Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad
Die Harduin-Ebene
Fine:
Narissa, Aerien und Serelloth aus Qafsah
Serelloth lag wie tot am Ufer der kleinen Pfütze, während Narissa mit finsterem Blick hinter einem Dornbusch hervorspähte und zurück in die Richtung aus der sie gekommen waren starrte. Und Aerien stand vor einer Entscheidung. Sie sah, dass ihre beiden Begleiterinnen Trost und gutes Zureden brauchten, doch Aerien war allein und konnte nur zu einer der beiden gehen. Hin- und hergerissen saß sie am unteren Rand der kleinen Senke, in die sie sich geschleppt hatten, und wusste nicht, was sie tun sollte. Die Wunde an ihrem Bein hatte endlich aufgehört zu bluten, doch der pulsierende Schmerz, der aus dem Schnitt unterhalb ihrer Brust drang war stetig stärker geworden und nahm ihr die Konzentration und die Fähigkeit, klare Gedanken zu fassen. Sie spürte förmlich, wie ihr die Zeit davonlief. Sie zwang sich zu einer Entscheidung und stemmte sich mühsam auf die Beine. Narissa nahm die Bewegung wahr und drehte den Kopf in Aeriens Richtung, einen schwer zu deutenden Ausdruck auf dem Gesicht. Aerien formte mit den Lippen die Worte Ich bin gleich bei dir, und schleppte sich dann in Serelloths Richtung. Doch Narissa wandte sich ab und Aerien sah die Enttäuschung, die für einen kurzen Augenblick über das Gesicht ihrer Freundin huschte, und ihr Herz sank. Die Entscheidung war gefallen.
"Serelloth," wisperte sie und strich vorsichtig über den Rücken des Mädchens, das sich starr vor Trauer zusammengerollt hatte. Und als Serelloth die Berührung spürte kam Bewegung in sie. Ehe Aerien reagieren konnte hatte die Waldläuferin sich in ihre Arme gepresst und barg ihr Gesicht an Aeriens Schulter. Aerien setzte sich vorsichtig und nahm Serelloth tröstlich in den Arm, die nun zu schluchzen begann. Es war eine völlig neue Erfahrung für Aerien, die nie mit solchen Emotionen konfrontiert geworden war, doch offenbar genügte es, dass sie für Serelloth einfach nur da war und das Mädchen im Arm hielt. Die Tränen flossen und flossen, bis Aerien glaubte, dass sich bald ein zweiter Teich bilden würde.
"Schsch," machte sie und strich Serelloth sachte durchs Haar. "Du musst dich wieder beruhigen." Sie hatte Serelloth bisher immer fröhlich, abenteuerlustig, mutig und aufgeweckt erlebt, doch nun zeigte sich eine ganz andere Seite an Damrods Tochter - eine verletzliche und tieftraurige Seite, die so gar nicht zu dem Bild passte, das Aerien zuvor von ihr hatte. "Wir sind jetzt in Sicherheit," versuchte sie weiter, Serelloth zu beruhigen, deren Tränen tatsächlich zu versiegen schienen. Die Waldläuferin hatte den Kopf in Aeriens Schoß gelegt und ließ zu, dass Aerien sie sanft am Kopf streichelte.
"E-Elendar," stotterte sie und ihre Augen wurden wieder feucht.
"Er ist jetzt an einem besseren Ort," sagte Aerien leise.
"Warum musste er sterben?" fragte Serelloth verbittert.
Aerien schluckte. Darauf hatte sie keine Antwort. "Narissa sagte, er hat tapfer gekämpft."
"Narissa," wiederholte Serelloth, und unterdrückte Wut flackerte in ihrem Blick auf. "Sprich nicht von ihr. Sie ist... verantwortlich."
"Nicht doch," warf Aerien ein, aber Serelloth schien in Fahrt zu geraten.
"Wir sind nur ihretwegen hier," giftete sie und ihre Stimme wurde lauter. "Sie hat uns in dieses Chaos geführt!"
Narissa war das Geschrei natürlich nicht entgangen, und sie kam herüber. Serelloth sprang auf und tippte ihr wütend mit dem Finger vor die Brust. "Du bist schuld an Elendars Tod!" rief sie aufgebracht.
"Serelloth, ich..." begann Narissa mit schuldbewusster Stimme, doch das Mädchen ließ sie nicht ausreden.
"Du hast ihn getötet!" schrie Serelloth, nun völlig außer sich.
"Nein, das war Abel," warf Narissa ein.
"Und Narissa hat ihn dafür getötet," wies Aerien auf Abels gerechtes Schicksal hin.
Serelloth akzeptierte jedoch keine Ausreden. "Du weißt, dass ich recht habe," zischte sie und schubste Narissa grob weg, die in den warmen Sand stürzte. "Ich muss... ich kann sie nicht mehr sehen," stieß Serelloth schwer atmend hervor und schnappte sich ihren Bogen. "Ich will sie nicht mehr sehen."
"Serelloth, so warte doch!" rief Aerien und stolperte hinter dem Mädchen her. "Wo willst du denn hin?"
"Weg," war die einzige Antwort die Serelloth ihr gab, ehe sie in Richtung des Flusses davonrannte.
Aerien brach erneut in die Knie und sofort war Narissa bei ihr und half ihr auf, zog sie zurück in die Senke. Arm in Arm sanken sie erschöpft neben dem Tümpel in den Sand. Narissa sprach kein Wort, doch Aerien konnte deutlich sehen, dass sie sich die Schuld an all dem gab.
"Elendar und Serelloth kannten die Gefahr," versuchte sie es dennoch mit Trost. "Sie sind dir trotzdem gefolgt."
"Ich hätte auf meinen Instinkt hören sollen, und allein gehen sollen," stieß Narissa hervor. "Ihr drei hättet beim Silbernen Bogen bleiben sollen."
"Du wärst doch alleine nicht weit gekommen," warf Aerien ein.
Narissa schüttelte den Kopf. "Ich hätte einen Weg gefunden. Einen Weg, bei dem niemand durch meine Taten in Gefahr gebracht wird. Bei dem niemand stirbt."
"Du weißt, dass das nicht stimmt," sagte Aerien leise. "Und du weißt, dass ich dir gefolgt wäre, wenn du es geschafft hättest, heimlich aus der Vulkanburg zu fliehen."
Daraufhin blieb Narissa einen langen Moment stumm und atmete hörbar ein- und aus. "Ich weiß," gab sie schließlich zu. "Und... ich bin froh, dass du hier bist."
Erneut folgte ein langer Moment des Schweigens. In Aerien tobten widerstreitende Gefühle. Hauptsächlich war sie froh, noch am Leben zu sein - und dass Narissa nichts zugestoßen war. Sie machte sich Sorgen um Serelloth, und hoffte, das Mädchen würde nicht versuchen, etwas Dummes zu tun. Und dann gab es da ein großes Thema, das wie eine dicke Wolke in der Luft über den beiden jungen Frauen stand, während die Sonne langsam in Richtung des westlichen Horizonts wanderte. Doch noch wagte Aerien nicht, darüber zu sprechen. Sie genoss es, an Narissas Brust gelehnt dazuliegen und ihren Arm um sich zu spüren. Es half ihr, die Schmerzen zu verdrängen.
"Das mit deiner Mutter tut mir ... so sehr leid," sagte sie schließlich, so sanft sie konnte. "Ich kann mir nicht vorstellen wie es sein muss, ein Elternteil zu verlieren - schon gar nicht auf diese Art und Weise."
"Sie hat all die Jahre auf mich gewartet," flüsterte Narissa. "Nur, um mich noch ein einziges Mal zu sehen, bevor sie... geht."
"Ich weiß, dass das vielleicht kein großer Trost ist... aber ich bin mir sicher, es geht ihr besser, dort wo sie jetzt ist," sagte Aerien langsam und bedacht.
Narissa schniefte verdächtig und nickte. "Es ist ein Trost," bestätigte sie, klang aber dennoch nicht wirklich glücklich.
Als Aerien Narissas Hand spürte, die vorsichtig über ihre schwarzen Haare tastete, sie sachte beiseite strich und schließlich an Aeriens Wange verharrte wurde ihr bewusst, dass sie noch immer keine klaren Gedanken über die Sache gefasst hatte. Und als Narissas Gesicht vor ihrem eigenen erschien, mit einer ungestellten Frage in den Augen, senkte Aerien traurig den Blick.
"Was ist los?" fragte Narissa leise, mit Sorge in der Stimme.
"Ich..." begann Aerien, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken.
"Sag es mir," forderte Narissa sanft. "Was auch immer es ist." Ihr Gesicht war jetzt ganz nahe.
Aerien biss sich auf die Unterlippe. Sie spürte deutlich, was ihr Herz ihr sagte, aber Angst, Verstand und Vorsicht brachten alle gute Argumente dagegen vor. Narissa schien ihre Anspannung zu spüren und strich ihr mit der Hand über die Wange; abwartend, geduldig, aber dennoch erwartungsvoll.
"Es ist... diese ganze Sache," begann Aerien. "Ich weiß nicht, wann es angefangen hat. Du... du weißt ja, ich habe in solchen Dingen keine Erfahrung. Ich... weiß einfach nicht mehr, was richtig und was falsch ist."
"Richtig oder falsch?" wiederholte Narissa fragend. "Denkst du, es geht hierbei um richtig oder falsch?"
"Ich... weiß es nicht," gab Aerien zu.
"Wenn es sich für dich nicht richtig anfühlt, dann hättest du etwas sagen sollen, als ich dich geküsst habe," stellte Narissa klar. "Ich dachte eigentlich, inzwischen sollte klar sein, wo wir stehen."
"Klar? Überhaupt nichts ist klar!" sagte Aerien etwas zu heftig und rückte ein Stück von Narissa ab, löste sich aus ihrer Umarmung. Der Blick, den Narissa ihr zuwarf riss eine tiefe, blutende Wunde in Aeriens Herz.
Narissa zog die Augenbrauen zusammen, ein deutliches Zeichen für Verärgerung. "Ich verstehe dich nicht, Aerien," sagte sie und stand auf. Sie blickte mit einem seltsamen Gesichtsausdruck auf Aerien herab. "Du solltest wissen, was ich fühle. Deutlicher kann ich nicht werden. Wenn du das nicht willst - wenn du es wegwerfen willst - dann tu es. Aber tu es bewusst. Entscheide dich. Ich werde warten - aber nicht ewig." Damit stand sie auf und kehrte wieder zu ihrer Position am Rand des Gebüsches zurück. "Wenn du einigermaßen ausgeruht bist, brechen wir auf," sagte sie noch, ehe sie wieder in einen Zustand der brütenden Nachdenklichkeit verfiel.
Aerien sackte in sich zusammen. Alles war schief gelaufen. Sie hätte den Mund halten sollen und es einfach geschehen lassen sollen, aber nein, sie hatte ja unbedingt darüber reden müssen - und alles kaputt gemacht. Narissa hatte sie vor eine eindeutige Wahl gestellt, doch Aerien sah sich nicht imstande, diese in ihrem jetztigen Zustand zu treffen. Sie wusste nicht, ob sie jemals soweit sein würde. Sie umklammerte ihre pochende Wunde und wartete darauf, dass der Schmerz nachließ - sowohl der körperliche, als auch der seelische.
Und so fand Níthrar sie schließlich, der ihre Pferde mit sich führte. Von Serelloth war jedoch nichts zu sehen - sie war ganz offensichtlich verschwunden. Narissa und Aerien fragten nicht, wie Nithrar sie gefunden und von den Geschehnissen erfahren hatte sondern ließen sich in den Sattel helfen und wiesen ihre Pferde einfach an, dem Elben zu folgen. Aerien wagte es nicht, Narissa auch nur anzusehen. Auf dem Weg zur Oase der Heimatlosen hielt sie die Augen fest auf den Boden gerichtet und war froh, dass die Heilerin der Heimatlosen, die sich um sie kümmerte, ein eigenes Zelt besaß, in dem Platz für Aerien war während sie behandelt wurde. Ihre Beinverletzung war relativ simpel zu verarzten und wurde rasch genäht, doch die Wunde an ihrem Unterleib schien schlimmer zu sein, weshalb die Heilerin ihr anbot, sie mit einem besonderen Duftstoff zu betäuben, sodass sie von der Arbeit der Heilerin an ihrem Inneren nichts mitbekam. Aerien stimmte dankbar zu und empfing den Schlaf und das Vergessen mit offenen Armen.
Eandril:
Der nächste Morgen kam klar und noch angenehm kühl, doch Narissa wusste dass es heiß werden würde, sobald die Sonne stieg. Sie hatte in der Nacht - oder was davon übrig gewesen war - kaum geschlafen. Sobald die Heilerin ihre Arbeit beendet hatte, hatte sie sich neben Aerien gesetzt und eine zeitlang ihr schlafendes Gesicht betrachtet. Alle Wut, die sie am gestrigen Abend verspürt hatte, war verschwunden, und nur ein merkwürdiges Gefühl der Leere zurückgeblieben. Sie hatte Aerien ihr Herz bloßgelegt, jedes einzelne Gefühl gegeben, und Aerien hatte... was eigentlich getan? Was Aerien gefühlt und gedacht hatte, blieb ihr ein Rätsel.
Schließlich war sie selbst in einen kurzen, aber traumlosen Schlaf gefallen, und noch vor Sonnenaufgang wieder erwacht. Nun saß sie mit dem Rücken an einer Palme und blickte über die Straße und den Fluss hinweg nach Osten, wo die Sonne langsam höher stieg.
"Herlenna ist nun also wirklich... tot", sagte Níthrar, der neben ihr saß, mit brüchiger Stimme. Narissa nickte stumm, doch es kamen keine Tränen mehr. Sie hatte genug um ihre Mutter geweint, und obwohl sie sie noch immer fürchterlich vermisste, war es nun nicht so viel anders als vorher. In gewisser Weise war es sogar besser, denn sie wusste, dass ihre Mutter vor ihrem Tod Frieden gefunden hatte, und nicht gelitten hatte. Níthrar wirkte dafür tief erschüttert. "Ich habe natürlich seit langem damit gerechnet", meinte er. "Aber es jetzt wirklich zu hören ist... schwer."
"Du hast mir einmal erzählt, du hättest ihr angeboten sie zu heiraten, als sie schwanger war", sagte Narissa langsam. "Aber du bist ein Elb, und sie war ein Mensch."
Níthrar lächelte traurig. "Wir suchen uns nicht aus, wen wir lieben. Ich habe ihr Geschichten erzählt, von Beren und Lúthien, von Tuor und Idril... Doch Herlenna liebte mich auf ihre eigene Weise, als Freund oder Bruder. Ich habe sicherlich Fehler gemacht", erzählte er. "Wir hatten Streit, wenn ich sie bedrängt habe. Doch irgendwann, noch vor ihrem Verschwinden, habe ich beschlossen, es zu akzeptieren. Meine Liebe zu bewahren und nicht vergiften zu lassen - denn sie schuldete mir nichts."
"Hm", machte Narissa, und zog mit dem Zeigefinger gerade Linien in den Sand. "So einfach ist das also?"
Níthrar schüttelte den Kopf, und lachte leise. "Nein, einfach ist es nicht. Aber es lohnt sich es zu versuchen, denn ansonsten vergiftet es jedes Gefühl, das man hat, und man liebt niemals wieder."
Narissa erwiderte nichts, sondern spielte weiter mit dem Sand zwischen ihren Fingern. Einen Augenblick herrschte Schweigen, bis Níthrar sagte: "Ist das nicht eure Freundin Serelloth?" Narissa sprang auf, legte die Hand über die Augen und sah Serelloth mit schnellen Schritten die Straße überqueren und in ihre Richtung kommen. Als sie heran war, sagte Narissa zaghaft: "Serelloth, ich..." Doch das Mädchen schien sie nicht zu hören, sondern eilte wortlos an ihr vorbei, in das Lager hinein.
"Sie hasst mich", meinte Narissa erschüttert, und Níthrar, der sich ebenfalls erhoben hatte, schüttelte den Kopf. "Nicht wirklich. Sie ist wütend auf dich, und gibt dir die Schuld an allem was geschehen ist, aber echter Hass... sieht anders aus."
Seine Worte trösteten Narissa nur wenig, denn sie wusste, dass Serelloth Recht damit hatte, ihr die Schuld zu geben. Seit sie die Burg des Silbernen Bogens verlassen hatten, war ihr Leben eine einzige Kette an Fehlentscheidungen gewesen. "Entschuldige mich", murmelte sie Níthrar zu, und ging mit schnellen Schritten davon.
Als sie in der Nähe des Zeltes, in dem Aerien geschlafen hatte, ankam, blieb sie hinter einem dichten Gebüsch stehen. Aerien war wach, und sprach leise mit Serelloth, doch laut genug, dass Narissa jedes Wort verstehen konnte.
"Ich werde nach Gondor zurückgehen", sagte Serelloth gerade entschlossen. "Und du solltest mit mir kommen. Wir könnten jemanden wie dich wirklich gebrauchen, und... hier gibt es doch nichts mehr für dich. Kein Grund hierzubleiben."
Narissa biss die Zähne zusammen, und spürte ihren Atem schneller gehen, während sie auf Aeriens Antwort wartete. Schließlich meinte diese: "Mit meinem Bein werde ich so schnell keine weiten Strecken zurücklegen können", und Narissas Herz sank. Das klang ganz so, als wäre die Entscheidung bereits gefallen, doch dann fuhr Aerien fort: "Und außerdem... bin ich mir nicht sicher, dass es keinen Grund gibt, hierzubleiben."
"Ach, nun komm schon", sagte Serelloth bitter. "Narissa hat kein Problem damit, Freunde in den Tod zu schicken."
"So ist es nicht, und das weißt du auch", gab Aerien leise zurück. "Sie..." "Schön", unterbrach Serelloth sie kurzerhand. Für einen Augenblick glaubte Narissa, das Mädchen würde in Tränen ausbrechen. "Dann gehe ich eben alleine." Sie drehte auf der Stelle um, und stürmte zwischen den Zelten davon. Aerien blieb alleine zurück, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht war so verzweifelt, dass Narissa am liebsten aus ihrem Versteck gestürzt wäre und sie umarmt hätte - doch eine Hand auf ihrer Schulter hielt sie zurück.
"Es gehört sich nicht, seine Freunde zu belauschen", sagte Níthrar vorwurfsvoll, und Narissa spürte, wie sie errötete. "Ich konnte nicht mit ihnen reden", sagte sie hilflos. "Und... ich bin mir nicht einmal sicher, wer noch mein Freund ist."
Níthrar schüttelte den Kopf, und sagte: "Ich werde Serelloth ein Stück begleiten... aufpassen, dass ihr nichts geschieht."
"Du gehst fort?", fragte Narissa überrascht, und Níthrar antwortete: "Allerdings. Ich habe beunruhigende Gerüchte von meinen Verwandten weiter im Osten gehört, und ich muss dem nachgehen - vielleicht brauchen sie meine Hilfe. Aber zuvor werde ich dafür sorgen, dass die junge Serelloth heile in freundlichen Gebieten ankommt."
"Danke", wisperte Narissa, und Níthrar nickte langsam. "Ich tue das nicht nur für sie, sondern auch für dich - ich kann mir kaum vorstellen, was für Schuldgefühle du dir machen würdest, wenn ihr etwas zustoßen würde. Und nun..." Er deutete in die Richtung, in der Aerien vor ihrem Zelt saß, und mit leerem Blick auf den kleinen Teich in der Mitte der Oase starrte. "Geh zu ihr. Und ich hoffe, du hast etwas gelernt."
Narissa setzte sich neben Aerien auf den warmen Erdboden. "Ich..." begann sie, und brach sofort wieder ab, unschlüssig, was sie eigentlich sagen wollte. Schließlich begann sie von neuem: "Es tut mir Leid, was ich gesagt habe." Sie hatte begriffen, was Níthrar ihr mit seiner Geschichte hatte sagen wollen, doch leicht war es nicht. "Ich hätte dich nicht unter Druck setzen dürfen. Nimm dir die Zeit, die du brauchst, und ich werde... werde so lange warten, wie nötig."
Sie schwieg einen Moment, während sie nach den richtigen Worten suchte. "Und auch wenn du... Wenn du zu einer Entscheidung kommst, die mir nicht gefällt..." Narissa unterbrach sich erneut, und blickte Aerien fest in die Augen, Grün in Grau. "Du wirst immer meine Freundin bleiben, Aerien Bereneth. Egal was geschieht."
Fine:
Egal was geschieht... wenn es nur wirklich so einfach wäre, dachte Aerien und sie musste den Blick von Narissas Augen abwenden, konnte ihr nicht mehr ins Gesicht blicken. Nicht, weil sie es nicht wollte - sondern gerade darum. Sie konnte Narissa nicht in die Augen blicken, denn was sie dort las, forderte etwas von ihr ein, das sie noch nicht vollständig geben konnte. Sie seufzte tief und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie fühlte sich wie bei einem Balanceakt auf einem wackelnden Seil: wenn sie zu weit zumachen würde, würde sie Narissa von sich stoßen, und selbst obwohl diese ihr gesagt hatte, dass sie Freundinnen bleiben würden, egal was geschehen würde.... es würde nicht dasselbe wie zuvor sein. Das war einige der wenigen Sachen von denen Aerien ganz genau wusste, dass sie nicht wollte dass es dazu kam. Doch auf der anderen Seite lauerte Ungewissheit. Liebe war etwas, das Aerien nicht kannte - abgesehen von der Liebe ihrer Mutter zu ihr. Und sie musste sich eingestehen, dass sie Angst hatte - Angst, verletzt zu werden, sich Narissa zu öffnen und dann sitzen gelassen zu werden. Ihre Unerfahrenheit in diesen Dingen ärgerte Aerien, und sie hielt sie davon ab, sich vertrauensvoll fallen zu lassen.
Sie spürte, dass Narissa auf eine Antwort wartete; zwar geduldig und stumm, aber dennoch mit einer gewissen Erwartung.
"Ich hätte nicht gedacht, dass Liebe so kompliziert sein kann," sagte Aerien wahrheitsgemäß, mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen.
Narissa sagte: "Was meinst du damit?"
"Oh, Narissa. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Kannst du - " sie stockte, doch dann rang sie sich durch das zu sagen, was in ihr war und an die Oberfläche drängte. "Halt mich einfach. Halt mich fest, damit ich nicht falle... Ich fühle mich nämlich, als würde ich fallen, schneller und schneller, ohne dass der Abgrund jemals endet."
Und Narissa kam der Aufforderung ohne Widerstand nach, nahm Aerien in die Arme und drückte sie fest an sich. Aerien vergrub den Kopf an Narissas Schulter und schloss die Augen, während die Sonne langsam immer wärmere Strahlen auf die beiden herabsandte. Sie versuchte, nicht nachzudenken, und einfach den Moment des Friedens zu genießen, und nach kurzer Zeit gelang es ihr tatsächlich.
"Ich würde dir gerne sagen, dass du mich nicht unter Druck setzt," begann Aerien schließlich, nachdem eine Ewigkeit des Schweigenes verstrichen war. Sie spürte ihr eigenes Herz klopfen und ebenso Narissas, in deren Schoß Aerien ihren Kopf inzwischen gebettet hatte. Sie suchte den Blick von Narissas grünen Augen, die fragend auf Aerien herabblickten. "Aber so ist es nicht. Du bist.... unglaublich. Du machst Dinge mit mir, von denen ich nicht weiß, ob ich sie aushalten kann ohne platzen zu müssen. Ich sage nicht, dass das Gefühl, dass du mir gibst, nicht schön ist. Ganz im Gegenteil. Aber ich fürchte, dass mein Herz davon zerspringen könnte."
"Das verstehe ich, aber teilweise auch wieder nicht," antwortete Narissa leise.
"Nein, du verstehst es nicht," fuhr Aerien fort. "Du bist halbwegs normal aufgewachsen, in einer Familie, die dich liebte, und später hattest du eine ganze Insel nur für dich und einen Großvater, der dir die Welt zeigte. Du konntest Liebe kennenlernen, durftest Fehler machen und daraus lernen. Dieses Privileg hatte ich nicht. In Mordor... gibt es kein Verzeihen. Nur Bestrafungen." Langsam zog sie ihren linken Stiefel aus und drehte den Fuß so, dass Narissa die Sohle sehen konnte - und das rote Auge, das darin eingebrannt worden war. "Das ist die einzige körperliche Narbe, die man mir für meine Fehler verpasst hat," sagte Aerien leise. "Die anderen... sind seelisch. Meine... Schönheit sollte nicht gemindert werden." Sie seufzte lange und tief.
Narissa fuhr mit großen Augen über die Sohle und machte ein ersticktes Geräusch. "Das... hat dir deine Familie angetan?" fragte sie leise.
"Das - und andere Dinge, von denen ich gerade nicht sprechen will," gab Aerien zu. Auf eine Art und Weise tat es gut, mit jemandem darüber zu sprechen, die dieses Wissen nicht irgendwie gegen sie einsetzen würde.
"Das ist schrecklich, Aerien", flüsterte Narissa und strich Aerien sachte über die Wange, und Aerien ließ es geschehen. Noch immer fühlte sie sich bei Narissa geborgen und angenommen, trotz all dem was passiert war und was sie gesagt hatte.
"Vielleicht," fuhr Aerien fort. "Vielleicht sind Erlebnisse wie diese der Grund, weshalb ich... so im Widerstreit mit mir selbst stehe. Diese...Sache überfordert mich." Es auszusprechen half ihr ein wenig, und sie setzte den Satz fort. "Jede Minute die ich mich damit auseinander setze bereitet mir große Anstrengungen."
"Dann solltest du eine Entscheidung fällen," schlug Narissa zaghaft vor.
"Ich weiß... du hast recht, aber... " Welche Entscheidung ist die richtige? hatte Aerien sagen wollen, doch kurz bevor sie es aussprach spürte sie etwas in ihr aufsteigen, etwas aus ihrem Herzen, das ihre Gedanken Lügen strafte. Tief drinnen wusste sie bereits, welche Entscheidung die Richtige war. Es würde nur noch eine Weile dauern, bis ihr Verstand das auch akzeptieren würde.
"...aber?" hakte Narissa nach.
Aerien atmete tief durch und stemmte sich dann aus der liegenden Position hoch. Sie führte Narissas Hand an ihr Herz und sagte: "Da drinnen steckt schon die Entscheidung, aber es wird Zeit brauchen, bis es hier oben ankommt und angenommen wird." Sie zeigte bei den letzten Worten auf ihre Stirn. Die einfachen Worte, die sie gewählt hatte, drangen langsam in ihren Verstand ein und halfen ihr dabei, weiterzusprechen. "Wenn wir das tun... wenn wir eine Beziehung eingehen.... dann werde ich etwas Zeit brauchen, um damit klar zu kommen. Ich weiß jetzt, dass ich es sehr möchte, aber du musst Geduld haben... und ich hoffe, das kannst du."
Narissa schwieg und verschiedene Emotionen huschten über ihr Gesicht. Schließlich nickte sie und ein zaghaftes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.
Aerien holte tief Luft. "Dann... weißt du jetzt, wie ich fühle," sagte sie und nahm Narissas Hand. Noch einen letzten Augenblick verharrte Aerien, blickte tief in Narissas Augen und überwand ihre letzten Zweifel. Und küsste Narissa, vorsichtig und mit pochendem Herzen.
"Bring mich ans Meer," flüsterte sie kurz darauf. "Nach all dem was geschehen ist möchte ich nur für einige wenige Tage Ruhe und Frieden haben... mit dir. Bring mich ans Meer, hörst du?" forderte Aerien.
Narissa nickte. "Ich verspreche es dir."
Als sie sich von Níthrar verabschiedet hatten und zusahen, wie der Elb in nördlicher Richtung davonritt sprachen Narissa und Aerien eine zeitlang darüber, was als nächstes zu tun sei.
"Wir sollten Yana aus der Stadt schaffen," schlug Narissa vor.
"Und wir müssen Eayan... die Nachricht von Elendars Tod überbringen," ergänzte Aerien schweren Herzens.
"Vielleicht kann er helfen, einen sicheren Ort für Yana zu finden," überlegte Narissa.
"Dann holen wir sie und bringen sie zu Ta-er as-Safars Burg," entschied Aerien.
"Und danach bringe ich dich ans Meer," vollendete Narissa die Planung.
Einer der Heimatlosen bot sich an, Yana eine Nachricht zu schicken. In der Stunde, in der sie auf Yanas Antwort warteten, machten sich Narissa und Aerien abreisefertig und sattelten ihre Pferde. Und als sie sahen, dass der zurückkehrende Bote nicht allein war, hatten sie beide wieder ein Lächeln im Gesicht. Immerhin hat sie es sicher aus der Stadt heraus geschafft, dachte Aerien und freute sich über diesen kleinen Erfolg.
"Nissa, bist du sicher, dass deine Freunde mir helfen können?" fragte Yana unsicher, die ihre wenigen Habseligkeiten mit sich trug.
Narissa lud die Sachen auf Grauwinds Rücken und nickte zuversichtlich. "Der Mann, zu dem wir dich bringen, hat großen Einfluss. Er wird etwas für dich finden. Mach dir keine Sorgen."
Und so ritten sie am späten Nachmittag los, diesmal ohne Eile, um nicht aufzufallen. Sie ließen Qafsah und all die schrecklichen Ereignisse zurück und lenkten ihre Pferde in südwestlicher Richtung auf Ain Salah und die dahinter verborgene Burg des Silbernen Bogens zu.
Narissa, Aerien und Yana zur Burg des Silbernen Bogens
Fine:
Aerien mit Karnuzîrs Gruppe aus der Mehu-Wüste
Nach einem weiteren Tag des Ritts entlang der Straße zwischen Umbar und Qafsah schlugen sie wie gewohnt ihr Lager bei Einbruch der Nacht auf. Je weiter sie nach Osten kamen, desto unbekümmerter schien Karnuzîr zu werden. Sie waren nun ungefähr auf der Höhe von Aín Salah, das zu ihrer Rechten, im Süden der Straße lag, und schon tief in Suladans Gebiet. Zu ihrer linken, weit entfernt, verlief der Harduin. Es war noch immer warm, doch Azruphel wusste, dass es bis Mitternacht schnell abkühlen würde. Sie war dankbar dafür, in Karnuzîrs Zelt schlafen zu dürfen, auch wenn sie erwartete, weitere Berührungen über sich ergehen zu lassen. Er wusste genau, wo die Grenze lag und überschritt sie niemals - doch Azruphel bereitete sich innerlich bereits auf den Tag vor, an dem diese Einschränkung wegfallen würde.
"Ich finde, es wird Zeit, dass wir uns besser kennenlernen," sagte ihr Vetter ohne Vorwarnung und kam zu ihr herüber. Azruphel hatte sich auf ihre Schlafunterlage gelegt und ihm den Rücken zugekehrt, doch als er sich neben sie setzte schlang sie ihre Decke so eng sie konnte um sich und setzte sich auf. Sie blickte ihn fragend an.
"Du verstehst schon. Ich erzähle dir etwas von mir, und du erzählst mir etwas von mir. Wir hören einander zu, und finden heraus, wie es im Inneren des Anderen aussieht."
"Danke, kein Interesse," gab sie kalt zurück.
"Oh, aber ich bestehe darauf," erwiderte er mit einem bösen Lächeln. "Du kennst die Regeln." Keine Widerrede.
"Also schön," sagte sie seufzend. "Was möchtest du erzählen?"
"Du wirst anfangen, Belkali. Das ist übrigens ein wirklich gut gewählter Spitzname, muss ich schon sagen. Hast du etwas dagegen, wenn ich ihn mir ausleihe? Nein? Gut. Also, Belkali. Wie bist du an diesen Namen gekommen?"
Azurphel atmete tief durch. "Du weißt ja, was er bedeutet," sagte sie und begann.
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Das schwarzsilberne Kleid fühlte sich seltsam auf ihrer Haut an. Zwar hatte Azruphel es schon bei anderen Anlässen getragen, doch dies war ein ganz besonderer Moment. Ihr offizieller Eintritt in den Hof des Fürsten stand bevor. Sie war fünfzehn, und äußerlich die Ruhe selbst, doch ihr Inneres schien in Flammen zu stehen. Die Lektionen ihrer Mutter erfüllten ihre Gedanken, doch da war noch etwas anderes, etwas, das ihr Vater ihr oft genug eingeschärft hatte: Sei auf alles vorbereitet. Und das war sie.
Als sie schließlich das Signal erhielt, trat sie hinter dem schweren Vorhang hervor, der den Durchgang in die große Halle verdeckt hatte. Langsam und anmutig stieg sie die große, leicht gebogene Treppe hinab und war sich bewusst, dass alle Augen auf ihr ruhten. Sie hatte ihr schönstes Lächeln aufgesetzt und spürte, dass es wirkte. Hier war sie, die Tochter des Herr von Durthang, und für einen Moment der Mittelpunkt der Gesellschaft der Schwarzen Númenorer. Jeden Schritt machte sie bewusst, langsam und vorsichtig, um ja nicht zu stolpern. Das würde in dieser Situation geradezu Selbstmord gleichkommen. Sie musste jetzt perfekt sein, und es schien ihr zu gelingen. Azruphel legte die letzten Stufen zurück und die Menge teilte sich, um sie durchzulassen. Am anderen Ende des Saals stand ihr Vater in voller Rüstung vor seinem erhöhten Sitz, über den in Stein das flammende Auge des Großen Gebieters gemeißelt war. Sie ging auf ihn zu und spürte seinen Stolz, auch wenn dieser nicht an seinem Gesichtsausdruck abzulesen war. Flankiert wurde er von zwei schweigenden Wächtern mit riesigen Hellebarden in den gepanzerten Händen. Azruphel kannte ihre Namen: Aglarân und Belzîkhor. Sie kannte die Namen von jedem im Saal; sie hatte sie in vielen Stunden des Lernens mühsam auswendig gelernt. Und nichts anderes wurde von ihr erwartet. Und als sie bei Varakhôr ankam legte ihr der Fürst der Adûnâi eine Hand auf die Schulter, ehe er sie herumdrehte und erneut der Menge präsentierte.
Mehrere lange Augenblicke geschah nichts. Dann jedoch trat ihre Großmutter zwischen den Anwesenden hervor und sagte: "Seht sie euch an. Die strahlende Jungfrau von Aglarêth. Belkali Azruphel!" Sie begann langsam zu klatschen, und einer nach dem anderen fielen die Adeligen mit ein.
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"An diesem Tag wäre ich gerne dabei gewesen," sagte Karnuzîr. "Aber ich war auf einer Reise mit meinem Vater in den tiefen Süden. Du kannst es nicht wissen, da du Mordor bis vor Kurzem nie verlassen hattest, aber jenseits der Wüsten Harads liegen wilde Wälder, in denen seltsame Kreaturen hausen. Wir zogen durch den tiefen Dschungel auf der Suche nach einer verlorenen Stadt, in der unermessliche Schätze auf uns warten sollten. Doch als wir schließlich, nach vielen überstanden Gefahren und Abenteuern, die Ruinen der alten Stadt erreichten, war sie bereits vor langer Zeit geplündert worden. Damals habe ich gelernt, immer eine Alternative in der Hinterhand zu haben und auf alles vorbereitet zu sein, wie es dein Vater so gerne predigt. Er ist ein weiser und guter Anführer, dein Vater. Aber ihm fehlt die Grausamkeit seiner Vorfahren. Unserer Vorfahren. Furcht ist ein mächtiges Werkzeug. Furcht treibt Menschen an und bringt sie dazu, Dinge zu tun, die sie von sich nie für möglich gehalten hätten. Nicht, wahr, Azruphel?"
Sie gab ihm keine Antwort. Aber er hatte Recht: es war die Furcht über die Sicherheit ihrer Freunde, die Azruphel dazu brachten, ihr Leben aufzugeben und sich ihrem Schicksal zu fügen.
"Furcht ist eine Schwäche, die die Gerissenen ausnutzen können. Deswegen habe ich gelernt, furchtlos zu sein. Ich fürchte nichts, bis auf den Zorn des Großen Gebieters. Und dasselbe solltest du auch tun. Du kennst die Gesetze unseres Volkes besser als ich. Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um dich vor dem Zorn Saurons zu schützen, indem ich deine Verrat als Täuschung und Infiltration des Feindes darstelle, aber du weißt ja, was die Orks so gerne sagen: Das Auge beobachtet uns. Und das ist nicht nur eine Redensart. Du warst im Dunklen Turm. Sauron regt sich. Er wird mit jedem Tag stärker. Bald schon wird er den Turm verlassen können. Und dann wird ihn niemand und nichts mehr aufhalten können. Spätestens dann wirst du froh sein, wieder auf seiner Seite zu stehen. Es ist deine Bestimmung."
Das war zu viel für Azruphel. Ehe sie sich davon abhalten konnte fuhr ihre Hand unter der Decke hervor und versetzte Karnuzîr eine schallende Ohrfeige. "Sprich nicht so!" zischte sie. "Du magst über mich verfügen können, durch die Furcht um jene, die mir teuer sind, aber du wirst niemals mein Herz bekommen, und Sauron erst recht nicht. Du spricht von Bestimmung? Ich zog aus, um mir mein eigenes Schicksal zu schaffen und meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Kannst du denn nicht sehen, dass Sauron der Untergang aller Menschen sein wird? Du bist ein Narr, Karnuzîr. Wie alle aus unserem Volk. Eines Tages werdet ihr es erkennen."
Karnuzîr funkelte sie wütend an. "Erhebe noch einmal die Hand gegen mich, und ich werde sie dir abschneiden," knurrte er. "Meine Geduld ist am Ende. Ich dachte, du hättest die Regeln unserer kleinen Abmachung verstanden."
"Das habe ich," gab sie zurück. "Ich werde dein, wenn du meine Freunde in Ruhe lässt und die Insel verschonst."
"Und dennoch gibst du mir Widerworte," stellte Karnuzîr klar. "Vielleicht sollte ich eine entsprechende Nachricht an Suladan hinterlassen, wenn wir nach Qafsah kommen..."
"Nein! Nein, tu das nicht," rief Aerien. "Es... wird nicht mehr vorkommen. Ich verspreche es."
Karnuzîr blickte sie prüfend an. Fast eine Minute betrachtete er sie schweigend bis er sagte: "Ich sehe, deine Mutter hat dir vieles beigebracht. Du bist sehr manipulativ. Eine Meisterin der Worte. Gut! Ich habe nichts anderes von dir erwartet. Doch das hört jetzt auf. Du wirst mir ehrlich gegenüber sein und nichts vor mir verbergen. Sag es!"
"Ich... werde dir stets ehrlich gegenüber sein und nichts vor dir verbergen," presste Azruphel leise hervor.
"Oh, Belkali. Das reicht nicht. Du musst es so meinen," sagte er gnadenlos. "Wiederhole es... und lass die Worte von Herzen kommen. Zeig mir, dass du es wirklich ernst meinst."
Azruphel schloss die Augen. Wie konnte sie Karnuzîr nur zufriedenstellen? Sie blickte ihm ins Gesicht und holte tief Luft. Dann wiederholte sie den Satz... und sprach zwar zu ihm, doch in ihrem Herzen meinte sie jemand anderen. Jemand, für dessen Sicherheit sie das alles tat. Jemand, der Azruphel wahrscheinlich aufgegeben hatte... doch sie, Aerien, würde diesen Jemand stets in ihrem Herzen bewahren, damit sie niemals vergaß, weshalb sie bei Karnuzîr bleiben musste. Das ist für dich, Rissa, dachte sie entschlossen und die Entschlossenheit stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Karunzîr blickte sie zufrieden an. "Sehr gut," sagte er leise. "Und jetzt küss' mich."
Er beuge sich vor, und kam immer näher...
Eandril:
Narissa und Thorongil aus der Mehu-Wüste
Die Nacht war noch nicht lange hereingebrochen, als Thorongil sein Pferd anhielt, und Narissa wusste sofort, warum: Der leichte Geruch von Rauch lag in der Luft. Sie sah ihren Onkel fragend an, und dieser nickte. Beide saßen ab, führten ihre Pferde ein Stück nach links von der Straße und banden sie an Pflöcken, die sie tief in die Erde rammten, an.
"Keinen Laut, hörst du?", flüsterte Narissa Grauwind zu, und klopfte ihr sacht den seidigen Hals. Dann folgte sie Thorongil, der bereits langsam und unhörbar ein Stück in die Richtung gegangen war, aus der der Rauchgeruch heranwehte.
Etwa hundert Meter weiter sahen sie zwischen den niedrigen Bäumen und Büschen eines kleinen Wäldchens, die in dieser Gegend immer wieder neben der Straße wuchsen, den schwachen, flackernden Schein eines kleinen Feuers, und der Wind trieb leise Stimmen heran.
Narissa hatte ihr normales helles Hemd gegen ein schwarzes getauscht, unter dessen Kapuze sie ihre auffälligen Haare verstecken konnte, und auch Thorongil war so dunkel gekleidet, dass er in der Dunkelheit kaum zu sehen war. "Auf den Hügel", flüsterte ihr Onkel, und deutete in Richtung einer kleinen Anhöhe, die sich ein wenig nördlich von ihnen erhob und einen guten Blick auf das Lager ermöglichen würde.
Gemeinsam schlichen sie lautlos den Hang hinauf, und kauerten sich oben auf dem von der Hitze des Tages noch immer leicht warmen Boden nieder. Der Untergrund war sandig und mit kleinen Steinen übersät, doch sie waren nicht länger in der Wüste und hier wuchsen überall niedrige Grasbüschel, und auf den Felsen Flechten.
"Zwei Feuer", sagte Narissa leise. Der Wind kam aus Richtung Osten, wehte ihnen also ins Gesicht und würde ihre Worte nicht an das Ohr ihrer Feinde dringen lassen.
"Aber nur ein Zelt", erwiderte Thorongil. "Dort wird Karnuzîr sein, mit..."
"Ich weiß", schnitt Narissa ihm das Wort ab, bevor er den Namen sagen konnte. "Kannst du Wachen sehen?"
"Vier", sagte ihr Onkel nach einem kurzen Moment des aufmerksamen Beobachtens. "Einer hinter dem Zelt, einer davor, und zwei mit dem Gesicht zur Straße."
Narissa deutete auf den westlichen Rand der Büsche und meinte: "Und noch einer im Westen." Durch die Strecke, die sie im Dunkeln zurückgelegt hatten, hatten sich ihrer beider Augen bereits an die Dunkelheit gewöhnt, und Mond und Sterne schienen hell in dieser Nacht.
"Dann wird im Osten auch noch einer sein", vermutete Thorongil. "Das wären dann sechs."
"Ich nehme den im Westen und die beiden am Zelt", wisperte Narissa, und Thorongil nickte langsam. "Ich kann mich um die übrigen drei kümmern - und dann? Vielleicht sollten wir die Pferde holen, und..."
"Das ist keine Rettungsaktion", unterbrach Narissa ihn kalt. "Diese Menschen da unten? Sie müssen alle sterben, jeder einzelne."
"Und was ist mit..."
"Sie nicht - sofort", schränkte sie ein. "Das werde ich entscheiden, wenn... ich mit ihr gesprochen habe." Der Gedanke, mit Azruphel zu sprechen machte Narissa Angst, und jetzt, wo sie so nah war, war sie sich nicht länger sicher, ob sie sie töten konnte, falls es notwendig war.
"Solange wir die Schlafenden lautlos töten, können wir es schaffen", fuhr Narissa fort, und obwohl Thorongil erneut nickte konnte sie deutlich sehen, dass er nicht glücklich mit ihrem Plan war. Noch immer geduckt überprüfte er den Sitz seiner Waffen, und sagte dann: "Zähl langsam bis hundert. Dann greif an - lautlos, und schnell."
Als sie bei hundert angekommen war, schlich Narissa den nördlichen Hang des Hügels hinunter. Sie schlug einen Bogen, und näherte sich dann dem Lager von Nordwesten - sodass sie keinem der Wächter direkt entgegenlief, sondern im toten Winkel zwischen ihnen hindurch. Trotzdem huschte sie geduckt von Felsen zu Felsen, bis sie schließlich die ersten trockenen Büsche erreichte. Trotz der Dunkelheit bestand immer die Gefahr, gesehen zu werden, und in diesem Fall würde ihr ganzer Plan scheitern. Narissa entschied sich dazu, zuerst den Wächter im Norden, hinter dem Zelt zu erledigen. Der Mann war nicht besonders aufmerksam, sondern schien vielmehr dem Gespräch zu lauschen, dass aus dem Zelt hervor drang. Narissa wäre beinahe gestolpert, als sie die gedämpften Stimmen erkannte.
"Dann jedoch trat meine Großmutter aus der Menge hervor und sagte: Seht sie euch an. Die strahlende Jungfrau von Aglarêth. Belkali Azruphel! Sie begann langsam zu klatschen, und einer nach dem anderen fielen der Rest der Anwesenden mit ein."
Narissa versuchte nicht hinzuhören, während sie langsam und leise einen der Wurfdolche aus seiner Halterung zog, und zielte.
"An diesem Tag wäre ich gerne dabei gewesen. Aber ich war auf einer Reise mit einem Vater in den tiefen Süden", hörte sie Karnuzîr sagen, als ihr Messer ihre Hand verließ und sich mit einem beinahe unhörbaren dumpfen Aufschlag einen Herzschlag später in den Hals des Wächters bohrte. Sofort sprang sie vorwärts, fing den Körper des Mannes, der in seinem Schock nur einen kurzen gurgelnden Laut von sich gegeben hatte, auf und ließ ihn sanft zu Boden gleiten.
"Doch als wir schließlich, nach vielen überstanden Gefahren und Abenteuern, die Ruinen der alten Stadt erreichten, war sie bereits vor langer Zeit geplündert worden", fuhr Karnuzîr, der offenbar nichts gehört hatte, mit seiner Erzählung fort, und Narissa versuchte, nichts davon zu hören. Sie verstaute ihr Wurfmesser wieder, und huschte in westlicher Richtung davon, zur nächsten Wache. Karnuzîr und seine Cousine schienen sich ja bestens zu verstehen...
Der Mann, der weiter im Westen Wache stand war deutlich pflichtbewusster als sein verstorbener Gefährte. Er stand inmitten der Büsche und ließ den Blick immer langsam von Nordwesten nach Südwesten und zurück schweifen, Speer und Schild fest in den Händen. Vorsichtig schlich Narissa heran, immer darauf achtend, keinen am Boden liegenden Zweig zu zertreten und keine Büsche zu streifen. Sie hoffte, dass niemand aus dem Lager nach außen blickte, oder sich gerade in die Büsche schlug, um einem allzu menschlichen Bedürfnis nachzugehen.
Ohne Zwischenfall erreichte sie den Wächter, zog lautlos den kermischen Dolch und rammte dem Mann mit der Linken die Klinge in den Rücken, genau zwischen zwei Rippen hindurch ins Herz. Gleichzeitig schlang sie blitzschnell den rechten Arm um ihn und presste ihm die Hand fest auf den Mund. Der Mann stieß ein dumpfes Ächzen, das von ihrer Hand noch weiter gedämpft wurde, aus, und begann in sich zusammenzusinken. Er zuckte noch zwei Herzschläge lang krampfhaft mit den Beinen, und lag dann still, als Narissa ihn ebenso leise wie er gestorben war zu Boden gleiten ließ. Gerade, als sie den Dolch aus der Leiche zog, hörte sie vom Lager her eine leise Stimme: "Dharih?"
Narissa unterdrückte einen Fluch, und duckte sich hinter einen Busch. Sie hatte keine Zeit, die Leiche zu verstecken, und das Verschwinden eines der Wächter hätte ebenfalls Aufmerksamkeit erregt. Ihr blieb also nur eine Wahl.
Als der Neuankömmling keine Antwort bekam, fragte er misstrauisch: "Bist du da?" Er trat weiter zwischen die Büsche, und gerade bevor er die Leiche des Wächters erreichte, schlug Narissa zu. Sie hatte beide Dolche gezogen, rammte ihm den rechten in die Brust und den linken seitlich in den Hals. Die dunklen Augen des Mannes weiteten sich vor Schreck, doch bevor er einen Schrei ausstoßen konnte riss Narissa ihm den Dolch aus der Brust und schnitt ihm die Kehle durch, sodass nur ein ersticktes Glucksen daraus wurde, bevor er starb.
Sie wischte sich an der Kleidung des Mannes ein wenig Blut von der Hand. Er war unbewaffnet gewesen, also war er nicht gekommen um die andere Wache abzulösen, sondern hatte sich entweder erleichtern oder mit diesem reden wollen. Narissa konnte nur hoffen, dass der keinem der anderen Männer im Lager Bescheid gesagt hatte, dass er ging. Und selbst wenn ihn niemand vermisste, hatte sie doch keine Zeit zu verlieren, also schlich sie zurück, wieder auf das Zelt zu.
Glücklicherweise lagen die schlafenden Krieger ein wenig abseits vom Zelt - anscheinend legte Karnuzîr abgesehen von den beiden Wächtern Wert darauf, dass niemand ihn und seine Cousine belauschen konnte. Bei was auch immer sie taten.
"Oh, Belkali. Das reicht nicht. Du musst es so meinen", hörte sie Karnuzîrs verhasste Stimme, als sie von der Seite an das Zelt herankam. Im Inneren glaubte sie durch den Zeltstoff zwei Gestalten zu sehen, die sehr nah beieinander zu sein schienen, und trotz allem was geschehen war, versetzte es ihr einen schmerzhaften Stich. Sie zog erneut eines ihrer Wurfmesser.
"Wiederhole es... und lass die Worte von Herzen kommen. Zeig mir, dass du es wirklich ernst meinst."
Der Wächter vor dem Zelt starb auf die selbe Weise wie vor ihm der dahinter, und als er tot war, hörte Narissa ihre Stimme: "Ich... werde dir stets ehrlich gegenüber sein und nichts vor dir verbergen." Auch wenn Azruphel nicht wissen konnte, dass Narissa hier war, und mit Sicherheit nicht sie meinte, fühlte Narissa sich von den Worten seltsam angesprochen - und hielt es nicht länger aus.
"Sehr gut", entgegnete Karnuzîr leise. "Und jetzt küss' mich."
Auch wenn ihr Plan es eigentlich nicht vorsah, zog sie lautlos die Plane vor dem Zelteingang ein Stück zur Seite, und schlüpfte ins Innere. Karnuzîr saß mit dem Rücken zu ihr auf dem Boden, hatte eine Hand unter Azruphels Kinn gelegt, und näherte sich langsam ihrem Gesicht. Azruphel hatte die Augen geschlossen, genoss offenbar die Nähe ihres Vetters, und Narissa konnte nur mühsam einen Aufschrei unterdrücken.
Sie fiel hinter Karnuzîr auf die Knie, und legte ihm mit einer blitzschnellen Bewegung den blutbeschmierten Dolch an die Kehle.
"Ich würde das lassen... und ganz still sein", zischte sie ihm hasserfüllt ins Ohr, bevor er einen Laut von sich geben konnte. Abrupt zuckte Azruphel zurück und riss die Augen auf. In ihnen standen Schreck und Furcht. Narissa drückte den Dolch ein wenig fester gegen Karnuzîrs Hals und sagte leise: "Und wenn dir das Leben deines Vetters lieb ist, gibst du ebenfalls keinen Laut von dir."
Azruphel bewegte stumm die Lippen, wobei Narissa ihren Namen zu erkennen glaubte, und in ihre Augen trat für einen Herzschlag ein Ausdruck der... Erleichterung? Der Anblick genügte, um Narissa abzulenken, und Karnuzîr zog mit einem Ruck den Kopf hinter ihrem Dolch hervor. Er brachte sich dabei selbst einen Schnitt entlang des Halses bei, der zwar lang aber nicht tief war, und als er ihr den Kopf zuwandte, stand blanker Hass in seinen Augen - Hass, den Narissa erwiderte.
"Es war ein Fehler, alleine zu kommen", zischte er, und Narissa schüttelte den Kopf. "Wer sagt, dass ich alleine bin?" Von draußen ertönte ein schmerzerfüllter Schrei. Nur einen Herzschlag später wurde hinter ihr die Plane vor dem Zelteinang erneut zurückgeschlagen, und eine unbekannte Stimme sagte aufgeregt: "Herr Karnuzîr, ich glaube..." Es gab einen dumpfen Schlag und die Stimme brach ab. Als Narissa herumfuhr, sah sie die Leiche des Südländers zu Boden stürzen, während Thorongil sein Langschwert aus seinem Rücken zog.
"Du bist langsamer als ich, Nichte", sagte er, und wischte die blutige Klinge an der Zeltplane ab. "Andererseits...", fügte er mit einem Blick auf Azruphel und Karnuzîr, die beide mit schreckgeweiteten Augen zu ihm aufsahen, hinzu. "... ist das vielleicht auch verständlich."
Er wandte sich Karnuzîr zu. "Wir sind einander noch nicht begegnet - Thorongil, Hadors Sohn und Herr von Tol Thelyn." Karnuzîr öffnete den Mund, vielleicht um seine Wachen zu rufen, vielleicht um etwas zu entgegnen, doch Thorongil kam ihm zuvor: "Gebt euch keine Mühe, eure Männer sind tot. Sie schliefen tief und fest, und nur die letzten beiden haben etwas bemerkt."
Narissa, die inzwischen aufgestanden war, sah, wie Karnuzîrs Blick zwischen ihnen beiden und Azruphel hin und her irrte, und seine Hand gleichzeitig nach einem kleinen Beutel neben ihm tastete. Direkt bevor seine Finger den Beute erreichten, warf Narissa eines ihrer Messer, dass seine Hand am Boden festnagelte. Karnuzîr stieß einen Schmerzensschrei aus, und Narissa lächelte.
"Keine Wurfsterne für dich. Ich sagte doch, du hättest tot bleiben sollen." Dann trat sie ihm mit dem rechten Fuß brutal gegen die Schläfe, sodass sein Kiefer knackte und er sofort das Bewusstsein verlor. Es fühlte sich unglaublich gut an.
Das Lächeln verschwand von Narissas Gesicht, als sie Azruphel, die dem ganzen regungslos zugesehen hatte, anblickte. "Und nun zu dir..."
Thorongil hielt sie zurück, in dem er das Messer aus Karnuzîrs Hand zog, und den Bewusstlosen zum Zelteingang zog.
"Ich denke, ich lasse euch dafür lieber allein... und werde selbst ein kleines Gespräch mit Herrn Karnuzîr führen, sobald er erwacht ist..."
Als sie alleine waren, zog Narissa Ciryatans Dolch, und wischte das Blut der getöteten Wachen sorgfältig an Karnuzîrs verlassenem Schlaflager ab. Dann hielt sie Azruphel, die unwillkürlich zurückzuckte, die Spitze des Dolches unter das Kinn, und sagte mit kalter Stimme: "Rede. Sorgfältig, und gut. Überzeuge mich, dass er gelogen hat, denn sonst... werde ich dich töten." Erst bei den letzten Worten zitterte ihre Stimme ein wenig.
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