Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad

Die Burg des Silbernen Bogens

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Eandril:
Gerade als Narissa die Decke ihres Bettes zurückschlug und sich hineinlegen wollte, platzte Aerien ins Zimmer. "Du wirst nie erraten, wobei ich Elendar und Serelloth erwischt habe."
Narissa setzte sich auf ihre Matratze, schlug die Beine unter und zog interessiert eine Augenbraue in die Höhe. "Waren sie nackt?", fragte sie in möglichst unschuldigem Tonfall, Aerien stutzte und lief dann zartrosa an. "Bei den Nachtigallen Yavannas, natürlich nicht. Aber sie haben Händchen gehalten und..."
Narissa kicherte, und meinte: "Du übertriffst dich heute selbst. Bei den Nachtigallen Yavannas?" Auf Aeriens gekränkten Blick hin, hob sie abwehrend die Hände. "Schon gut, schon gut. Das geht auf jeden Fall schneller als ich dachte." Ein weiteres Mal verspürte sie den vertrauten Stich der Eifersucht, doch schwächer als zuvor und sie unterdrückte das Gefühl sofort wieder. Sie hatte kein Anrecht auf irgendjemandes Liebe, erst recht nicht, wenn sie dieses Gefühl nicht erwiderte. Ihr Gespräch mit Aerien von vorhin fiel ihr wieder ein, und sie fragte sich insgeheim, ob vielleicht etwas mit ihr selbst nicht stimmte. Sie strich gedankenverloren über das untere Ende ihrer Narbe. Vielleicht würde sich
"Ja, nicht wahr?" Aerien ließ sich auf der Kante ihres Bettes nieder, und ihre Mundwinkel zuckten. "Sie waren so herrlich schuldbewusst, als ich sie angesprochen habe."
"Ich kann es mir lebhaft vorstellen. Serelloth läuft so rot an, dass man ihre Sommersprossen gar nicht sehen kann, und Elendar fehlen vollständig die Worte."
"Ganz genau so war es... Warte. Hast du etwa gelauscht?", fragte Aerien misstrauisch, und Narissa schüttelte den Kopf. "Nein", antwortete sie wahrheitsgemäß. "Aber ich kenne Elendar, und offensichtlich habe ich Serelloth auch ganz gut getroffen."
"Und was machen wir jetzt mit den beiden?" Narissa streckte sich genüsslich in ihrem Bett aus, und erwiderte: "Was wir machen? Wie wäre es mit... gar nichts?"
"Du meinst, sie einfach machen lassen?", kam es von Aerien herüber, während Narissa die Augen schloss und tief durchatmete. "Entweder sind sie irgendwann darüber hinweg, oder es ist etwas ernsthaftes - und das wäre sowieso früher oder später geschehen." Außer bei mir. "Und dabei ist es doch auch egal, ob es nun Elendar ist oder ein Waldläufer aus Ithilien."

Erneut ging Narissa durch den langen, von Fackeln erhellten Gang, und erneut konnte sie nicht stehen bleiben bis sie die Tür an seinem Ende erreicht hatte. Auch dieses Mal kauerte die Frau mit dem Gesicht ihrer Mutter in dem von silbernen Licht erfülltem Raum. Doch dieses Mal erwachte Narissa nicht, sondern die Frau sprach. "Hilf mir, meine Kleine." Narissa erschauerte, als sie die Stimme ihrer Mutter erkannte, und der letzte Zweifel verschwand wie weggewischt. "Rette mich." Plötzlich war sie ein Mädchen von gerade zehn Jahren, dass von ihrer Mutter einen Brief und ein Medaillon erhielt, und sie niemals wieder sah. Der Boden erzitterte, und ihre Mutter schaute erschreckt auf. "Du musst kommen, sonst... wird er mich töten." Eine Träne rann Narissa über die Wange, als sie die grauen Haare und die eingefallenen Züge Herlennas sah, die mit Narben überzogenen Hände... Im gleichen Moment waren ihre eigenen Hände verschwunden, dann ihre Füße und zuletzt der ganze menschliche Körper. Stattdessen besaß sie nun zwei schlanke, schwarze Flügel, kurze schuppige Beine mit drei Krallen, und auf dem ganzen Körper ein Federkleid - schwarz auf dem Rücken, weiß am Bauch.
Eine Schwalbe, dachte sie, und im nächsten Augenblick flog sie, durch das Fenster hinaus und hoch über die Stadt, die sie sofort wiedererkannte. Die gelben Mauern, der hochaufragende Palast und die Häuser, die sie in ihrer Kindheit so gut gekannt hatte - sie blickte hinab auf Qafsah, das Herz von Suladâns Reich.
Sie flog, so rasch ihre Flügel sie trugen über die Stadt hinweg auf den Mond zu, der viel zu tief stand, doch direkt bevor sie ihn erreichte verwandelte sich das silberne Licht in rot, und aus dem Mond war ein einziges flammendes Auge geworden... und Narissa erwachte.
Durch das Fenster des Zimmers fiel silbern das Mondlicht herein, keine Spur von rot, und vom anderen Bett waren Aeriens ruhige Atemzüge zu hören. Narissa warf die Decke von sich, stand auf und eilte barfuß zum Fenster. Fast erwartete sie, draußen die Häuser von Qafsah zu erblicken, doch dort waren nur die Wände des erloschenen Vulkans zu sehen. Sie starrte in die Nacht hinaus, genoss die kühle Luft auf der verschwitzten Haut und beruhigte ihren Atem. Dieser Traum hatte etwas zu bedeuten, da war sie sich sicher. Sie musste gehen, und sie musste allein gehen. Denn Aerien war ihre Freundin, und Narissa würde sie nicht in den wahrscheinlichen Tod in Qafsah führen, denn diese Angelegenheit war ihre.

Wenig später hatte sie vollständig gerüstet und bewaffnet den unteren Hof erreicht und schickte sich gerade an, ihn zu den Ställen zu überqueren, als eine Stimme sie zurückhielt: "Kannst du mir verraten, wo du hinwillst?" Narissa fuhr herum, und sah sich Aerien gegenüber. Ihre Freundin schien sich eilig angekleidet zu haben, doch ihre Bastardschwert hing an ihrem Gürtel und ihre Miene war hart. "Ich... ich muss gehen." Narissa wich unwillkürlich einen Schritt zurück, und Aerien machte einen nach vorne.
"Gehen? Wohin? Was hast du vor?" "Ich... kann es dir nicht sagen", erwiderte Narissa und fühlte sich hilflos. Die Entscheidung war ihr schwer genug gefallen, doch jetzt, Angesicht zu Angesicht mit Aerien... "Ich kann es dir nicht sagen, denn du würdest mitkommen wollen. Es ist gefährlich, und vermutlich würden wir beide sterben. Und... ich will nicht, dass du meinetwegen erneut in Gefahr gerätst. Nicht schon wieder", sprudelte es aus Narissa hervor, und Aeriens Züge wurden weicher.
"Es gibt im Augenblick niemanden, für den ich mich lieber in Gefahr begeben würde. Aber erzähl mir zuerst, was los ist." Narissa trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Jede Minute die sie zögerte war eine Minute länger, die ihre Mutter in Gefangenschaft verbrachte, und womöglich gefoltert wurde. "Ich habe wieder geträumt... meine Mutter gesehen. Sie ist noch immer am Leben, gefangen in Qafsah." Aerien machte einen Schritt auf sie zu, und legte ihr die Hand auf die Schulter. "Es war nur ein Traum", sagte sie leise, aber eindringlich. "Ich verstehe, dass er dir zu schaffen macht, aber... du kannst doch nicht wegen eines Traumes alles wegwerfen."
"Wegwerfen?", gab Narissa zurück, und schüttelte die Hand ab. "Was werfe ich denn weg? Wir können hier nichts tun, nirgendwohin gehen. In Qafsah kann ich wenigstens etwas bewirken, meiner Mutter helfen, und vielleicht..."
"Bei allen strahlenden Silmaril, hast du denn nicht zugehört?", zischte Aerien. "Sie wollten uns nach Umbar schicken... oder vielleicht sogar auf die Insel!"
"Die Insel..." Narissa begann, unruhig vor Aerien auf und abzugehen. "Was gibt es dort schon noch, außer Leichen und Ruinen? Warum sollten wir dorthin gehen?"
"Wann bist du das letzte Mal dort gewesen? Vielleicht weiß Eayan mehr als du. Ich glaube jedenfalls nicht, dass er ohne Grund Boten dorthin schicken würde." Narissa blieb abrupt stehen, und starrte Aerien an. "Ich habe gesehen, wie der Turm brannte", sagte sie, doch langsam durchdrangen Aeriens Worte den Schleier aus Verzweiflung und Resignation, der sich um ihren Verstand gelegt hatte. "Du meinst, es könnte jemand... überlebt haben?"
"Genau das meine ich", erwiderte Aerien in dem Flüsterton, in dem bislang ihr ganzes Gespräch abgelaufen war. "Du kannst deiner Mutter nicht mehr helfen. Aber wenn du hier bleibst, kannst du vielleicht andere Überlebende deiner Familie treffen. Lass sie los."
"Was weißt du denn davon?", gab Narissa zurück, plötzlich wieder zornig. "Deine Mutter ist ja nicht in Gefahr, und sitzt stattdessen sicher in Mordor, an Saurons Kaminfeuer!"
Sie wandte sich ab und starrte in den dunklen Tortunnel hinein, in Erwartung einer Erwiderung, die nicht kam. Nach einigen Augenblicken drückenden Schweigens sagte sie schließlich: "Es tut mir Leid, das war gemein." Sie wandte sich wieder Aerien zu, die sich kein Stück gerührt hatte, und ergriff zaghaft ihre Hand. "Kannst du mir verzeihen?"
"Ich... glaube ja", antwortete Aerien, und ihre Stimme klang heiser.
"Versteh doch", sagte Narissa bittend. "Ich habe sie das letzte Mal gesehen als ich gerade zehn Jahre alt war, und ich dachte... dachte, sie wäre tot. Und nun, wenn es auch nur die kleinste Möglichkeit gibt, dass sie noch am Leben ist... würde ich alles tun, um ihr zu helfen."
"Ich verstehe", sagte Aerien langsam. "Glaube ich zumindest. Und ich werde mit dir kommen."

"Nein, das wirst du nicht." Auf der Treppe waren drei weitere Gestalten erschienen: Eayan, Ta-er und Elendar, alle in ihrer normalen Tageskleidung. Offenbar hatte keiner der drei geschlafen.
"Ich hatte die zweite Nachtwache, habe euch gehört, und Meister Eayan benachrichtigt", erklärte Elendar beinahe entschuldigend. "Und daran hast du sehr gut getan", sagte Ta-er. "Ihr werdet die Burg nicht verlassen."
"Und wieso nicht?", fragte Narissa herausfordernd. "Wir sind keine Mitglieder eurer Gilde." "Aber unsere Gäste, und dieses Privileg kommt mit gewissen Einschränkungen - darunter, dass ihr die Burg nicht einfach so verlassen könnt", erwiderte Ta-er, und weder ihr Tonfall noch ihre Miene ließen Widerspruch zu. Dennoch hob Eayan, der bislang geschwiegen hatte, die Hand.
"Ich glaube nicht, dass wir Narissa ohne einen Kampf daran hindern könnten, zu tun, was sie sich vorgenommen hat", meinte er, und Narissa, die eine Hand auf ihren Dolchgriff gelegt hatte, nickte verbissen. "Damit habt ihr verdammt recht." Aerien schien weniger entschlossen, rührte sich allerdings ebenfalls nicht von der Stelle.
"Dann will ich es mit Worten versuchen. Du hast etwas im Traum gesehen, etwas, dass dich zutiefst verstört hat. Ist es nicht so?", fragte Eayan, und Narissa hatte das Gefühl, dass er geradewegs durch sie hindurch sah. Sie nickte zaghaft. "Ja. Darum muss ich gehen."
"Dieser Traum hat dir die Wahrheit gezeigt", fuhr Eayan fort. Narissa schnappte nach Lust, und neben ihr rührte Aerien sich unbehaglich. Auch Elendar und Ta-er wirkten überrascht, als Eayan fortfuhr: "Doch ich habe ebenfalls etwas gesehen. Ihr beide müsst hierbleiben, und wenn ihr geht, dann muss euer weg euch nach Westen führen - nach Tol Thelyn, nicht nach Qafsah."
"Aber warum? Was könnte so wichtig sein, dass..." "Alles hängt mit dem geheimen Weg nach Mordor zusammen", wurde sie von Eayan unterbrochen. "Den es vermutlich nicht gibt", murmelte Aerien leise, doch Eayan ging nicht darauf ein. "Welchem Zweck er dient und welche Rolle ihr dabei spielt, kann ich nicht klar erkennen. Nur, dass es wichtig ist - und dass Qafsah den Tod bedeutet."
"Dann sei dem so", sagte Narissa, und blickte Eayan entschlossen ins Gesicht. "Ich werde mich nicht von Vermutungen und mysteriösen Ahnung davon abhalten lassen, meiner Mutter zu helfen."
"Aber von Träumen lässt du dich dazu bringen?", warf Ta-er ein, und Narissa sah zu Boden. "Das ist etwas anderes", erwiderte sie schwach, denn sie wusste genau, dass dem nicht so war.
"Dies ist das Werk des Feindes, fürchte ich", meinte Eayan und seufzte. Zu Narissas Ärger nickte Aerien langsam, sagte allerdings nichts. "Nun, wenn du dich nicht davon abbringen lässt, lass mich dir wenigstens helfen. Vielleicht findet sich unter meinen Leuten jemand, der dich begleiten würde..."
Ta-er öffnete den Mund, doch Elendar kam ihr zuvor. "Ich werde mit ihnen gehen, Meister?" Eayan warf ihm einen sorgenvollen Blick zu, nickte dann aber. "Also gut. Brecht morgen früh auf, nicht mitten in der Nacht - der Pfad ist gefährlich. Und wisst, dass ich euch nach wie vor von diesem Unterfangen abrate."
"He!" Von der Treppe kam eine schmale Gestalt herangeeilt, und quetschte sich zwischen Eayan und Ta-er hindurch. "Ihr könnt sie doch nicht einfach so gehen lassen", protestierte Serelloth. "Jedenfalls... nicht ohne mich!"
Aerien ächzte. "Bei den Türmen von Valimar, Serelloth! Du wirst keinen Fuß durch dieses Tor setzen."
"Wieso nicht? Ich habe es alleine bis hierher geschafft, da sollte was auch immer ihr vorhabt, doch kein Problem sein", sagte sie unbeschwert. "Und außerdem werde ich nicht einfach so alleine hier bleiben, ohne..." Sie stockte, warf Elendar, der beim Anblick ihres sehr kurzen Nachtgewandes trotz seiner braunen Haut dunkel angelaufen war, einen kurzen Blick zu, und schloss dann etwas lahm: "... Aerien." Trotz der ernsten Situation musste Narissa unwillkürlich lächeln, doch Aerien schien kein bisschen nach Lachen zumute zu sein. "Bei allen verdammten brennenden Belryg des Altvorderen! Du wirst nicht mit uns kommen! Und schon gar nicht wegen irgendeiner... Schwärmerei!" Man musste es Serelloth zu gute halten, dass sie vor der wütenden Aerien keinen Fußbreit zurückwich, obwohl sie zunächst vor Schreck blass wurde und bei Aeriens letztem Satz rot anlief.
"Das k-kann dir doch völlig egal sein. Ich werde jedenfalls mitkommen." Mit jedem Wort schien das Mädchen ein Stückchen ihres Selbstvertrauens zurück zu gewinnen. "Ansonsten müsstest du mich schon fesseln und in einem Sack verschnürt heim schicken. Und ich weiß genau, dass du dazu keine Zeit hast", schloss sie triumphierend. "Ich nicht", gab Aerien zurück, und deutete auf Eayan und Ta-er. "Sie schon." Eayan schüttelte den Kopf. "Nein. Wenn ihr geht, müsst ihr sie mitnehmen. Vielleicht bringt euch das ja zur Vernunft."
Aerien warf Narissa einen bittenden Blick zu, doch diese schüttelte stumm den Kopf, und fühlte sich schrecklich dabei. Aber sie hatte ihre Entscheidung getroffen, und musste nun mit den Folgen leben.
"Also schön... aber dein Vater wird mich umbringen." Aerien klang resigniert. "Bei den goldenen Mauern der Sonne, ihr beide seid eine größere Plage als alle Horden Mordors zusammen."
"Großartig", meinte Serelloth, und warf Narissa ein aufmunterndes Lächeln zu, dass diese allerdings nicht erwiderte. "Äh... wo gehen wir nochmal hin?"

Narissa, Elendar, Serelloth und Aerien zur Harduin-Ebene...

Eandril:
Narissa und Aerien von der Harduin-Ebene

"Willkommen zurück in Burj al-Nar, Narissa und Aerien", begrüßte Eayan die Rückkehrer. Offenbar war ihr Nahen nicht unbemerkt geblieben, denn als sie aus dem Tunnel in den Krater hinausgeritten kamen, hatte er sie bereits am Fuß der Treppe erwartet. Narissa sprang mit einer fließenden Bewegung von Grauwinds Rücken, und schenkte ihm ein Lächeln. "Wir sind froh, dass wir wieder hier sein dürfen", erwiderte sie, während sie Aerien aus dem Sattel half. Vermutlich wäre es gar nicht nötig gewesen, denn Aeriens Bein war inzwischen so weit verheilt, dass sie alleine stehen konnte und, wenn auch etwas mühsam, vom Pferd steigen konnte. Dennoch, Narissa nutzte jede Gelegenheit in ihrer Nähe zu sein, gerne aus.
"Und ich wäre noch glücklicher, wenn Elendar bei euch wäre", sagte Eayan, während er Yana beobachtete, die ebenfalls vom Pferd stieg und sich staunend im Krater umsah. Die Erwähnung ihres gefallenen Freundes wischte das Lächeln von Narissas Gesicht, als ihr Serelloths Anschuldigungen erneut in den Ohren klangen. Während ihrer Reise hatte sie so wenig wie möglich daran gedacht und stattdessen das Gefühl genossen, zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich verliebt zu sein. Doch jetzt konnte sie nicht davonlaufen, denn Eayans Blick durchbohrte sie wie der eines Falken.
"Elendar ist... tot", antwortete sie, und blickte zu Boden. Aerien ergriff ihre Hand und drückte sie, und Narissa sprach stockend weiter: "Er fiel im Kampf gegen Abel, als er mich vor ihm verteidigen wollte. Es... war meine Schuld, und es tut mir leid."
Eayan seufzte tief. "Es war ein Fehler euch nach Qafsah gehen zu lassen, aber... es wäre ein ebenso großer Fehler gewesen, euch aufzuhalten." Er schüttelte langsam den Kopf. "Es ist wie es ist. Hast du deine Mutter gefunden?"
Narissa sah erneut zu Boden. Auch wenn sie akzeptiert hatte, dass ihre Mutter tot war, und begriffen hatte, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte - es blieb schwer, daran zu denken. "Ja", erwiderte sie schließlich. "Aber sie war zu schwach zum Fliehen, und es genügte ihr, mich ein letztes Mal gesehen zu haben, bevor..." Sie holte einmal tief Atem, bevor sie den Satz beendete: "... bevor sie starb."
"Das tut mir leid", sagte Eayan, und seine Züge wurden weichter. "Ich weiß, es ist schwer ein Elternteil zu verlieren." Unwillkürlich fragte Narissa sich, ob er wohl aus Erfahrung sprach.
"Was ist mit der jungen Serelloth?", fragte Eayan schließlich, und Narissa zuckte bei der Erwähnung des Namens unwillkürlich zusammen. An ihrer Statt antwortete Aerien: "Serelloth... gibt Narissa die Schuld an Elendars Tod und ist deshalb gegangen. Ihr habt ja vermutlich gesehen, wie die beiden zu einander standen."
Eayan nickte langsam, und betrachtete sie aufmerksam. "Ja, es war mir aufgefallen. Vielleicht wäre es klüger von ihr gewesen zu bleiben um den Verlust zu verarbeiten, aber... ich bin nicht in der Position, zu urteilen." Etwas an seinem Blick ließ Narissa vermuten, dass Eayan auch sehr genau durchschaut hatte, welche Beziehung Aerien und sie pflegten - wie auch immer man diese nennen sollte. Ihr war es gleich, ihretwegen könnte es die ganze Welt wissen, doch Aerien war in jener Hinsicht deutlich zurückhaltender.
"Eine Frage bleibt noch", fuhr Eayan fort, und nickte in Yanas Richtung. Diese hatte bislang ein wenig abseits gewartet und staunende Blicke durch den Krater und über die Burg schweifen lassen, doch nun trat sie einen Schritt näher und knickste anmutig vor Eayan.
"Mein Name ist Yana, Herr", sagte sie. "Ich konnte nicht länger in Qafsah leben und... bitte euch um Hilfe." Eayans Augenbrauen zogen sich zusammen, doch bevor er etwas erwidern konnte, sagte Narissa: "Yana und ich kannten uns als Kinder. Sie hat uns geholfen, meine Mutter zu finden und in den Palast und das Gefängnis von Qafsah zu gelangen." Sie wollte Eayan damit nicht nur zu verstehen geben, dass Yana vertrauenswürdig war, sondern auch nützlich sein konnte. Denn so freundlich er und Ta-er zu ihr und Aerien gewesen sein mochten, sie glaubte nicht, dass der Silberne Bogen jemanden in seiner geheimen Burg wohnen ließ, nur weil man freundlich darum bat.
"Hm...", machte Eayan nachdenklich. "Also gut für eine Weile hierbleiben - für eine Weile länger, wenn ihr uns eine Aufgabe suchen lasst, die eure Fähigkeiten entspricht. Wir sind dünner gestreut als mir lieb wäre, und jede Hilfe ist mir willkommen." Bei den letzten Worten verharrte sein Blick einen Moment auf Aerien und Narissa, während Yana ein Lächeln zeigte, das nur wenig mit dem traurigen Lächeln, das Narissa aus Qafsah kannte, gemein hatte.
"Ich bin mir sicher, wir finden einen Weg."

Während Aeriens Wunden vom Heiler des Silbernen Bogens versorgt wurden und Yana von Ta-er durch die Burg geführt und dabei vermutlich gründlich befragt wurde, erzählte Narissa Eayan alles, was in Qafsah geschehen war - fast alles. "Was in diesem Gefängnis geschehen ist, ist besorgniserregend", meinte Eayan schließlich, als sie geendet hatte.
"Allerdings. Vermutlich hatten sie von Karnuzîr erfahren, dass Aerien sich von Mordor losgesagt hat, und uns deshalb eine Falle gestellt", bestätigte Narissa, doch Eayan schüttelte den Kopf. "Das meinte ich nicht. Ich sprach eher davon, dass Abel und Karnuzîr dort anwesend waren, und offenbar auf der selben Seite - nachdem sie in Ain Salah noch gegeneinander gekämpft hatten."
"Abel ist tot", meinte Narissa. "Und Karnuzîr vermutlich auch - Aerien hat ihn besiegt und aus einem Fenster gestoßen." Sie lächelte bei dem Gedanken, aus Genugtuung und Stolz.
"Das heißt nicht, dass er tot ist - Angehörige ihrer Sippe sind schwer zu töten", gab Eayan zurück. "Und auch wenn Abel mit Sicherheit tot ist - alleine die Tatsache, dass du oder Aerien ihnen so wichtig wart, dass sie deswegen ihren Streit beigelegt und sich sogar verbündet haben, ist beunruhigend."
Narissa stieß einen unwilligen Laut aus. "Ihr versteht es wirklich, einem die Laune zu verderben", sagte sie, und wechselte das Thema. "Was denkt ihr über die beiden, die Aerien in Qafsah belauscht hat?"
"Das ist eine interessante Angelegenheit...", erwiderte Eayan nachdenklich, und sah hinauf zum Kraterrand, hinter dem die Sonne allmählich verschwand. "Wenn der Feind ebenfalls Gerüchte über eine Rückkehr der Turmherren in ihre Heimat gehört hat, sind diese Gerüchte vermutlich wahr - und wer auch immer von den Turmherren dort übrig ist, ist in Gefahr." Er blickte Narissa in die Augen, als er sagte: "Und deshalb werde ich so schnell wie möglich Boten dorthin schicken - um die Wahrheit in Erfahrung zu bringen, und sie zu warnen."
"Ich kann jetzt nicht dorthin gehen", meinte Narissa, obwohl sich alles in ihr danach sehnte, es zu tun. "Aerien wird noch einige Tage Ruhe brauchen, bevor sie eine solche Reise unternehmen kann, und ohne sie... werde ich nirgendwohin gehen."
Eayan lächelte, und an seinen Augen erkannte Narissa, dass er spätestens jetzt begriffen hatte. "Nun, ich hatte fast damit gerechnet", sagte er. "Dann werde ich einen meiner eigenen Männer entsenden... Obwohl Mann in diesem Fall nicht das richtige Wort ist."

Wenig später betrat Narissa leise das Zimmer, dass sie und Aerien bereits bei ihrem ersten Aufenthalt in der Burg bewohnt hatten, doch Aerien schlief noch nicht. Sie saß auf ihrem Bett, und Bauch und Wade waren mit frischen, sauberen Verbänden umwickelt. "Wenigstens eins davon wird eine Narbe geben", meinte Narissa fröhlich. "Dann ist die unter deinem Fuß nicht mehr der einzige Makel - deine Eltern müssen sich schwarz ärgern."
"Hm", machte Aerien nur, und sah kein bisschen glücklich über diese Aussicht aus. Narissa kniete sich neben ihr auf das Bett, und sagte: "Nun mach nicht so ein Gesicht. Wenn man so lebt wie wir, gehören Narben dazu - das bleibt nicht aus."
Sie zog den Ärmel ihres linken Oberarms nach oben, und zeigte auf eine kurze blasse Linie, die ein Stück daran von links nach rechts verlief. "Das hier ist von meinem ersten echten Kampf. Ich war achtzehn, und wir haben ein Banditenlager ausgeräuchert, dass einem der Stämme in der Nähe der Insel Ärger machte. Einer von den Kerlen hat mich zu früh bemerkt, und mir mit seinem Schwert das da verpasst." "Hast du ihn getötet?", fragte Aerien, und fuhr mit einem Finger sanft die Narbe entlang.
Narissa schüttelte den Kopf, und genoss heimlich die Berührung. "Nein, das war Yulan - Elendars Vater. Er hat mich begleitet um sicherzugehen, dass mir nichts geschieht. Hinterher hatte er mir einiges zu sagen..." Mit einem Lächeln erinnerte sie sich an die Standpauke, die ihr Lehrer ihr nach der Rückkehr auf die Insel gehalten hatte. Dann zog sie ihr Hemd ein Stück nach oben, sodass die rechte Seite ihres Bauches frei wurde, und deutete auf eine kleine, unregelmäßige Narbe. "Die ist ziemlich neu." Obwohl die Narbe nur klein war, verzog Narissa bei ihrem Anblick das Gesicht. "Ein Andenken an Abel - möge er nicht in Frieden ruhen."
"Was hat er getan?", fragte Aerien, und berührte die Stelle leicht mit zwei Fingern. Bei der Berührung hatte Narissa das Gefühl, dass sich jedes kleine Härchen an ihrem Körper aufstellte. "Das war bei unserem ersten Kampf, bei Aín Sefra. Er hat mich getreten, und dabei muss die Haut aufgeplatzt sein."
"Hmm", machte Aerien erneut, und einen herrlichen Augenblick verharrten beide in ihrer Position. Dann zog Aerien ruckartig ihre Hand zurück und sagte: "Ich weiß, was du vorhast!"
"Gar nichts?", erwiderte Narissa so unschuldig wie sie konnte, und Aeriens Augenbrauen zogen sich drohend zusammen. "Lüg mich nicht an. Du hast vor, mich... mich..."
"... zu verführen?", vollendete Narissa den Satz, und legte den Kopf schief. "Schon möglich. Aber ich muss an meinen Künsten offenbar arbeiten." Aerien ließ sich nach hinten fallen, und verbarg das Gesicht in den Händen.
"Du bist unmöglich, weißt du?"
"Natürlich weiß ich das", gab Narissa ungerührt zurück, und Aerien ließ die Hände sinken. "Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht..."
"... so weit bin", beendete Narissa den Satz erneut für sie, und nickte, während sie aus ihrer knienden Position in eine sitzende wechselte, und die Beine über die Kante von Aeriens Bett baumeln ließ. "Das weiß ich, und ich habe dir versprochen, dich nicht zu drängen. Aber... wenn ich mit meinen Verführungskünsten erfolgreich bin, weiß ich auch, dass du soweit bist."
Aerien ächzte, und setzte sich wieder auf. "Beim nächsten Mal solltest du vielleicht Narben aus dem Spiel lassen."
"Ich werde es mir merken", erwiderte Narissa, zwinkerte ihr zu und fragte dann: "Aber wenigstens auf einen Kuss hoffe ich doch nicht vergeblich?"
"Nein... das nicht", erwiderte Aerien sanft, und küsste sie - solange, bis ihnen der Atem knapp wurde. Als sie sich voneinander lösten, meinte Narissa: "Hm... ich glaube nicht, dass ich heute schlecht träumen werde..."

Fine:
Es vergingen noch drei Tage, bis die Heiler des Silbernen Bogens Aeriens Wunden schließlich für geheilt erklärten. Währenddessen erzählte ihnen Ta-er as-Safar von den Ereignissen in Umbar bis zu Hasaels Sturz, denn nach der Flucht des Fürsten hatte sie ebenfalls die Stadt verlassen, seine Spur jedoch nicht weiter verfolgen können. Erstaunt lauschten Aerien und Narissa der Geschichte von Edrahil von Dol Amroth, der sich als derselbe Edrahil herausstellte, der Narissa einst nach Ain Séfra geschickt hatte.
"Ich bin übrigens sehr dankbar, dass dieser Edrahil dir den Auftrag gab, Qúsay zu überprüfen," flüsterte Aerien ihrer Freundin zu und stupste sie verliebt an.
"Das bin ich auch," erwiderte Narissa.
Ta-er hatte die Unterbrechung natürlich sofort bemerkt und runzelte die Stirn. "Wenn ihr nicht hören wollt, was ich euch erzähle, gibt es durchaus Dinge, mit denen ich meine Zeit besser verbringen könnte," kommentierte sie.
"Ist schon gut," sagte Aerien entschuldigend. "Wie hat es Edrahil nur geschafft, dass der mächtige Hasael von Umbar gestürzt werden konnte?"
"Mit List und den richtigen Verbündeten," fuhr Ta-er fort. "Er hatte Hilfe von einigen mutigen Adeligen aus Gondor und von einer einflussreichen Dame aus Umbar selbst, die Minûlîth hieß."
"Minûlîth?" wiederholte Aerien. "Von Haus Minluzîr?"
"Ja - kennst du sie etwa?" fragte Ta-er zurück.
"Meine Großmutter stammt aus Umbar, aus Haus Minluzîr," erklärte Aerien. "Und der Herr von Haus Minluzîr, Lord Azgarzîr, war einige Male in Durthang zu besuch. Erst dieses Frühjahr erhielt mein Vater den Bericht, dass Azgarzîr beim Angriff auf Dol Amroth gefallen sei, und seiner ältesten Tochter Minûlîth sein gesamtes Erbe hinterlassen hatte. Man hat sich sogar bereits nach einem passenden Gemahl für sie umgesehen."
"Offenbar hat ihr das nicht gefallen," kommentierte Narissa grinsend. "Also hat sie sich auf Edrahils Seite geschlagen, um ihren fiesen Verwandten in Mordor ein Schnippchen zu schlagen."
"Den Eindruck machte sie auf mich nicht," erwiderte Ta-er ungerührt. "Sie wirkte eher wie jemand, der zu seinen Überzeugungen steht. Ich kenne Meister Edrahil nicht sonderlich gut, aber ich bin mir sicher, er hat ihr sein Vertrauen nicht leichtfertig geschenkt."
"Wahrscheinlich hat sie gar nicht genau genug hingesehen," flüsterte Narissa und erntete einen missbilligenden Blick von Ta-er sowie ein Kichern von ihrer Freundin.
"Wie ging es dann weiter?" fragte Aerien und zwang sich wieder ernst zu werden, auch wenn Narissa es ihr nicht leicht machte.
"Nun, dass die Assassinen Salemes den Palast des Fürsten angriffen und dadurch die Rebellion in Umbar auslösten, habe ich ja bereits erzählt, " fuhr die Kriegerin fort. "Als ich mich nach Hasaels Sturz an seine Fersen heftete, dauerte es kam eine Meile bis ich feststellte, dass ich verfolgt wurde. Diese Schlangen hatten die Tore überwacht und nur darauf gewartet, dass ich mich ihnen zeigte, nach denen ich ihnen knapp beim Angriff auf den Palast entwischt bin."
"Und weil du sie abschütteln musstest, konntest du Hasael nicht weiter jagen?" vermutete Narissa.
"Gut erkannt," lobte Ta-er. "Wäre ich nur nicht so an meinem Auftrag gehindert worden! Umbar wäre frei geblieben. Denn wenn die Berichte stimmen, kehrte Hasael binnen zehn Tagen in die Stadt zurück - an der Spitze eines Sultanats-Heeres. Ich hoffe, Edrahil, Minûlîth und ihre Verbündeteten gelang die Flucht - Hasael wird ihnen gegenüber keine Gnade zeigen."
"Wie ich Edrahil kenne hat er für alles einen Plan geschmiedet," sagte Narissa zuversichtlich. "Bestimmt sitzt er irgendwo in Sicherheit und arbeitet schon an Hasaels nächstem Sturz."
"Nun, ich werde die Situation erst einschätzen können, wenn ich dort bin", sagte Ta-er. "Zu allererst werde ich jedoch nach Tol Thelyn gehen und herausfinden, ob die Gerüchte über das Auftauchen des Erben des Turms wahr sind."
"Und wenn sie wahr sind?" fragte Aerien.
"Dann werde ich ihm von dir erzählen, Narissa. Wenn du erlaubst," antwortete Ta-er, und Narissa stimmte nickend zu.

Einen Tag nach Ta-ers Aufbruch saßen Narissa und Aerien in der warmen Mittagssonne oben auf den Zinnen der Burg und blickten nach Norden, in Richtung Ain Salahs.
"Ich kann den Moment immer noch nicht ganz fassen," sagte Narissa schwärmend. "Da stehe ich in dieser furchtbaren Arena drei Mördern gegenüber, und dann... das nächste was ich sehe, bist du, Aerien, die wie ein Rachegeist aus den Lüften herabsteigt und mich rettet."
Aerien errötete. "Nun hör schon auf. Ich war da, weil es schade um dein freches Mundwerk gewesen wäre. Jemand musste Abel und Karnûzîr ja davon abhalten, es für immer zum Schweigen zu bringen, und ich hatte gerade Zeit."
"Soso," erwiderte Narissa. "Du bist dir also sicher, dass du nicht da warst, weil du bereits bis über beide Ohren verliebt warst?"
"N-nein", gab Aerien wenig überzeugend zurück. "Aber Elyana...." erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund.
Schlagartig wurde Narissa todernst. "Elyana?" hakte sie nach. "Was hat sie mit all dem zu tun?"
Aerien blickte beschämt zu Boden. "Sie hat mich in der Nacht, nach dem du abgehauen bist, besucht." Sie schüttelte sich als sie sich daran erinnerte, wie Elyana sie mit ihrer Klinge bedroht hatte. "Sie ist wirklich eine unheimliche Frau. Jedenfalls sagte sie, du wärst in großer Gefahr, und ich müsste dich retten."
"Also kamst du nur wegen ihr," stellte Narissa enttäuscht fest.
"Nein, nein!" beeilte Aerien sich zu sagen. "Ich wusste doch nicht, was ich tun solte. Du hattest.. du hattest gesagt, du willst mich nie wieder sehen."
"Das war ein Fehler," gab Narissa zu. "Aber dennoch... "
Aerien seufzte tief. "Seitdem du und Grauwind die Straße entlang verschwunden sind wollte ich euch folgen. Aber deine Worte und meine Vorsicht hielten mich zurück. Elyana hat mir geholfen, beides zu überwinden."
"Hmpf," machte Narissa, doch Aerien sah, dass sie nicht mehr sauer war. "Immerhin eine gute Sache, für die sie verantwortlich ist."
"Wer ist sie wirklich?" fragte Aerien. "Sie wirkte sehr... geheimnisvoll. Sie sprach ständig in Rätseln."
"Ja, das passt zu ihr", brummte Narissa. "Sie ist besessen von mir. Sie war sogar bei meiner Geburt dabei. Ständig redet sie davon, dass ich etwas ganz Besonderes bin und ein großes Schicksal vor mir habe."
"Aber du bist etwas Besonderes," sagte Aerien sanft. "Für mich."
Narissa lächelte errötend. Dann küsste sie Aerien lange und anhaltend.

Sie blieben noch einige Zeit an derselben Stelle sitzen und sprachen über einige belanglose Dinge, bis Narissa schließlich ein schiefes Lächeln aufsetzte. Ihre Hand tastete über Aeriens Rücken und löste den Pferdeschwanz, den Aerien eigentlich immer trug.
"Was soll das denn?" fragte Aerien, mit hellroten Wangen und halb empörten Gesichtsausdruck.
"Ich wollte nur sehen, wie dein Haar frei vom Wind bewegt wird," sagte Narissa, doch sie nahm die Hand nicht weg. Langsam und behutsam begann sie, Aeriens Nacken zu streicheln. Es fühlte sich gleichzeitig aufregend und elektrisierend an. Doch dann rutschte Aerien hastig ein Stück weg.
"Du," sagte sie drohend. "Du tust es schon wieder!"
"Ich weiß nicht, wovon du sprichst," gab Narissa unschuldig zurück.
"Du machst mich wahnsinnig!" rief Aerien, doch dann mussten sie beide lachen.
"Darauf setze ich," antwortete Narissa.

Als die Sonne bereits tief am fernen Horizont stand, erspähte Aerien einen Reiter, der zielstrebig auf den Vulkan zu kam. Narissa entdeckte ihn ebenfalls. Der Reiter trug gewöhnliche haradische Kleidung und führte eine seltsame, umwickelte Stange mit sich.
"Ob das einer von Eayans Kundschafter ist?" fragte sie ihre Freundin.
"Komm," schlug Narissa vor. "Gehen wir zum Tunnel und finden es heraus."
Am Tunnel angekommen bot sich ihnen ein eigentümliches Bild. Eayan und fünf seiner Wächter hatten den Reiter umzingelt, der abgesssen war und seinen Stab neben sich aufgestellt hielt. Daran hing eine gut sichtbare weiße Flagge.
"Was willst du hier, Schlange?" fragte Eayan gebieterisch. "Das Zeichen des Unterhändlers wird dich nur bedingt schützen. Unser Geheimnis wird gewahrt werden, dafür sorge ich."
"Ich bringe eine Botschaft von Saleme," sagte der Assassine überlegen, der sich nicht einschüchtern ließ. "Lest sie, und dann tut mit mir, was ihr tun müsst. Es wird keinen Unterschied machen."
Eayan nahm eine kleine Schriftrolle von dem Mann entgegen und überflog die Zeilen hastig und mit einem bestürzten Ausdruck im Gesicht. "Lasst ihn gehen," sagte er dann mit leiser Stimme.
"Aber Herr," begann einer der Wächter. "Er kennt unser Versteck!"
"Das tut Saleme auch," gab Eayan grimmig zurück. "Lasst ihn gehen. Wie er selbst schon sagte - es macht keinen Unterschied mehr."
Der Bote sprang auf sein Pferd und preschte in der Richtung davon, aus der er gekommen war. Eayan warf einen langen Blick zu Narissa hinüber, dann reichte er ihr Salemes Botschaft. Sie entrollte das Pergament, und Aerien las über ihre Schulter mit:

Eayan, alter Freund,
Ich weiß, wo du dich versteckst und ich weiß, wie viele Krieger dir auf deinem fehlgeleitetem Weg folgen. Es wird Zeit, dass diese Torheit beendet wird. Ich biete dir eine letzte Gelegenheit - um der alten Zeiten willen. Wenn ich zu dir komme, ergib dich und schließ dich mir wieder an. Dann werde ich vielleicht die Leben deiner Freunde verschonen. Entscheide dich schnell. Ich bin bereits auf dem Weg zu dir. Ich komme bald.
- Saleme
"Wir haben viel zu tun, und wenig Zeit," sagte Eayan grimmig.

Eandril:
Narissa ließ das Pergament sinken. "Wie konnten sie diesen Ort finden?", fragte sie fassungslos. "Die Burg ist so gut versteckt, und..." Sie unterbrach sich, als ihr ein fürchterlicher Verdacht kam. "Meint ihr, sie haben uns verfolgt und sind so hierher gelangt?"
"Das ist eine der angenehmeren Möglichkeiten", erwiderte Eayan, nahm ihr das Pergament aus der Hand und zerriss es kurzerhand in kleine Fetzen.
"Ihr meint Verrat", stellte Aerien ruhig fest, und Eayan nickte. "Allerdings. Aber ich habe jetzt keine andere Wahl, als jedem in dieser Festung zu vertrauen, denn ansonsten kann ich Saleme gleich meinen Kopf überlassen. Aber bis die Schlacht geschlagen ist, verlässt diese Festung niemand mehr."
Narissa erwiderte seinen Blick standhaft, und legte ohne es selbst zu bemerken die Hand auf den Dolchgriff. "Was können wir tun?"

Wenig später ging sie in ihrem Zimmer unruhig auf und ab, während Aerien auf ihrem Bett saß, und mit ruhigen Bewegungen Lóminzagars Klinge schliff. "Ich hätte darauf bestehen sollen, dass wir trotzdem gehen...", sagte Narissa vor sich hin. "Ich hatte versprochen, dass wir ans Meer gehen, und nun..."
"Darüber machst du dir Gedanken?", fragte Aerien verwundert, ohne jedoch von ihrer Arbeit aufzusehen. "Nur, weil wir ein wenig länger hierbleiben, heißt das noch nicht, dass du dein Versprechen brichst."
Narissa blieb stehen, und betrachtete Aeriens konzentriertes Gesicht einen Augenblick. Sie war sich nicht sicher, was daran sie am meisten liebte: Die sanft geschwungene Stupsnase, das schmale, vielleicht etwas spitze Kinn, die Art, wie ihr immer einige schwarze Haarsträhnen über die linke Gesichtshälfte fielen, oder vielleicht doch eher die grauen, manchmal fast silbern schimmernden Augen.
"Du starrst", sagte Aerien, und Narissa antwortete ohne den Blick abzuwenden: "Natürlich - und du kannst mir nicht erzählen, dass es dir nicht gefällt."
Diesmal hielt Aerien in ihrer Tätigkeit inne, hob den Kopf und lächelte. "Nein, kann ich nicht behaupten. Von manchen Leuten lasse ich mich gerne anstarren..."
"Manchen Leuten?", wiederholte Narissa, und ließ sich neben sie auf das Bett fallen. "Soll das heißen, da gibt es noch mehr...?"
Aerien versetzte ihr einen leichten Schlag gegen den Oberarm. "Du weißt genau, dass es außer dir niemanden gibt."
"Hm", machte Narissa sanft, und beugte sich zu ihr hinüber um sie zu küssen. "Ich habe nicht daran gezweifelt."

Die Nacht war bereits hereingebrochen, als ein warnender Ruf vom Wehrgang am oberen Rand des Kraters durch die Burg hinunterhallte. Narissa blickte Aerien an, und beide nickten. "Anscheinend geht es los." Nur wenige Augenblicke später erreichten sie gerüstet und bewaffnet den Tunnel am Grund des Kraters, der nun von einem massiven Gitter verschlossen wurde. Auf dem kleinen Platz hatten sich auch Eayan und einige weitere Krieger des Silbernen Bogens eingefunden, die den Mädchen grüßend zunickten.
"Ich bin froh, dass ihr bereit seid an unserer Seite zu kämpfen", sagte Eayan, ohne den Blick vom dunklen Tunnel, in dem sich ein flackerndes Licht näherte, abzuwenden. "Erst recht, da Ta-er nicht hier ist."
Bevor eine der beiden etwas erwidern konnte, erklang aus dem Tunnel eine männliche Stimme, die an den Wänden wiederhallte: "Wie lautet eure Antwort?"
"Meine Antwort lautet... nein", gab Eayan kalt zurück, und gab einem seiner Männer ein Zeichen. Der Wächter zog an einem kleinen, in die Kraterwand eingelassenen Hebel, und aus dem Tunnel erklang ein metallisches Zischen und ein Geräusch, als wäre etwas aufgespießt worden.
"Ich glaube nicht, dass sie es auf diesem Weg versuchen werden", meinte Eayan ungerührt. "Sie werden vermutlich versuchen, den Krater außen zu erklettern und auf diesem Weg in die Burg zu gelangen."
"Dann wollen wir sie lieber daran hindern", sagte Narissa, und spürte, wie die Entschlossenheit jede Faser ihres Körpers anspannte. Auch wenn es nicht Suladâns Leute waren, die dort angriffen - all das erinnerte sie unangenehm an den Angriff auf die Insel, und sie würde nicht zulassen, dass nun auch der Silberne Bogen zerschlagen wurde.
Gemeinsam mit Eayan eilten Narissa und Aerien die lange Treppe bis zum oberen Wehrgang hinauf, das Tor nur schwach verteidigt zurücklassend. Kurz vor ihrem Ende bog die Treppe um eine Ecke und führte danach gerade zum Wehrgang hinauf, und an dieser Ecke blieb Eayan stehen und hielt Narissa und Aerien zurück. Von weiter oben waren Kampfgeräusche zu hören, Stahl schlug auf Stahl und gedämpfte Schmerzensschreie hallten durch die Nacht. "Anscheinend haben sie nicht damit gerechnet, dass wir tatsächlich aufgeben", sagte Eayan leise, und spähte um die Ecke, bevor er sich wieder Aerien und Narissa zu wandte. "Letzte Gelegenheit euch anders zu entscheiden. Noch könnt ihr zurück in den Hof gehen und auf das Ende warten - und euch ergeben, falls Saleme siegen sollte."
Narissa wechselte einen raschen Blick mit Aerien, deren Miene ihre eigene Entschlossenheit wiederspiegelte. Eayan hatte ihnen Zuflucht geboten und in Ain Salah vermutlich das Leben gerettet - die Entscheidung war schon lange gefallen.
"Wir werden mit euch kämpfen", erwiderte Aerien, und Narissa fügte hinzu: "Wie ich es gesagt habe."

Der Kampf auf dem Wehrgang war brutal. Als Eayan mit seiner Verstärkung oben eintraf, hatten die Assassinen bereits ein Stück der Mauer eingenommen und mehr kamen über den Rand des Kraters geklettert, sodass die Verteidiger ständig von zwei Seiten angegriffen wurden. Dennoch schien allein Eayans Ankunft den Mut der Verteidiger wieder zu heben, und sie hielten ihre Stellungen. Narissa duckte sich unter einem Dolchstoß weg und stieß ihrem Gegner ihre eigenen Waffe in den Bauch, während Aerien neben ihr einen Feind mit raschen Schwerthieben zurückdrängte. Für einen Moment war Narissa von ihrem Anblick abgelenkt, und konnte nur gerade so einen auf ihren Kopf gezielten Schwertschlag parieren. Sie wich ein Stück zurück stolperte über den Körper ihres vorherigen Gegners und im selben Moment zischte ein Pfeil haarscharf über ihren Kopf hinweg und prallte funkensprühend von den Steinen des Wehrgangs ab.
Neben ihr ging einer der Verteidiger zu Boden, und aus seinem Rücken ragte ein weißgefiederter Pfeil. Narissa begriff, dass sie von irgendwoher beschossen wurden, doch sie hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Sie rollte sich vor dem zweiten Schwerthieb ihres Gegners weg, der allerdings nie ausgeführt wurde. Aerien hatte Narissas missliche Lage bemerkt, und dem abgelenkten Assassinen ihre Klinge seitlich in die Brust gerammt.
Narissa ergriff die Hand, die ihre Freundin ihr entgegenstreckte, kam wieder auf die Füße und keuchte: "Dafür schulde ich dir etwas."
"Reiner Eigennutz", gab Aerien grinsend zurück. "Du hast schließlich ein Versprechen zu erfüllen."
Narissa erwiderte das Lächeln flüchtig, und wandte sich dann um. Auf der anderen Seite des Kraters glaubte sie, mehrere undeutliche Gestalten zu erkennen. "Dort drüben stehen Bogenschützen", sagte sie, und zuckte zusammen als ein Pfeil direkt an ihrem Ohr vorbeiflog. "Und wir sind wunderbare Ziele für sie, in dieser Beleuchtung", meinte Aerien ernst, und deutete auf die Fackeln, die den Wehrgang erleuchteten. "Ich kann etwas gegen sie unternehmen", erwiderte Narissa. "So ein offener Kampf ist ohnehin nicht mein Stil." Sie hatte sich schon halb abgewandt, als Aerien sie am Arm packte, an sich zog und rasch küsste. "Stirb da draußen nicht", sagte sie, als sie Narissa losließ, und diese lächelte. "Keine Sorge - ich habe ja noch ein Versprechen zu erfüllen."
Damit lief sie rasch den inneren Rand des Wehrgangs entlang, wich dabei mehreren Feinden aus, und sprang als der Wehrgang endete, auf den schmalen Rand des Kraters.
Im Schutz der Dunkelheit huschte sie so schnell wie möglich über die unebenen Felsen, übersprang einige Lücken im Untergrund und näherte sich schließlich der Stelle, an der sie die Bogenschützen vermutete.
Und tatsächlich, von dort waren über den Kampfgeräuschen, die von der anderen Seite des Kraters heranwehten, das leise Sirren abgeschossener Pfeile zu hören. Leise und vorsichtig ließ sich Narissa ein Stückchen die steile, aber nicht ganz senkrechte Außenwand des Kraters hinab. Es war nicht leicht hier zu klettern, erst recht nicht im dunkeln, doch Jahre der Übung unter den wachsamen Augen ihres Großvaters zahlten sich aus.
Narissa schob sich langsam vorwärts, bis sie genau hinter dem ersten der Bogenschützen war. Mit einer Hand hielt sie sich an den Felsen fest, während sie mit der anderen Ciryatans Dolch zog und dem Assassinen mit einem einzigen Hieb die Sehnen in beiden Kniekehlen durchtrennte. Der Mann stieß einen Schmerzensschrei aus als die Beine unter ihm wegknickten und er vorwärts stürzte, in den Krater hinein. Sofort zog Narissa sich zurück, duckte sich tief in den Schatten der Felsen, während die anderen Bogenschützen, zwei waren es, erschreckte Rufe ausstießen und sich überrascht umsahen. Anscheinend glaubten sie, ihrerseits beschossen zu werden, denn sie hatten nicht gesehen was passiert war, und blickte auch nicht nach hinten. Langsam verstaute Narissa ihren Dolch wieder und zog stattdessen ein kleines Wurfmesser hervor.. Als beide verbliebenen Bogenschützen in die andere Richtung blickten, zog sie sich wieder auf den Kraterrand empor, zielte, warf und einen Herzschlag später bohrte sich das Messer in den Nacken des hinteren er beiden Männer. Der Bogenschütze kippte lautlos zur Seite weg, und stürzte den äußeren Rand des Kraters hinab, während Narissa losrannte, dem verbliebenen Mann von hinten erst in die Kniekehle trat und ihn dann mit einem weiteren Tritt in den Rücken vom Kraterrand hinabstieß.
Beide Assassinen waren während weniger Herzschläge gestorben, und Narissa konnte nicht anders als sich zu wünschen, dass Aerien sie gesehen hätte. Obwohl sie wusste, dass auf der anderen Seite noch gekämpft wurde und sie in der Dunkelheit vermutlich ohnehin nicht sichtbar war, hob sie grüßend die Hand - und im selben Augenblick legte sich ein raues Stück Seil um ihren Hals und schnürte ihr die Luft hab. Verzweifelt kämpfte Narissa gegen den eisernen Griff ihres unbekannten Gegners an, zugleich bemüht, nicht von der schmalen Felskante in den Tod zu stürzen. Während sie mit der linken Hand versuchte, den unbarmherzigen Druck auf ihrem Hals ein wenig zu lockern, gelang es ihr mit der Rechten, das zweite ihrer Wurfmesser in die Hand zu bekommen. Sie stieß blind nach hinten zu und traf auf etwas weiches. Der Mann, der sie würgte grunzte schmerzerfüllt, und für einen winzigen Augenblick lockerte sich das Seil um ihren Hals wieder. Narissa sog köstliche, frische Luft in ihre Lungen, bevor sich der Würgegriff wieder um ihren Hals schloss. Die Ränder ihres Sichtfeldes verschwammen allmählich, und sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Erneut stieß sie mit dem Messer nach hinten, diesmal etwas höher. Wieder traf sie, doch gleichzeitig wurde ihr schwarz vor Augen, und ihr Bewusstsein schwand.

Fine:
Aerien sah zu, wie Narissa am Ende des Wehrgangs heruntersprang und in der Dunkelheit verschwand. Gut, dachte sie. Jetzt kann sie ihre Fähigkeiten so richtig ausspielen. Dennoch machte sie sich Sorgen um ihre Freundin und ärgerte sich, dass ihnen nur so wenige Tage der Ruhe vergönnt gewesen waren ehe Kampf und Tod wieder eingeholt hatten. Ich dachte, die Assassinen hätten sich von Suladan losgesagt. Und der Silberne Bogen mischt sich nicht in den Krieg in Harad ein. Wieso also greift Saleme die Burg an? Sie hatte keine Antwort darauf, und die Kämpfe auf dem Wehrgang forderten nun ihre volle Aufmerksamkeit. Aerien stellte fest, dass sie mit dem offenen Gefecht besser zurecht kam als beim schiefgegangenen Gefängniseinbruch in Qafsah. Hier hatte sie etwas mehr Platz, um die Klinge zu schwingen, und die Auswahl an Gegnern war größer. Außerdem kämpfte sie als Teil einer Gruppe von Verbündeten und nicht allein gegen einzelne Gegner. Aeriens Schwert war rot vom Blut ihrer Feinde, doch je länger der Kampf dauerte, desto mehr spürte sie ihre Ausdauer nachlassen.

Schließlich gewannen die Krieger des Silbernen Bogens auf dem Wehrgang die Oberhand, da sie durch Eayans Gegenwart angespornt und inspiriert wurde, und die Assassinen nicht schnell genug die steile Außenwand des Kraters hinaufklettern konnten. Eayan postierte Bogenschützen an der Spitze, die die Nachzügler unter Beschuss nahmen. Für den Augenblick schien dieser Angriffspunkt gesichert zu sein. Aerien stützte sich auf ihr Schwert und atmete tief durch. Sie sah sich nach Narissa um, konnte sie jedoch nicht entdecken.
"Sie sind im Tunnel! Das Tor ist geöffnet worden!" warnte ein Krieger des Silbernen Bogens, der herbeigeeilt kam.
Eayan blickte grimmig nach unten, in Richtung des versteckten Eingangs zum Krater. "Einige dieser Schlangen müssen das Chaos des Angriffs genutzt haben, um an uns vorbeizuschleichen und das Tor von innen zu öffnen. Kommt! Wir müssen das Burgtor verteidigen."
Sie eilten die Treppen hinab, während sich die wenigen Heiler den Verletzten zuwandten - und zu Aeriens geringer Überraschung nebenbei die nicht tödlich verletzten feindlichen Assassinen niederstachen. Noch immer war keine Spur von Narissa zu sehen, doch Aerien konnte sich jetzt nicht ihr suchen. Jetzt galt es, Eayan zu unterstützen.
Am äußeren Tor der Burg angekommen ließ Eayan seine Krieger die kleine Mauer bemannen, die am Grund des Kraters in einem Bogen von links nach rechts verlief. In den Schatten am Ausgang des Tunnels, auf der anderen Seite des Kraters, sammelten sich bereits ihre Feinde. Aerien sah, dass die Assassinen in großer Zahl gekommen waren. Eayan hatte alle Bogenschützen oben auf dem Wehrgang gelassen, um ihnen Rückendeckung zu geben, weshalb sie nun nichts tun konnten als abzuwarten, bis der Angriff erfolgte.
"Wir halten das Tor," schwor der Schattenfalke seine Leute ein. "Egal was kommen mag; wir halten das Tor. Ihr alle wusstet, dass diese Stunde kommen könnte, und nun ist sie da. Wir halten das Tor gegen die Tyrannen, die dieses Land zugrunde richten wollen. Wir halten das Tor, weil wir trotz allem auf eine bessere Zukunft für Harad hoffen. Wir halten das Tor!"
Die Silberbögen nahmen den Ruf auf und machten sich kampfbereit. Auf den Mauern und hinter dem Tor reihten sie sich auf, die Waffen in den Händen haltend.
Stille antwortete ihnen. Die Assassinen schienen ebenfalls abzuwarten. Aerien stand neben Eayan im kleinen Hof direkt hinter dem Tor, und spürte ihre Anspannung stetig wachsen. Worauf warten sie denn noch? Sie sind doch in der Überzahl! dachte sie.

Ein warnender Ruf erklang vom Wall. "Sie stehen vor dem Tor!"
"Wartet!" rief Eayan befehlend zurück. "Wartet, bis sie angreifen!"
Erneut trat eine Pause ein. Und dann erklang ein leises Klopfen am Tor. Jemand stand ganz offensichtlich davor und klopfte mit der Hand an.
"Eayan," sagte eine Frauenstimme. "Ich weiß, dass du hier bist. Zeig dich, und wir reden. Nur du und ich."
"Saleme," flüsterte Eayan. "Sie ist hier."
Aerien sah, wie mehrere der Silberbögen ihre Waffen fester packten. Einige erbleichten sogar.
"Ich muss mich ihr stellen," stellte Eayan klar. "Wenn ich dadurch meine Leute retten kann, dann ist es meine Pflicht. Öffnet das Tor!"
Ohne Widerrede kamen Eayans Krieger seinem Befehl nach. Der Riegel, der die Torflügel verschlossen hielt, wurde entfernt und das Tor schwang auf. Eine einzelne, schlanke Gestalt betrat den Hof.
"Hallo, Eayan," sagte sie. Es war Saleme, deren Gesicht von Kapuze und Halstuch bis auf die Augen verhüllt war.
"Saleme," gab er zurück und trat ihr entgegen. "Was willst du?"
"Ich bin enttäuscht, dass du fragst. Du weißt, was ich will. Die Frage ist, ob du nach all den Jahren bereit bist, es mir zu geben."
Traurig schüttelte Eayan den Kopf. "Nicht, wenn du deine Vorhergehensweise nicht geändert hast seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Dein Angriff auf diesen Ort beweist, dass dem nicht so ist."
"Ich habe dir meine Ziele oft erklärt, Eayan. Sie haben sich nicht geändert, trotz deines Verrates."
"Dann weißt du, dass ich dein Angebot noch immer ablehnen muss. Ich kann nicht zulassen, dass du Land und Volk so schadest wie du es vorhast."
Saleme schien nicht wütend, aber dennoch enttäuscht zu sein. "Ich hatte gehofft, es wäre anders," gab sie zu. "Ich hatte gehofft, du kämst eines Tages zurück. Zurück zu mir."
Eayan schwieg einen Moment. "Was einst zwischen uns war... habe ich geopfert als du dich einem neuen Herrn unterworfen hast."
"Aber es ist noch immer tief in dir," stellte Saleme überraschend sanft fest. "Ich sehe es in deinen Augen."
"Meine Gefühle haben keine Bedeutung," gab Eayan zurück. "Dieses Gespräch ist vorbei. Rufe deine Leute zurück. Hier gibt es nichts für dich."
"Mein Meister ist weise," sagte Saleme. "Als er mir verriet, wo du dich verstecktest, sagte er mir, dass du ablehnen würdest. Er hatte Recht. Er hat immer Recht. Aber ich hoffe du verstehst wenigstens, warum ich es zumindest versuchen musste."
"Du hast dich zur Mörderin eines Fremdlings, eines Außenseiters in Harad gemacht," sagte Eayan anklagend. "Dein Meister stammt nicht von hier. Wende dich ab von ihm!"
Saleme wandte sich um und kehrte zum Tor zurück. "Dann entscheidest du dich also für den Schmerz - und Tod." sagte sie im Gehen. "So sei es."

Die Assassinen überwanden Mauer und Tor mit einer Leichtigkeit, die Aerien erschreckte. Doch sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, ob Salemes Unterhaltung mit Eayan den Angreifern die Zeit dafür erkauft hatte oder ob die Mauern einfach nicht dafür gemacht waren, um begabten Kletterern und Infiltratoren stand zu halten. Sie riss ihre Klinge hoch und wehrte einen Schwerthieb ab. Klirrend prallten die Schwerter aufeinander. Aerien drehte sich um die eigene Achse, wirbelte herum und versetzten dem Assassinen einen Tritt, der ihn in Eayans Klinge stürzen ließ. Der Schattenfalke nickte ihr aufmunternd zu, doch dann wurde seine Aufmerksamkeit von weiteren Angreifern abgelenkt. Das Gefecht im Innenhof wurde noch heftiger geführt als der Kampf oben auf dem Wehrgang, und Aerien vermutete, dass Saleme hier nun ihre besten Kämpfer einsetzte. Glücklicherweise hatte Eayan seine Leute insbesondere auf den Kampf gegen den Orden Salemes vorbereitet, weshalb viele der Silberbögen ungewöhnliche Waffen oder Kampftechniken verwendeten, die ihre Feinde überraschten und verwirrten. Aerien sah einen Krieger, der mit einem langen Stock kämpfte und durch die Reihen seiner Feinde wirbelte, während eine Frau in seiner Nähe sogar komplett ohne Waffen auskam und Gegner mit Fußtritten und Fausthieben außer Gefecht setzte. Die Kämpfer des Silbernen Bogens waren erneut in der Unterzahl, doch weil sie sich in der Burg auskannten, errangen sie nach und nach die Oberhand über die Angreifer. Aerien führte einen zielsicheren Schlag und Lóminzagar bohrte sich durch den Hals eines Feindes, der gerade einem weit ausholenden Hieb einer Stangenwaffe ausgewichen war, die Aerien an die Hellebarden der Gardisten von Durthang erinnerte. Sie sah einen weiteren Assassinen fallen, niedergestreckt von einer schweren, mit eisernen Stacheln besetzten Keule. Und da ertönte ein durchdringendes Signal, wie von einem fernen Horn, das endlich die Feinde zum Rückzug rief. Ohne zu zögern brachen die Assassinen ihren Angriff ab und Ruhe kehrte im Innenhof ein.

"Jeder, der unverletzt ist, soll sofort ausschwärmen," befahl Eayan, der aus einem Schnitt am Oberarm blutete, der Wunde jedoch keine Beachtung zu schenken schien. "Findet heraus, auf welchem Weg sie zum Wehrgang hinaufgeklettert sind. Findet heraus, ob das Tor im Tunnel sabotiert wurde. Findet heraus, wohin Saleme sich zurückzieht, aber folgt ihr nicht bis außer Sichtweite des Vulkans. Sie werden so bald nicht zurückkehren. Los!"
Die Silberbögen verteilten sich und gingen ihren Aufgaben nach, während andere sich um die Verletzten kümmerten. Aerien war zwar unverletzt geblieben, verspürte aber keine besondere Lust, sich an der Verfolgung zu beteiligen. Außerdem machte sie sich wachsende Sorgen um Narissa, von der sie seit ihrem Verschwinden nichts mehr gesehen oder gehört hatte. Sie folgte einer kleinen Gruppe Silberbögen zurück zum Wehrgang hinauf. Während Eayans Krieger den Kletterweg der Angreifer abschätzten und sich leise darüber unterhielten, wie man einen solchen Angriff beim nächsten Mal verhindern könnte, blickte Aerien sich um, doch in der Dunkelheit der Nacht war noch immer keine Spur von Narissa zu entdecken.
Wo bist du nur, dachte sie und blieb etwas verloren auf dem Wehrgang stehen, und ihre Erleichterung über das Ende des Angriffs der Assassinen verging, wurde ersetzt durch die furchtbare Befürchtung, dass Narissa unter den Toten sein könnte...

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