Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad

Die Harduin-Ebene

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Eandril:
Am späten Abend des nächsten Tages hatte Qúsays Heer den Belagerungsring um Qafsah, das es gegen Mittag erreicht hatte, geschlossen. Der Malik selbst hatte sein Lager in der Oase vor den Toren der Stadt aufgeschlagen, an der Stelle, an der einst Níthrar und seine Heimatlosen gelagert hatten.
Als Narissa begleitet von den Zwilligen Qúsays großes Zelt betrat, fiel ihr sofort die angespannte Stimmung auf, die dort herrschte.
"Wir werden einige Zeit benötigen, ausreichend Leitern zu bauen oder reparieren um jene zu ersetzen, die beim Angriff auf den Tross zerstört oder beschädigt wurden", sagte gerade einer der Hauptleute an Qúsay, der in der Mitte des Zeltes, die Fäuste auf den einzigen Tisch gestützt, stand.
"Zeit, die wir nicht haben", erwiderte Dírar ernst. "Unsere Vorräte - vor allem an Wasser - sind jetzt bereits knapp, und diese Oase wird keineswegs ausreichen, das ganze Heer zu versorgen."
"Ich weiß, aber wir können nicht einfach neue Belagerungsgeräte herbeizaubern!", entgegnete der andere Mann sichtlich gereizt. "Und..."
Qúsay hieb mit der Faust auf den Tisch und richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. "Genug! So ernst unsere Lage sein mag, mit Streitereien werden wir Suladân ganz bestimmt nicht in die Knie zwingen." Die meisten der anwesenden Hauptleute schienen vor Schreck ein wenig zusammen zu schrumpfen, während Dírar vollkommen unbeeindruckt wirkte. Während der kurzen Stille, die auf Qúsays Worte folgte, entdeckte Narissa Edrahil und Erchirion, die ein wenig abseits am Rand des Zeltes standen und der Diskussion bislang aufmerksam gefolgt zu sein schienen. Sie nutzte die Gelegenheit um so respektvoll wie möglich zu sagen: "Malik Qúsay, ich könnte euch eine Möglichkeit bieten, die Lage vielleicht zu verbessern, allerdings..." Sie ließ den Blick über die Anwesenden schweifen. "Allerdings würde ich euch bitten, unter weniger Augen darüber mit euch sprechen zu können."
Qúsay fixierte sie mit seinem einzelnen braunen Auge und nickte dann knapp. "Stellt Wachposten rund um die Stadt auf. Ich will, dass nicht einmal eine Maus aus der Qafsah hinaus oder hinein gelangt, ohne dass wir es wissen", befahl er an seine Hauptleute gerichtet. "Wer handwerklich geschickt ist, soll für Bau und Reparatur der Belagerungsmaschinen eingesetzt werden. Sammelt auch an Eimern und anderen Gefäßen, was sich finden lässt, und füllt sie im See der Oase mit Wasser. Wenn morgen die Sonne am höchsten steht erwarte ich euren Bericht, und wir werden entscheiden, wie wir diese Stadt einnehmen."
Die Hauptleute verbeugten sich stumm, und einer nach dem anderen verließ das Zelt. Schließlich waren außer Qúsay und Narissa nur noch Valirë, Valion, Edrahil, Erchirion und Dírar anwesend.
Der Malik bedeutete ihr mit einer Geste zu sprechen, und Narissa atmete tief durch.
"Es gibt - soweit ich weiß - einen Tunnel, der hier in der Oase unter Wasser beginnt, und nach Qafsah hinein führt."
"Zur Wasserversorgung sicherlich", vermutete Qúsay, und strich sich über den Bart. "Könnten wir das Wasser auf irgendeine Weise verunreinigen und die Verteidiger dursten lassen?"
Dírar schüttelte den Kopf. "Damit würden wir uns selbst unsere einzige Wasserquelle nehmen, und unser Heer würde verdursten bevor die Verteidiger ausreichend geschwächt wären."
"Das war auch nicht mein Vorschlag", ergriff Narissa wieder das Wort. "Der Tunnel ist breit genug für einen Menschen. Ein ganzes Heer werdet ihr auf dem Weg nicht in die Stadt schmuggeln können, aber... mich."
Alle Blicke richteten sich wieder auf sie. Qúsay und Dírar skeptisch, aber interessiert, Erchirion mit offener Überraschung und Edrahil vollkommen unergründlich. Narissa biss sich auf die Unterlippe.
"Ich bin für Heimlichkeit ausgebildet, für... Attentate. Wenn ich der Schlange den Kopf abschlagen, Suladân töten könnte... glaubt ihr, Qafsah würde ohne ihn lange Widerstand leisten?"
"Möglich, dass sie sich ergeben. Ebenso möglich, dass sich einfach einer von Suladâns Wesiren oder Generälen an seiner Stelle zum Herrscher aufschwingt und wir nach wie vor keinen Schritt weiter gekommen sind", stellte Dírar fest. "Aber dennoch... ich denke, den Versuch ist es wert."
Bei Dírars Worten hob Edrahil den Kopf und blickte ihn durchdringend an. Narissa glaubte etwas wie Respekt und sogar... Zuneigung im Blick des Alten zu erkennen.
"Ich stimme zu", sagte Edrahil schließlich leise. "Es ist ein hohes Risiko, aber..." Sein Blick richtete sich auf Narissa. "Wenn jemand dieses Risiko freiwillig eingehen möchte, dann sollten wir es tun."
Qúsay nickte langsam. "Also gut. Ich will ehrlich sein: Unsere Lage ist verzweifelt genug, dass ich bereit bin, jede noch so kleine Chance zu ergreifen. Wir werden, sofern die Vorbereitungen einigermaßen vorankommen, morgen Abend angreifen. Den stärksten Schlag werden wir soweit vom Palast entfernt führen. Wie hoch ist das Risiko, dass Suladân den Palast verlassen wird um seinen Truppen beizustehen?", fragte er an Dírar gewandt.
"Gering. Der Sultan ist kein Feigling, aber er weiß, wie schnell ein verirrter Pfeil oder ein einzelner Soldat auf der Mauer sein Ende bedeuten könnte. Und dann würde die Stadt fallen. Nein, ich denke er wird in der Sicherheit seines Palasts bleiben und von dort Befehle erteilen."
"Gut. Seine Aufmerksamkeit werden wir dennoch auf uns ziehen, und vielleicht wird der Palast weniger stark bewacht sein."
"Und währenddessen werde ich durch den Tunnel schwimmen, mich durch den Palast schleichen und ihn ein für alle mal erledigen", ergänzte Narissa deutlich zuversichtlicher, als sie eigentlich war. Je mehr sie über ihren eigenen Plan nachdachte, desto unsicherer erschien ihr die ganze Angelegenheit. Also dachte sie nicht mehr darüber nach.
"Valirë..." In Erchirions Stimme schwang ein für einen Prinzen ungewöhnlich bittender Unterton mit. "Ich hoffe, du hast nicht vor, dich ebenfalls in diesen Tunnel zu begeben?"
Valirë lächelte ihn an. "Keine Sorge, Valion und ich haben eine andere Aufgabe. Allerdings vielleicht nicht unbedingt viel ungefährlicher..."
"Ich... habe mich gerade erst wieder daran erinnert", begann Valion zu erklären, und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. "Noch bevor wir nach Ain Salah kamen, habe ich meinen eigentlich verschollenen Onkel Tórdur getroffen. Er bat mich, Edrahil auszurichten, dass die Löwenmaid - wer auch immer das ist - in Qafsah ist, und Suladân beerben will. Also werden wir..."
Edrahil unterbrach ihn kurzerhand. "Noch vor Ain Salah? Das ist mal wieder großartig, Valion, mein Junge. Und Tórdur ist hier, mit dieser Information, hält es aber nicht für notwendig, selbst mit mir zu sprechen? Besitzt überhaupt irgendjemand in eurer Sippe auch nur ein Fünkchen Verstand?" Er atmete tief durch. "Nun, zuvor hätten wir ohnehin nichts dagegen ausrichten können, also hast du vielleicht nicht allzu viel Schaden angerichtet. Ich..."
"Augenblick mal." Dieses Mal war es Valirë, die Edrahil das Wort abschnitt. Ihre Augen verengten sich bedrohlich. "Heißt das, du wusstest, dass unser Onkel am Leben ist? Seit wann?"
"Genug!", unterbrach Qúsay zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit einen Streit, der in seinem Zelt auszubrechen drohte. "Edrahil, ich schätze ihr schuldet Fürst Valion ein ausführlicheres Gespräch. Nutzt die Zeit, um euer Vorgehen gegen diese Löwenmaid zu planen - wir können es uns nicht leisten, dass jemand Suladân ersetzt, falls es uns gelingt, ihn auszuschalten." Er machte ein herrische Handbewegung die klarstellte, dass sie alle entlassen waren.

Fine:
Die Gruppe entfernte sich mit ruhigen Schritten vom Zelt des Heerführers, und machte sich auf den Weg zum Rand des Kriegslagers. Sie sprachen zunächst wenig; jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Valion war noch immer ein wenig unwohl bei dem Gedanken, dass Narissa schon bald eine so gefährliche Mission bevorstehen würde. Immerhin war sie nicht vollkommen alleine, wenn Eayan sie tatsächlich begleiten würde.

Sie erreichten eine kleine Düne, die am Tag von einer einzelnen Palme überschattet wurde. Hier hielt Edrahil inne, und legte eine Hand a seine Stirn, damit ihm die sinkende Abendsonne nicht in die Augen scheinen konnte. Er blickte zur Stadt hinüber und brummelte leise: “Ich bin wirklich froh, wenn das alles endlich vorüber ist.”
Narissa hatte jedes Wort mitbekommen. “Es wird nun nicht mehr lange dauern,” versicherte sie dem alten Herrn der Spione, doch Valion glaubte aus ihren Worten herauszuhören, dass sie sich ihrer Sache nicht ganz so sicher war, wie sie vorzugeben versuchte.
“Ich würde sagen, es ist Zeit für ein paar Antworten,” mischte sich Valirë ein, und risse Valion aus seinen Gedanken. Seine Zwillingsschwester hatte Edrahil ins Visier genommen, welcher ihrem Blick mit seiner üblichen beherrschten Miene standhielt.
“Ich hielt es nicht für notwendig, euch davon zu berichten, dass euer Onkel am Leben ist,” antwortete Edrahil ruhig. Valion kannte ihn mittlerweile gut genug um zu erkennen, dass der Alte gereizt und müde war, und dies aus purer Gewohnheit zu verbergen versuchte. Er entschied, es Edrahil nicht übel zu nehmen.
Ehe Valirë aufbrausend werden konnte, nahm Valion das Wort. “Das ist verständlich, dennoch wirst auch du verstehen können, warum wir etwas enttäuscht sind, Edrahil. Du wärest im Gegenzug ebenfalls nicht sonderlich erfreut darüber, zu erfahren, dass dir wichtige Informationen vorenthalten worden wären, oder täusche ich mich da?”
Edrahil tat Valions Einwand mit einer knappen Handbewegung ab. “Es stand mir nicht zu, Tordúr dies abzunehmen,” sagte er. “Es handelt sich immerhin um eine Familienangelegenheit.”
Valion hatte erwartet, dass seine Schwester nun die Beherrschung verlieren würde, doch Valirës Reaktion überraschte ihn. Sie ließ die Schultern sinken und seufzte leise. Es wirkte, als würde sie nach den richtigen Worten suchen. “Es… geschieht nicht jeden Tag, dass ein totgeglaubtes Familienmitglied urplötzlich wieder lebendig auftaucht,” sagte sie schließlich. Dabei sah sie Edrahil an, welcher um eine Winzigkeit den Kopf schief legte, als würden Valirës Worte ihn auf unerwartete Weise ansprechen.

Narissa hatte den Austausch der beiden zwar verfolgt, ihre Aufmerksamkeit war aber eindeutig geteilt gewesen. Immer wieder warf sie Blicke zur belagerten Stadt hinüber, insbesondere das kleine Gewässer inmitten der Oase zog ihre Aufmerksamkeit an. Valion konnte es ihr nicht übel nehmen. Wahrscheinlich war Narissa in Gedanken bereits dort unten, in den überfluteten Tunneln, auf dem Weg zu ihrer Konfrontation mit Sûladan.
“Kommen wir zu einem weiteren wichtigen Thema,” sagte Edrahil und lenkte die Aufmerksamkeit der Anwesenden wieder auf sich. “Taraezaphel, die von ihren Anhängern die Löwenmaid genannt wird. Dass sie hier ist, in Qafsah, zu exakt diesem Zeitpunkt, bedeutet nichts Gutes für uns. Wenn sie Sûladan beerbt, tauschen wir nur eine Schlange gegen eine andere, selbst wenn Narissa in ihrem Unterfangen Erfolg hat.”
“Deshalb werden meine Schwester und ich sie aufhalten,” stellte Valion klar. “Wir werden im Zuge der Belagerung schon einen Weg über Qafsahs Mauern finden, und dann machen wir diese Löwenmaid ausfindig und beenden die Bedrohung, die von ihr ausgeht.”
Narissa wirkte nachdenklich. Sie wiederholte leise den Namen, den Edrahil genannt hatte. “Kannst du diese Frau näher beschreiben, Edrahil?” hakte sie schließlich nach.
“Sie stammt aus dem Reich Arzâyan, weit im Süden gelegen,” erklärte der Herr der Spione bedächtig. “Anscheinend stammt sie von dem dortigen Herrschergeschlecht ab, das als ausgestorben galt - oder behauptet dies jedenfalls. Wir haben sie daran gehindert, eine neue Machtbasis aufzubauen, allerdings ist sie uns auf dem Rückweg zur Weißen Insel entwischt.”
Narissa schüttelt den Kopf. “Ich meinte, äußerlich beschreiben,” stellte sie richtig. Ihre Stimme hatte einen sonderbaren Unterton, den Valion nicht richtig einordnen konnte.
Edrahil wirkte um eine Wenigkeit verwundert, kam der Aufforderung jedoch nach. “Nun, man könnte sie als recht hübsch beschreiben,” begann er. “Dunkles Haar, zurückgehalten von einem gestreiften Band um den Kopf. Schlank, aber athletisch gebaut. Sie wird wohl zehn Jahre älter als du sein, Narissa, dennoch denke ich nicht, dass du ihr im Kampf gewachsen wärest.”
Narissa gab einen hörbaren Laut der Empörung von sich, wurde dann jedoch still als Edrahil weitere Beschreibungen hinzufügte. Schließlich sagte Narissa leise: “Ich glaube.. ich bin dieser Frau schon einmal begegnet.”
“Wann und wo?” wollte Edrahil sofort wissen. Auch Valion blickte Narissa gespannt an.
“Das war.. zuhause,” antwortete diese. “Auf der Insel…” Sie verzog das Gesicht, als würde eine unangenehme Erinnerung ihr durch den Kopf gehen. “Sie war an Aeriens Entführung beteiligt, da bin ich mir sicher.”
“Wenn das wahr ist, dann kannst du es uns überlassen, sie dafür büßen zu lassen,” versicherte Valirë ihr, und Valion nickte zustimmend. “Sollten wir sie lebend in die Finger bekommen, kannst du sie später über ihre Verbindung zur Weißen Insel ausfragen. Edrahil wird dir dabei sicherlich gerne zur Hand gehen, falls diese Taraezaphel nicht reden möchte.”
Edrahil tat diese Aussage mit einem knappen Nicken ab, dann sagte er: “Lebendig wäre mir lieber, doch ihr solltet äußerste Vorsicht walten lassen. Sie ist mir bereits einmal entwischt, und wie ihr wisst, wiederhole ich Fehler eher ungern.”
Valirë gab ein belustigtes Prusten von sich, wurde aber schnell wieder ernst. “Sei unbesorgt, Edrahil, und auch du, Narissa. Wir kriegen sie.”
Valion ließ sich gerne von dem Optimismus seiner Schwester anstecken und pflichtete ihr grinsend bei. Erchirion, der das Gespräch zum größten Teil schweigend verbracht hatte, sagte: “Ich weiß, dass ich dich von deinem Vorhaben nicht abhalten kann, Valirë,” was von Valions Schwester mit einem Grinsen bestätigt wurde. “Aber lass mich wenigstens mit dir kommen. Wir haben zwar nur wenige gondorische Soldaten auf diesem Feldzug dabei, aber beim Überwinden der Mauern wirst du jedes Schwert gebrauchen können, das du kriegen kannst.”
Valion sagte: “Wir gehen alle gemeinsam, und werden alle gemeinsam erfolgreich sein.”

Sie verbrachten den Rest des Abends - von dem nach ihrem Gespräch nicht mehr sonderlich viel übrig war - am gemeinsamen Lagerfeuer unweit der Düne, auf der sie sich mit Edrahil ausgetauscht hatten. Kurz bevor die Zwillinge sich schlafen legten, kam Eayan zu ihnen und bat sie, am folgenden Morgen mit ihm zu sprechen, ehe sie sich an der Belagerung beteiligten.
Die Zwillinge kamen der Aufforderung nach, als die Sonne bereits über den östlichen Horizont geklettert war. Offenbar hatten viele der Malikatskrieger in dieser Nacht gearbeitet, anstatt zu schlafen, denn ein Großteil der Palmen der Oase war verschwunden, ersetzt durch Belagerungsleitern und einen behelfsmäßigen Angriffsturm. Andere Stämme waren zu improvisierten Rammböcken umgebaut worden, während die Holzreste, die bei den Bauarbeiten angefallen waren, als grob zusammengesetzter Schutz gegen Pfeile eingesetzt werden konnte. Dennoch hatte das Heer wohl noch eine Menge Arbeit vor sich, bevor genügen Belagerungsmaterial zur Verfügung stand, um einen Sturmangriff auf die feindlichen Mauern zu wagen.
Der Schattenfalke gab den Zwillingen eine Übersicht über die Straßen Qafsahs und riet ihnen, es in der Nähe eines der Tore zu versuchen. “Dort wird zwar der Widerstand am größten sein, doch dort habt ihr auch am meisten Unterstützung von unseren Verbündeten, und könnt bei einem Erfolg vielleicht auch gleich dafür sorgen, dass die Tore für Qúsays Leute geöffnet werden.”
Valion dankte Eayan für die wertvollen Informationen und verbrachte den Vormittag damit, den Soldaten Gondors, die Erchirion mitgebracht hatte, den groben Plan zu erklären. Sie würden sich auf das nächste der Tore Qafsahs konzentrieren und versuchen, die Mauern zu einer der beiden Seiten davon zu erstürmen.

Als die Sonne zu sinken begann, ertönten die Kriegshörner - ein ohrenbetäubender Klang. Valion sprang auf, und nickte Eayan zu, der gerade noch einmal zu ihm gekommen war - ein stummer Gruß zwischen zwei Kriegern, und prüfte ein letztes Mal, ob seine Schwerter zum Ziehen bereit an seinem Gürtel hingen.

Die Schlacht um Qafsah hatte begonnen.

Eandril:
Narissa tauchte aus dem dunklen Wasser auf und schüttelte sich die nassen Haare aus dem Gesicht. "Ich habe den Eingang gefunden", sagte sie zu Edrahil, der nur wenig entfernt auf seinen Stock gestützt am Ufer stand. Aus Richtung der Stadt der Wind erste Kampfgeräusche heran - der Angriff hatte begonnen.
Edrahil nickte knapp. "Dann wird es Zeit." Narissa schwamm ein paar Züge in seine Richtung und stieg dann die flache Uferböschung hinauf. Sie trug nur Hemd und Hose, keine Schuhe, die sie womöglich beim Tauchen behindern würden. Edrahil reichte ihr das Bündel, in das sie ihre Dolche eingewickelt hatte, und sie befestigte es am Bund ihrer Hose. Sie atmete tief durch, sog noch einmal die sich abkühlende Abendluft ein.
"Nicht mein letzter Atemzug, hoffe ich...", murmelte sie vor sich hin, nervöser als ihr lieb war. Sie hatte sich bereits wieder dem Wasser zugewandt, als sie Edrahils Hand auf ihrer nassen Schulter spürte. "Wenn dieser Ifan die Wahrheit gesagt hat und selbst bereits durch diesen Tunnel gekommen ist, wirst du es auch schaffen."
"Ja... wenn", erwiderte Narissa leise. "Aber was, wenn er doch gelogen hat? Was, wenn..." Edrahils Hand schloss sich enger um ihre Schulter. "Für Zweifel ist es zu spät", sagte er mit untypisch sanfter Stimme. "Du wirst es schaffen, denn du willst es schaffen."
Er hatte Recht. Sie wollte es schaffen, Qafsah von der Herrschaft Sûladans zu befreien, sie wollte Rache für ihre Eltern, ihren Großvater, ihre Heimat - und sie wollte am Ende zu Aerien zurückkehren. Also würde sie wohl überleben müssen. Offenbar hatte Edrahil ihre zurückgekehrte Entschlossenheit gespürt, denn er drückte noch einmal ihre Schulter und ließ sie dann los. "Also los. Wir sehen uns spätestens bei Sonnenaufgang."
Ohne zu antworten, denn sie traute ihrer Stimme nicht ganz, ging Narissa zurück ins Wasser, und schwamm langsam ans nordöstliche Ende des Sees. Mit einem letzten Blick zu Himmel, an dem sich dunkle Wolken vor die ersten Sterne geschoben hatten, holte sie tief Atem und tauchte unter.

Der Tunneleingang befand sich ungefähr einen Meter unter der Wasseroberfläche. Dichte Wasserpflanzen verdeckten die Öffnung, weshalb es Narissa einige Zeit gekostet hatte, sie zu finden. Als sie hindurch tauchte, strichen die Blätter weich über ihr Gesicht - beinahe fühlte es sich an wie eine Liebkosung. Und dann war sie im Tunnel. Schon kurz hinter dem Eingang war es zu dunkel um auch nur die Hand vor den Augen zu sehen, doch verirren würde sie sich wohl nicht. Glücklicherweise waren die Wände so weit auseinander, dass sie ihre Arme bewegen nach vorne und hinten bewegen konnte, um sich voran zu ziehen. Ein Zug, zwei Züge, drei Züge... Noch hatte sie ausreichend Luft in ihren Lungen um sich konzentriert und zügig vorzuarbeiten. Doch der Tunnel endete nicht. Allmählich Narissas Brust zu schmerzen, und noch immer befand sie sich in tiefster Dunkelheit, nur Wasser um sich herum und dann meterdickes Erdreich über ihrem Kopf. Sie arbeitete sich weiter vor, und allmählich wurde jeder Zug mühsamer und mühsamer. War sie überhaupt schon unter den Mauern hindurch? Wie lange war sie schon in diesem Tunnel? Ihr Zeitgefühl schien sich aufzulösen, jeder Moment dehnte sich zur Unendlichkeit aus... Sie wünschte nichts mehr, als zu atmen, frische Luft in den Lungen zu spüren...
Vor ihren Augen begann ein Licht zu flackern und Narissa wusste, dass es das Ende sein würde.


Sechs Jahre zuvor...

"Noch einmal", rief ihr Großvater ihr vom Strand zu, während Narissa sich erschöpft über den Wellen hielt. Ihre Augen brannten vom Salzwasser, und sie hatte mehr davon verschluckt als ihr lieb war. Sie schüttelte den Kopf, und schwamm langsam zurück an den Strand, wo sie schließlich einfach im weißen Sand liegen blieb, die Beine noch halb im Wasser.
Hador packte sie an den Armen und zog sie unsanft auf die Füße. "Noch einmal, habe ich gesagt." Narissa hustete, und spuckte ein wenig Salzwasser in den Sand.
"Ich kann nicht", erwiderte sie. "Ich werde das nie schaffen." Ihr Großvater schüttelte den Kopf. "Nicht mit dieser Einstellung. Als ich siebzehn Jahre alt war, bin ich die Strecke dreimal hin und her getaucht, ohne einmal aufzutauchen."
Narissa schnaubte verächtlich. "Unsinn. Kein Mensch schafft das."
Die harten Gesichtszüge ihres Großvaters wurden ein wenig weicher, als er sagte: "Vielleicht habe ich etwas übertrieben. Aber..."
"Wozu muss ich überhaupt so gut schwimmen und tauchen lernen?", fiel Narissa ihm ins Wort. "So viel Wasser gibt es in Harad doch gar nicht. Ich würde lieber wieder klettern trainieren - oder fechten."
Hador seufzte. Er ließ sich hin den sonnengewärmten Sand nieder, und Narissa tat es ihm dankbar gleich. "Richtig, viel Wasser gibt es in Harad nicht. Aber... es gibt Gegenden an den Küsten, in denen du zum Einsatz kommen könntest. Umbar zum Beispiel. Und auch im Inland gibt es Flüsse, Seen... eine Gelegenheit, zu der diese Fähigkeiten wichtiger sind als Laufen, Klettern, Springen und so weiter, kommt schneller als du denken magst."
Narissa zog mit dem rechten Zeh Kreise in den Sand, und biss sich auf die Unterlippe. "Aber ich werde niemals so weit tauchen können ohne zu ertrinken. Das ist unmöglich." Sie blickte hinaus aufs Wasser, wo Anfang und Ende Strecke durch zwei mit Seilen auf dem Meeresgrund befestigten Holzfässern markiert waren.
"Nicht unmöglich", erwiderte ihr Großvater. "Aber an der Grenze des Möglichen, soweit hast du Recht. Nicht ohne Grund ist das der letzte Test."
"Und wie hast du es dann geschafft? Und Elendar?" Insgeheim ärgerte sie sich, dass der ein paar Jahre ältere Elendar, Sohn ihres Lehrers Yulan, diese Probe zwei Jahre zuvor mit Leichtigkeit bestanden hatte.
Hador lächelte. "Endlich stellst du die richtige Frage. Das wichtigste ist, ruhig zu bleiben. Entspannt. Auch wenn sich deine Lungen anfühlen, als würden sie bersten. Auch wenn jede Faser deines Körpers nach Sauerstoff schreit - die Grenze liegt weiter entfernt, als dein Körper dir glauben machen will."


Narissa entspannte sich, verdrängte die aufkeimende Panik, und machte noch einen Zug. Noch einen... der Tunnel, der bislang leicht abwärts geführt hatte, machte eine sanfte Biegung nach oben. Ein dritter, kräftiger Zug, und Narissa durchbrach die Wasseroberfläche. Sofort atmete sie tief ein, füllte ihre Lungen mit abgestandener Luft, die ihr dennoch köstlicher erschien als jede Speise oder jedes Getränk, dass sie je gekostet hatte.
Als die Schmerzen in ihrer Brust und der Druck auf den Schläfen ein wenig nachgelassen hatten, versuchte Narissa sich ein wenig Orientierung zu verschaffen. Sie trieb in einem ausgedehnten Wasserbecken, von dem aus in mehrere Richtungen weitere Wasserleitungen abgingen. Über das Becken führte in der Mitte, fast genau über ihrem Kopf, eine Brücke, auf der eine einzelne Laterne stand - das musste das Licht sein, dass sie bereits im Tunnel gesehen hatte. Neben der Laterne saß ein graubärtiger Mann in der Rüstung von Qafsahs Wache, den Kopf auf der Brust, und... schnarchte leise.
Vorsichtig, um nicht zu viel Lärm zu machen, zog Narissa sich am Rand des Wasserbeckens hoch, und blieb dann ein wenig unentschlossen stehen. Sie musste sich irgendwo unter Qafsah befinden - dies hier war offenbar der Wasserspeicher der Stadt. Die Decke war niedrig, und alles war aus dem gelben Stein, aus dem ein Großteil Qafsahs bestand, gepflastert. Für einen Augenblick überlegte sie, den schlafenden Wächter mit einem gezielten Dolchstoß ins Jenseits zu befördern... oder ihn einfach zu ignorieren und sich davonzuschleichen. Doch soweit sie im schwachen Licht der Laterne sehen konnte, gab es mehrere Wege aus der Halle hinaus. Und sie hatte keine Zeit den richtigen zu suchen. Also schlich sie sich leise an den Wachmann heran, und flüsterte ihm von hinten ins Ohr: "Zeit zum Aufstehen."
Der Mann erwachte ruckartig und wäre beinahe vor Schreck von der Brückenkante ins Wasser gestürzt, wenn Narissa ihn nicht festgehalten und ihm eine Dolchklinge an die Kehle gesetzt hätte.
"Wer... was... wie?", stieß der Wächter stammelnd hervor, hielt aber still und versuchte nicht, sich aus Narissas Griff zu befreien. "Unwichtig", gab sie zurück. "Viel wichtiger ist die Frage - welcher weg führt von hier aus zum Palast?"
"Z-z-zum Palast? W-w-wieso..." Narissa unterbrach ihn, indem sie ihre Klinge ein wenig fester gegen seine Kehle drückte.
Der Wächte schluckte heftig. Auf seiner Stirn sammelten sich Schweißtropfen. "Die größte Leitung, am anderen Ende des Beckens. A-a-aber da ist ein Gitter."
Narissa stieß einen Fluchaus, den sie einst von einem Händler aus Rhûn gelernt hatte, und dessen Bedeutung ihr allenfalls vage bekannt war. "Ein Gitter? Seit wann."
"Seit... seit etwa zwanzig Jahren. K-kurz nachdem der Sultan das Erbe seines Vaters angetreten hatte."
Narissa dachte nach. Das passte mit dem zusammen, was Ifan ihr berichtet hatte - offenbar hatte Sûladan nicht dasselbe Schicksal wie sein Vater und seine Brüder erleiden wollen, und diese Hintertür zum Palast versperr. Blieb nur die Frage, warum er nicht auch den Eingang von der Oase aus versperrt hatte... aber vielleicht hatte er keine Aufmerksamkeit auf diesen Tunnel lenken wollen.
"Na schön", sagte sie schließlich. "Wo geht es hier raus?"
Der Wächter deutete vorsichtig in eine dunkle Ecke am anderen Ende der Halle. "Dort ist eine Tür und dann eine Treppe nach draußen. Aber die Tür ist verschlossen auf Befehl des Sultans."
"Ich nehme an, du hast einen Schlüssel?" Der Mann begann zu nicken, hörte aber sehr schnell wieder auf als die Dolchklinge über seine Haut schabte. "Ja, ja. An meinem Gürtel."
Mit ihrer freien Hand tastete Narissa nach dem Schlüssel, und löste ihn mit einer geschickten Bewegung vom Gürtel ab. "Ich will dich nicht töten", sagte sie schließlich leise. "Aber ich kann mir auch nicht leisten, dass du jemanden warnst. Also..."
"I-ich werde niemandem etwas sagen! Ich schwöre es. Ich schwöre!"
"Darauf kann ich mich nicht verlassen", erwiderte sie, nahm aber die Klinge von seinem Hals - um ihm anschließend mit dem metallenen Knauf einen Hieb gegen die Schläfe zu versetzen. Sie löste den Gürtel des Bewusstlosen und fesselte ihm damit die Hände auf dem Rücken aneinander.
"Schlaf nur weiter...", murmelte sie dabei vor sich hin. "Ich hoffe ich denke daran, dich hinterher hier rausholen zu lassen..."

Sie nahm die Laterne, und folgte in ihrem schwachen, flackernden Licht dem Beckenrand, bis sie am gegenüberliegenden Ende angekommen war. Von hier aus führte ein schmaler Kanal weiter, dessen Eingang jedoch durch massive Gitterstäbe versperrt wurde. Der Mann hatte die Wahrheit gesagt - hier würde es kein Durchkommen geben. Narissa kämpfte einen Anflug Verzweiflung nieder. Noch war ihre Mission nicht gescheitert. Sie wandte sich vom Gitter ab, und stieg stattdessen die Treppe hinauf in die Stadt.

Narissa nach Qafsah

Fine:
Der Schweiß tropfte Valion von der Stirn, als er das Visier seines Helms leicht anhob, um einen besseren Blick nach oben zu den bewehrten Mauern über ihm werfen zu können. Es war heiß - verdammt heiß. Und das, obwohl von der Sonne nicht mehr als ein letzter rötlicher Lichtstrahl am westlichen Horizont übrig geblieben war. Valion wusste, dass die Kälte der nächtlichen Wüste sich rasch einstellen würde, sobald noch etwas mehr Zeit vergangen war, doch für den Augenblick machte das keinen Unterschied. Beinahe hätte er sich für einen Moment gegen die Mauer vor ihm gelehnt, um durchschnaufen zu können. Doch er wusste, dass er dort ein leichtes Ziel für die Verteidiger Qafsahs sein würde, wenn er nicht in Bewegung blieb. Die Krieger Sûladans hatten Steine und andere Wurfgeschosse bereit gehalten, um Qúsays Sturmangriff abzuwehren - und bis jetzt gelang ihnen das recht gut.

Valion verfluchte wieder einmal die Ungeduld seiner Schwester. Valirë war wie so oft in der vordersten Reihe losgestürmt, als der Angriff auf das ihnen am nächsten gelegene Tor Qafsahs endlich freigegeben wurde, und prompt hatten die Zwillinge einander im entstandenen Getümmel aus den Augen verloren. Erchirion ist bei ihr, versicherte er sich in Gedanken. Zuletzt hatte Valion die Banner Gondors und Dol Amroths, die nebeneinander im Wind wehten, auf der ihm gegenüberliegenden Seite des großen Torhauses gesehen.
Ein Krachen riss Valion aus seiner kurzzeitigen Starre, und er sprang instinktiv rückwärts. Dort, wo er eben noch gestanden hatte, bohrte sich ein großer Felsen in den zertrampelten Erdboden. Valion schüttelte knapp den Kopf, um sich wieder zu fokussieren. Sein Ziel hatte sich nicht geändert. Er musste einen Weg finden, diese verdammte Mauer zu überwinden. Entweder würde er seine Schwester auf der anderen Seite wiederfinden... oder den Auftrag Edrahils ohne sie zu Ende bringen.

Eine der behelfsmäßigen Belagerungsleitern stürzte um, keine fünf Meter von Valion entfernt. Kurzerhand packte er mit an, als mehrere Krieger begannen, sie wieder aufzurichten. Pfeile regneten auf sie nieder. Einige fanden ihr Ziel. Doch die Leiter fiel nicht erneut um. Kaum war sie gegen die Zinnen Qafsahs gelehnt, begannen die Haradrim Qúsays, daran hochzuklettern. Andere klammerten sich mit ihren Körpern an die Standfüße der Leiter, um sie so gut es ging an Ort und Stelle fest zu halten. Der oberste Krieger stürzte ab, von einem geworfenen Speer durchbohrt, doch der Zweite sprang geschickt von der Leiter auf den Wehrgang und verschaffte sich dort Platz, indem er mit seinem Schwert herumwirbelte. So gelang es drei weiteren Haradrim, auf die Mauer zu gelangen, und auch Valion stand schließlich oben. Er warf einen Blick nach rechts, wo eine lange Treppe zum Torhaus hinauf begann, und erkannte sofort, dass dort mit nur vier Mann kein Durchkommen sein würde. Offenbar hatte Sûladan dort einen Teil seiner besten Krieger platziert. Männer mit langen Schilden und Speeren rückten gegen das Mauerstück vor, das Valions Begleiter kurzzeitig erobert hatten. Zwar kletterten neue Haradrim die Leiter hinauf, doch die Krieger auf den Mauern wurden von zwei Seiten bedrängt und in der Unterzahl. Valion hieb einen aufdringlichen Feind mit dem Schwertknauf nieder, dann handelte er instinktiv - und sprang von der Mauer ins Innere Qafsahs hinab.

Valion nach Qafsah

Fine:
Aus der Sicht von Valirë vom Ethir

Valirë duckte sich, um einem Pfeil auszuweichen, der ihr vermutlich das Herz durchbohrt hätte. Dann hob sie den Speer eines gefallenen Kriegers auf und schleuderte ihn zu den Mauern hinauf, wo er an einer der Zinnen abprallte und klirrend irgendwo auf den Mauern zu Boden fiel.
Zweimal schon war es Erchirion und ihr beinahe gelungen, die Leitern zur rechten Seite des Tores zu erklettern. Beide Male waren sie daran gescheitert, die Spitze der Mauern zu erreichen. Valirë spürte Wut und Frust in sich aufsteigen. Wo war nur ihr Bruder? Warum war er nicht an ihrer Seite geblieben, als der Sturmangriff begonnen hatte? Und warum setzte Qúsay noch immer nicht seine gesamte Streitmacht ein?

Erchirion packte sie am Arm und zog sie weg, mit erstaunlicher Kraft und Bestimmtheit. In etwas Abstand von den Mauern, geschützt durch einige behelfsmäßige Holzkonstruktionen, sammelten sich die überlebenden Gondorer. Noch wehten die Banner des Weißen Baumes und des Silbernen Schwans tapfer inmitten der Belagerung, doch sie hatten bereits mehrere Verluste erlitten.
"Es hat keinen Sinn, planlos gegen diese Mauern anzurennen," sagte Erchirion. "Die Verteidigung ist hier zu stark, und solange Herr Qúsay nicht die volle Kraft seines Heeres einsetzt, werden wir sie nicht überwinden können."
Valirë wollte instinktiv widersprechen, doch Erchirion ließ sie nicht zu Wort kommen. "Wir ziehen uns für den Augenblick zurück," befahl er. "Nicht dauerhaft, aber für den Augenblick. Gondor hat bereits genug Blut in Qúsays Krieg vergossen."
"Aber Edrahils Auftrag..." setzte Valirë nun doch an.
"Edrahil ist nicht hier," entgegnete Erchirion überraschend schroff. "Er würde sich nicht in so eine aussichtlose Gefahr begeben." Die harten Gesichtszüge des Prinzen wurden etwas weicher, als er Valirës Blick suchte. "Ich will nicht, dass ein verirrter Pfeil oder ein Speer mich dessen beraubt, was ich erst vor so kurzer Zeit gefunden habe," sagte er etwas leiser, nur an Valirë gewandt.
Valirë war einigermaßen sprachlos. Mistkerl, dachte sie sich, das ist nicht fair. "Mein Bruder ist irgendwo dort draußen," stieß sie schließlich hervor, nachdem sie sich wieder etwas gefangen hatte.
"Er kann auf sich aufpassen," sagte Erchirion ruhig.
"Und du denkst, ich könnte das nicht?" schlug sie sofort zurück.
Anstatt ihr sofort zu antworten musterte Erchirion Valirë für einen langen Augenblick. "Ich stelle nicht deine Fähigkeiten infrage," stellte er klar. "Aber es ist etwas anderes, mitansehen zu müssen, wie dich ein tödlicher Pfeil trifft. Wie das Licht in deinen Augen erlischt, während ich neben dir stehe und nichts dagegen tun kann."
Valirë kochte innerlich. Sie hasste ihn dafür, und liebte ihn gleichzeitig. Dieser verdammte, starrsinnige, liebenswerte Idiot. Kurzerhand packte sie Erchirion und küsste ihn.

Ein ohrenbetäubendes Getöse riss sie aus dem flüchtigen Moment der Zweisamkeit. Beinahe glaubte Valirë, der Boden würde sich unter ihr bewegen, erschüttert von dem dröhnenden Ton, der von jenseits der Stadt zu ihnen herüberschwallte. Überall schienen die Kämpfe zum Erliegen zu kommen, so gewaltig war die Wirkung. Menschen zeigten nach Süden, in Richtung der Wüste, wo eine große Staubwolke aufgewirbelt worden war. Reiter rückten von dort heran, in geordneten Reihen und mit Schritt gehend, doch was die Aufmerksamkeit aller auf sich regte waren die gewaltigen Schemen, die sich nun nach und nach aus dem aufgewirbelten Wüstenstaub schälten. Riesig groß waren sie, sechs an der Zahl. Erhellt wurden sie von großen Feuerbecken, die mühelos Platz auf ihren breiten Rücken fanden, und ihr Licht auf für Valirë fremde Banner warfen. Der größte von ihnen war von hellerer Haut als die anderen fünf und trug ein gewaltiges Kriegshorn auf dem Rücken, von dem der durchdringene Ton gestammt haben musste. "Mûmakil!" brüllten die Krieger um sie herum, und identifizierten die riesigen Kreaturen damit ohne jeden Zweifel.
"Noch mehr Feinde?" stieß Valirë atemlos hervor.
"Ich... weiß es nicht," sagte Erchirion, der sich aufgerichtet hatte. "Sie haben noch keine Angriffslinie gebildet... und wirken nicht so, als wollten sie uns angreifen."
Unter den Kriegern Qúsays gab es wohl einige, die die Insignien auf den Bannern der Neuankömmlinge kannten. "Kerma," riefen sie "Kerma ist gekommen, um sich an Sûladan zu rächen..."

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