Nur wenige Straßen weiter kamen sie zu einem kleinen Gasthaus. Auf dem Schild, das über dem Eingang hing, standen haradische Buchstaben, die weder Aerien noch Beregond lesen konnten.
"Willkommen im Gasthaus 'Löwenpranke'", übersetzte Dírar. "Das ist natürlich nur eine ungefähre Übersetzung in die Gemeinsprache. Die genaue Bedeutung ist etwas zu kompliziert, um sie Wort für Wort aus der Sprache der Lahmiden zu übersetzen. Beherrscht man die Elbensprache, wird es schon einfacher: Ich hoffe also, 'Raw-gammath'(1) sagt Euch mehr zu."
"Ihr sprecht das Sindarin?" fragte Aerien erstaunt auf Elbisch als sie Dírar durch die Eingangspforte ins Innere folgte.
Sie gelangten in einen großen Raum, der voller Menschen war. Trotz der Lautstärke dort war Dírars Antwort gut zu verstehen. "Ich habe gondorische Vorfahren," sagte er erklärend.
"So wie Euer Herr, Ibn Nazir," stellte Aerien fest. Dírar erwiderte jedoch nichts darauf. Er durchquerte den Raum und kam an einem hölzernen Tresen zum Stehen, hinter dem zwei Männer Getränke ausschenkten. Dírar wechselte einige Worte in einer der Sprachen der Haradrim mit einem der beiden Gastwirte. Bis auf die Worte "Qúsay" und "Gondor" verstand Aerien und Beregond nichts von dem Austausch.
Dann wandte sich Dírar wieder um und sagte: "Ich habe ihm gesagt, dass er euch als Gäste Qúsays betrachten soll, bis dieser euch empfangen hat. Er wird euch ein Zimmer zeigen."
Dírar hob die rechte Hand zum Abschiedsgruß. "Ich werde nun zu meinem Herrn zurückkehren. Mögen wir uns bald wohlbehalten wiedersehen."
"Losto vae(2), Dírar," antwortete Aerien und der Mann eilte hinaus.
Einer der beiden Gastwirte führte sie zu einem Zimmer im zweiten Stock. Dort gab es jedoch nur ein einfaches Bett. Aerien wollte Beregond schon anbieten, auf dem Boden zu schlafen, als dieser ihr zuvorkam.
"Ist schon gut, Aerien. Ich nehme den Stuhl dort in der Ecke. Der wird mir genügen." Er zeigte auf einen großen Stuhl mit Armlehnen, der aus biegsamen Hölzern geflochten war.
Sie richteten sich im Zimmer ein. Draußen war es bereits seit einiger Zeit dunkel geworden. Morgen werden wir uns mit Qúsay befassen, dachte Aerien als sie ihr Reisegepäck auf dem Bett ausbreitete. Ich frage mich, was für ein Mensch er wohl ist. Die Dúnedain müssen ihm wohl oder übel vertrauen wenn sie Sauron schlagen wollen, stellte sie fest.
"Wir müssen uns um angemessene Kleidung kümmern," sagte Beregond, der sein Kettenhemd abgelegt hatte. Den gondorischen Wappenrock trug er weiterhin. "Wie Ibn Nazir gesagt hat wird es uns bald zu heiß werden. Außerdem sind wir so nicht gerade unauffällig."
Aerien widerstrebte es, ihre gute Rüstung gegen einfachere Gewänder einzutauschen, doch konnte sie nicht verleugnen, dass es ihr darin auf dem Weg nach Aín Sefra gerade um die Mittagszeit geradezu unterträglich heiß geworden war.
"Du hast Recht," sagte sie also. "Ich fürchte, zu dieser Stunde wird uns wohl niemand mehr neue Gewänder verkaufen", überlegte sie. "Das wird also bis morgen warten müssen."
"Morgen früh werden wir vor den Fürsten Qúsay treten, der von Imrahil zum Herrn von Harondor gemacht wurde. Wir haben einen Auftrag, vergiss das nicht. Dabei sollten wir wie Gesandte Gondors wirken," sagte Beregond. "Doch danach sollten wir uns die neue Kleidung wirklich beschaffen."
"Du willst also noch warten, bis wir Qúsay Damrods Nachricht überbracht haben?" schlussfolgerte Aerien. Sie fragte sie, wie lange Beregond wohl noch in Aín Séfra bleiben wollte.
"Wir werden wohl noch einige Nächte hier verbringen," antwortete der Gondorer als hätte er ihr die Gedanken am Gesicht abgelesen. "Morgen findet der Majles statt, eine Versammlung der wichtigsten Anführer der Haradrim. Wenn Qúsay zum König - zum Malik - von Harad gekrönt wird, müssen wir sichergehen, dass er es sich nicht anders überlegt und in Gondor einmarschiert. Wenn möglich, müssen wir herausfinden, was er als Nächstes plant, und Damrod warnen sollte ihm Gefahr von Qúsay aus drohen."
"Ich verstehe," sagte Aerien nachdenklich.
Als sie von Mordor aufgebrochen war, hatte sie ursprünglich vorgehabt, nach Dol Amroth zu gehen und den Anführern der Dúnedain alles Wissen über das Schattenland zu überbringen, das sie angesammelt hatte. Sie wollte es den Feinden Saurons ermöglichen, einen schweren Schlag gegen den Dunklen Herrscher zu führen und sie wollte vor allem, die Erben Númenors wieder vereinen und den Bruderkrieg der Dùnedain beenden. Doch Beregond hatte ihr auf der Reise durch Harondor erzählt, dass den Fürsten Gondors die Hände gebunden waren. Wenn sie den Fluss Gilrain, die Ostgrenze des freien Gondors, in kriegerischer Absicht überquerten, würde Aragorn hingerichtet werden. Den Tod ihres Königs konnten die Dúnedain nicht in Kauf nehmen - zumindest noch nicht. Linhir würde vorerst eine Grenzstadt bleiben und wachsam nach Osten blicken müssen.
Dass sie sich nun in Harad wiederfand war nicht nach ihrem Plan gelaufen. Ich brach nach Westen auf und bin im tiefen Süden gelandet, dachte Aerien. Wenn mir die Waldläufer doch nur vertraut und zugehört hätten! Über den geheimen Pass bei Durthang hätten sie ins Schattenland gelangen und viele der Kriegsgefangenen befreien können.
Sie hoffte, den Auftrag Damrods in Harad schnell abzuschließen und den Anführer der Waldläufer Ithiliens von ihren guten Absichten zu überzeugen.
Dann werde ich vielleicht nach Dol Amroth weiterziehen können.
Beregond war inzwischen auf dem Sessel eingenickt. Aerien ließ ihn in Frieden und begann, ihre Rüstung abzulegen. Die Schulterschützer schnallte sie ab und legte sie nebeneinander auf den kleinen Tisch, der neben dem Bett stand. Die ineinander greifenden Plättchen, die ihre Hüfte und Oberschenkel schützen, folgten als nächstes. Zuletzt schlüpfte sie aus dem Brustpanzer und fühlte sich sofort ein gutes Stück leichter. Die enge Stoffkleidung und die lederne Hose, die sie darunter trug bedeckte sie mit dem großen grauen Umhang, den sie über ihre Schultern fallen ließ. Sie ergriff Lôminzagar und blickte das Schwert einen Moment nachdenklich an. Schließlich entschied sie, es nicht mitzunehmen. Der lange Dolch an ihrer Seite würde genügen müssen. Dann verließ sie das Zimmer und ging hinunter in den großen Schankraum, der noch immer gut gefüllt war. Flink band sie sich das lange dunkle Haar zu einem einfachen Pferdeschwanz und trat an den Tresen.
"Was darf es für Euch sein?" fragte der Mann hinter dem Tresen in der Gemeinsprache. Es war nicht derjenige, der Aerien und Beregond das Zimmer gezeigt hatte.
"Nur etwas Wasser, bitte," antwortete Aerien.
Der Mann musterte sie eindringlich und machte keine Anstalten, auf ihren Wunsch einzugehen. Sie erwiderte den Blick und setzte einen neutralen Gesichtsausdruck auf. Einen langen Augenblick starrten sie einander an, bis der Gastwirt von einem Moment auf den anderen den Blick abwandte und sich zu einem großen Wasserfass umdrehte. Er füllte einen einfachen Krug und schob ihn zu Aerien herüber, die dankend nickte. Dann wandte der Gastwirt sich anderen durstigen Haradrim zu.
Aerien betrachtete den Krug. Wasser muss in dieser Gegen rar und daher auch wertvoll sein, überlegte sie. Hat Qúsays Name so viel Gewicht, dass dieser Krug mich nichts kostet?
Eine Bewegung zu ihrer Rechten unterbrach ihre Gedanken. Ein gepflegt aussehender Mann lehnte sich unangenehm nah an sie an den Tresen. Die dunklen Augen des Südländers fixierten ihr Gesicht. Ihre Hand glitt wie zufällig langsam in Richtung des Griffes ihres Dolchs.
"Neu hier, was?" sagte der Mann mit freundlich klingender Stimme. Er hatte einen dichten, aber dennoch kurzgeschnittenen dunklen Bart und trug sandfarbene Gewänder, die recht edel wirkten, ihm jedoch genug Bewegungsfreiheit zu bieten schienen.
Aerien nickte bloß als Antwort und setzte einen abweisenden Gesichtsausdruck auf. Den Mann schien es nicht zu stören.
"Ich bin Sahír," sagte er und deutete eine spöttische Verbeugung an. "Vom Stamm der Kinaḫḫu. Und wie lautet Euer Name, wenn Ihr mir die Frage gestattet?"
"Aerien," antwortete sie skeptisch. Sie wusste nicht recht, was sie von Sahír halten sollte.
"Ein liebreizender Name für eine anmutige Dame," gab Sahír lächelnd zurück. "Wisst Ihr, Aerien, ich bin ein hervorragender Händler - der Beste! - und bin schon in vielen Ländern gewesen. Doch eine Frau wie Ihr ist mir noch nie begegnet. Ich bin ein neugieriger Mann, müsst Ihr wissen, und Ihr fielt mir am Tor sogleich auf. Was tut eine solche Schönheit in Begleitung unseres großen Anführers? fragte ich mich. Also folgte ich Euch, um mehr herauszufinden. Und hier seid Ihr nun. Wollt Ihr mir erzählen, was Euch nach Aín Sefra führt, zu dieser schicksalhaften Zeit?"
Der Redeschwall des Mannes überrumpelte Aerien etwas und so antwortete sie nicht direkt. Sahír schien jedoch nicht auf eine Antwort warten zu wollen.
"Oh, Ihr macht wohl nicht viele Worte, was? Das macht nichts. Ich verstehe Euch, schöne Aerien. Ihr kennt mich ja gar nicht. Nun, dann lasst es mich einmal so formulieren: Erzählt mir ein wenig von Euch, unterhaltet Euch ein bisschen mit mir, und morgen zeige ich Euch meine Waren und Ihr dürft Euch etwas davon aussuchen - ohne zu bezahlen natürlich. Versteht es als Geschenk an Euren Anmut. Ich möchte daher - "
"Ich komme aus Gondor und habe eine Nachricht für Khôr(3) Qúsay zu überbringen," sagte Aerien etwas verärgert, um den Mann zum Schweigen zu bringen. Sie verwendete das adûnâische Wort für Fürst, da ihr das Westron-Wort entfallen war.
"Ha! Wichtige Geschäfte mit hohen Herren! Ja, das kann ich mir denken," äußerte sich Sahír erfreut. "Dieser Qúsay, das ist ein guter Mann," fuhr er fort. "Alle mit Verstand sagen das, und ich habe mit vielen Menschen zu tun. Komme viel herum. Händler, Ihr wisst schon. Überall hört man vom Krieg, der heraufzieht. Ihr müsst verstehen, dass mein Volk vom Dunklen Herrscher eigentlich nur für seine Zwecke ausgenutzt wurde und im Gegenzug keine der versprochenen Belohnungen erhalten hat. Jetzt reicht es den Leuten und Qúsay wird sie vereinen. Ihr werdet es morgen sehen, meine gute Aerien. Ihr werdet es seh'n!"
Aerien versuchte, aufmerksam zu wirken, doch irgend etwas, das Sahír erwähnt hatte, hatte sie nachdenklich gemacht. Der Redefluss des Händlers war zu schnell gewesen als dass sie es genauer hätte mitbekommen können, und seine nicht enden zu wollenden Worte hielten Aerien davon ab, sich zu konzentrieren und sich zu erinnern, was es genau gewesen war. Es hatte mit meiner Ankunft in der Stadt zu tun, war sie sich sicher. Doch wie weiter?
"Woher aus Gondor kommt Ihr?" fragte Sahír gerade.
"Aus Minas Tirith," sagte sie wahrheitsgemäß, doch ohne ihre wirkliche Heimat preiszugeben.
"Ah, die Weiße Stadt! Hab' schon viele Geschichten davon gehört. Die Festungen des Nordens sollen alle geradezu atemberaubend sein!"
Noch ungefähr eine Stunde ertrug Aerien das Gespräch mit Sahír. Gegen Ende musste sie sich eingestehen, dass sie den Mann sogar auf eine Art sympathisch fand, doch spürte sie nun immer mehr, wie sie müde wurde. Sahír schien es sofort aufzufallen.
"Oh, werte Aerien, verzeiht meine Unhöflichkeit," sagte er. "Ihr habt gewiss einen langen Ritt hinter Euch. Habt Dank für die Unterhaltung und vergesst nicht, mich morgen in meinen Handelsposten zu besuchen um Euer Geschenk auszusuchen. Ich habe viele wundersame Dinge, die Euch gut gefallen würden! Doch nun - laylatan saeida(4), gute Nacht!" Damit verabschiedete er sich und verliess die Taverne.
Aerien zog sich schnell in ihr Zimmer zurück, wo sie Beregond leise schnarchend vorfand. So still wie möglich streifte sie den Umhang und die Hose ab und hüllte sich in die weiche Decke, die auf dem Bett lag. Sie schloss die Augen und war bald darauf fest eingeschlafen.
(1) sindarin, "Löwenpranke"
(2) sindarin "Gute Nacht"
(3) ladûnâisch "Herrscher, Fürst"
(4) lahmidisch "Gute Nacht"