Hoch!", schrie sie, doch Narissa schüttelte den Kopf. "Nicht ohne dich." Sie wusste, sie würde es alleine nicht schaffen. Aerien warf den rasch näherkommenden Orks einen Blick zu. "Lauf! Wir kommen zurecht." Narissa zögerte noch einen Herzschlag lang, bis der erste Ork auf den Absatz stürmte. Aerien rammte ihm ohne zu zögern das Schwert in die Brust, doch sofort traten zwei weitere aus dem Gang hinaus. Mit einem Laut der Verzweiflung wandte Narissa sich ab, und begann, die Treppe hinauf zu stürmen.

Am nächsten Treppenabsatz angekommen, eine ganze Windung der gewaltigen Treppe später, hielt Narissa kurz inne und warf einen Blick zurück. Von unten drangen Kampfgeräusche die Treppe hinauf, und mehrere Orks hatten ihre Verfolgung aufgenommen. Vielleicht würde sie sie abhängen können, denn die Orks waren im Gegensatz zu ihr schwer gerüstet, doch tief in ihren Knochen verspürte Narissa eine unnatürliche Erschöpfung. Sie sollte nicht hier sein, und der Dunkle Turm ließ es sie spüren.
Also wartete sie, bis der erste Ork sie erreicht hatte, parierte seinen beidhändigen Schlag mit beiden Dolchen, stieß sich von seinem Schwert ab um Schwung zu gewinnen, rammte ihm aus der Drehung eine Klinge unter der Achsel in die Seite und versetzte einem weiteren, ihren Höhenvorteil ausnutzend, einen Tritt ins Gesicht der ihn die Treppe hinunterstürzen ließ. Zwei weitere Orks kamen heran. Narissa wich ihren herabfahrenden Schwertern in letzter Sekunde aus und stieß einem von ihnen, den der Schwung seines eigenen Schlages stolpern ließ, den Dolch in die Kehle. Die Klinge des anderen streifte sie am linken Arm, doch sie spürte keinen Schmerz. Sie lenkte seinen zweiten Hieb mit einer Waffe zur Seite und fällte ihm mit einem seitwärtigen Stich in den Hals. Der letzte Ork zögerte lange genug, dass sie hinter ihn gelangen und ihm die Kehle durchschneiden konnte.
Als der letzte Ork sterbend zu Boden sank, untersuchte Narissa kurz den Schnitt an ihrem Arm - er blutete zwar, schien aber nicht tief zu sein. Sie riss ein Stück vom unteren Ende ihres Hemdes ab, und wickelte den Stoffstreifen notdürftig um die Wunde, bevor sie sich wieder an den Aufstieg machte. Der Kampf hatte ihr einen Funken Hoffnung verschafft. Die Orks hier waren zwar gut gerüstet und hatten nur wenige Schwachstellen, doch sie schienen relativ wenig echte Kampferfahrung zu besitzen. Für einen kurzen Augenblick kämpfte sie mit sich, mit ihrem Instinkt, die Treppe wieder hinabzueilen und Aerien zur Hilfe zu kommen, doch sie wusste, dass sie damit Aerien enttäuschen würde. Das wichtigste war die Mission. Also rannte sie weiter die Treppe hinauf.

Mehrere Windungen weiter oben brannten die Muskeln in ihren Beinen wie Feuer, und hier stieß sie das erste Mal wieder auf Feinde. Zwei Männer in schwarzen Rüstungen kamen aus einem Seitengang auf die Treppe hinaus, doch Narissa gelang es rechtzeitig, sich hinter eine Statue in einer Wandnische zu quetschen. Sie hatte keine Ahnung wen diese Statue darstellen sollte, doch mit ihrer bedrohlichen Rüstung und dem mächtigen Morgenstern in der Hand passte sie hervorragend an diesen Ort. Sie presste sich atemlos in den engen Spalt zwischen Statue und Wand, bemüht keinen Laut von sich zu geben. Ein Teil von ihr war überzeugt, dass das rasche Klopfen ihres Herzens sie unweigerlich verraten würde, doch die Männer gingen, ohne auch nur einen Blick in ihre Richtung zu werfen, raschen Schrittes an ihr vorbei und verschwanden in die Tiefe.
Erneut machte Narissa sich auf den Weg.
Sie musste sich noch zwei weitere Male vor Feinden verstecken, doch beide Male blieb sie unentdeckt. Schließlich erreichte sie das obere Ende der Treppe, dass in einen breiten, gewundenen Säulengang mündete. Dieser Gang war in undurchdringliche Finsternis gehüllt, und hier oben herrschte nahezu vollkommene Stille. Vorsichtig tastete Narissa sich voran, von Säule zu Säule, bemüht, möglichst kein Geräusch zu machen. Die ganze Gegend wirkte merkwürdig verlassen für das Zentrum von Saurons Reich, und Narissas Ansicht nach roch das Ganze kräftig nach einer Falle.
Der dunkle Gang mündete in einen Raum, in den durch die Spalten einer Luke ein wenig blasses Licht fiel. Eine schmale Treppe führte hinauf zu der Luke, die, zu Narissa Überraschung, nicht verschlossen war. Sie stieß die Luke auf und trat hinaus auf eine schmale Plattform, schwindelerregend hoch über dem Boden. Narissa atmete die durch, erleichtert, doch bevor sie sich umsehen konnte, brachen ihr die Beine weg und sie schlug lautlos auf dem Boden auf.

Vor ihrem inneren Auge zogen Bilder vorbei, von belagerten Städten, brennenden Wäldern, und Feldern von Leichen. Ein stechender Schmerz breitete sich in ihrem Bauch aus, und sie krümmte sich zusammen, nur um sich plötzlich andersherum zu krümmen, als sich ein glühender Schmerz in ihre Wirbelsäule bohrte. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, doch kein Laut war zu hören.
Sie sah den weißen Turm von Tol Thelyn brennen, Flammen schlugen aus den oberen Fenstern. Sie selbst war auf einem Boot dass auf den Wellen schaukelte, Elendar neben ihr - doch er war eine Leiche, seine Augenhöhlen leer, sein Körper von verfaulendem Fleisch bedeckt.
Du hast sie sterben lassen, nicht wahr?, flüsterte eine sanfte Stimme, mitleidvoll. Sie, ihn, alle. Gib dich der Verzweiflung hin.
Weiterer Schmerz durchfuhr sie, als würde ein glühendes Eisen in ihre Schläfen gebohrt. Sie fühlte Tränen an ihren Wangen herunterrinnen, kalten Stein unter sich.
Aaaah... interessant. Ein Kerker, in der Zelle vor ihr... lag ihre Mutter. Nein, ihr Gerippe. Nur ein Skelett. Sie hast du nicht nur sterben lassen, ihr hast du geholfen.
Tränen tropften von ihrer Nasenspitze. "Es tut mir leid", wisperte sie tonlos. Es tut dir Leid? Die Stimme war sanft, warm, verständnisvoll. Sie hat sich der Verzweiflung hingegeben. Ergib dich der Verzweiflung.
Eine Armee hatte sich in einem weiten Tal aufgestellt, von einem Talrand zum anderen.  Über ihr flatterten schwarze Banner mit einem weißen Baum, und blaue mit einem silbernen Schwan, und andere, die Narissa nicht erkennen konnte. Eine gewaltige schwarze Woge rollte auf die Armee zu, und drohte, sie zu verschlingen.
Es ist unvermeidlich. Alle werden sterben, die sich widersetzen. Verzweiflung wird herrschen. Ergib dich der Verzweiflung.
Mit einem Mal schwebte Narissa in der Luft, neben sich die gezackte Spitze des Barad-Dûr. Lass einfach los, wisperte die Stimme. Ergib dich der Verzweiflung. Ergib dich mir.
Von allen Seiten presste sie etwas zusammen, der Druck wurde unerträglich. "Nein", schluchzte Narissa trocken. Nein? Die Stimme klang enttäuscht, und der Druck wurde stärker. Narissa wimmerte vor Schmerz. Vor ihren Augen zogen Bilder vorbei. Ihr Großvater, ihre Mutter, Elendar, Minûlith, Túor, ihr Onkel, Serelloth... alle tot. Gimli. Hallatan. Edrahil. Aerien... "Nein", brachte sie erneut hervor, mehr ein Wimmern. Obwohl sie in der Luft zu schweben schien, spürte sie kalten Stein unter sich. "Verzweiflung... ist der Tod. Wenn wir verzweifeln, sterben wir." Ja. Und dann hat das Leiden ein Ende. Ergib dich der Verzweiflung.
"Aerien", flüsterte sie. "Hilf mir." Es gibt keine Hilfe. Nur die Verzweiflung. "Und die Hoffnung. Das ist alles was zählt." Sie spürte es. Sie glaubte daran, im tiefsten Inneren ihres Herzens glaubte sie daran, dass alles gut werden würde. Dass Aerien sie retten würde, dass die Dunkelheit schwinden würde, und dass sie gemeinsam im Frieden alt werden würden.
Die Stimme kreischte, und vor Narissas Augen flammte ein Licht auf. "Wenn Leiden der Preis ist, den wir für die Hoffnung zahlen müssen, dann... will ich ihn gerne zahlen." Ein Schrei, und sie fiel. Der dunkle Turm zog an ihr vorbei, und als sie auf dem Boden aufschlug, öffnete Narissa die Augen.
Sie lag noch immer zusammengekrümmt auf den Steinen an der Spitze des Barad-Dûr, und noch immer hallte der Schrei in ihren Ohren wider. Ihr Gesicht war nass von Tränen. Als sie sich mit Mühe aufrichtete, fiel ihr Blick auf den in der Mitte der Plattform angeketteten Mann. Ein verfilzter Bart und ungepflegtes, langes Haar verbargen den Großteil seines Gesichts, doch sie konnte sein Lächeln sehen.
"Sagtest du gerade Aerien?"

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Karnuzîrs Entscheidung
« Antwort #3 am: 23. Aug 2019, 07:59 »
Aerien sah, wie Narissa nach einem winzigen Zögern die Treppe hinauf verschwand, und sie atmete auf. Jetzt konnte sie sich auf den Kampf - oder wohl eher auf ihr Überleben konzentrieren. Karnuzîr war im Augenblick keine große Hilfe - benommen lehnte Aeriens Vetter mit dem Rücken gegen die Wand, während Gimli sich vor ihn gestellt hatte und zwei Orks mit einer schweren Keule in Schach hielt, die er einem der Toten abgenommen hatte. Aerien war froh, dass der Zwerg bei ihr war, denn sie hatte rasch erkannt, dass Gimli ein herausragender Krieger war. Selbst die schwer gerüsteten Ork-Gardisten des Turmes stellten kein Problem für den Zwergenveteran dar. Und im Verlauf des Gefechts fiel Aerien auf, dass die Orks, die man in Barad-Dûr als Garnison zurückgelassen hatte, wohl nicht gerade zu den erfahrensten Soldaten der Armee Mordors gehörten. Es gab zwar viele von ihnen, doch in dem engen Gang, in dem gekämpft wurde, konnten ihre Feinde ihre zahlenmäßige Überlegenheit kaum ausnutzen. Als einzelne Gegner stellten sie selbst für Aerien eine weniger große Bedrohung dar, als es beispielsweise viele der Haradrim-Krieger in der Schlacht in Kerma getan hatten.

Während Aerien mit einem besonders großen Ork die Klingen kreuzte, hielt sie die Augen nach ihrem jüngeren Bruder offen, der im Hintergrund lauern musste und jeden Augenblick einen weiteren verheerenden Angriff entfesseln konnte. Sie hatte nicht geglaubt, dass Varazîrs Studien der Dunklen Künste bereits so weit vorangeschritten waren, dass er zu einem solch mächtigen Schattenangriff imstande war. Nur wenige waren in der Lage, so viel Kraft aus der Präsenz des Dunklen Herrschers zu ziehen.
Mit wirbelnder Klinge hieb Aerien dem Ork den Kopf ab und versetzte der Leiche einen Tritt, die einen weiteren Gardisten des Turmes genau in Gimlis Keulenhieb stolpern ließ. Das verschaffte Aerien etwas Luft, um sich umzusehen. Sie besaß einen Vorteil: Hier, in Barad-Dûr, kannte sie sich aus. Mehr als ein ganzes Jahr hatte sie hier gelebt, und die zugänglicheren Areale des Turmes gründlich erkundet. Sie wusste, wo sie sich befanden, und erinnerte sich an etwas, das ihr ihr Vater gleich an ihrem ersten Tag im Dunklen Turm erklärt hatte: Die unzähligen Verteidigungsanlangen des Heiligtums des Dunklen Herrschers.
"Gimli!" rief sie über den Kampflärm hinweg. "Mir nach!"
Sie packte Karnuzîr am Arm und zog ihn hoch. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stolperte er vorwärts, Aerien hinterher, während Gimli sich kämpfend zu ihnen zurückzog. Sie würden nur ein kurzes Stück Weg zurücklegen müssen, wenn Aeriens Gedächtnis sie nicht im Stich ließ. Hastig verließen sie das Treppenhaus und kamen in einen engen Gang, der um mehrere Ecken bog, bis er in einen breiten Raum mündete.
"Wartet," wies Aerien Karnuzîr und Gimli an, die sich mit gezogenen Waffen zu den Verfolgern umdrehten, welche ihnen dicht auf den Fersen waren.
Aerien hechtete zu einer der Wände hinüber, die von einer gewaltigen Malerei verziert war, die einen dunklen Krieger in grausamer Rüstung im Zentrum zeigte. Er führte einen schweren Hammer in der Linken und einen Turmschild in der rechten Hand. Auf dem Schild prangte das Rote Auge von Mordor, und Aerien presste ihre Hand direkt auf die geschlitzte Pupille - genau im richtigen Augenblick.
Der Boden am Eingang des Raumes brach weg und riss fünf Orks in die schwarze Tiefe, ihre Schreie in der Finsternis verhallend. Auch Gimli, der gefährlich nahe am Abgrund stand, wäre gestürzt, wenn Karnuzîr ihn nicht gepackt und sich rückwärts geworfen hätte.
Aerien rappelte sich auf und erfasste die Situation mit einem Blick. Ein drei Meter breiter Schlund trennte sie von ihren Feinden - hoffentlich weit genug, um ein Überspringen unmöglich zu machen. Die überlebenden Orks standen auf der falschen Seite und brüllten vor Zorn. Und in ihrer Mitte erhaschte Aerien einen flüchtigen Blick auf eine schlanke Gestalt in einem dunklen Umhang - ihr kleiner Bruder, Varazîr. Als sich ihre Augen für einen Sekundenbruchteil trafen, war es ihr, als hörte sie seine kalte Stimme in ihrem Kopf.
"Es ist noch nicht vorbei, Verräterin."
"Kommt", sagte Aerien und zwang sich, ihren Bruder zu ignorieren. Sie führte ihre beiden Begleiter durch die gegenüberliegende Tür, hinaus in ein weiteres Treppenhaus. "Wir müssen nach oben, zu Narissa," erklärte sie.
"Nein," erwiderte Karnuzîr überraschend. "Ich nicht. Ich spüre meine Kräfte schwinden." Er schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. "Ich würde euch nur verlangsamen."
"Aber..."
"Azruphel... nein, Aerien... tu das nicht." Karnuzîrs Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
"Wovon sprichst du?" wollte sie besorgt wissen.
"Sorge dich nicht um mich. Ich wusste es bereits, als ich den ersten Schritt nach Mordor hinein machte. Dieses Land... wird mein Grab werden."
"Das kannst du nicht wissen," wisperte sie entsetzt.
"Wenn ich jemals etwas gewusst habe, dann dies. Spürst du es nicht, die Aura des absoluten Bösen, die von diesem Turm ausgeht? Du bist daran gewöhnt, selbst nach all der Zeit die vergangen ist, nicht wahr?"
Aerien hatte darauf keine Antwort. Sie konnte nicht glauben, dass ihr Karnuzîrs Schicksal tatsächlich nicht egal war.
"Ich werde abwärts gehen, so weit mich meine Beine tragen. Wenn es mir vergönnt ist, werde ich es vielleicht weit genug schaffen, um diesen Bleichen Herold mitzunehmen, ehe ich diese Welt verlasse," keuchte Karnuzîr. "Und wenn nicht... lenke ich vielleicht wenigstens etwas Aufmerksamkeit von euch ab."
Erst jetzt fiel Aerien auf, dass ihr Vetter aus einer Wunde an der Brust blutete. Einer der Orks musste ihn während des Rückzugsgefechts erwischt haben.
"Karnuzîr..." begann sie, doch er brachte sie mit einer schwachen Handbewegung zum Schweigen.
"Sag nichts, bitte. Stattdessen... gewähre mir eine Bitte: erinnere dich nicht an das, was ich dir angetan habe. Denke nicht schlecht von mir, falls du überleben solltest. Halte mich so in Erinnerung, wie ich hätte sein sollen. Deine Brüder... mögen dich verstoßen haben, doch... vielleicht... wirst du dich an mich als... Bruder an ihrer Stelle erinnern."
"Das... das werde ich... khîl." Bruder, hörte sich Aerien zu ihrer eigenen Überraschung sagen.
Karnuzîr suchte ihren Blick, doch es gelang ihm nicht, länger als einen flüchtigen Moment hinzusehen. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und stolperte die Treppe hinab davon.

Ein Hornstoß aus den unteren Stockwerken riss Aerien aus ihrer Starre und sie setzte sich wieder in Bewegung, dicht gefolgt von Gimli. Hin und wieder begegneten ihnen vereinzelte Orks, doch offenbar hatte Karnuzîrs Ablenkungsmanöver dafür gesorgt, dass der Großteil der ohnehin schon stark reduzierten Garnison des Dunklen Turmes sich hauptsächlich auf die unteren Etagen konzentrierte. Während sie das gespenstisch leere Treppenhaus hinauf eilten und unterwegs sämtliche Zugänge zu den Stockwerken verriegelten, gingen Aerien einige von Karnuzîrs Worten nicht mehr aus dem Kopf. Du bist daran gewöhnt, selbst nach all der Zeit die vergangen ist... Während ihre Beine wie von selbst dem Verlauf der Stufen aufwärts folgten, dehnte Aerien ihre geistige Wahrnehmung zum ersten Mal, seitdem sie den Dunklen Turm betreten hatte, aufmerksam aus. Da war ein dringliches Gefühl der Sorge, das von ihr selbst ausging und hauptsächlich auf Narissa gerichtet war. Da war Gimlis konzentrierte Entschlossenheit, die an dem Gesicht des Zwerges und seiner Körperhaltung abzulesen war. Und da war die ständige drohende Gefahr ihrer Verfolger, die jederzeit wieder auftauchen konnten.
Doch unter all diesen deutlichen, nahen Eindrücken, lauerte noch etwas, wie Aerien nach und nach feststellte. Da war ein Echo einer Finsternis, die ihr vertraut und auf absurde Art und Weise tröstlich vorkam. Ein Gefühl von... Heimat?
Nein! dachte sie entschlossen. Dies ist nicht länger mein Zuhause. Nicht der Dunkle Turm, sondern der Weiße ist meine Heimat.
"Und dennoch bist du zurückgekehrt, meine verlorene Tochter."
Aerien blieb beinahe die Luft weg, als sie die Worte in ihrem Verstand wahrnahm. Zunächst undeutlich und weit entfernt, doch mit jedem Schritt, den sie aufwärts tat, wurde die Präsenz stärker.
"Ich habe dich gesehen, Azruphel."
Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sollte sie widersprechen? Sich auf eine Unterhaltung einzulassen würde bedeuten, die Präsenz anzuerkennen und ihr Raum zu geben.
"Du kannst dich nicht vor mir verstecken. Du wirst niemals zu weit entfernt sein.".
Aerien spürte heißen Zorn in sich aufsteigen, den sie nur mit Mühe zurückhalten konnte.
"Was hoffst du, hier zu erreichen? Du suchst etwas? Nein... nicht etwas. Jemanden."
Ohne dass sie es verhindern konnte, tauchte ein Bild vor Aeriens innerem Auge auf. Erschrocken erkannte sie Narissa, die auf der Turmspitze des Barad-dûr stand, den Blick in den gewaltigen Abgrund gerichtet. Nur ein Schritt trennte sie von einem tödlichen Sturz. Und noch während Aerien versuchte, den Eindruck zu verdrängen, ließ Narissa sich fallen und verschwand in einem weißen Aufblitzen in der Tiefe.
Das ist nicht echt, redete sie sich selbst zu. Nur eine Lüge.
"Ich würde dich nicht belügen, Tochter. Ich kenne dich seit deiner Geburt. Selbst deinen ersten Atemzug tatest du unter meinem Blick. Du gehörst MIR, mit Leib, Seele und Geist."
Ich entsage dir, wie es die Getreuen Númenors im vergangenen Zeitalter taten. Ich bin frei und kein Sklave des Auges, hielt sie in Gedanken dagegen.
"Niemand vermag es, sich mir zu entziehen. Ich habe dir stets Geborgenheit und Schutz gewährt. Nirgends sonst wirst du jemals sicher sein. Du bist MEIN. Auf EWIG," donnerte es in ihrem Inneren und Aerien glaubte, sie müsste den Verstand verlieren. Sie stellte fest, dass sie stehen geblieben war und zwang sich, unter größter Anstrengung einen Fuß vor den anderen zu setzen und die Stufen weiter hinauf zu steigen.
"Du wirst diesen Ort nie mehr verlassen," drohte das Echo Saurons ihr. Sie war froh, so unendlich froh, dass der Dunkle Herrscher nicht persönlich anwesend war, sondern sie sich nur mit seiner Essenz herumschlagen musste, die im Fundament des Turmes verankert war. "Es gibt kein Entkommen!"
Gimli nahm Aeriens Hand. "Wo geht es weiter, Kleine?" fragte er und riss Aerien für einen kurzen Augenblick aus ihrem inneren Kampf.
"Weiter... nach oben," keuchte sie. "Bis es nicht mehr weiter geht."
"Du kannst nirgendwo hin. ICH bin ALLES, was dir geblieben ist!"
Das brachte ihren Zorn dazu, heiß hervorzubrechen. Schweig, schrie sie in Gedanken. Du besitzt keine Macht mehr über mich. Bei Elbereth der Strahlenden - verschwinde!
Gespenstische Stille antwortete ihr. Doch dann spürte sie die Präsenz erneut. Entsetzt stellte Aerien fest, dass Saurons Echo nicht von den sie umgebenden Wänden ausging - sondern von ihrem Schwert!
"Ich habe es dir gesagt. Ich sehe dich, egal wohin du gehst..." wisperte die grausame, entsetzliche Stimme.
Mit einem Schrei ließ Aerien das Bastardschwert fallen. Klirrend prallte es von den schwarzen Treppenstufen ab und ihr wurde schlecht, als ihr die ganze Wahrheit klar wurde. Das Schwert - ein Geschenk ihres eigenen Vaters - war aus dem schwarzen Stahl der besten Schmieden Mordors gefertigt worden. Und wie alles, das aus Mordor kam, war es vom Makel des Dunklen Herrschers befallen. Solange sie es trug, würde Aerien niemals frei von Sauron sein.
"Bei meinem Barte, was tust du denn da, Mädchen?" brummte Gimli.
"Es... ich... ich kann Lóminzâgar nicht mehr benutzen. Es stammt aus Mordor, und..." stammelte sie.
"Schon gut," meinte Gimli, während sie der Treppe weiter folgten. "Aber du wirst eine Waffe brauchen."
"Eine... Waffe..." murmelte Aerien, als sie einen Einfall hatte. "Ja. Du hast Recht. Und ich glaube, ich weiß, wo wir eine finden werden..."

Gimli stieg über die Leichen der drei Ork-Wächter hinweg, die er gerade getötet hatte. "Weißt du, Kleine, ich dachte, wir holen dir einfach irgend eine Klinge aus einer der Schmieden. Aber das - Ha! Das hätte ich nun wirklich nicht erwartet."
Sie hatten das Treppenhaus inzwischen verlassen und waren dank Aeriens Ortskenntnissen und mit einer ordentlichen Portion Glück ungesehen in jenen Raum gelangt, wo die wichtigsten Trophäen aus Mordors Kriegen aufbewahrt wurden. Da Aufruhr in den unteren Stockwerken herrschte, war diese Kammer nur leicht bewacht gewesen. Und nun stand Aerien staunend vor dem zentralen Stück der Sammlung.
Gimli stellte sich neben sie und nickte anerkennend. "Das wird den Zweck erfüllen, schätze ich," meinte der Zwerg. "Aber wenn uns Erfolg bei all diesem Irsinn vergönnt sein sollte, wirst du es nicht allzu lange führen können."
"In Gondor wird es Ersatz für mein Schwert geben," antwortete Aerien, die noch immer etwas unsicher auf den Beinen stand. Doch ihre Entschlossenheit trieb sie an. Seitdem sie Lóminzagar fortgeworfen hatte, war Saurons Echo stumm geblieben. Und nun legte sie die Hand an den Griff des großen Zweihänders, der vor ihr in einer schmucklosen Halterung hing. "Bis wir Mordor verlassen haben... werde ich Andúril tragen."
Ehrfürchtig zog sie das königliche Schwert aus der Halterung. Sie hatte natürlich Geschichten davon gehört, von jener Klinge, die von den Schwarzen Númenorern Zôrzagar, das Flammenschwert genannt wurde. Doch sein wahrer Name - Andúril, die Flamme des Westens - war seit der Schlacht am Schwarzen Tor nicht mehr genannt worden.
"Andúril," wisperte Aerien. Sie spürte, wie ihre Entschlossenheit wuchs. Jetzt gab es nur noch eines zu tun: Narissa und Aragorn zu finden, und dann aus dem Turm des Dunklen Herrschers zu entkommen. Mit diesem legendären Schwert in ihrer Hand fühlte sie sich, als könnte ihr nun alles gelingen.
"Gehen wir," sagte Aerien. "Es ist nicht mehr weit bis zur Turmspitze. Hoffen wir, dass Narissa Aragorn bereits befreit hat."
Gimli nickte. "Gehen wir es an."
Sie verließen die Trophäenkammer und machten sich auf den Weg.
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Eandril

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Re: Barad-dûr, der Dunkle Turm
« Antwort #4 am: 3. Sep 2019, 10:30 »
Unterdessen an der Spitze des Barad-Dûr...

Narissa schluckte trocken, und wischte sich mit der freien Hand die Tränen vom Gesicht - mehr oder weniger erfolglos. "Was?"
"Aerien", wiederholte der Gefangene. "Hast du ihren Namen gesagt?"
Narissa kämpfte sich in eine sitzende Position hinauf. Jede einzelne Faser ihres Körpers schien zu schmerzen, und in ihrem Kopf hallte noch immer der Schrei wieder, den... wer überhaupt ausgestoßen hatte? "Ja, hab ich wohl", antwortete sie schließlich. Ihr Verstand schien gerade langsamer zu arbeiten als normalerweise. "Sie hat mir von dir erzählt. Du bist Aragorn."
Das Lächeln schwand vom Gesicht ihres Gegenüber. "Einst war ich das. Heute bin ich mir nicht ganz sicher, wer oder was ich wirklich bin."
Narissa nickte langsam. Jahrelang hier oben angekettet zu sein, mit diesem... Ding zur Gesellschaft... sie konnte sich kaum vorstellen, welche Qualen das bedeutete. "Was... war das?"
"Sauron", erwiderte Aragorn schlicht, und seine Ketten klirrten leise. "Oder eher, ein Fragment seiner Macht. Wäre er selbst hier gewesen, du wärst inzwischen tot oder wahnsinnig, da du offensichtlich nicht mit seiner Erlaubnis hier bist."
"Sauron... selbst? Wie ist das möglich?"
"Die Fundamente des Dunklen Turms sind durch seine Macht errichtet worden, und sind an ihn gebunden. Wohin auch immer Sauron auch geht, ein Bruchteil seiner selbst bleibt immer hier zurück. Ansonsten würde der Turm einfach einstürzen."
Langsam fühlte Narissa ihr Kraft zurückkehren, und der Schmerz verblasste ein wenig. Sie kam langsam auf die Füße, und zog einen ihrer Dolche. "Doch er ist jetzt fort, oder nicht? Ich habe ihn vertrieben."
Aragorn schüttelte den Kopf. "Vertrieben? Nein. Du hast ihn verletzt, hast ihm Schmerzen zugefügt. Doch dieser Teil von ihm ist an den Turm gebunden, und er wird immer hier sein." Schwalbes weiße Klinge schien in der Düsternis an der Spitze des Barad-Dûr geradezu zu leuchten. "Ein Grund mehr zur Eile." Narissa verdrängte Schmerz, Erschöpfung und Furcht mit einer rücksichtslosen Entschlossenheit. "Aerien ist unten in diesem Turm. Wir riskieren unser Leben, um dich zu retten, also solltest du dir lieber sicher sein, wer du bist."
Aragorns Augen - die beinahe die selbe Farbe hatten wie die Aeriens, wie Narissa auffiel - leuchteten kurzzeitig auf, bevor er wieder den Kopf senkte. "Ich fürchte, niemand entkommt lebendig aus diesem Turm."
"Einer deiner Gefährten schon", erwiderte Narissa, und ging langsam auf ihn zu. "Gimli ist aus dem Barad-Dûr entkommen, und ist mit uns zurückgekehrt, um dich zu befreien."
"Gimli..." sagte Aragorn langsam, und hob erneut den Kopf um ihr in die Augen zu blicken. Narissa wartete nicht ab, was er zu sagen hatte, und hieb stattdessen mit Schwalbe auf seine Ketten ein. Sie erwartete nicht wirklich, damit Erfolg zu haben, doch eine merkwürdige Intuition sagte ihr, dass dies der richtige Weg war.
Die Wirkung übertraf ihre kühnsten Erwartungen. Anstatt vom Dolch durchtrennt zu werden, zuckten die Ketten, lösten sich von Aragorns Hand- und Fußgelenken, und fielen klirrend zu Boden. Aragorn rieb sich die Handgelenke, und betrachtete nachdenklich die am Boden liegenden Ketten.
"Vielleicht gibt es tatsächlich Hoffnung." In seinen grauen Augen brannte mit einem Mal ein Feuer. "Lass uns gehen."

Narissa ging voran, durch die offene Luke die schmale Treppe hinunter. Auf einer der unteren Stufen knickten ihr jedoch unvermittelt die Knie weg. Sie stürzte den Rest der Treppe hinab, und landete direkt auf etwas Weichem - dessen Laut der Überraschung sehr menschlich und weiblich klang. Narissa rappelte sich mühsam wieder auf.
"Aerien?"
"Ja", ächzte die Gestalt, die in der Dunkelheit hier oben kaum zu erkennen war, und kam ebenfalls auf die Füße. "Ich hatte nicht mit einer so stürmischen..." Aerien konnte nicht weitersprechen, da Narissa die Arme fest um sie geschlungen hatte, mit der Absicht, sie nie wieder loszulassen. Sie spürte, wie Aeriens Hände sanft über ihren Rücken strichen. "He. Ist ja gut. Wir haben uns wiedergefunden, und wir leben noch. Das ist doch schon mal etwas, oder?"
Narissa schniefte, und ließ Aerien ein wenig widerwillig wieder los. "Ich bin... ihm begegnet, dort oben. Er hat mir wehgetan, und er wollte mich zerbrechen."
"Aber sie hat sich hervorragend geschlagen", kam Aragorns Stimme von der Treppe hinter ihr. "Und du..." Narissa spürte ihn mehr neben sich, als dass sie ihn sah, und sie konnte erahnen, dass er Aeriens Hände ergriff. "Bei unserer letzten Begegnung bist du mit der Asche meiner Hoffnung in die Welt aufgebrochen. Wie ich sehe ist aus dieser Asche erneut Feuer geschlagen."

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Das Ende der Hoffnung
« Antwort #5 am: 9. Sep 2019, 16:52 »
Als Aragorn Aeriens Hände nahm, wich sie unwillkürlich einen Schritt zurück. Auf seinen Satz hatte sie keine passende Antwort. Ein seltsames Gefühl von Ehrfurcht hatte Aerien ergriffen, nun, da ihr Gegenüber kein Gefangener mehr war. Aragorn schien es entweder nicht aufzufallen, oder er ging nicht weiter auf Aeriens Reaktion ein. Rasch unterdrückte sie die Emotion und zog stattdessen das Schwert, das sie aus der Trophäenkammer geholt hatte.
"Ich denke, dies gehört Euch," sagte sie demütig und reichte die Waffe an Aragorn, mit dem Griff nach vorne.
Aragorn betrachtete das Schwert mit einem nachdenklichen Blick. "Woher hast du es?" fragte er leise. Mit der rechten Hand tastete er sanft über das dunkle Leder, mit dem der Schwertgriff umwickelt war.
"Sauron hat es mit anderen Trophäen in einem seiner Heiligtümer hier im Turm ausgestellt," erklärte Gimli. "Ich hätte gute Lust, die Sammlung noch etwas mehr zu plündern, wenn wir nur mehr Zeit hätten."
"Zeit ist das richtige Stichwort," mischte sich Narissa ein. "Die läuft uns nämlich davon, wenn wir noch länger hier herum stehen."
"Aerien," sagte Aragorn und richtete den Blick auf die Angesprochene. "Ich bin nicht gerade in bester Verfassung, wie du sehen kannst. Und du wirst eine Klinge brauchen. Führe Andúril an meiner Stelle, bis ich wieder zu Kräften gekommen bin."
Aerien wagte nicht, ihm zu widersprechen. Pflichtbewusst nickte sie und nahm das Schwert zurück.
"Zeig uns den schnellsten Weg hier raus," forderte Narissa Aerien auf.

Die Gruppe musste ihr gesamtes Wissen und Können aufbieten, während sie sich durch die uralte Bastion des Bösen bewegten, immer auf der Suche nach einem Ausgang. Aeriens Ortskenntnis wurde auf eine harte Probe gestellt, doch es gelang ihr, die Gruppe weiter und weiter nach unten zu führen, ohne dass ihnen viele Feinde begegneten. Begünstigt wurde ihre Flucht dadurch, dass der Turm bereits vor ihrer Ankunft nur noch schwach besetzt gewesen war, denn der Großteil seiner Garnison war mit ihrem Meister auf den Feldzug nach Norden gezogen.
Narissas geschärfte Sinne halfen ihnen, wenn sie doch einmal auf Orks oder andere Wächter trafen, weshalb sie Fallen und Hinterhalten aus dem Weg gehen konnten.
Am meisten staunte Aerien jedoch über Gimli, den Zwerg. Sie selbst fühlte sich nach den unzähligen Gefechten im Turm längst unfassbar müde, doch Gimli zeigte nicht einmal einen Anflug von Schwäche. Der Zwergenkrieger schreckte vor keinem noch so grausamen Ork zurück und schien geradezu Freude daran zu haben, seine Feinde mit Leichtigkeit niederzumähen. Er hatte einer der Statuen des Dunklen Herrschers dessen eisernen Hammer entwendet und richtete mit der schweren Waffe absolute Verwüstung an.

Während sie sich ihren Weg über verlassene Treppenstufen und durch gespenstische Gänge suchten, warf Aerien immer wieder verstohlene Blicke zu Aragorn hinüber. Sie konnte sich selbst nicht recht erklären, woher ihre Ehrfurcht jenem Mann gegenüber kam, der unlängst noch ein nahezu gebrochener Gefangener gewesen war. Jetzt, wo keine Fesseln ihn mehr banden, umgab ihn eine spürbare Ausstrahlung, die Aerien deutlich wahrnahm. Spätestens jetzt war es für sie unmissverständlich klar, dass Aragorn von reinem númenorischen Geblüt war. Seine grauen Augen begegneten Aeriens Blicken, doch er sprach kein Wort.

Aragorn in der Mitte der Gruppe haltend eilten sie so immer tiefer in die unteren Stockwerke Barad-dûrs herab, bis sie schließlich wieder in die Nähe der Eingangshalle kamen. Hier waren die meisten verbliebenen Wachen postiert worden, und schon bald gab es keine Verstecke mehr für Aerien und Narissa. Als zwei Gruppen Orks sie aus Seitengängen her gleichzeitig entdeckten, gab es nur noch eine Option: Flucht nach vorne.
"Lauft!" schrie Aerien und stürmte voran, mitten in die riesige Eingangshalle hinein. Das Tor nach draußen war noch weit entfernt, doch es stand offen. Sie spürte ihr Herz heftig in ihrer Brust schlagen. Aragorns Rettung hatte ihr Hoffnung gegeben, aus deren Funken nun ein tosendes Feuer geworden war.
Orks polterten die Treppen hinab, auf denen die Gruppe vor Kurzem noch gestanden hatte. Hinter ihnen strömten mehr und mehr Feinde in die Eingangshalle. Ein Blick nach vorne zeigte Aerien, dass der Weg zum Tor noch frei war. Sie mobilisierte ihre letzten Energiereserven zu einem Endspurt und sah, wie Narissa es ihr gleich tat. Gimli stützte Aragorn so gut es ging, doch im Endeffekt zerrte der Zwerg ihn mehr mit sich, als dass er Aragorn trug. Den steinernen Hammer hatte er längst beiseite geworfen.
Einem schwarzen Pfeil gleich bohrte sich ein eisiger Stich in das Herz von Aeriens Hoffnung, als sie mit ansehen musste, wie aus verborgenen Zugängen neben dem Ausgangstor Menschen in dunklen Roben kamen und sich schweigend vor dem Tor aufreihten. Der Weg war versperrt worden, so kurz vor dem Ziel. Alle Kraft verließ Aeriens Beine und sie kam entmutigt zum Stehen. Der Rest der Gruppe folgte. In Narissas Händen blitzten ihre Dolche drohend auf, als aus der Menge vor ihnen eine Gestalt auftauchte. Eine dunkle Rüstung, ein schwarzer Umhang, eine Maske aus Stahl - der Bleiche Herold war gekommen. Und mit ihm kam das Ende von Aeriens Hoffnung.
"Glaubtet ihr wirklich, ihr könntet einfach so gehen?"
Die Stimme klang in Aeriens Ohren noch kälter und unerträglicher als sie es bei ihrer ersten Begegnung mit dem Meister des Ordens des Roten Auges getan hatte.
"Welch Torheit. Niemand hat diesen Turm jemals verlassen, ohne dass der Große Gebieter es wünschte. Auch ihr werdet es nicht."
Aerien bemerkte kaum, wie die Orks langsam einen Kreis um sie schlossen. Etwas in ihr verspotte sie dafür, jemals gehofft zu haben. Sie nahm nur noch die abscheuliche Maske des Bleichen Herolds wahr, die sich Schritt für Schritt näherte.
"Eine gibt es, die einst diesem Ort entflohen ist," sagte Aragorn leise. Der Herold blieb stehen und es wurde still in der großen Eingangshalle. "Mit List und Geschick täuschte sie die Diener deines Meisters, obwohl Sauron selbst damals noch hier war."
"Schweig, Gefangener!" donnerte der Herold, doch Aragorn ließ sich nicht beirren. Trotz seines zerlumpten Aussehens strahlte er in jenem verzweifelten Augenblick eine königliche Aura aus.
"Sauron mag auf dem Schlachtfeld siegen, doch wisse dies: die Dunkelheit wird nicht anhalten. Ob heute oder in einem Jahrhundert: Mordors Macht wird vergehen, so wie auch die Macht Angbands vergangen ist."
Dann verstrich der Moment, und Aragorn war wieder nur ein beinahe gebrochener Gefangener, gezeichnet von Folter und Qual, der sich kaum selbst auf den Füßen halten konnte.
Auch dem bleichen Herold entging die Veränderung nicht. "Hoffnung ist eine Illusion," höhnte er. "Für euch gibt es kein Entkommen. Doch seid unbesorgt! Wir werden euch nicht töten. Stattdessen wird euch die vollständige Gastfreundschaft des Dunklen Turmes zuteil werden, und ihr werdet verwandelt werden, bis ihr kein anderes Gefühl als ewige Treue zum Großen Gebieter mehr kennen werdet." Er machte eine Pause und Aerien wusste, dass der Herold unter seiner Maske grinste. "Ergreift sie," befahl er.

In diesem Augenblick geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Gimli brüllte einen Kriegsschrei und ballte die Fäuste, um sich auf den ersten Ork zu stürzen, der sich ihm zu nähern wagte. Narissa spannte sich an wie zum Sprung, als wollte sie vor ihrem Tod oder ihrer Gefangennahme wenigstens noch den Anführer des dunklen Ordens mitnehmen. Aerien packte Andúril mit beiden Händen, erfüllt von trotziger Verbitterung, während Aragorn sich mühsam aufrichtete und die Augen schloss. Die Orks gerieten in Bewegung und würden jeden Augenblick johlend auf die Gruppe losstürmen.
Doch noch etwas anderes ereignete sich. Die Akolythen des Bleichen Herolds standen stumm und unbewegt vor dem Tor und versperrten ihnen noch immer den Weg nach draußen - bis auf einen. Einer unter ihnen geriet in Bewegung und warf sich nach vorne, auf seinen Ordensmeister zu. Eine schwarze Klinge blitzte auf - und brach blutverschmiert aus der Brust des Herolds hervor.
Aerien konnte später nicht mehr sagen, wie es ihr gelungen war, instinktiv zu reagieren, als der Herold mit einem unnatürlichen Schrei in die Knie brach. Der zuvor so merkwürdig stille Eingangshalle ertrank schier in einem gewaltigen Chaos. Die Diener des Herolds gerieten in vollkommene Unordnung, als hätte das Verhängnis ihres Meisters sämtliche logischen Gedanken in ihren Köpfen ausgelöscht. Ganz ähnlich erging es den Orks, die wie von einem Wahn gepackt über einander herfielen. Aerien nahm Aragorns Arm und hievte den Menschen mit sich, während Gimli geistesgegenwärtig vorwärts eilte, um ihnen einen Weg durch das heillose Durcheinander zu bahnen. Narissa ging rückwärts hinter ihnen und deckte sie von hinten. Als sie an der verkrümmten Leiche des Herolds vorbeikamen, erhaschte Aerien einen Blick auf dessen Mörder, der inzwischen ebenfalls seinen letzten Atemzug getan hatte. Es war Karnuzîr. Irgendwie musste es ihm gelungen sein, sich mit letzter Kraft unter die Akolythen zu mischen...

Gimli hieb die letzten beiden verbliebenen Wachen außerhalb des Tores nieder und dann waren sie draußen. Es war zwar noch immer Mordors verpestete Luft, die in ihre Lungen strömte, doch für Aerien fühlte es sich an, als würde jeder Atemzug sie mit neuer Kraft erfüllen. Sie blieben nicht stehen, sondern hasteten die lange Brücke jenseits des Eingangsportal von Barad-dûr entlang. Auf der anderen Seite angekommen übernahm Narissa die Führung, während Aerien noch immer Aragorn stützte. Sie wusste nicht, wohin sie nun gehen sollten; sie wusste nur eines: weg von diesem bösartigen Bauwerk und fort von den Echos von Saurons Gegenwart. Narissa wählte die Straße, die geradewegs nach Westen führte, an der Südseite jenes Berges entlang, der sich inmitten der Hochebene von Gorgoroth erhob: Orodruin, der Schicksalsberg.


Narissa, Aerien, Aragorn und Gimli nach Gorgoroth
« Letzte Änderung: 1. Okt 2019, 15:00 von Fine »
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