Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad
Die Harduin-Ebene
Fine:
Azruphel war mehr als nur durcheinander. Gerade noch war Karnuzîr direkt vor ihr gewesen, und im Begriff gewesen, das zu tun, vor dem es sie am meisten gegraut hatte: Sie zu küssen... denn das wäre nur ein Vorgeschmack auf viel schlimmere Dinge gewesen. Und im nächsten Moment war dort Narissa, die ihr gegenüber kniete und einen Dolch an ihre Kehle hielt. Narissa, der die Mordlust in den Augen glitzerte. Narissa, die Azruphel töten würde.
Das muss ein grausamer Traum sein, dachte Azruphel, die in Mordor schon von solcherlei Dingen gehört hatte.
"Du... du bist nicht hier," flüsterte sie leise und klammerte sich an diese Aussage, die in dieser dunklen Stunde als einzige noch Sinn ergab. "Das geschieht gar nicht... ich träume, und erwache bald, um mich den Schrecken des Tages zu stellen. Den Fängen Karnuzîrs. Aber... es ist gut so. Das ist mein Opfer. Damit du und Serelloth sicher sind. Es gab keine andere Möglichkeit, verstehst du?" Sie blickte in Narissas dunkle Augen, die sie unbarmherzig anstarrten. "Nein, natürlich verstehst du es nicht. Du bist ja gar nicht hier. Das ist nur die grausame Erinnerung an das, was hätte sein können... wäre nicht der Griff Mordors zu fest gewesen. Ich hätte wissen müssen, dass ich ihm niemals wirklich entkommen konnte. Und sieh nur, welches Leid ich durch mein selbstsüchtiges Verhalten über die gebracht hatte, von denen ich glaubte, sie wären meine Freunde. Ich habe... nichts als Schmerzen verursacht, Rissa... für dich, und für die Insel... und es tut mir so... endlos Leid."
Sie konnte nicht weitersprechen. Es war ihr egal, was geschehen würde. Dies war nur ein Traum. Wenn Narissa sie töten würde, würde sie nur erwachen. Also schob sie den Dolch mit ihrer Hand beiseite und wartete auf eine Reaktion, während ihre Augen vor unterdrückter Tränen zu brennen begannen.
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"Es tut dir... Leid."
Narissa ließ den Dolch fallen, und blinzelte ein paar mal rasch. Sie hatte mit tränenreichen Entschuldigungen gerechnet, mit einem Schauspiel, um sie zu überzeugen, aber nicht... damit.
"Ich bin nicht hier?", fragte sie dann leise. "Ich habe gerade vier Menschen getötet, und mein Onkel viele mehr, damit ich hier sein kann - denn ich muss genau hier sein."
Und in diesem Moment wusste sie, dass sich eigentlich nichts geändert hatte - sie würde Aerien immer lieben, egal was geschah. Sie musste nur herausfinden, ob es Aerien wirklich gab, oder nur Azruphel.
"Und du träumst auch nicht. Spürst du?" Sie versetzte Aerien mit der rechten Hand eine Ohrfeige, und ein Schaudern überlief sie, als sie für einen winzigen Augenblick ihre Haut berührte. "Du hast mich allein gelassen. Du hast mich zweifeln lassen, dass... es jemals Wirklichkeit war. Ich wollte dich hassen, aber ich konnte... konnte es nicht", sagte Narissa stockend, langsam. "Ich konnte Aerien Bereneth nicht hassen."
Sie blickte Azruphel fest in die grauen Augen. "Du träumst nicht, dies hier ist die Wirklichkeit - mit all ihren Schrecken. Und jetzt sag mir die Wahrheit. Gibt es Aerien wirklich? Oder nur Azruphel von Aglarêth, die im Dienst Mordors steht? Wer bist du?"
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"Ich bin Azruphel," sagte sie wahrheitsgemäß. "Das muss ich jetzt sein. Sonst wird er seine Drohungen wahr machen und dich und Serelloth töten und die Insel erneut mit Feuer überziehen. Ich muss mich damit abfinden, sein zu werden... für immer. Aerien war ein Traum... ich war naiv zu glauben, er könnte wahr sein. Aragorn hat mir diesen Namen gegeben, wusstest du das? Er hat an mich geglaubt. Es sollte die Rache für Míriel sein, die von ihrem Vetter den Namen Zimraphel erhielt, die Übersetzung ihres elbischen Namens ins Adûnâisch. Also schlug Aragorn vor, den Spieß umzukehren. Aus Azruphel würde Aerien werden. Und Bereneth? Das ist nur ein bedeutungsloser Name irgend eines uralten, längst ausgestorbenen Adelshauses aus Ithilien, den Beregond mir zur Tarnung gegeben hat. Oh Beregond... dein Misstrauen war von Anfang an gerechtfertigt. Und Damrod... was habe ich deiner Tochter nur angetan! Dieses Schicksal hab ich verdient."
Sie machte eine Pause. Narissa hatte den Dolch nicht wieder erhoben, doch Azruphels Wange brannte noch immer wie Feuer von der Ohrfeige. Das hatte sich echt angefühlt, aber... es konnte nicht wahr sein. Narissa konnte nicht hier sein.
Draußen hörte sie Karnuzîr schmerzerfüllt aufschreien. Ein weiterer Beweise für die Unwirklichkeit dieses Traumes. Ihr Cousin war viel zu gerissen, um sich einfach so erwischen zu lassen. Das war alles nichts weiter als Wunschdenken.
"Bitte," setzte sie wieder an, während Narissa sie schweigend betrachtete und unheilvoll drein blickte. "Bring es zu Ende. Ich will aufwachen. Das ist alles so unwirklich... Ich habe dich... ich meine, Rissa... viel zu tief verletzt, als dass sie hier sein könnte. Karnuzîr ist zu vorsichtig, und er hat zuviele Leute um sich herum. Das ist nur der letzte Funken der Hoffnung in mir, der sich aufbäumt, ehe er stirbt. Und je eher das geschicht, desto eher findet mein Schmerz ein Ende. Ich werde dieses Opfer auf mich nehmen... für dich. Damit du mich vergessen kannst und dein Leben in Frieden leben kannst. Das ist es wert... und deshalb muss ich jetzt Azruphel von Durthang sein. Ich habe mich selbst getäuscht, als ich mir gesagt hatte, ich könnte einfach so Aerien sein. Und wir beide haben dafür bezahlt..."
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Narissa hob den Dolch auf, den sie fallen gelassen hatte, und drehte ihn schweigend in der Hand. Dann rammte sie ihn mit einer raschen Bewegung die Klinge bis zum Griff in den Boden.
"Rissa. Das klingt schön." Sie ergriff Aeriens Hand, obwohl diese kurz vor ihr zurück zuckte. Irgendwo in ihr war sie noch immer wahnsinnig wütend auf Aerien, über das, was sie getan hatte. Doch das Gefühl des Verrats war verschwunden, und mit ihm jeglicher Hass. Aerien war gerade sichtlich nicht in der Lage zu lügen, und so glaubte Narissa ihr jedes Wort.
Sie packte Aeriens Hand fester, und zog sie mit einem Ruck auf die Füße.
"Du willst, dass ich es zu Ende bringe?" Aerien nickte wie im Traum, und Narissa schüttelte den Kopf. "Nein, das werde ich nicht. Es gibt keinen Ausweg - weder für dich noch für mich. Diese Zeit wurde uns gegeben, und ganz egal welche Schrecken sie birgt... es ist alles wert. Jeden Schmerz, jede Furcht."
Ihr Kopf schwirrte vor Gedanken und Gefühlen. Sie war gekommen, um sich an Karnuzîr zu rächen - nein, viel mehr an Aerien, wenn sie ehrlich war. Und nun, was Aerien gesagt hatte... Alles was sie getan hatte, hatte sie getan um Narissa und ihr Volk zu schützen. Sie war so weit gegangen, sich selbst aufzugeben, alles was sie geworden war, und Narissa glaubte, sie nie zuvor so geliebt zu haben wie jetzt. Jeder Gedanke an Rache war vergangen, und sie wollte Aerien retten - doch wie es aussah, wollte diese gar nicht gerettet werden, vor sich selbst.
"Du musst nicht Azruphel von Durthang sein", wisperte sie. "Mir genügt Aerien - einfach nur Aerien." Sie beugte sich vor, und küsste Aerien sanft auf die Lippen.
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Die Berührung war es, die endlich zu Azruphel durchdrang und ihr wurde klar, dass dies vielleicht doch kein Traum war. "Du bist wirklich hier," sagte sie atemlos nachdem sich ihre Lippen voneinander gelöst hatten.
"Natürlich bin ich das," antwortete Narissa ernst.
"Du kommst wirklich, um mich zu retten? Nach all dem, was ich..."
Narissa legte ihr einen Finger auf den Mund. "Schhh. Das war Karnuzîr, nicht du. Und wenn mich meine Ohren nicht täuschen, bekommt er von meinem Onkel gerade das, was er verdient. Willst du es dir ansehen?"
Doch da schreckte Azruphel zurück. "Nein," stieß sie hervor. "Nein, ich will ihn nicht sehen. Nicht jetzt. Jetzt und hier bist du die Einzige, die ich sehen will... Rissa. Wenn du bei mir bist, fühlt es sich richtig an, Aerien zu sein. Und wenn dir das genügt... dann genügt es mir auch."
Erneut küssten sie sich Dann sagte Aerien: "Er ist einfach so auf der Insel aufgetaucht, und er hatte Serelloth dabei. Und die beiden seltsamen Gestalten, die ich in Qafsah belauscht hatte. Sie heißen Rae und Breyyad. Und dann befahl er mir, dir diese furchtbaren Dinge anzutun, dich auf die Lichtung zu locken, und... tatenlos daneben zu stehen, während er alles zerstörte, was hätte sein können. Ich musste es tun, sonst hätte er Serelloth sofort getötet... Oh Serelloth! Sag mir, dass sie überlebt hat!"
Und als Narissa nickte, fiel Aerien ein schwerer Stein von Herzen. "Ich bin so froh wie lange nicht mehr. Du bist hier und zumindest ein Teil des Schreckens scheint zu verblassen. Ich frage mich, wie du das nur machst."
"So," entgegnete Narissa und küsste Aerien erneut.
Narissa-Teile by Eandril
Eandril:
Als sie das Zelt verließen, mussten Narissa und Aerien über zwei Leichen hinwegsteigen - die eine war der Mann, den Thorongil getötet hatte, und die andere der Wächter, der zuvor Narissas Wurfmesser zum Opfer gefallen war.
"Bevor du mich falsch verstehst, ich bin immer noch furchtbar wütend auf dich - so sehr ich dich auch liebe", sagte Narissa, während sie den Blick über das Lager schweifen ließ. Überall lagen Karnuzîrs Begleiter herum, fast alle, ohne sich seit Beginn ihres Angriffs gerührt zu haben, doch sie schliefen nicht länger. Ohne Aeriens Hand loszulassen, fuhr Narissa fort: "Du hast einfach aufgegeben. Nicht gekämpft. Hattest du vor, dich einfach von ihm zurück nach Mordor bringen zu lassen, ihn dich heiraten und ihn in dein Bett zu lassen?"
"Ich wollte... euch beschützen. Ich dachte, wenn ich mich opfere, könnt ihr alle... in Frieden weiterleben", erwiderte Aerien tonlos. "Ich dachte du würdest..."
"... es verstehen?", kam Narissa ihr zuvor. "Ach, Aerien. Glaubst du, ich würde ohne dich einfach weiterleben können... und wollen?" Sie spürte sich selbst ob ihrer Worte ein wenig erröten, und im blassen Licht der Sterne schien es Aerien ebenso zu gehen.
Aerien blickte zu Boden. "Ich dachte, es wäre mein Schicksal. Auf ewig Mordor zu dienen, ob ich es will oder nicht." Sie blickte hinauf zu den Sternen, und Narissa hatte sie nie zuvor so schön gefunden wie in diesem Moment - so schön, und gleichzeitig so verletzlich, wie sie Aerien nicht einmal nach ihrer Begegnung mit dem Nazgûl in Qafsah gesehen hatte. Und sie begriff erst langsam, wie schrecklich und lähmend der Gedanke an eine Rückkehr nach Mordor, in Karnuzîrs Händen, für Aerien gewesen sein musste.
"Ich glaube nicht an Schicksal", sagte Narissa leise, aber eindringlich. "Elyana hat mir gesagt, mein Schicksal wäre es, dem Bösen gegenüber zu treten... dass ich von irgendwelchen mächtigen Wesen auserwählt wäre, dagegen zu kämpfen. Und ich tue es, ich kämpfe gegen den Sultan und gegen Mordor. Aber nicht, weil jemand es mir vorherbestimmt hat, sondern weil ich es so will. Karnuzîr hätte vielleicht gesagt, dein Schicksal ist es, seine Frau zu werden und Mordor zu dienen."
"Das hat er gesagt", warf Aerien leise ein. "Er hat gesagt, es wäre meine Bestimmung, und ich sollte froh darüber sein."
"Und ich könnte sagen, dein Schicksal ist es, für immer an meiner Seite zu bleiben, und gemeinsam werden wir gegen den Schatten kämpfen und ihn besiegen", entgegnete Narissa. "Aber auch das ist Unsinn. Du musst tun, was du willst, und nicht was andere als dein Schicksal ansehen. Uns ist nichts vorherbestimmt, wir müssen selbst für unsere Zukunft kämpfen, dass sie so wird, wie wir sie uns vorstellen."
Einen Augenblick schwiegen beide, und sahen stumm zu den Sternen hinauf. Schließlich fragte Aerien: "Dann glaubst du nicht... dass die Valar über uns wachen? Dass sie unser Schicksal lenken, im Kampf gegen Schatten? Und dass es sie wirklich gibt?"
Narissa zuckte mit den Schultern. "Ich weiß, dass es die Valar gibt - es gibt in Mittelerde immer noch solche, die sie gesehen und mit ihnen gesprochen haben. Aber ich glaube nicht, dass sie uns lenken und unser Schicksal bestimmen. Sie sind nicht mehr in dieser Welt, und wir sind auf uns allein gestellt... Allein gegen die Schatten, die seit Anbeginn der Zeit über dieser Welt liegen." Sie blinzelte einige Male rasch, während sie stockend weitersprach: "Er versucht uns zu überwältigen, zu trennen, und... auf seine Seite zu ziehen, aber... er kriegt uns nicht. Ich... lasse es nicht zu, ich..."
Aerien hatte ihre Hand losgelassen, und nun spürte Narissa Finger auf ihren Wangen, die sanft Tränen wegwischten.
"Du weinst", flüsterte Aerien, und trotz allem spürte Narissa ihre Mundwinkel unwillkürlich zucken. "Tu' ich gar nicht", widersprach sie, zog Aerien dann an sich, vergrub ihr Gesicht in den seidigen schwarzen Haaren, und hielt sie fest.
"Ich könnte es nicht ertragen, wenn du... erneut..."
"Ich weiß", erwiderte Aerien leise, und erwiderte die Umarmung dabei ebenso fest. "Ich werde immer bei dir bleiben, wenigstens in Gedanken. Und mein Herz wird immer dir gehören, Rissa."
Als Narissa sich schließlich beruhigt, und die Tränen versiegt waren, löste sie die Umarmung, und Aerien blickte ihr fest in die Augen.
"Danke", sagte sie. "Dafür, dass du mich zurückgeholt hast - gleich zwei Mal."
"Es war mir eine Freude", erwiderte Narissa, und brachte ein ehrliches Lächeln zustande. "Ich habe doch gesagt, ohne dich könnte ich nicht einfach weiterleben, also... musste ich es versuchen."
Sie folgte Aeriens Blick, der in Richtung Westen gewandert war. Dort lehnte Thorongil an einem niedrigen Baum, und neben ihm lag Karnuzîr regungslos am Boden. Gemeinsam gingen Narissa und Aerien zu ihm, und Narissa fragte mit einem knappen Nicken zu Karnuzîr: "Ist er tot?"
Thorongil schüttelte den Kopf. "Nein - allerdings geht es ihm im Augenblick nicht besonders gut. Er hat mir einige interessante Dinge verraten. Zwei von Suladâns Leuten, Rae und Breyyad, hatten sich vom Rest der Gruppe getrennt um direkt zu Suladân zu reiten?" Der letzte Teil war eindeutig an Aerien gerichtet, die bestätigend nickte.
"Ja. Sie sprachen davon, dass der Krieg nicht gut liefe, und dass Suladân sie brauchen würde."
"Und sie wissen über uns Bescheid", meinte Thorongil nachdenklich, und blickte beide dann scharf an. "Was mit Karnuzîr geschieht, überlasse ich euch. Ich kann verstehen, wenn ihr ihn sterben sehen wollt, und würde euch nicht zurückhalten - doch lebendig kann er uns vielleicht von größerem Nutzen sein."
Bei dem Gedanken, Karnuzîr am Leben zu lassen, schien die Narbe auf Narissas Wange zu brennen. Er hatte ihr so viel Schmerz verursacht, körperlich wie seelisch, dass der Gedanke, ihn nicht für seine Taten zu töten, unerträglich schien.
"Er sollte für seine Taten büßen", sagte sie langsam. "Wir sollten ihn..."
"... am Leben lassen", fiel Aerien ihr ins Wort, und einen Augenblick zweifelte Narissa an dem, was sie gehört hatte.
"Du willst ihn... am Leben lassen?", fragte sie ungläubig. Sie war sich sicher gewesen, dass Aerien mit diesem Kapitel so schnell wie möglich abschließen und Karnuzîr tot sehen wollte. Aerien antwortete mit gequältem Gesichtsausdruck: "Ich will ihn ebenso gerne töten wie du, glaub mir. Aber... dein Onkel hat recht. Er könnte lebendig von großem Nutzen sein, mit allem was er weiß."
"Aber...", begann Narissa ein wenig hilflos. "Nach allem, was er getan hat?"
"Nach allem, was er getan hat", bestätigte Aerien. "Und ist es nicht eine größere Strafe für ihn, zu sehen wie wir ihn benutzen um einen Vorteil gegenüber seinen beiden Herren - Suladân und Sauron - zu erlangen, bevor er stirbt? Ist es nicht zu einfach, ihn jetzt schon zu töten?"
"Ich... wahrscheinlich", meinte Narissa widerstrebend. "Also schön, lassen wir ihn leben, bis er nicht mehr nützlich ist. Aber dann wird er sterben - langsam", schloss sie kalt, und Thorongil nickte. "Dann ist es beschlossen."
Sie hoben den bewusstlosen Karnuzîr auf eines der Pferde, die die Haradrim nun nicht mehr brauchen würden, und nahmen auch eines für Aerien mit, als sie sich zu ihren eigenen Pferden aufmachten.
Dort angekommen tätschelte Narissa Grauwind den Hals, und murmelte: "Sieh nur, wen ich mitgebracht habe." Die Stute schnaubte und stieß Aerien sanft mit der Schnauze an. Ein kurzes Grinsen ging über Aeriens Gesicht, als sie fragte: "Hast du gerade... mit einem Pferd gesprochen?"
Auch Narissa konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, und sie spürte wie eine tonnenschwere Last von ihrem Herzen abzufallen schien. Sie kraulte Grauwind hinter den Ohren, und erwiderte möglichst unschuldig: "Ganz sicher nicht. Das ist deine Spezialität."
Bevor Aerien etwas zurückgeben konnte, zog Thorongil ein längliches Bündel aus dem Gepäck auf dem Rücken seines Pferdes, und hielt es ihr entgegen. "Dein Schwert", sagte er. "Edrahil hat mich überzeugt, es mitzunehmen, denn er war davon überzeugt, dass du unschuldig bist, und es vielleicht brauchen könntest."
Aerien nahm das Bündel vorsichtig entgegen, und schlug das Leder, in das die in ihrer Hülle steckende Klinge zusätzlich eingewickelt war, zur Seite. Beim Anblick des Schwertes sagte Narissa aus einer Eingebung heraus: "Ich finde, du solltest es umbenennen. Nachtklinge passt nicht zu dir."
"Hm", machte Aerien, und betrachtete das Schwert nachdenklich. "Ich werde darüber nachdenken."
Nachdem sie sich auf die Pferde geschwungen hatten, schlug Thorongil den Weg nach Süden, und nicht zurück nach Westen ein. "Wohin reiten wir?", fragte Narissa, und ihr Onkel antwortete: "Es gibt ein Versteck, ganz in der Nähe von Ain Salah. Wir sollten es in ein, zwei Stunden erreichen können, und dort können wir uns ein wenig ausruhen, bevor wir uns auf den Rückweg machen."
"Was für ein Versteck?", fragte Aerien interessiert, und lenkte ihr Pferd zwischen Thorongil und Narissa. Der Herr des Turmes lächelte. "Du interessiert dich doch für die Geschichte der Dúnedain, nicht wahr? Dann wird der Ort dir gefallen..."
Narissa, Aerien, Thorongil und Karnuzîr in die Umgebung von Ain Salah...
Eandril:
Narissa, Qúsay, Valion und Edrahil mit dem Heer des Malikats von Ain Salah
Das letzte Mal, das Narissa in den fruchtbaren Ebenen, die der Harduin inmitten der trockenen Lande von Harad geschaffen hatte, gewesen war, war ihr noch lebhaft im Gedächtnis, als das Heer endlich die Steppen östlich von Ain Salah hinter sich ließ, und nach Norden in Richtung Qafsah abschwenkte. Hier hatten sie und ihr Onkel Aeriens Entführer eingeholt und Karnuzîr gefangen genommen. Sie erinnerte sich, wie Aerien dafür gesprochen hatte, Karnuzîr am Leben zu lassen. Und war es nicht genau so gekommen, wie Aerien gesagt hatte? Bevor Karnuzîr gestorben war, hatte er seinen Teil dazu beigetragen, Sauron zu schaden - wenn auch in etwas anderer Weise als Narissa erwartet hätte. Bei dem Gedanken, wie anders als sie sich jemals vorgestellt hatte alles gekommen war, musste sie lächeln.
"Ich glaube, seit Ain Salah war das das erste Lächeln, das ich von dir sehe", bemerkte Valion, der neben Narissa ritt. "Gute Erinnerungen?"
Narissa schüttelte den Kopf. "Davon habe ich hier nicht viele - und wenn überhaupt erinnern sie mich daran, dass ich Aerien vermisse." Sie gab sich einen Ruck und straffte sich innerlich. "Ach, tut mir Leid. Immer beklage ich mich nur, wie übel das Leben mir mitgespielt hat."
"Hm", machte Valion. "Nicht ganz zu unrecht, nach dem was du erzählt hast." Tatsächlich hatten sie nicht wenig Zeit gehabt, sich zu unterhalten - drei Tage war das Heer nun seit Ain Salah unterwegs gewesen, ohne dabei auf Feinde zu stoßen, trotz Edrahils düsterer Andeutungen. Dafür schlossen sich immer wieder Krieger der in der Umgebung ansässigen Fürsten und Stämme Qúsay an. Es war, als wären die Geschehnisse von Ain Salah ein Signal gewesen, das endlich die noch Unentschlossenen überzeugt hatte, welche Seite als Sieger aus diesem Krieg hervorgehen würde. Die Folge der vielen Neuankömmlinge war allerdings, dass sowohl Edrahil als auch Erchirion in der Regel beschäftigt waren. Eayan hatte sich seit seiner plötzlichen Ankunft zwei Abende zuvor ebenfalls nicht mehr blicken lassen.
"Jedenfalls bin ich froh, dass wir endlich den ganzen Staub fürs erste hinter uns gelassen haben", setzte Valion das Gespräch fort. "Ich habe in letzter Zeit mehr Sand geschluckt, als für einen Menschen gut sein kann."
"Freu dich nicht zu früh", erwiderte Narissa mit einem skeptischen Blick zum westlichen Horizont. Die Sonne war bereits tief gesunken, und der Himmel hatte eine bedrohliche, orangene Färbung angenommen. "Die Sandstürme ziehen manchmal weit nach Osten, und der Himmel sieht mir ganz danach aus als könnten wir einen bekommen."
"Großartig", brummte Valion. "Da glaubt man die Wüste hinter sich, und sie kommt einfach hinterher. Gerade kann ich es kaum erwarten, aus diesem Land wieder herauszukommen."
Narissa erwiderte nichts, sondern ließ stumm den Blick über die weite Ebene schweifen. Ihr Schweigen schien Valion zu verwundern. "Ich hätte erwartet, dass du Harad entweder verteidigst, oder mit zustimmst."
"Ich weiß selbst nicht wirklich, was ich empfinde", antwortete Narissa schließlich, und seufzte tief. "Fast mein ganzes Leben habe ich irgendwo in Harad verbracht. Und so viele schlechte Erinnerungen ich auch habe... hier ist auch alles Gute in meinem Leben passiert. Ich glaube... ach, ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob ich für immer hierbleiben, oder so schnell wie möglich davonlaufen möchte."
"Ich glaube, das geht uns allen manchmal so. Früher, als Kind, konnte ich es manches Mal kaum erwarten, selbst der Fürst vom Ethir zu sein, und an anderen Tagen wollte ich am liebsten weglaufen und irgendwo Abenteuer erleben."
Narissa musste lächeln. "Nun, das mit den Abenteuern hat ja schonmal geklappt. Und zum Fürsten vom Ethir machen wir dich auch noch wieder, du wirst schon sehen."
"Es sei denn, Edrahil lässt mich vorher ermorden wegen dieser Angelegenheit in Ain Salah." Valion verzog ein wenig das Gesicht. Narissa kam nicht zum antworten, denn mit einem Mal mischte sich eine neue Stimme in ihr Gespräch ein. "Edrahil wird schon bald andere Sorgen haben - was für alle in diesem Heer gilt." Es war Eayan, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war und sein Pferd an Narissas freie Seite gelenkt hatte. Narissa freute sich, ihn zu sehen, und schüttelte doch den Kopf. "Es ist kein Wunder, dass du dich mit Edrahil verstehst - ihr habt beide den gleichen Hang zu ominösen, düsteren Andeutungen."
Eayan grinste flüchtig. "Berufskrankheit, vermute ich. Was ich damit meine ist: Qúsays Marsch auf Qafsah ist nicht unbemerkt geblieben, und Suladân hat offenbar beschlossen, zu handeln. Nicht weit vor euch liegt sein Heer auf der Lauer um euch in einen Hinterhalt zu locken und zu vernichten, bevor ihr Qafsah überhaupt erreicht."
Narissa wechselte einen Blick mit Valion. Eayans Neuigkeit überraschte sie beide nicht besonders - Narissa hatte nie wirklich damit gerechnet, dass Suladân sie kampflos bis zu seiner Hauptstadt marschieren lassen würde.
"Wir müssen Qúsay warnen", sagte sie, und Eayan nickte. "Die Falle ist geschickt gelegt, und ich befürchte, dass seine Kundschafter sie nicht entdecken würden. Seine Wachen wollten mich nicht zu ihm durchlassen, deshalb habe ich nach euch oder Edrahil gesucht."
Weitere Worte waren nicht notwendig, also trieben sie ihre Pferde an bis sie weiter vorne im Heerzug bei Qúsay und den anderen Würdenträgern, die von ihren Leibwächtern umgeben waren, angekommen waren. Da sowohl Narissa als auch Valion ihnen bekannt waren, wurden sie ohne Probleme durchgelassen, und Narissa zügelte Grauwind direkt neben Qúsay, der gerade ins Gespräch mit dem Fürsten eines der Stämme, die sich ihm zuletzt angeschlossen hatten, vertieft war.
"Ich bitte um Verzeihung, Malik, aber ich habe Neuigkeiten die keinen Aufschub dulden", sagte Narissa so förmlich wie möglich. Qúsay warf ihr einen einzigen forschenden Blick zu, und entließ seinen Gesprächspartner mit einer raschen Entschuldigung. "Was ist es?"
Narissa machte eine Handbewegung in Richtung Eayan, der ein wenig abseits innerhalb des Rings aus Leibwächtern auf seinem Pferd saß und Qúsay aufmerksam beobachtete. "Suladân stellt uns eine Falle. Er will uns vernichten, bevor wir Qafsah erreichen." Qúsay hatte ihre Geste verstanden, und winkte Eayan näher. "Berichtet", befahl er knapp und angespannt.
"Nur ein paar Wegstunden nördlich von hier hat sich die Wüste über die Straße hinweg ausgebreitet, und die Straße führt dort zwischen zwei hohen Dünen hindurch. Dort wird Suladâns Vorhut euch in einen Kampf verwickeln, und wenn der Hauptteil eures Heeres zwischen den Dünen ist, werden Suladâns Männer von beiden Seiten eine Sandlawine auslösen. In der Verwirrung werden sie euch von allen Seiten angreifen und vernichten."
Qúsay strich sich mit einer Hand über das Kinn, und blickte dann nach Westen, wo sich der Himmel inzwischen vollständig in einem bedrohlichen Dunkelorange gefärbt hatte. Sein Gesicht verzog sich zu einem gefährlichen Lächeln, und er sagte: "Ich danke euch für die Warnung. Suladân wird eines bald erfahren: Eine Falle ist keine Falle mehr, wenn sie erkannt wurde... sondern eine Gelegenheit."
Fine:
Aus der Sicht Eayans, des Schattenfalken
Ein vergessener Poet aus den längst vergangenen Tagen, als Harad ein gewaltiges, grünes Königreich gewesen und anstelle der großen Wüste in seinem Herzen eine fruchtbare Graslandschaft gelegen war, hatte einst Worte in Stein meißeln lassen, die vielen Gelehrten in den Bibliotheken und Archiven der Herrscher des Südens als Grundstein der haradischen Kultur ansehen.
"Wo Wasser ist, ist auch Blut. Ein Fluss gleicht einer Vene, und ein See einem schlagenden Herzen. Wenn wir unser Land erhalten wollen, müssen wir zum Wasser blicken."
Eayan, der diese Worte gut kannte, verzog das Gesicht, als sie ihm einfielen, während er seine lange, gebogene Dolchklinge aus der Kehle seines letzten verbliebenen Feindes zog. Grimmig blickte er nach Süden, wo eine aufgewirbelte Staubwolke anzeigte, wohin der Rest des Überfalltrupps geflohen war, nachdem ihre Aufgabe abgeschlossen war. Eayan war zu spät eingetroffen, um sie an ihrem Vorhaben zu hindern, und er verfluchte sich dafür. Er hätte es kommen sehen müssen.
Feuchtigkeit umspülte seine Füße und er spuckte verächtlich aus. Der Großteil der Wasservorräte des Malikatsheeres war vergossen worden und das wertvolle Nass versickerte nun zwischen den Sanden der Harduin-Ebene. Auch andere Vorräte waren gestohlen oder vernichtet worden.
"Sie müssen gewusst haben, dass wir ihren Hinterhalt bemerkt haben," sagte Edrahils ruhige Stimme. Eayan, der den Gondorer mittlerweile kannte, vernahm keinen Vorwurf in Edrahils Stimme, nur Bedauern. Dennoch gab er sich selbst die Schuld für das Fiasko, das Qúsays Heer ereilt hatte. Dabei hatte alles so vielversprechend ausgesehen. Sie hatten die Reiterei des Malikats in zwei Schwadronen aufgeteilt, die die hohen Dünen zu beiden Seiten der Straße umrunden und den im Hinterhalt lauernden Truppen des Sultanats in den Rücken fallen sollten. Dann würde das Heer Qúsays durch die sich öffnenden Lücke vorstoßen und den Feind in die Flucht schlagen.
Anfangs war alles genau nach Plan verlaufen. Eayan, der sich den berittenen Gondorern an der südlichen Flanke angeschlossen hatte, aber am eigentlichen Angriff nicht teilgenommen hatte, hatte beobachtet, wie es den Reitern gelungen war, die Dünen ungesehen zu umrunden und mit Schwung auf die feindlichen Stellungen loszupreschen. Narissa war gemeinsam mit Edrahil etwas abseits vom Geschehen geblieben; Valion hingegen hatte sich gemeinsam mit seiner Zwillingsschwester und dem jungen Prinzen von Dol Amroth an dem Angriff beteiligt, wie auch schon in der letzten Schlacht. Doch als die Feinde sich umgedreht und dem Ansturm mit Speeren begegnet waren, war anstelle eines raschen Sieges ein erbitteter Kampf entbrannt. Und noch etwas war Eayan aufgefallen: Er sah nirgendwo feindliche Reiter. Das Heer Sûladans, das zu beiden Seiten der Straße in den Dünen versteckt lag, bestand ausschließlich aus Kriegern, die zu Fuß kämpften; von Männern auf Pferden, Kamelen oder gar Mûmakîl war nichts zu sehen. Eine finstere Vorahnung überkam Eayan in diesem Moment, und er hatte sein Pferd gewendet, und war zur Rückseite des Hauptheeres des Malikats geeilt.
Qúsay war kein unvorsichtiger Narr. Selbstverständlich hatte er seinen Vorratstross nicht unbewacht gelassen. Doch in Erwartung eines schnellen Sieges waren die Wachen bei den mit Proviant beladenen Karren, die nur langsam voran kamen, bei guter Laune und unvorsichtig. Eayan, der wie der Wind herangeprescht kam, traf zu spät ein. Die feindliche Reiterei hatte einen großen Bogen um die Flanken des Malikatsheeres geschlagen und war von Südwesten über die Verteidiger der Vorräte hergefallen. Der Widerstand war rasch niedergeschlagen und der Feind plünderte alles was greifbar war und vergoss oder vernichtete jenes, was sich nicht fortschleppen ließ. Als Eayan sich in den Kampf stürzte, waren viele der Reiter Sûladans schon dabei, mit ihrer Beute zu flüchten. Ihr Werk war getan und der Schaden war angerichtet worden. Eayan konnte nicht mehr tun als drei übermütige Haradrim daran zu hindern, das letzte große Wasserfass umzustürzen, indem er sie innerhalb einiger weniger Herzschläge einen nach dem anderen niederstreckte.
"So scheint es wohl," sagte Eayan frustriert, als Edrahil neben ihm aus dem Sattel glitt. "Wir haben Sûladan unterschätzt, und haben teuer für diese Torheit bezahlt."
"Nun, wenn ich mich nicht sehr irre, liegt der Harduin-Fluss nicht weit von hier," sagte Edrahil ruhig. "Durst werden wir zumindest nicht leiden müssen."
"Das mag sein, doch es verbleiben kaum Trinkschläuche und Fässer, um das Wasser aufzubewahren," erwiderte Eayan. "Ein Rückzug nach Ain Salah wird uns nun kaum möglich sein. Und ohne große Nahrungsvorräte bleibt für eine langwierige Belagerung Qafsahs kaum Zeit."
"Hm," überlegte Edrahil. "Aber ob Qúsay einen riskanten Sturmangriff auf die Mauern in Erwägung zieht? Ich bezweifle es. Nach allem, was ich gesehen habe, ist selbst die laufende Schlacht noch nicht gewonnen. Und wer weiß, wieviele Männer noch ihr Leben lassen müssen, ehe wir gen Qafsah vorrücken können."
Eayan schwieg. Er erwog bereits, sich auf eigene Faust in die Stadt Sûladans zu schleichen und Qúsays Krieger hineinzulassen, ehe ihm einfiel, dass die großen Tore der Stadt sich nur von zwei oder mehr Männern gemeinsam öffnen ließen, so schwer waren die eisernen Fallgatter, die den Zugang verhinderten.
Die Schlacht hatte in den frühen Morgenstunden begonnen, und als die Sonne am Mittag ihren höchsten Stand erreicht hatte, endete das Blutvergießen. Sûladans Kriegern war ein geordneter Rückzug gelungen, indem sie die vorbereiten Sandlawinen entlang der Straße auslösten und in dem Chaos des aufgewirbelten Staubs durch die sandigen Dünen in Richtung Qafsahs abmarschierten. Pferde und Kamele scheuten, als der Sand mit lautem Getöse abrutschte, und einige Reiter sanken ein, als sich die Dünen unter ihren Reittieren auflösten. Qúsay, der die nördliche Flanke persönlich in die Schlacht geführt hatte, gelang es, einen Teil seiner Reiter zusammenzuhalten, doch nach einer kurzen Verfolgung der Flüchtenden ließ er sie wieder anhalten. Sie waren zu wenige, um das Heer Sûladans ernsthaft zu bedrohen, denn immer wieder hatten die in einigermaßen ordentlichen Reihen marschierenden Speerträger kehrt gemacht, um Qúsays heranstürmenden Reitern entgegenzutreten. Es war keine wilde Flucht; Sûladans Heer war nicht gebrochen worden. Qúsays Krieger hatten sich den Weg nach Qafsah freigekämpft, aber der Preis war hoch gewesen.
"Das ist eine ziemliche Zwickmühle," sagte Valion, als er einige Zeit nach der Schlacht zu Eayan und Edrahil stieß und von den Verlusten der Vorräte erfuhr. Narissa, die anfangs noch gut gelaunt gewirkt hatte, verzog ebenfalls das Gesicht. Doch Eayan glaubte, der jungen Frau anzusehen, dass sich ein Gedanke in ihrem Kopf zu bilden begann, denn sie war ungewöhnlich still und fiel, so untypisch es auch für sie war, niemandem ins Wort.
"Wir können weder zurück nach Ain Salah reiten, wo nur Wüste und Durst auf uns warten, noch in aller Ruhe Qafsah einschließen und belagern," fuhr Valion fort. "Und wenn wir nicht diesen Fluss zur Linken hätten, müssten wir wohl schon ab morgen mit ständigem Durst leben."
"Nun, noch bleiben uns Möglichkeiten," sagte Edrahil. "Es sind nicht viele, aber geschlagen sind wir noch nicht."
"Ein Sturmangriff ist zum Scheitern verurteilt," befand Eayan. Er kannte Qafsahs Mauern und wusste, dass sie beinahe so stark wie die númenorischen Wälle Umbars waren. "Am Fluss wachsen zwar einige Bäume, aber um ausreichend Belagerungswaffen zu bauen, gibt es bei Weitem nicht genügend Holz. Ganz zu schweigen davon, dass das Heer abgesehen von Wasser nur noch über einen kleinen Rest Vorräte verfügt, und ich mir sicher bin, dass die Lagerhallen in Qafsah gut gefüllt sein dürften."
"Ein Rückmarsch entlang des Flusses wäre eventuell denkbar," meinte Edrahil. "Doch da kämen wir äußerst langsam voran, so abseits der Straßen."
"Und wären leichte Beute für Sûladans Reiter," fügte Valion hinzu.
Sie verfielen in nachdenkliches Schweigen. Eayan musterte Narissa, die schließlich den Kopf hob und dem Blick des Schattenfalken begegnete. Er sah die Entschlossenheit in ihren grünen Augen aufleuchten und wusste, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte.
"Ich habe einen Vorschlag," sagte Narissa.
Eandril:
"Einen Vorschlag?", fragte Edrahil, und Narissa glaubte einen Hauch von Spott in seiner Stimme zu hören. "Nicht zufällig eine wagemutige Ein-Frau-Mission, die Qúsays Heer die Tore öffnen soll?"
"So ähnlich", erwiderte Narissa. "Allerdings wären mein Ziel nicht die Tore, sondern Suladân selbst."
Edrahil seufzte. "Ich verstehe, dass das wichtig für dich ist, aber Rache..."
"Es geht mir nicht um Rache!", fiel Narissa ihm ins Wort. "Aber ohne Suladâns Einfluss wird Qafsah sich mit Sicherheit ergeben. Die Menschen dort sind nicht böse, sie werden nur falsch geführt. Suladân ist das einzige, was zwischen uns und dem Sieg steht."
Edrahil fixierte sie nur schweigend, und sofort begann Narissa selbst an ihren Worten zu zweifeln. Andererseits - ob nun Rache für ihre Mutter, für Yaran, für ihren Großvater, für... alle, die unter Suladâns Herrschaft gelitten hatten, ihr eigentliches Ziel war, war doch bedeutungslos.
Mit einem Räuspern brach Valion die unbehagliche Stille. "Aber... Narissa, wie willst du überhaupt nach Qafsah hineinkommen?"
"Es gibt einen Tunnel, der von der Oase vor der Stadt in die Stadt hinein führt. Und nicht nur in die Stadt sondern direkt in den Palast! Und ab dort komme ich zurecht, genau dafür bin ich ausgebildet."
Valion hob die Augenbrauen. "Das klingt doch vielversprechend... aber eigentlich gibt es doch keinen Grund, warum du alleine gehen solltest." Er legte die Rechte auf einen seiner Schwertgriffe.
"Es gibt einen Haken an der Sache", merkte Eayan, der bislang geschwiegen hatte, leise an. "Oder besser gesagt: Mehrere Haken."
"Aber nichts was mich aufhalten würde", wehrte Narissa ab. "Ich..." Edrahil hob die Hand, und gegen ihren Willen verstummte Narissa. "Was für Haken?"
"Zum einen ist die Quelle, aus der diese Information stammt, das Gegenteil von dem was ich vertrauenswürdig nennen würde", erklärte Eayan. "Wir wissen also nicht sicher, ob dieser Tunnel tatsächlich existiert. Wenn er denn tatsächlich existiert: Angeblich dient er der Wasserversorgung der Stadt, das heißt..."
"... er beginnt unter Wasser und ist mit Wasser gefüllt", beendete Edrahil, und verzog das Gesicht. "Ich bin sicher, du hast nur vergessen, dieses unbedeutende Detail zu erwähnen", fügte er an Narissa gewandt hinzu.
"Du musst ja nicht hindurch schwimmen!", wehrte Narissa ein wenig trotzig ab. Das Gespräch verlief ganz und gar nicht in ihrem Sinne. Sie hatte Zuspruch dafür erwartet, dass sie diesen Krieg mit einem einzigen Schwertstreich - oder Dolchstoß - beenden könnte, und sie hatte erst Recht nicht erwartet, dass Eayan ihr in dieser Weise in den Rücken fallen würde. Eayan, der von allen Anwesenden am Besten wissen musste, wozu sie fähig war. In diesem Moment wünschte sie mehr als zuvor, Aerien wäre hier. "Ich tue es aus freien Stücken, und zwar alleine. Egal, wie gefährlich es ist!" Sie sah Valion leicht zusammenzucken, und er wirkte ein wenig verletzt. "Ich bringe nur mich selbst in Gefahr, von daher kann euch allen auch egal sein, wie riskant es sein mag."
Edrahil schüttelte den Kopf. "Nach allem, was du erlebt und getan hast, hätte ich ein wenig mehr Weisheit erwartet, aber dein Hass auf Suladân blendet dich. Niemandem hier ist dein Schicksal gleichgültig. Das Risiko ist es nicht wert, und ich werde dafür sorgen, dass du keine Möglichkeit erhältst, dein Leben wegzuwerfen." Seine Augen funkelten gefährlich, und unwillkürlich machte Narissa einen halben Schritt zurück.
"Langsam, Edrahil", warf Eayan ein, beide Hände mit den Handflächen nach vorne erhoben. "Ich bin zwar der Meinung, dass Narissa die Sache ein wenig zu sehr vereinfacht hat - aus Gründen, die uns allen klar sein dürften - aber das bedeutet nicht, dass ich das Risiko für zu groß halte."
Alle drei wandten sich überrascht dem Schattenfalken zu, und er zuckte mit den Schultern. "Ist es so viel gefährlicher, als in Suladâns Gefängnis einzubrechen? Das Königssymbol von Kerma einem untoten König zu entringen? Nach Mordor zu reisen und aus Barad-Dûr selbst den wertvollsten Gefangenen des Dunklen Herrschers zu befreien? Oder, Edrahil, in ein fremdes Land im fernen Süden zu reisen, mit einem berüchtigten Mörder zur Gesellschaft und die Wiederauferstehung eines dunklen Königreichs zu vereiteln? Alles, was wir tun, ist gefährlich. Jeder von uns ist in der Lage, selbst über sein Schicksal zu entscheiden. Nur eines, Narissa, das du dir gut überlegen solltest: Ist das Risiko es wert, Aerien niemals wiederzusehen? Überlege es dir gut. Und überlege dir gut, warum du dieses Risiko eingehen willst."
Narissa blickte stumm zu Boden, und auch Valion und Edrahil schwiegen.
"Vielleicht... solltet ihr diese Entscheidung vertagen", schlug schließlich Valion vor. "Soweit ich weiß, haben wir noch mindestens einen Tag bis Qafsah vor uns. Auf dem Weg sollten alle Zeit haben, in Ruhe über die Sache nachzudenken."
"Valion vom Ethir gibt mir den Rat, nachzudenken." Edrahil schien seine eigenen Worte kaum glauben zu können. "Man lernt niemals aus, solange man auch lebt..." Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging davon.
Valion zuckte mit den Schultern. "Ich nehme das mal als Kompliment." Er lächelte schwach, und trotz aller Sorgen spürte Narissa auch ihre eigenen Mundwinkel zucken. Eayan seufzte nur. "Du hast bis morgen Zeit, eine Entscheidung zu treffen." Damit ging auch er davon und ließ Valion und Narissa allein.
Sofort verschwand jede Spur des Lächelns wieder von Valions Gesicht. "Hör zu, Narissa... ich meinte es ernst als ich gesagt habe, dass Valirë und ich dir zur Seite stehen werden. Wenn du dich dafür entscheidest, durch diesen Tunnel zu gehen - wir kommen mit dir."
"Ach... ich weiß. Ich weiß nicht, auf welche Weise ich mir eure Freundschaft verdient habe, aber..." Narissa ließ ein wenig den Kopf hängen, alle Entschlossenheit mit einem Mal wie weggeblasen. Sie ließ den Blick über den zerstörten Vorratstross schweifen, bevor sie weitersprach. "Ihr seid Krieger, Valion. Was ich vorhabe geht nur mit Heimlichkeit. Leise und unauffällig."
"Ich kann leise und unauffällig sein", protestierte Valion, schüttelte dann aber lächelnd den Kopf. "Nein, ich verstehe was du meinst. Mir ist nur nicht wohl dabei, dich vollkommen alleine durch einen wassergefüllten Tunnel mitten in das Herz des Feindes tauchen zu lassen. Niemand sollte so etwas alleine tun müssen. Aber vielleicht kann Eayan dich begleiten? Er scheint doch gut für solche Dinge geeignet zu sein."
"Vielleicht...", sagte Narissa zögerlich. Sie straffte sich, und klopfte Valion auf die Schulter. "Komm, das Heer scheint weiterzuziehen. Ich will Edrahil nicht noch mehr Grund geben mir zu grollen. Außerdem hätte ich eine Idee, wie ihr mir auch helfen könntet, ohne durch den Tunnel zu schwimmen..."
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