Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad

Qafsah

<< < (3/4) > >>

Eandril:
"Wer war das?", fragte Narissa während sie langsam Weg zurückgingen, den sie gekommen war, und deutete mit der freien Hand auf Aeriens verwundetes Bein. "Karnuzîr?"
"Ja", stieß Aerien angestrengt hervor. "Mit einem seiner Wurfsterne."
"Ich hasse die Dinger", sagte Narissa, als sie einer Treppe nach oben folgten, und Aerien machte ein Geräusch, das halb Lachen und halb Schmerzenslaut sein konnte. "Hast du ihn wenigstens ordentlich verprügelt, bevor dein gruseliger Freund aufgetaucht ist?" Sie scherzte, doch Narissa konnte ihre erste Begegnung mit einem der Neun nicht einfach vergessen. Die Angst, die sie ergriffen hatte als sie die schwarze Gestalt vor Aerien hatte stehen sehen, war anders als jede gewesen, die sie zuvor verspürt hatte - eine kalte, lähmende Angst, allein hervorgerufen durch die Präsenz des Wesens. Sie mochte sich nicht vorstellen, wie schlimm es war, mit einem Nazgûl zu sprechen, von ihm berührt zu werden, und sie verstand die eisige Lähmung, die Aerien offenbar ergriffen hatte. Ein letzter Funken Geistesgegenwart hatte sie davor bewahrt, selbst panisch davonzulaufen, sondern sich an Serelloths Worte zu erinnern, zwei Fackeln aus ihrer Halterung zu reißen, und eine davon auf das Wesen im schwarzen Mantel zu schleudern.
"Ich... habe ihn aus dem Fenster gestoßen", keuchte Aerien, und riss Narissa damit aus ihrem Gedankengang. "Sehr gut", erwiderte sie. "Mit ein bisschen Glück hat er sich dabei den Hals gebrochen, und wir sind das Problem los."
Schließlich stellte Aerien die Frage, vor der Narissa sich gefürchtet hatte: "Hast du Serelloth und Elendar irgendwo gesehen?"
Narissa schüttelte langsam den Kopf. "Serelloth nicht, aber Elendar..." Sie blieb stehen, und blickte Aerien fest an. "Er ist tot."
"Nein", wisperte Aerien, und schlug entsetzt die Hand vor den Mund. "Serelloth..."
"Abel war hier", erklärte Narissa, und schluckte angestrengt um die Tränen zurückzuhalten. "Er... er wollte gegen mich kämpfen, aber ich konnte nicht, also lief ich davon. Und dann... traf ich auf Elendar und... er kämpfte gegen Abel, aber ich konnte nicht... konnte nicht..." Narissa blickte zu Boden. "Ich lief wieder weg, doch es war eine Sackgasse. Und als Abel Elendar... getötet hatte, kam er auf mich zu, und dieses Mal musste ich kämpfen. Ich habe verstanden, und ich habe ihn getötet, aber zu spät... zu spät..."
Als sie endete, hörten sie ein Stück vor ihnen einen Laut, der Narissas Herz beinahe in Stücke brechen ließ: Den verzweifelten Aufschrei eines jungen Mädchens.
"Oh, Sterne...", flüsterte Aerien, die noch blasser geworden war, falls das überhaupt möglich sein konnte. "Komm", sagte Narissa, und so schnell Aeriens verletztes Bein es zuließ, eilten sie in die Richtung. Sie erreichten die Kreuzung, an der Narissa Elendar getroffen hatte, wichen dem Körper des Mannes, den er getötet hatte, aus, und sahen in der nächsten Biegung Serelloth neben Elendars Leiche knien. Die Hände des Mädchens zitterten und bewegten sich ziellos, und ihre Lippen bewegten stumm. Als sie sie erreicht hatten, ließ Aerien sich neben Serelloth auf die Knie fallen, und legte ihr wortlos einen Arm um die Schulter.
Einen Moment lang verharrte Narissa regungslos, doch kein Wort fiel. Schließlich wandte sie sich ab, den Schlüssel, den Aerien ihr kurz vorher gegeben hatte, in der Hand. Sie konnte hier nichts tun.

Als sie den Schlüssel in das Türschloss stieß und herumdrehte, rührte ihre Mutter sich erneut im Schlaf. Narissa stieß sie Tür auf, sank neben ihr auf die Knie, und berührte mit zitternder Hand ihre knochige Schulter. "Mutter", flüsterte sie. "Ich bin hier. Narissa." Beim Klang ihres Namens öffnete Herlenna die Augen, und ein Strahlen ging über ihr eingefallenes Gesicht. "He, meine Kleine. Ich habe gewusst, dass du irgendwann kommst." Das Lächeln verschwand, als sie sagte: "Ich habe es gefürchtet."
"Gefürchtet, wieso?", fragte Narissa verwirrt, und strich ihrer Mutter sanft über die Wange. "Ich komme um dich zu retten!"
"Er hat es auch gewusst. Er hat gewusst, dass du eines Tages zu mir kommen würdest. Es ist eine Falle!", stieß Herlenna hervor, und in ihren dunklen Augen stand Angst.
"Ich weiß, dass es eine Falle war", erwiderte Narissa beruhigend. "Aber wir haben sie entschärft, und werden bald in Sicherheit sein."
"Mein Vater hat... dich ausgebildet", stellte ihre Mutter mit einem schwachen Lächeln fest, und setzte sich mühsam ein Stück auf. Narissa konnte sehen, wie viel Kraft sie jede einzelne Bewegung kostete. Zwölf Jahre...
"Das hat er", bestätigte sie, und erwiderte das Lächeln, obwohl ihr eher nach Weinen zumute war. "Und jetzt hole ich dich hier heraus."
Herlenna hob den rechten Arm, und strich Narissa mit einer kalten, kraftlosen Hand über die vernarbte Wange. Dann schüttelte sie den Kopf. "Nein, meine kleine Narissa. Ich bin nicht in der Lage, irgendwo hinzugehen."
Narissa schüttelte verzweifelt ebenfalls den Kopf, und sagte: "Ich werde dich nicht hier zurücklassen. Nicht jetzt. Nicht nach allem, was ich getan habe..." Während sie sprach hatte ihre Mutter den Griff eines der Dolche aus Kerma ertastet, und in mit einer langsamen Bewegung aus der Scheide gezogen. "Nicht zurücklassen...", flüsterte sie. "Du musst mich gehen lassen."
Länger konnte Narissa die Tränen nicht zurückhalten, und sie hinterließen dunkle Flecken auf dem Kleid ihrer Mutter, als sie mit zusammengepressten Lippen den Kopf schüttelte. "Nein. Nein, nein. Ich wollte dich hier raus bringen. Dich retten!"
Herlenna lächelte, ein wenig traurig. "Alles was ich wollte war, dich noch einmal zu sehen bevor ich gehe. Zu wissen, dass es dir gutgehen wird. Ich will es so."
Narissa schüttelte weiterhin stumm den Kopf, und ihre Mutter zog sie in eine letzte Umarmung. "Oh, meine Kleine. Du weißt, dass ich dich sehr lieb habe, nicht wahr? Ich weiß, es ist schwer, aber erfüll mir diesen Wunsch. Ansonsten wäre ich schon vor sehr langer Zeit gegangen."
Sie strich Narissa schwach über den bebenden Rücken, und sagte zu jemandem, den Narissa nicht sehen konnte: "Achte gut auf sie, wer immer du sein magst. Ich kann sehen, wie sehr du sie liebst."
Narissa löste sich aus der Umarmung ihrer Mutter, und sah nach einem Blick über die Schulter Aerien in der offenen Zellentür stehen und stumm nicken. Dann wandte sie sich erneut ihrer Mutter zu, und küsste sie sanft auf die Stirn, während ihr noch immer die Tränen über die Wangen liefen. "Ich habe dich auch lieb, Mutter. Wir sehen uns wieder", flüsterte sie, und ihre Mutter schloss die Finger um den Griff des kermischen Dolches, der neben ihr auf dem Boden lag. "Das werden wir. Aber erst, wenn du dein Leben gelebt hast. Versprich es mir."
"Ich... verspreche es", erwiderte Narissa mit brüchiger Stimme, und erhob sich langsam, obwohl ihre Knie zitterten. Ihre Mutter lächelte müde, aber aufmunternd. "Nun geht, bevor die Wachen zurückkommen."

Aerien ergriff Narissas Hand, und gemeinsam verließen sie das Gefängnis. Sie verließen es unbehelligt durch den Haupteingang, denn unter ihren Kapuzen verborgen schienen die Männer, die damit beschäftigt waren den Teil des Gebäudes, den der brennende Nazgûl in Brand gesetzt hatte, zu löschen, für Überlebende des Kampfes zu halten, und niemand sprach sie an. Sie gingen langsam nach Westen davon, in die nächtliche Landschaft hinein: Aerien, auf Narissas Schulter gestützt, vorneweg, und die vollkommen teilnahmslose, stumme Serelloth hinterher. Sie stolperten über Hügel und Dünen, an niedrigen Büschen und Felsen vorbei, bis sie einen winzigen verlassenen Tümpel, der von einem hohen Dornengestrüpp umstanden wurde, erreichten. Dort, außer Sichtweite des Gefängnisses, hielten sie erschöpft an.

Narissa, Aerien und Serelloth zur Harduin-Ebene

Eandril:
Narissa von vor der Stadt

Qafsah war in Dunkelheit gehüllt, als Narissa am oberen Ende der Treppe durch die eisenverstärkte Tür nach draußen schlüpfte. Die Sonne war inzwischen vollständig untergegangen und auch die Sterne waren verhüllt. Von der südöstlichen Mauer und dem dort gelegenen Haupttor drang der Lärm der Schlacht heran, doch die Gassen der Stadt schienen beinahe vollständig leergefegt zu sein. Vermutlich hatten die Verteidiger die Bevölkerung gezwungen, sich in ihren Häusern zu verbergen. Das kam Narissa nicht gerade gelegen, denn in einer aufgeregten Menschenmenge wäre sie mit Sicherheit weniger aufgefallen. Sie verfluchte nicht zum ersten Mal ihre Haarfarbe, die sie auch in der fast vollständigen auffallen lassen würde, und ärgerte sich über sich selbst, nicht wenigstens eine Kapuze mitgenommen zu haben. Andererseits hatte sie ja nicht damit gerechnet, sich durch die Stadt schleichen zu müssen... Sie hoffte, dass die Zwillinge und auch Eayan, der sich an der der Schlacht abgewandten Seite der Stadt über die Mauern schleichen wollte, besser vorankamen als sie.
Vorsichtig arbeitete Narissa sich durch die engen Gassen voran, duckte sich immer wieder hinter Säulen und Kisten sobald sie irgendwo in der Nähe Schritte hörte. Hin und wieder eilten Trupps Soldaten durch die Stadt, brachten Pfeile oder Verstärkung zur Mauer, doch durch ihre Rüstungen hörte Narissa sie meistens bereits, bevor sie auch nur den Schein ihrer Fackeln sah.
Schließlich erreichte sie den großen Platz vor dem Haupteingang des Palastes, verließ die Gasse durch die sie gekommen war jedoch nicht. Stattdessen kauerte sie sich hinter einem etwas unangenehm riechenden Fass nieder, und versuchte, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Es sah nicht gerade vielversprechend aus. Zumindest von außen war der Palast trotz des Angriffs auf die Mauern so stark bewacht wie gewöhnlich, wenn nicht sogar stärker. Auf dem Vorplatz patrouillierten zwei Gruppen von fünf Wächtern, und vor dem großen Haupteingang zählte Narissa sechs weitere Männer. In der Dunkelheit konnte sie nicht viel mehr erkennen, doch sie war sich sicher, dass alle Nebeneingänge mindestens ebenso stark bewacht wurden. Auf diesem Weg würde es für sie kein einfaches Durchkommen geben - zumindest nicht, solange sie sich nicht etwas unauffälligere Kleidung beschafft hatte.
Schweren Herzens wandte sie sich vom Palast ab und schlich wieder zurück in das Gewirr der Gassen. Dieses Mal wandte sie sich nach Westen, in Richtung des Viertels in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte. Ein, zwei Mal ließen sie ihre Erinnerungen im Stich und führten sie in die Irre, doch schließlich erreichte sie den Hinterhof, den sie so gut kannte. Narissa hoffte, dass Yanas Haus noch leerstand - zwar war es nun schon einige Zeit her, dass sie Qafsah verlassen hatte, doch es war Narissas einzige Hoffnung, einen unauffälligen Unterschlupf zu finden.
Hinter den Fensterläden war kein Lichtschein zu erkennen. Narissa stieg vorsichtig die drei hölzernen Stufen zur Hintertür des Hauses hinauf, bemüht, jedes Knarren der Bretter zu vermeiden. Sie verschloss ihren Geist gegen die Flut an Erinnerungen, die bei jedem Schritt auf sie einstürzten - Erinnerungen an ihre Kindheit, aber auch an das letzte Mal, das sie hier in Qafsah gewesen war. Erinnerungen an Níthrar, der dreimal leise an der Tür klopfte, vor der sie jetzt Stand. An Aerien, die bleich und mit weit aufgerissenen Augen zur Tür hereinstürzte nach ihrer Begegnung mit dem Nazgûl in den Straßen der Stadt. An Yanas müdes und ausgezehrtes Gesicht. An Serelloth und Elendar, glücklich, bevor alles schiefgegangen war. An Aerien, wie sie in ihrem Kleid vor dem Spiegel stand. An Aerien, die aus dem Palast zurückkehrte, lächelnd. An Aerien...
Narissa atmete tief durch, und legte die Hand gegen den Türgriff, drückte - doch die Tür rührte sich nicht. "Kein Grund zur Panik", flüsterte sie sich selbst zu. "Wahrscheinlich hat Yana die Tür damals verriegelt, damit nicht irgendwelche Strolche hier einziehen..." Die Tür hatte kein Schloss, und wenn sie sich richtig erinnerte, wurde von innen ein Riegel vorgelegt, um sie zu verschließen. Sie zog Ciryantans Dolch hervor, und schob ihn in den Spalt zwischen Tür und Rahmen. Es dauerte nicht lange bevor sie den Riegel gefunden und angehoben hatte.
Die Tür knarzte leise, als Narissa sie einen Spalt weit aufdrückte, und ins beinahe stockfinstere Innere des Hauses schlüpfte. Drinnen roch es keineswegs so abgestanden wie sie erwartet hatte, doch bevor sie Zeit hatte darüber nachzudenken, hatte sich von hinten eine kalte Klinge an ihrer Kehle gelegt.
Narissa erstarrte. Sie nahm sich keine Zeit, sich über ihre Unvorsichtigkeit zu ärgern - dazu würde sie später Gelegenheit haben. Falls es ihr gelang, sich aus dieser Situation irgendwie herauszuwinden...
"Wer immer du bist...", begann sie leise und mit gezwungen ruhiger Stimme, und hob langsam beide Hände. Bevor sie weitersprechen konnte, war die Klinge bereits von ihrem Hals verschwunden, und eine weibliche Stimme sagte: "Bist du verrückt hier einfach so aufzutauchen?" Eine bislang abgedeckte Lampe erhellte flackernd den Raum, und Narissa sah sich ihrer Kindheitsfreundin Yana gegenüber.


Fünfzehn Jahre zuvor...

"Mutter hat mir schon wieder die Haare abgeschnitten", schniefte Narissa, und vermied es dabei Yanas schwarze Haare, die dem anderen Mädchen bis auf den Rücken hinunterfielen, anzusehen. Ihre Freundin strich ihr sanft über den Rücken. "Schon wieder Läuse?", fragte sie mitfühlend. "Das kann doch nicht sein. Bei euch ist es doch immer sauber." Narissa fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase und schniefte erneut. Für ein Mädchen von acht Jahren war es nicht leicht, immer mit kahlem Kopf oder mit Mütze herumzulaufen, während all ihre Freundinnen normal aussahen. Sie hatte darüber schon viel Spott und Hänseleien von den anderen Kindern des Viertels auf sich gezogen, nur von Yana nicht. Deshalb saßen sie jetzt auch gemeinsam am Fuß eines der mächtigen Wachtürme von Qafsahs Mauer, nachdem Narissa nach überstandener Kopfrasur so schnell wie möglich von zuhause weggelaufen war. Natürlich hatte Yana sie als erste gefunden. Eine beste Freundin wusste schließlich immer, wo die andere beste Freundin war.
"Kannst du deine Mutter nicht irgendwie überreden, deine Haare einfach wachsen zu lassen?", fragte Yana gerade. "Das kann doch nicht wirklich nötig sein."
Narissa wischte sich eine unwillkommene Träne aus dem Augenwinkel. "Ich hab's ja schon versucht. Immer wieder. Aber sie hört mir nie richtig zu. Und sie findet immer einen Grund."
"Deine Mutter ist schon ein bisschen seltsam." Da hatte Yana Recht. Narissa liebte ihre Mutter, keine Frage... aber seltsam war sie schon. Nicht nur wegen der Sache mit den Haaren. Wenn Narissa ihre Mutter mit den anderen Bewohnern Qafsahs verglich, fiel ihr auf, dass sie eher einigen der reisenden Händler oder Zuwanderer glich als den Leuten, deren Familien schon seit Ewigkeiten in der Stadt lebten. Manchmal verschwand sie auch ohne Erklärung für ein paar Tage und kehrte hin und wieder plötzlich mitten in der Nacht zurück. Ihr Vater, Yaran, schien zwar irgendetwas darüber zu wissen, doch Narissa hatte noch nie Erfolg damit gehabt, auch nur irgendein Wort aus ihm heraus zu bekommen.
"Und du bist auch seltsam", redete Yana weiter, doch bevor Narissa aufbrausen konnte, hatte Yana den Arm um ihre Schultern gelegt und sie an sich gezogen. "Aber du bist trotzdem meine beste Freundin für alle Zeiten, Nissa."


"Bist du verrückt, hier zu sein?", gab Narissa im gleichen Tonfall zurück, noch bevor ihr der mächtig gerundete Bauch auffiel, den ihre Freundin vor sich hertrug. Sie schlug vor Schreck die Hand vor den Mund. "Yana, du bist..."
"Schwanger, ich weiß." Yana ließ sich mit einem Ächzen auf die Kante ihres Bettes fallen und lächelte bitter. Auf ihrer Stirn glänzten Schweißtropfen im flackernden Licht der Lampe. Narissa setzte sich ein wenig zögerlich neben sie. Eine Stimme in ihrem Hinterkopf versuchte sie zu erinnern, dass sie eigentlich keine Zeit dafür hatte, doch sie hörte nicht hin. "Von wem? Seit wann?"
"Seit wann? Kurz bevor ich die Stadt mit euch verlassen habe", erwiderte Yana. "Von wem? Von irgendeinem meiner Freunde im Palast, aber genauer... keine Ahnung." Narissa spürte, wie sie zusammenzuckte und ein wenig verkrampfte, und legte ihr einen Arm um die Schultern. "Und Eayan hat dich wieder zurückgeschickt? In dem Zustand?"
Yana schüttelte den Kopf. "Er wusste nichts davon." Ihre Stimme klang beinahe ein wenig schuldbewusst. "Ich habe ihm angeboten, zurück nach Qafsah zu gehen, als Informantin, und er hat das Angebot angenommen."
"Und du... du wusstest bereits Bescheid?" Yana blickte in ihren Schoß hinunter. "Ich hatte bereits den Verdacht. Aber... ich wusste, dass ich noch ein paar Monate Zeit hatte. Und ich wollte helfen. Ich wollte nützlich sein, wie du oder Aerien." Ihre Stimme zitterte ein wenig.
Narissa fasste ihre Schulter ein wenig fester. "Oh, schön. Mach mir nur Schuldgefühle..."
"Das... war nicht meine Absicht, Nissa. Ich wollte auch, dass mein Kind in Qafsah zur Welt kommt. Was auch immer hier geschehen sein mag, es ist die einzige Heimat die ich habe."
"Du hättest eine andere haben können!", fuhr Narissa auf, beruhigte sich aber sogleich wieder, als Yana zusammenzuckte. "Du hättest mit mir kommen können. Wir hätten dir eine neue Heimat geben können."
"Vielleicht", erwiderte Yana müde. "Aber das ist jetzt gerade nicht von Belang." Sie stöhnte leise auf und krümmte sich ein wenig. Narissa sprang von der Bettkante auf. "Du... heißt das... Wann hat es angefangen?" Mit einem Schlag hatte sie begriffen.
"Nicht allzu lange bevor du hier aufgetaucht bist." Yana lächelte schwach. "Du bist genau zum falschen - oder richtigen - Zeitpunkt gekommen." Narissa ergriff ihre Hand, die eiskalt war. "Was soll ich tun?"

Nur kurze Zeit später hastete Narissa, dieses Mal ohne große Vorsicht walten zu lassen, durch die engen Gassen. Mit Mühe ignorierte sie die Stimme in ihrem Hinterkopf, die ihr immer drängender vorwarf, Zeit zu verschwenden. "Sie war... ist meine beste Freundin", flüsterte sie vor sich hin. "Und sie braucht Hilfe." Sie blieb vor einem ein wenig schiefen Haus mit einer Tür, die offenbar vor langer Zeit einmal blau angemalt worden war, stehen, und klopfte kräftig dagegen. Sie hielt es vielleicht drei Augenblicke aus, bevor sie erneut klopfte.
"Ja, ja. Nur keine Hast", ertönte eine Stimme von drinnen, bevor sich schlurfende Schritte näherten und die Tür geöffnet. "Etwas wichtiges, nehme ich an?", fragte die leicht gebeugte Frau, in deren grauen Haaren sich nur noch einzelne schwarze Strähnen zeigen.
"Ihr seid Safina?", fragte Narissa ein wenig atemlos. "Die Hebamme." Die Alte nickte knapp. "Um wen geht es? Offenbar ja nicht um dich selbst", fügte sie hinzu, nachdem sie Narissa von oben nach unten betrachtet hatte.
"Yana bint'Ayman", stieß Narissa hervor, und bevor sie mehr sagen konnte, unterbrach die Hebamme sie bereits. "Ah, ist es also soweit." Sie warf einen Blick nach Süden, von wo noch immer die Geräusche der Schlacht herandrangen. "Sie hat sich ja eine schöne Nacht ausgesucht. Der Sultan hat eine Ausgangssperre verhängt..." Narissa wollte schon protestieren, als Safina mit der Zunge schnalzte. "Na, ein Kind interessiert sich selten dafür, ob der Zeitpunkt gerade passt. Gib mir einen Augenblick, meine Sachen zu holen."

In Yanas Haus lief Narissa unruhig auf und ab. Yana lag auf dem Bett, während die Hebamme Safina saubere Tücher und Wasser bereit stellte und allerlei andere Vorbereitungen traf, die Narissa vollkommen rätselhaft erschienen. Vielleicht hatte ihre Ausbildung auf Tol Thelyn doch einige Lücken gelassen...
"Du hast mir noch nicht gesagt, warum du überhaupt hier bist", sagte Yana plötzlich. Narissa zuckte zusammen, aus ihren Gedanken gerissen. Die Stimme, die sie zur Eile antrieb, übertönte mit einem Mal alles andere. "Ich..." Sie atmete tief durch, blieb stehen und sah ihrer Freundin direkt ins Gesicht. "Du weißt, warum ich hier bin."
"Ich kann es mir denken", erwiderte Yana leise, und presste die Lippen aufeinander. "Allerdings frage ich mich, warum du dann hier bist und nicht im Palast."
"Der Palast ist bewacht", erklärte Narissa, und fuhr sich mit der Rechten durch die Haare. "Und damit bin ich zu auffällig um mich hereinzuschleichen. Langsam verstehe ich, warum meine Mutter sie immer abgeschnitten hat..."
Yana lachte leise. "Ich habe oben einige Mäntel und Kapuzen liegen. Nimm was du brauchst. Und außerdem..." Sie zog einen kleinen eisernen Schlüssel hervor. "Den wirst du auch brauchen." Narissa nahm den Schlüssel stumm entgegen, und schloss für einen Augenblick ihre Hände um Yanas.
"Erinnerst du dich an einen Mann namens Hazin? Er hat Aerien damals in den Palast gebracht. Der arme Kerl hat mich während meiner Abwesenheit offenbar schrecklich vermisst..." Yana lächelte leicht, und erklärte: "Er hat mir den Schlüssel gegeben. Auf der Ostseite der Gärten gibt es eine kleine Lücke in der Mauer - wenn ich es geschafft habe, mich hindurch zu quetschen, schaffst du es erst recht. Wenn du den Palast erreichst, folge der Wand nach Norden. Es gibt dort eine kleine Tür, zu der der Schlüssel passt."
Narissa ließ den Schlüssel vorsichtig in den Beutel, der auch ihre Dolche enthielt, gleiten. "Was ist mit diesem Hazin? Wird er nicht dort sein?" Yana schüttelte den Kopf, und ihre Augen schimmerten verdächtig. "Vor drei Wochen hat Sûladan ihn für irgendeinen Fehlschlag verantwortlich gemacht und auf dem Platz vor dem Palast hinrichten lassen." Narissa drückte ihre an. "Tut mir Leid", sagte sie schlicht, und Yana schniefte ein wenig. "Er war sicherlich kein guter Mann", erwiderte sie. "Aber zu mir war er immer nett und niemals grausam - das ist mehr, als all die anderen behaupten könnten."

Nachdem sie sich Mantel und Kapuze übergezogen hatte, eilte Narissa die schmale Treppe wieder hinunter. Am Fuß der Treppe wurde sie von Safina aufgehalten, deren Hand sich mit einem für eine ältere Frau erstaunlicher Kraft um ihren Oberarm schloss. "So eilig, deine Freundin in dieser Lage allein zu lassen?", fragte die Hebamme ausdruckslos.
"Ich... muss", gab Narissa zurück. "Ich habe getan, was ich konnte." "Du könntest ihr Beistand leisten." "Sie will es selbst so. Sie will, dass ich meine Aufgabe erfüllen kann." "Das muss eine wichtige Aufgabe sein", sagte Safina ein wenig verächtlich. "Und ganz egal, was sie sagt: Ihr wäre es sicherlich lieber, du würdest sie nicht alleine lassen. Vielleicht bereust du es hinterher."
"Ist das eine Drohung?", zischte Narissa zornig, und die Alte schüttelte den Kopf. "Eine Warnung. Keine Geburt ist jemals ungefährlich, schon gar nicht, wenn die Mutter nicht bei vollen Kräften ist - und das ist sie nicht. Überlege dir gut, was dir wichtiger ist." Sie ließ Narissas Arm los, doch ihre Worte versetzten Narissa einen Stich ins Herz. Die Wahl, vor sie Safina - nein, das Schicksal - sie stellte, erschien ihr mit einem Mal unmöglich.
Sie trat ein wenig zögerlich an Yanas Bett heran, und kniete sich dann neben ihre Freundin. "Worum ging es da?", fragte Yana leise, und Narissa schüttelte den Kopf. "Nicht wichtig." Sie konnte geradezu fühlen, wie sich Safinas Blicke in ihren Nacken bohrten. "Hör zu... ich würde gerne bleiben. Aber wenn ich das tue, gebe ich auf, und viele Menschen werden unnötig sterben." Sie umarmte Yana kurzentschlossen, und flüsterte ihr ins Ohr: "Ich komme wieder - nachher. Also sieh gefälligst zu, dass du dann auch noch da bist."


Die Gärten, die sich im Norden und Osten um den Palast herumzogen, lagen in beinahe vollkommener Dunkelheit. Von einer hohen, von Eisenspitzen gekrönten, Mauer umgeben wurden sie offensichtlich längst nicht so sehr bewacht wie der Palast selbst. Auf dem Weg hierher hatte Narissa mehreren Soldatengruppen ausweichen müssten, je mehr sie sich dem Palast näherte umso öfter. Sie hatte es ungesehen geschafft, doch dafür länger gebraucht, als ihr lieb war. Vorsichtig tastete sie sich an der Ostseite der Mauer entlang, eine Hand über die Steine streichend, auf der Suche nach der Lücke von der Yana ihr erzählt hatte. Mit einem trafen ihre Finger auf etwas Spitzes, und vorsichtig tastend stellte sie fest, dass irgendeine stachelige Pflanze hier die Mauer überwuchert hatte. Sie schob zwei Ranken ein Stück auseinander, und tatsächlich - dahinter befand sich eine schmale Lücke im Stein. Das erklärte, warum das Loch unentdeckt geblieben war... "Natürlich hat sie euch nicht erwähnt", raunte sie den Dornen zu, bevor sie sich kurzentschlossen zwischen die Ranken quetschte. Trotz aller Vorsicht riss ihr ein besonders langer Dorn das Hemd an der rechten Schulter auf, und sie spürte ein wenig Blut an ihrem Arm herunterlaufen.
Auf der anderen Seite angekommen, duckte sie sich hinter eine Hecke, und betastete die Wunde vorsichtig. Zum Glück hatte war sie nicht besonders groß, und das Blut floss weniger als befürchtet. Also kein Grund zum Anhalten.
Bei einem Blick über die Hecke stellte Narissa fest, dass auch hier in den Gärten mindestens zwei Wächter mit Fackeln patrouillierten - aber das würde keine große Schwierigkeit darstellen. Hier gab es mehr als genug Deckung, und das Licht der Fackeln würde die Wachen blind machen für alles, was sich in der Dunkelheit außerhalb ihres Lichtkreises bewegte. Nicht viel später erreichte sie die Ostmauer des Palastes, und schlich rasch in nördlicher Richtung daran entlang. Die kleine Tür war genau dort, wo Yana sie beschrieben hatte, und auch der Schlüssel passte. Hinter sich hörte sie im Kies knirschende Schritte näher kommen, und so atmete Narissa tief durch, und schlüpfte ohne weiteres Zögern durch die Tür.

Drinnen war es stockfinster. Narissa beschloss, das als gutes Zeichen zu werten - offenbar hielt sich niemand in dem Raum, in den sie gekommen war, auf. Sie tastete sich langsam voran, und stieß dabei mit dem Fuß gegen eine Reihe Metallspitzen. Eine Harke, stellte sie fest - nur gut, dass sie nicht darauf getreten war. Von einer Harke ohnmächtig geschlagen zu werden, wäre ein besonders peinliches Scheitern ihrer Mission gewesen. Der Gedanke ließ sie unwillkürlich lächeln, und ihre Anspannung löste sich ein wenig - aber nur ein wenig. Seit sie den Palast betreten hatte, hatte sich ein unbehagliches Gefühl tief in ihrer Magengrube festgesetzt. Sie war jetzt allein. Das letzte Mal in Qafsah waren Aerien, Serelloth und Elendar bei ihr gewesen. Und später hatte sie fast immer Aerien an ihrer Seite gewusst - ob in Kerma oder Mordor. Doch jetzt war sie vollkommen allein. Wenn sie Glück hatte, schlich Eayan irgendwo im Palast herum, doch darauf konnte sie sich nicht verlassen. Sie würde sich vollständig auf sich selbst verlassen müssen, zum ersten Mal seit langer Zeit.
Die Harke verriet ihr, dass es sich bei dem Raum vermutlich um eine Art Lager für die Diener, die sich um die Gärten kümmerten, handelte. Deshalb wurde er auch nicht weiter bewacht - kein Wunder, dass dieser Hazin diesen Weg genutzt hatte, um Yana zu einem Stelldichein in den Palast zu schmuggeln. Der Gedanke verursachte ihr Übelkeit.
Gegenüber der Eingangstür kam sie durch einen Vorhang in einen breiten Flur, der mit dicken Teppichen ausgelegt war und in regelmäßigen Abständen von Fackeln erhellt wurde. Das war nicht gut, denn auf dem Teppich würde sie Schwierigkeiten haben, sich nähernde Wachen rechtzeitig zu hören, und im Fackellicht wäre sie selbst jederzeit leicht zu entdecken. Tatsächlich bog in genau dem Augenblick ein Wächter um die Ecke, und Narissa zog noch gerade rechtzeitig den Kopf hinter den Vorhand zurück. Sie atmete flach und verharrte reglos, lauschend. Der Schatten des Mannes zog vor dem Vorhang vorbei, und die vom Teppich gedämpften, kaum hörbaren Schritte entfernten sich langsam wieder.
Soweit, so gut, dachte Narissa. Es gab nur ein weiteres Problem - sie hatte keine Ahnung, in welcher Richtung genau die Gemächer des Sultans lagen. Doch allein durch Warten würde sie es mit Sicherheit nicht herausfinden. "Also los", wisperte sie, und trat in den Flur hinaus, Ciryatans Dolch in der Hand. Zu ihrer Rechten konnte sie noch die sich allmählich entfernende Gestalt des Wächters erkennen, also wandte sie sich nach links um die Ecke - wo sie sich augenblicklich zwei weiteren Männern, die eine Tür bewachten, gegenüber sah. Die Wächter wirkten zu ihrem Glück mindestens ebenso erschrocken über ihr plötzliches Auftauchen wie sie selbst. "Guten Abend", stieß Narissa hervor, um die Aufmerksamkeit der Männer auf ihr Gesicht zu lenken, und sprang vorwärts. Sie packte den Speer des ersten Wächters mit der linken Hand und zog. Vollkommen überrumpelt stolperte der Mann nach vorne und entblößte dabei den Hals. Ihren Schwung ausnutzend führte Narissa den Dolch schräg nach oben und rammte ihm so die Klinge geradewegs in die Kehle. Noch während er mit einem gurgelnden Geräusch in die Knie brach nutzte Narissa seinen Speer, um sich vom Boden abzustoßen und dem anderen Wächter mit den Füßen voran gegen die Brust zu springen. Da sie keine Schuhe trug, schmerzte der Aufprall mehr als erwartet, hatte aber den gewünschten Effekt. Ihr Opfer verlor das Gleichgewicht und stürzte schwungvoll auf den Rücken, während Narissa über ihn hin flog, weich wieder auf den Füßen landete und ihm aus der Drehung den zuvor zweckentfremdeten Speer zielgenau durch die Lücke, die sich durch den Sturz am oberen Ende des Brustpanzers geöffnet hatte, in die Brust stieß. Der Wächter zuckte noch zweimal kurz, und lag dann still.

Eine mitten in der Nacht bewachte Tür bedeutete, dass sich auf der anderen Seite etwas wichtiges befand - vielleicht der Sultan selbst. Ohnehin blieb Narissa kaum eine Wahl, denn selbst wenn durch irgendein Wunder niemand den Kampf gehört hatte, würde die nächste Patrouille hier zwei Leichname finden und den Rest des Palastes alarmieren. Narissa stieß die Tür mit der Schulter auf, jetzt neben Ciryatans Dolch rechts auch Schwalbe in der linken Hand, kampfbereit. Doch statt Sûladan oder einem Raum voller Wachen gegenüberzustehen, sah sie sich mehreren verschreckten Frauengesichtern gegenüber. Sie senkte ihre Klingen, und zog rasch die Tür hinter sich zu.
"Keine Sorge, ich bin nicht euretwegen hier", sagte sie hastig, und dennoch wichen die Frauen gleichzeitig einen Schritt zurück, als sie näher kam. Sie musste in Sûladans Harem gelandet sein - kein besonders schöner Gedanken, doch andererseits bedeutete das wahrscheinlich, dass der Sultan nicht weit entfernt war.
"Mörderin!", stieß eine der jüngeren Frauen mit einem Mal panisch hervor, und öffnete den Mund wie zum Schrei, doch eine andere legte ihre die Hand davor. "Hier, um den Sultan zu töten?", fragte die zweite Frau, die deutlich älter wirkte.
Narissa nickte. Lügen hatte hier keinen Sinn mehr. "Wir sollten sie gehen lassen", mischte sich eine dritte Frau ein. "Das geht nicht", stieß die erste hervor, die sich von der Hand auf ihrem Mund befreit hatte. "Er wird uns bestrafen."
"Na und?", erwiderte die, die ihr den Mund zugehalten hatte. "Wenn er will findet er sowieso einen Grund." Weitere Frauen mischten sich ein - einige sprachen sich dafür aus, die Wachen zu alarmieren, andere wollten Narissa einfach gewähren lassen. Bevor Narissa Gelegenheit dazu hatte, sich selbst zu Wort zu melden, fühlte sie ein leichtes Tippen auf ihrer Schulter. Als sie sich umwandte, blickte sie in ein nicht mehr ganz jugendliches, aber nicht altes Frauengesicht - ihr Gegenüber mochte vielleicht zehn Jahre älter sein als sie, mehr nicht.
"Sie werden noch ewig diskutieren", wisperte die andere Frau, und ergriff ein wenig schüchtern Narissas Hand. "Komm mit." In Ermangelung besserer Möglichkeiten ließ Narissa sich von ihr mitziehen, und folgte ihr unauffällig durch eine Seitentür in einen kleinen Raum mit zwei Betten. Im kleineren Bett saß ein Junge von vielleicht acht oder neun Jahren, und starrte Narissa mit großen Augen an.
"Schsch", machte die Frau an das Kind gerichtet. "Leise." Sie wandte sich wieder Narissa zu. "Du bist sie, nicht wahr? Sûladans Tochter?"
Narissa erstarrte. "Woher weißt du davon?" "Der Sultan... wird manchmal redselig, wenn er zu viel Wein getrunken hat. Er redet häufig von dir. Wie du sein einziges Kind bist, dass seiner würdig wäre." Narissa presste so heftig die Zähne aufeinander, dass sie schmerzten. "Er mag mich gezeugt haben, aber das macht ihn nicht zu meinem Vater."
Der Junge zupfte am Gewand der Frau. "Mutter... wer ist das?" "Ruhig, Ishaq", flüsterte seine Mutter. Narissa stieß den angehaltenen Atem aus. "Sûladans Sohn?" Die Frau nickte. "Sein einziger. Aber er... der Sultan ist nicht zufrieden mit ihm. Er ist ihm nicht hart genug."
Draußen wurde die Tür zum Harem krachend aufgestoßen, und Narissa hörte, wie mehrere Wächter in den Raum stürmen. Die Frau, deren Namen sie immer noch nicht wusste, berührte sie kurz an der Schulter. "Bleib hier", sagte sie leise, und schlüpfte aus dem kleinen Nebenzimmer zurück in den Hauptraum, aus dem aufgeregte Stimmen zu hören waren. Narissa wartete ab, zwang sich, ruhig zu atmen. Wenn die Frau sie verriet saß sie rettungslos in der Falle.
Eine kleine Hand berührte ihren Ellbogen. "Wer bist du?", fragte der Junge - Sûladans Sohn - sie erneut. "Ich... heiße Narissa", antwortete sie mit trockenem Mund, während sie auf die Stimmen draußen lauschte und auf jedes Anzeichen, dass gleich eine Horde Wächter das kleine Zimmer stürmen würde. Während sie lauschte, war ihr der Gedanke, dass dieser Junge ihr Halbbruder war, unangenehm präsent. "Bist du gekommen um den Sultan zu ermorden?"
Narissa stockte, und für einen Augenblick war sie abgelenkt. Sie blickte dem Jungen, Ishaq, ins Gesicht. Seine Miene zeige keinerlei Schrecken bei dem Gedanken, und irgendetwas hielt sie davon ab, zu lügen oder abzulenken. "Ja", antwortete sie schlicht. "Er..." "... ist böse", flüsterte Ishaq. "Immer will er mich dazu bringen, jemandem wehzutun. Aber ich will nicht."
Draußen verstummten die Stimmen, und die eiligen Schritte der Wächter entfernten sich wieder. Vor der Tür hörte Narissa dafür die Stimme von Ishaqs Mutter: "Das ist kein besonders guter Zeitpunkt, Herr. Er... er schläft." "Unsinn, Alia", erwiderte eine männliche Stimme, und die Tür öffnete sich. Narissa blieb im Schatten der Tür stehen, bis der Mann ganz in den Raum getreten war, drückte ihn dann mit dem Rücken gegen die Wand und setzte ihm die Spitze ihre Dolches gegen die Kehle. "Kein Laut", zischte sie. Alia, die ihm gefolgt war und hastig die Tür hinter sich geschlossen hatte, stand mit dem Rücken zur Tür und hatte vor Schreck die Hände vor den Mund geschlagen. Der Mann hingegen wirkte deutlich weniger beeindruckt. "Aah", machte er gedehnt. "Also nicht durchs Fenster geflüchtet." Er warf Alia einen Seitenblick zu. "Amenzu al-Irat, Statthalter von Qafsah", stellte er sich vor, als würde er sich auf einem herrschaftlichen Empfang befinden und nicht ein Messer an der Kehle haben. "Ihr müsst die berüchtigte Narissa sein - Sûladans Bastardtochter."
"Ganz recht", gab Narissa zurück, ohne den Dolch auch nur einen Millimeter von seiner Kehle zu entfernen. "Ihr könnt euch denken, warum ich hier bin."
"Nun, vermutlich nicht um zu eurem liebenden Vater zurückzukehren", erwiderte Amenzu mit beißender Ironie. "Er hat sich ja so geärgert, als ihr damals der kleinen Falle mit dem Gefängnis entkommen seid." Narissa verstärkte ein wenig den Druck der Klinge. "Ah, nun", stieß Amenzu hervor, und Narissa stellte mit Befriedigung fest, dass er nun doch ein wenig nervös wirkte. "Das wird wirklich nicht nötig sein. Ich habe keineswegs vor, euch aufzuhalten. Ganz im Gegenteil."
Narissa war geneigt ihren Ohren zu misstrauen. Sie blickte zu Alia hinüber, die ihren Blick fest erwiderte und langsam nickte.
"Erklärt." Mehr sagte Narissa nicht, und sie nahm den Dolch auch nicht von Amenzus Kehle, auch wenn sie den Druck ein wenig verringerte. Der Statthalter seufzte. "Nun gut. Sûladans Herrschaft ist... sagen wir, untragbar geworden. Mit jeder Niederlage gegen diesen Emporkömmling Qúsay wird er unberechenbarer, und dieses Bündnis mit Mordor... nun, es bring nur Elend und Leid über diese Stadt. Die Anwesenheit von Mordors Boten liegt immer wieder wie eine Wolke über unseren Köpfen." Er machte eine vorsichtige Kopfbewegung in Richtung Ishaqs, der zwischen den Betten stand und die Konfrontation mit großen Augen verfolgte. "Es wird Zeit für einen Machtwechsel."
Allmählich wurde Narissa klar, welches Spiel der Mann spielte. "Mit einem Kind als Marionette und euch als eigentlichem Machthaber", stellte sie fest.
Amenzu lächelte. "Ein Regent wird benötigt, und wer wäre dafür besser geeignet als jemand mit jahrzentelanger Erfahrung? Ich leugne nicht, dass ich eigene Interessen verfolge. Aber in diesem Augenblick kann euch das egal sein, nicht wahr?"
Da konnte Narissa ihm kaum widersprechen. Zögerlich nahm sie die Klinge von seinem Hals, und Amenzu atmete tief durch.
"Sobald Sûladan tot ist, werdet ihr die Stadt an Qúsay übergeben", begann Narissa, und überlegte kurz. "Bietet ihm folgendes an: Qafsah wird ihn als seinen Oberherrn anerkennen, sofern er Ishaq als Fürsten von Qafsah akzeptiert. Und meinetwegen euch als Regenten." Der Statthalter breitete die Hände aus und lächelte gewinnend. "Genau das wäre mein Vorschlag gewesen. Die Details werden wir dann klären." Sein Lächeln schwand, als er hinzufügte: "Es gibt allerdings einen Makel an diesem Plan - wir sind nicht die einzigen Verschwörer, die den Sultan gerne beseitigen und beerben würden."
"Taraezaphel", vermutete Narissa in Gedenken an die Nachricht, die Valions Onkel ihnen überbracht hatte. Amenzu nickte. "Und sie ist nicht allein." Er warf einen etwas schuldbewussten Blick in Ishaqs Richtung. "Ishaq ist nicht Sûladans einziger Sohn."
"Mustqîm", stieß Narissa hervor und verzog angewidert das Gesicht. "Was? Er?" Alia wirkte geschockt. "Er ist Sûladans Sohn?" Sie blickte ängstlich in Richtung ihres eigenen Sohnes, der bei Mustqîms Namen blass geworden war. "Er... hat gesagt, dass er mich eines Tages töten wird", sagte der Junge leise. "Er hat dabei gelächelt, aber ich habe gemerkt, dass er es ernst meinte."
"Ohne Zweifel", erwiderte Narissa ernst. "Aber mit Mustqîm werde ich zur Not jederzeit fertig."
"Schön." Amenzu rieb sich die Hände, als könnte er seinen Machtgewinn bereits spüren. "Es gibt einen versteckten Gang, der vom Harem aus zu den Gemächern des Sultans führt. Er wird nicht bewacht - und von da an sollte die ganze Sache doch ein Kinderspiel sein, nicht wahr?"


Während sie durch den schmalen Gang, der immer aufwärts führte, schlich, klopfte Narissas Herz so laut, dass sie fürchtete den ganzen Palast damit zu alarmieren. Oft wahr sie in dieser Nacht gerade so dem Scheitern entgangen, doch es nahte der Moment, in dem sich alles entscheiden würde. Der Moment, in dem sie ihre Mission endlich erfüllen und ihre Rache bekommen, oder scheitern und sterben würde, ohne Aerien, Yana oder ihre Heimat jemals wiederzusehen. Der Gang endete an einer Tür, die vermutlich auf dieser Seite ebenso wie im Harem in den Verzierungen der Wände versteckt war. Narissa atmete dreimal tief durch um ihr beinahe rasendes Herz zu beruhigen, und trat dann durch die Tür ins Freie.
Sûladan erwartete sie bereits.

"Meine verlorene Tochter", sagte er mit weit ausgebreiteten Armen. "Ich freue mich, dass du es geschafft hast." Ohne ein Wort warf Narissa Ciryatans Dolch in seine Richtung, doch der Sultan wich mit einer beinahe beleidigenden Mühelosigkeit aus und die Klinge traf die gegenüberliegende Wand, prallte davon ab und landete klirrend auf dem Boden. Sûladans schwarze Augen leuchteten auf. "Sehr gut. Ich hatte mir nicht weniger erhofft." Narissa hatte bereits Nachtigall als Ersatz in der Hand und spannte sich zum Sprung an, als der Sultan die Hand hob. "Augenblick. Dafür ist gleich immer noch Zeit - ich verspreche auch, nicht nach meinen Wachen zu rufen. Die im Augenblick übrigens vermutlich am anderen Ende des Palastes verzweifelt nach dir suchen." Er lächelte, und dieses Lächeln jagte Narissa einen Schauer über den Rücken. Sie nutzte die Gelegenheit, Sûladan etwas genauer zu betrachten. Der Sultan war hochgewachsen, ein gutes Stück größer als sie, und hatte pechschwarze Haare, die ihm hinten in den Nacken fielen. Trotz seiner überlegenen Haltung wirkte er angegriffen - er war bleicher als sie erwartet hatte, und unter seinen schwarzen Augen lagen dunkle Ringe. "Was willst du?", fragte sie kalt und ohne ihn aus den Augen zu lassen. "Hm... keine Spur von mir in diesem Gesicht", sagte der Sultan beinahe ein wenig enttäuscht. Offensichtlich hatte er sie ebenso gründlich gemustert wie sie ihn. "Wenn nicht äußerlich, dann doch vielleicht innen. Ich habe deinen Weg gründlich beobachtet, und ich bin beeindruckt. Ich denke, in dir steckt mehr von mir als du vielleicht wahrhaben willst."
Narissa schüttelte verächtlich den Kopf. "Hast du vor, dir mit Schmeicheleien das Leben zu retten?"
"Nein, nein...", gab Sûladan zurück. "Das wird nicht nötig sein. Aber vielleicht... Ich brauche einen Erben. Ich habe ein Balg von einer meiner Konkubinen, aber der ist zu nichts nutze. Mustqîm... mit dem ist schon mehr anzufangen, aber er ist längst nicht so beeindruckend wie du. Gemeinsam könnten wir diesen Emporkömmling Qúsay vernichten, und ganz Harad unter einem Banner vereinen. Selbst Mordor könnte uns nicht widerstehen! Ich habe gehört, was du dort getan hast!" Bei seinen letzten Worten schien ein kalter Wind durch das Gemach zu wehen. Narissa blickte in Sûladans Augen, und sah dort den Wahnsinn funkeln.
"Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du meine Eltern getötet hast." Sie sprang vor, doch sofort hatte Sûladan seinen Krummsäbel in der Hand. "Dann eben auf die unangenehme Weise", stieß er hervor, und parierte ihren ersten Stoß mühelos.

Sûladan war schnell wie eine Schlange, und Narissa an Schnelligkeit beinahe gleichwertig. Seine Größe und sein Krummsäbel verschafften ihm zu dem einen Reichweitenvorteil, und sehr schnell wurde Narissa klar, dass dieser Kampf sehr viel ausgeglichener sein würde als sie erwartet hatte. Sie wirbelte um den Sultan herum, versuchte seine Aufmerksamkeit immer auf den einen Dolch zu richten und mit dem anderen eine Lücke in seiner Deckung zu finden. Doch er schien immer zu ahnen, wo der nächste Angriff kommen würde, und parierte, wich aus, immer und immer wieder. Schließlich traf sie doch, und Sûladan machte einen Sprung nach hinten. An seinem linken Oberarm war der Stoff seines Gewandes aufgerissen, und darunter lief ein wenig Blut aus einem oberflächlichen Schnitt. "Das erste Blut geht an dich", sagte er ein wenig außer Atem. Er wirkte merkwürdig zufrieden. Narissa gab ihm keine Antwort, sondern griff wieder an.
Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie gekämpft hatten, als Sûladans Säbel sie an der gleichen Stelle traf, an der sie ihn zuvor verletzt hatte - er versetzte ihr ebenfalls nur einen sehr oberflächlichen Schnitt, und gerade diese Tatsache verunsicherte sie. Spielte er nur mit ihr? Hatte er einen Plan, den sie nicht durchschaut hatte? Ihre Verunsicherung brachte sie ein wenig aus dem Rhythmus, und mehr brauchte der Sultan nicht. Unvermittelt hörte sie einen Knall, und etwas wickelte sich schmerzhaft fest um ihr rechtes Handgelenk. In Ruck ließ sie unwillkürlich nach vorne stolpern. Schwalbe fiel ihr aus der Hand, und im selben Augenblick traf der Krummsäbel sie in die linke Seite. Der Schmerz ließ sie stocken, und Sûladan, der mit einem Mal direkt vor ihr stand, rammte ihr das Knie gegen die Brust. Narissa wurde schwarz vor Augen, und als sie wieder sehen konnte, lag sie mit dem Rücken auf dem Boden und blickte in Sûladans Gesicht hinauf.
"Gar nicht schlecht", keuchte der Sultan, dem ihr Zweikampf offenbar auch einiges abverlangt hatte. In der linken Hand hielt er nun den Griff einer Peitsche, die noch schmerzhaft fest um Narissas Handgelenk gewickelt war. Die Wunde an ihrer linken Seite brannte schmerzhaft und sie spürte wie das herausströmende Blut Hemd und Hose tränkte. "Nicht tödlich", stellte Sûladan zufrieden mit einem Blick auf ihre Seite fest. "Vielleicht überlegst du es dir ja doch noch anders?" Narissa tastete mit der freien Linken nach einem ihrer Dolche, die ganz in der Nähe liegen mussten, doch sie hatte kein Glück.
"Fahr zur Hölle", gab sie müde zurück. Es brauchte ihre ganze Willenskraft mit fester Stimme zu sprechen. "Beende es schon. Wenn ich Glück habe, erwischen dich Qúsays Männer heute Nacht noch."
"Ah, diese Entschlossenheit... Genau davon habe ich geträumt. Genau das braucht es." Sûladan lächelte stolz. "Weißt du, diese Entschlossenheit habe ich damals auch gehabt, als ich meinen Vater, sagen wir mal... beerbt habe. Ich hätte es gern selbst getan, aber das war nun einmal nicht möglich." Er beugte sich vor, packte Narissa am Kragen wie einen Welpen und riss sie in die Höhe. "Ich nehme an, dieser Verräter Ifan ben-Mezd hat dir von dem Wassertunnel erzählt?" Er wartete keine Antwort hab, sondern stieß sie mit Wucht gegen die Wand, sodass ihr die Luft aus den Lungen gepresst wurde. In ihrer halb sitzenden und halb liegenden Position stellte Sûladan ihr den Fuß auf die Brust, sodass sie sich keinen Zentimeter rühren konnte.
"Dafür wird er natürlich sterben", fuhr er fort, als wäre nichts geschehen. "Dass es genau das war, was ich wünschte, konnte er ja nicht wissen."
"Hörst du... auch noch irgendwann... auch zu reden?", brachte Narissa mühsam hervor. Sûladans Lächeln wurde breiter. Es wirkte auf seinem Gesicht irgendwie... falsch. "Brauchst du ein wenig Ruhe, um über deine Optionen nachzudenken?", fragte er. "Das lässt sich einrichten. Vielleicht brauchst du ja weniger Zeit zu einer Entscheidung zu kommen als deine arme Mutter... Mustqîm!" Narissa hörte, wie sich eine Tür öffnete und Schritte näherten. Schließlich schob sich Mustqîms Gestalt in ihr etwas verschwommenes Gesichtsfeld. Er hatte ein Langschwert in der Hand. "Ah, eine Familienzusammenführung wie man sie sich nur wünschen kann", spottete er.
"Lass den Unsinn und bring sie in den Kerker", sagte Sûladan barsch. "Und dann..." Weiter kam er nicht, denn es gab einen dumpfen Schlag und voller Verwirrung stellte Narissa fest, dass Mustqîm sein Schwert tief in die Brust des Sultans gerammt hatte.
Sûladan hustete, und ein Schwall Blut floss aus seinem Mund hinunter über seine Brust. "Du... Bastard", stieß er hervor. "Treffend ausgedrückt", gab Mustqîm zurück, und drehte das Schwert herum. Sûladan verstummte, und brach auf den kunstvoll verzierten Fliesen zusammen. Sein Blut vermischte sich mit dem, das noch immer langsam aus der Wunde an Narissas Seite quoll. Sie blickte in das leblose Gesicht ihres leiblichen Vaters und fühlte - nichts. Keine Erleichterung, keine Befriedigung, keinen Hass... nur Müdigkeit. Trotzdem versuchte sie sich aufzurappeln, sobald Sûladan sie nicht mehr an die Wand drückte. Mustqîm trat ihr ungehemmt in die verletzte Seite, und Narissa sackte hustend wieder an der Wand zusammen. Vor ihren Augen tanzten Sterne.
"Und jetzt zu dir." Ein zweites Paar Stiefel schob sich in ihr Sichtfeld. "Spiel nicht mit ihr", sagte eine weibliche Stimme, und Narissa zwang sich, den Kopf zu heben. "Rae", murmelte sie, und sie dunkeläugige Frau versetzte ihr einen Tritt gegen die Hüfte. "Taraezaphel, wenn ich bitten darf. Zukünftige Fürstin von Qafsah und rechtmäßige Königin von Arzâyan." Sie wandte sich an Mustqîm. "Da das vorüber ist - ich werde mich darum kümmern, dass die Mauer nicht fällt. Halte du dich nicht zu lange mit ihr auf. Wir haben noch ein Heer zu vernichten."
"Natürlich", erwiderte Mustqîm. "Ich kann es kaum erwarten." Taraezaphel richtete ihre dunklen Augen noch einmal auf Narissa. "Vielleicht hättest du damals einfach auf deiner kleinen Insel bleiben sollen, dann hättest du vielleicht überlebt. Die Chance besteht jetzt nicht mehr." Sie wandte sich ab, und Narissa hörte wie ihre Schritte sich entfernten und sie die Tür hinter sich schloss.
"Ich... weiß was ihr vorhabt", brachte sie mühsam hervor. Mustqîm lächelte boshaft. "Nicht schwer zu erraten oder? Unser... Vater hatte schon die richtige Idee." Er blickte verächtlich auf Sûladans reglosen Körper. Er bemerkte nicht, dass sich die Hand des sterbenden Sultans bewegte und Ciryatans Dolch in Narissas Richtung geschoben hatte. "Morgen hat Qafsah einen neuen Fürsten, und dieser Fürst wird eine Gemahlin haben, mit der er den gesamten Süden dieser Welt unter einem Banner vereinigen wird." Mit ihrem etwas verschwommenen Blick glaubte Narissa zu sehen, wie sich am anderen Ende des Raumes die versteckte Tür zu den Haremsräumen einen Spalt weit öffnete. Die Finger ihrer rechten Hand schlossen sich um den ihr so gut bekannten Dolchgriff.
"Du weißt schon... das sie dich... verraten wird?", fragte sie stockend. Mustqîm lachte. "Oh, aber natürlich. Aber nicht, bevor wir unser Ziel erreicht haben, und nicht, bevor sie einen Erben hat. Und wenn es soweit ist..." Er beugte sich zu ihr hinunter, bis sein Gesicht unangenehm nah an ihrem war. "Dann ist nur die Frage, wer von uns beiden schneller ist, nicht wahr?"
"Du jedenfalls nicht", erwiderte Narissa, und riss mit ganzer Kraft ihren rechten Arm in die Höhe. Ciryatans Dolch traf Mustqîm am linken Kiefer, schlitzte ihm von dort aus nach oben die komplette Wange auf, sodass seine Zähne weiß hindurchschimmerten, und traf dann sein linkes Auge. "Aaaaah." Er schrie auf, taumelte einen Schritt zurück, und presste die linke Hand auf sein zerstörtes Gesicht - doch sein Schwert hatte er nicht fallen lassen, und in diesem Moment wusste Narissa, dass sie sterben würde.
"Dafür werde ich dich..." Sie erfuhr nie, was genau er vorhatte, denn auf einmal stolperte Mustqîm vorwärts, genau auf sie zu, und mit mehr Instinkt als Absicht richtete Narissa ihren Dolch genau auf sein Herz und stieß in dem Moment zu, als er auf sie fiel. Mustqîm zuckte noch einmal, und dann lag er still.
Narissa schloss einen Moment lang die Augen, bevor sie Mustqîms Leichnam mit letzter Kraft von sich herunter wuchtete, und kam mühevoll auf die Beine. Vor ihr stand Ishaq, blass im Gesicht und mit einem Ausdruck grenzenlosen Schreckens auf dem Gesicht.
"Schon gut", sagte Narissa leise, und ließ ihren Dolch fallen. Sie blickte an sich herunter. Hemd und Hose waren beinahe vollkommen blutgetränkt, und auch auf ihrem Gesicht spürte die Spritzer von Mustqîms Blut. "Das meiste davon ist nicht meins... glaube ich zumindest", sagte sie mehr an sich selbst als an den Jungen gerichtet.
"Sind... sind sie tot?", flüsterte Ishaq mit zitternder Stimme. Narissa warf einen Blick auf Sûladan, der jetzt auf dem Rücken lag, die offenen Augen blicklos an die Decke gerichtet. "Ja", antwortete sie, die linke Hand auf ihre Wunde in der Seite gepresst. "Und ich nicht. Du hast mir das Leben gerettet, Ishaq. Was... was machst du überhaupt hier?"
Der Junge antwortete nicht, sondern starrte weiterhin die beiden Leichen an, das Grauen ins Gesicht geschrieben. Durch die versteckte Tür stürmten Alia und Amenzu, und beide erstarrten bei dem Anblick, der sich ihnen bot. Narissa, vollkommen blutüberströmt und äußerst wackelig auf den Beinen, die Leichen von Sûladan und Mustqîm und Ishaq, der zitternd dazwischen stand.
Alia war die erste die sich wieder regte. Sie stürmte zu Ishaq, fiel auf die Knie und schloss ihren Sohn fest in die Arme. "Du... böser Junge! Du kannst nicht einfach..."
"Nein", fiel Narissa ihr ins Wort. "Ohne ihn hätte ich nicht überlebt. Meinen... Bruder." Ishaq richtete über die Schulter seinen Blick auf sie, und der Schrecken in seinem Blick wich Überraschung. "Was?"
"Ich glaube, für diese Erklärung ist später Zeit", mischte sich Amenzu ein. Der Statthalter rieb sich die Hände. "Hervorragende Arbeit, wirklich hervorragend. Bleibt nur noch Taraezaphel, und..." Er unterbrach sich. "Nun ja. Zum triumphieren ist später noch Zeit. Vielleicht sollten wir zuerst dafür sorgen, dass ihr nicht verblutete. Das wäre doch zu schade."

Fine:
Valion von der Schlacht vor der Stadt...

Mehr durch Glück als durch Verstand landete er weich - in einem großen Stapel Unkraut, der wohl der Beginn eines neu angelegten Komposthaufens darstellte. Valion war in einem direkt an die Mauer angrenzenden Garten gelandet, der erstaunlicherweise recht gut gepflegt aussah. Vermutlich stand er im Besitz von jemandem, der sich einen privaten Brunnen leisten konnte.
Valion hatte allerdings keine Zeit, sich mehr Gedanken darüber zu machen. Sein Sprung in die Tiefe war nicht unbemerkt geblieben. Raue Stimmen hallten von den Mauern zu ihm herunter und er wusste, dass man rasch nach ihm suchen würde. Er rappelte sich auf, prüfte den Sitz seiner Schwerter, und verließ raschen Schrittes den Garten. Sein linkes Bein schien beim Sturz etwas abbekommen zu haben, denn er spürte bei jedem Auftreten einen leichten Schmerz, doch Valion schob das Gefühl beiseite. Er trat durch das hölzerne Törchen des Gartens und wandte sich nach rechts - in die Richtung, in der das Tor liegen musste.

Doch dann hielt er inne. Am Tor werden sie zuerst nach mir suchen, schoss es ihm durch den Kopf. Sie können es sich nicht leisten, dass jemand den Belagerern das Tor öffnet, und werden dort sicherlich schon auf mich warten. Er lief wieder los, und bog in eine kleine Gasse ab, weg vom Tor, um erst einmal außer Sicht zu kommen. Sein Herz pochte vor Aufregung, doch er zwang sich zur Ruhe. Als das Geräusch von metallbeschlagenen Stiefel auf dem Pflaster der Straße um die Ecke hörte, presste er sich rasch in den Türrahmen eines der Häuser in der Gasse.
Wenn ich zum Tor gehe, gebe ich die Chance auf, diese Frau, Taraezaphel, zu finden, wurde es ihm schließlich klar, während die Schritte wieder leiser wurden. Am Tor wird der Widerstand der Männer Sûladans am stärksten sein. Alleine komme ich dort niemals so weit, dass ich eine Gelegenheit bekäme, das Tor zu öffnen.
Nachdem er sich entschlossen hatte, nicht zum Tor zu gehen, löste Valion sich aus dem Türrahmen in dem er sich verborgen hatte. Er hob den Blick und sah zwischen zwei Dächern mehrere schlanke Turmspitzen aufragen. Das muss der Sultanspalast sein, überlegte er. Ich werde es dort versuchen. Entweder ich finde dort mein Ziel, oder ich kann eventuell die Wachen ein wenig ablenken, damit Narissa freie Bahn hat.

Auf dem Weg durch die ihm vollkommen fremde Stadt hatte er mehrere Male großes Glück, nicht von den herumstreifenden Wachen entdeckt zu werden. Doch ohne Vorkenntnisse über die Straßen Qafsahs dauerte es nicht lange, bis Valion sich vollkommen verirrt hatte. Zwar halfen ihm die Türme des Palastes als grobe Orientierungshilfe, doch er war gezwungen, die größeren Straßen zu meiden, und die Vielzahl von kleinen und kleineren Gassen waren oft so verzweigt und gewunden, dass sie ihn nur selten auf Anhieb in die richtige Richtung führten. Als er schließlich ungefähr zwei Stunden nach seinem Sprung von den Mauern aus einem weiteren Gässchen auf einen kleinen, verlassenen Marktplatz trat, hatte seine Glückssträhne ein Ende. Kaum hatte er den Schatten der Hauswände verlassen, stieß er beinahe mit einem Krieger zusammen, der über den Platz getrabt kam. Sein Gegenüber trug eine feste, rötliche Lederrüstung mit großen eisernen Schulterschützern. Sein Haar und Bart waren schwarz, lang und lockig und zwei gezackte Klingen hingen an seinem Gürtel.
Ohne auf einen Reaktion des Mannes zu warten zog Valion seine Schwerter und hieb auf den Kerl los. Doch obwohl dieser breit und massig gebaut war, wich der Südländer Valions Angriff aus und wirbelte um die eigene Achse, hatte auf einmal in jeder Hand eines seiner Schwerter, und ging zum Gegenangriff über.
"Spiel nicht mit deiner Beute, Breyyad," sagte eine Frauenstimme hinter Valion, doch er hatte keine Zeit sich nach ihr umzublicken. "Wir müssen zusehen, dass wir zum Tor kommen. Wenn es dieser eine hier über die Mauern geschafft hat, werden ihm sicherlich noch mehr folgen."
Breyyad - Valions Gegner - brummte etwas Unverständliches, dann versetzte er Valion einen Hieb auf den linken Oberschenkel, als hätte er mit einem einzigen Blick erkannt, dass dessen Bein bereits angeschlagen war. Heißer Schmerz schoss durch das Bein und Valion taumelte einen Schritt rückwärts. Er bekam keine Gelegenheit, sich wieder zu fangen, denn Breyyad stürzte sich sofort wieder auf ihn. "Ich bin gleich fertig hier, Rae..." knurrte der Südländer und durchbrach Valions wackelige Deckung, packte ihn am Hals und schleuderte ihm mit beängstigender Kraft gut einen Meter über den Marktplatz. Valion gelang es irgendwie, sich halbwegs abzurollen und sprang auf die Beine, den Schmerz in seinem Bein für einen Moment vergessend. Breyyad hob die Klingen, doch Valions Aufmerksamkeit richtete sich nun auf die Frau, die neben dem Krieger stand. Schwarzhaarig, dunkle Augen, blaues Halstuch, Kettenhemd, gestreiftes Stirnband... sie passte exakt auf die Beschreibung des Grundes, warum Valion überhaupt in Qafsah war.
Valion ging ein Gedanken durch den Kopf, gerade als Breyyad wieder auf ihn losstürmen wollte. Keuchend rief er der Frau zu: "Edrahil schickt mich."
Beide Gegner erstarrten. Taraezaphels dunkle Augen verengten sich, und ein Ausdruck von Abscheu, aber auch etwas anderes huschten über ihr hübsches Gesicht - war das ein Anflug von Furcht gewesen, oder hatte Valion sich das eingebildet?
"Beende es, Breyyad," sagte sie, kalt, und mit Verachtung in der Stimme. Hinter ihr begann der Marktplatz sich mit Wachen zu füllen, die zweifelsfrei vom Kampflärm angelockt worden waren. Valion wurde klar, dass er nur noch eine letzte Gelegenheit hatte. Er nahm all seine Kraft zusammen und sprang los, während er das Schwert in seiner rechten Hand mit voller Wucht gegen Breyyad schleuderte. Instinktiv hieb der stämmige Krieger danach und entblößte damit seine Deckung. Valion hatte die Distanz zwischen ihnen mit seinem Sprung überbrückt und stieß seine zweite Klinge durch die freie Achselhöhle tief in den Brustkorb Breyyads. Dieser sackte tot zusammen, doch Valion hielt nicht inne. Mit einer Drehung zog er das vor Blut spritzende Schwert aus dem Körper, nutzte den Schwung um sich zu Taraezaphel zu drehen, ehe ihn die heranstürmenden Wächter ergreifen konnten, und...
...prallte taumelnd zurück, als seine Klinge von einem Langschwert pariert wurde.

"Ergreift ihn," sagte Taraezaphel und ließ ihren Anderthalbhänder sinken. Wie sie es geschafft hatte, die Klinge so rasch zu ziehen, war Valion ein Rätsel. Doch es machte keinen Unterschied. Er war gescheitert. Die Wächter packten ihn und rissen ihm das Schwert aus der Hand. Taraezaphel ragte über ihm auf, die Klinge zum Todesstoß erhoben. "Ich werde Edrahil von deinem tollkühnen Mut berichten," sagte sie und Valion war es beinahe, als klänge auf einmal ein Hauch von Mitgefühl in ihrer sonst so gefühlskalten Stimme mit. Doch mit dem nächsten Satz war dieser Eindruck sofort wieder vorbei. "Ich erzähle ihn von deinem letzten Kampf, während... ich ihn zu Tode foltere."
Sie senkte die Spitze der Klinge leicht, sodass sie auf Valions Kehle zeigte. "Auf Wiedersehen, ungestümer, tapferer Narr." Valion schloss die Augen.

Doch anstelle eines raschen Todes ertönte ein durchdringender, tiefer Ton, der die Luft zum Beben brachte. Es kam von... außerhalb der Stadt? Valion war sich nicht sicher. Taraezaphel hingegen schien gleich zu verstehen, was es zu bedeuten hatte. "Ein Kriegshorn," stieß sie wütend hervor. "Also ist es ihm tatsächlich gelungen, das alte Reich..." sie brach mitten im Satz ab und ließ ihr Schwert sinken. "Wir können hier nicht bleiben," wies sie die Wächter an, die Valion noch immer festhielten. "Es wird Zeit zu retten, was in dieser verfluchten Stadt noch zu retten ist." Damit ballte sie die Faust, und verpasste Valion einen gezielten Hieb gegen die Schläfte. Ihm wurde schwarz vor Augen und er spürte... nichts mehr.

Valion in Taraezaphels Gefangenschaft zur Harduin-Ebene

Eandril:
Narissa zuckte unwillkürlich zusammen, als Alia den Verband um ihre Seite festzog. "Ich habe eine Frage", sagte Sûladans ehemalige Konkubine leise, während Narissa ihr blutiges Hemd zurecht rückte. "Sûladan ist - war - dein Vater, soviel habe ich inzwischen begriffen. Wer war deine Mutter?"
Sie waren Alias kleines Gemach im Harem zurückgekehrt um Narissas Wunde zu versorgen, während Amenzu seine Getreuen im Palast um sich sammelte um die Macht für Ishaq, und damit für sich selbst, zu sichern.
"Meine Mutter hieß Herlenna", antwortete Narissa ein wenig angestrengt. Eine knochentiefe Erschöpfung hatte sie ergriffen, nachdem sie realisiert hatte, dass Sûladan und Mustqîm tatsächlich tot waren. Jeder einzelne Knochen und Muskel in ihrem Körper schien zu Schmerzen, und sie spürte weniger Zufriedenheit als eine gleichgültige Müdigkeit. "Sûladan... hatte sich ihr aufgezwungen. Zehn Jahre später hat er sie gefunden und für den Rest ihres Lebens eingesperrt." Sie blickte Alia in die Augen. "Nicht so viel anders als deine Geschichte, nehme ich an." Alia nickte nur stumm, mit einem vielsagenden Blick auf Ishaq, der mit dem Rücken zur Wand auf dem anderen Bett saß und noch immer den Schrecken dessen, was er gesehen hatte, im Gesicht trug. Alia lächelte zaghaft. "Nur, dass es bei mir nicht der Rest meines Lebens sein wird. Und das verdanke ich dir."

Die Tür wurde aufgestoßen und sofort hatten sich Narissas Hände um die Griffe ihrer Dolche geschlossen. Sie entspannte sich, als Amenzu in den Raum trat - jedoch nur ein wenig, denn der Statthalter von Qafsah wirkte angespannter als zuvor. Beim Anblick der drei atmete er erleichtert aus, doch der besorgte Ausdruck in seinen Augen blieb. "Ihr seid in Sicherheit, gut." Auf Narissas fragenden Blick erklärte er: "Mustqîm, dieser Bastard, ist verschwunden. Offenbar habt euer Messer weniger genau getroffen als gedacht." Noch bevor er ausgesprochen hatte, war Narissa ungeachtet der Schmerzen in ihrer Seite so heftig von der Bettkante aufgesprungen, das Alia einen Schritt zurückweichen musste und beinahe gegen Ishaq gestoßen wäre. "Wohin?",  fragte Narissa knapp, und Amenzu zuckte hilflos mit den Schultern. "Als ich eben in die Gemächter des Fürsten kam, lag seine Leiche nicht mehr dort. Ich glaube nicht, dass jemand ihn fortgeschafft hat, also muss er noch am Leben sein."
Alia hatte eine Hand vor den Mund geschlagen. "Und Sûladan?" "Er ist tot, das ist sicher", erwiderte Amenzu beruhigend. "Aber wir müssen..." Narissa ließ ihn nicht ausreden. Sie hatte bereits Ciryatans Dolch in der Hand - dieses Mal würde sie darauf achten, dass er sein Ziel nicht verfehlte.
"Habt ihr eine Idee, wohin er gehen könnte?" "Weit wird er mit seinen Wunden nicht kommen", überlegte Amenzu. "Entweder versucht er diese Schla... Schlange Taraezaphel zu finden, oder..." Seine Augen weiteten sich ein wenig. "Wenn er vorhat sich zu rächen, dann weiß ich wo er sein könnte. Im Keller des Palasts lagert eine gewaltige Menge kermischen Feuers. Ich weiß nicht, ob ihr davon gehört habt..."
"Habe ich", unterbrach Narissa ihn, und sie spürte ihr Herz schneller schlagen. "Wenn er es entzündet..."
Amenzu nickte stumm. Normalerweise beherrschte er eine Miene perfekter Gelassenheit, doch in diesem Moment entdeckte Narissa das erste Mal in dieser Nacht einen Anflug von Angst auf dem Gesicht des Statthalters. Auch sie verspürte tief in der Magengrube das ziehende Gefühl der Furcht. "Es einer von Sûladans Plänen, Qúsays Heer zu vernichten. Es gibt dort eine Wasserleitung zur Oase, und..." Er sprach nicht weiter.
Narissa drängte sich an ihm vorbei. "Wo ist dieser Keller?" "Geht zurück in die Gemächer des Fürsten", erklärte Amenzu rasch. "Von dort aus folgt dem Flur immer nach Norden, biegt am Ende nach links ab. Ein Stück weiter führt auf der linken Seite eine Treppe nach unten. Der Lagerraum liegt ganz am Ende des Gangs." Narissa nickte nur knapp, bevor sie sagte: "Sammelt alle, denen ihr vertraut, und flieht so schnell wie möglich aus dem Palast. Ich kümmere mich um Mustqîm, aber nur für den Fall..."
"Aber du bist verwundet!", wandte Alia ein, und Narissa zwang sich zu einem Lächeln. "Das ist Mustqîm auch."

So schnell ihre Füße sie trugen eilte Narissa zum zweiten Mal in dieser Nacht durch den schmalen Geheimgang zu den Gemächern des Fürsten. Ihr Herz schien mit jedem Schritt schneller zu schlagen, und das nagende Gefühl der Angst verstärkte sich mehr und mehr. Ein winziger Teil ihres Bewusstseins wunderte sich darüber - nicht einmal vor ihrer Konfrontation mit Sûladan hatte sie sich so gefürchtet. Vielleicht war ihr dieses Mal klarer als zuvor, dass ein Scheitern nur ihren Tod zur Folge haben konnte.
Im Gemach des Fürsten hielt Narissa für einen winzigen Augenblick inne, vom Anblick Sûladans, dessen Leichnam noch immer blicklos an die Decke starrte, ins Stocken gebracht. Von der offenen Tür zu ihrer Linken, die auf den Balkon führte, peitschte ein eiskalter Luftzug, der sie erschaudern ließ, herein. Gerade als sie sich abwenden wollte, landete mit einem dumpfen Krachen landeten zwei gewaltige, klauenbewehrte schwarze Füße auf der Brüstung des Balkons. Vom Rücken der Kreatur glitt eine Gestalt in nachtschwarzer Rüstung, das blanke Schwert in der Hand.
Nur ein einziges Wort hallte durch Narissas Kopf: Nazgûl!
Gib auf, ertönte eine eiskalte Stimme in ihren Gedanken. Narissa versuchte, die lähmende Furcht, die sie umschlungen hatte, niederzukämpfen und weiter zu rennen, doch sie verharrte wie angewurzelte. Der Ringgeist trat durch den Türbogen in den Raum und schien die Dunkelheit der Nacht mit sich zu bringen. Die brennenden Kerzen in seiner Näher verloschen zischend.
Diese Stadt gehört dem Herrn von Mordor, drängte sich seine Stimme wieder in ihre Gedanken. All eure Hoffnung ist vergebens. Auf dem Balkon brüllte sein Reittier auf. Eine zweite Gestalt sprang vom Balkon in den Raum. Ein Dolch glitt von der Rüstung des Nazgûl ab, doch für einen Augenblick war der Ringgeist abgelenkt. Die Lähmung verließ Narissa, und sie erkannte Eayan al-Tayir, der in rasender Geschwindigkeit um den Nazgûl herumwirbelte. "Nun lauf schon!", brüllte er, und wich im selben Augenblick mit Mühe einem Schwertstoß des Ringgeists aus.
Narissa machte nur einen winzigen Schritt auf ihn zu, bevor sie auf der Stelle umdrehte und in die entgegengesetzte Richtung davon rannte. Sie wollte Eayan nicht im Stich lassen - doch wenn sie Mustqîm nicht erwischte, würden sie alle ohnehin sterben.
Ihr Herz hämmerte in der Brust als wollte es zerspringen und ihre Wunde brannte wie Feuer, doch Narissa rannte mit ganzer Kraft den breiten Flur im Herzen des Palasts entlang.
In rasender Geschwindigkeit bog sie am Ende des Flurs nach links um die Ecke, und hätte beinahe die Treppe verpasst, die in den Keller hinab führte. Eine einzelne Fackel beleuchtete den Eingang - ein zweiter Fackelhalter war leer. Im flackernden Licht der Flamme erkannte Narissa blutige Handabdrücke auf dem Geländer - Mustqîm konnte ihr nicht weit voraus sein.
Keuchend vor Anstrengung stürmte sie die Treppe hinab, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Unten erkannte sie am Ende des dunklen Ganges eine leicht gebeugte Gestalt mit einer brennenden Fackel in der Hand. "Mustqîm!", rief sie, während sie atemlos die letzten Stufen hinab sprang, in der Hoffnung, ihn wenigstens kurz aufzuhalten. Er schien sie gar nicht gehört zu haben - doch hinter sich spürte Narissa mit einem Mal, als sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten, die Gegenwart des Nazgûl. Sie wusste, was das bedeutete, doch sie schob den Gedanken beiseite und rannte. Am Ende des Ganges stieß sie mit Schwung die Tür auf, die Mustqîm hinter sich geschlossen hatte, und stürmte in den Raum.
Sûladans Bastardsohn sah fürchterlich zugerichtet aus. Eine Hand hatte er auf die linke Seite seines Gesichts gepresst, und Blut quoll darunter hervor. Auch sein Gewand war vollkommen blutgetränkt und er stand leicht gekrümmt als leide er Schmerzen, doch bei Narissas Anblick richtete er sich zu seiner vollen Größe auf. In seiner rechten Hand hielt er eine brennende Fackel.
Sein Mundwinkel zuckte, und er zischte vor Schmerz als er sagte: "Ah. Wie gut, dass du gekommen bist um zu sterben." Er sprach nur undeutlich, denn die Wunde in seinem Gesicht behinderte ihn, doch sein verbliebenes Auge glühte vor Hass. Hinter ihm standen in langen Reihen verschlossene Tonkrüge aufgereiht, und ein stechender Geruch beherrschte den Raum. Direkt neben Narissa, zu ihrer linken, befand sich ein großes, kreisrundes Loch im Boden, neben dem mehrere Eimer und leere Gefäße gestapelt waren.
Bevor Narissa reagieren konnte, hatte hinter ihr der Nazgûl den Eingang erreicht. Seine schwarze Gestalt schien den gesamten Rahmen auszufüllen, und die Schatten folgten ihm. Auf seinem im flackernden Licht von Mustqîms Fackel schimmernden Schwert glänzte ein wenig Blut.
Mustqîm zuckte zusammen, als habe er einen Schlag erhalten. Der Gebieter hat Pläne für dich, erklang die eisige Stimme auch in Narissas Kopf, und sie krümmte sich ein wenig. Mustqîms Hand mit der Fackel zitterte. Du wirst deine Rache bekommen, Mustqîm. Der Nazgûl kam näher, und Narissa blieb wie gelähmt stehen. Ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit breitete sich in ihr aus, als die schwarze Gestalt des Ringgeists an ihr vorbei glitt. Sie gehört dir, wenn du willst.
Der Keller schien vor Narissas Augen zu verschwimmen, und gegen ihren Willen fiel sie auf ein Knie nieder. Dabei bemerkte sie die Pfütze aus grünlicher Flüssigkeit, in der Mustqîm stand.
Mustqîm öffnete zitternd den Mund zum Sprechen. Narissa nahm Maß, und mit letzter Kraft warf sie Ciryatans Dolch.
Es war der beste Wurf ihres Lebens. Die Klinge aus Númenor zischte um Haaresbreite an der Rüstung des Nazgûl vorbei, blitzte im Licht der Fackel auf und traf Mustqîm direkt unterm Kinn in den Hals. Mustqîm taumelte einen Schritt zurück... und ließ die Fackel fallen.
NEIN, peitschte die Stimme des Ringgeists durch Narissas schwindendes Bewusstsein.
Die Fackel traf auf dem Boden auf, und sofort schoss eine grünliche Feuerwand in die Höhe. Mit rasender Geschwindigkeit bewegten sich die Flammen auf die Tonkrüge voller kermischen Feuers zu. Mit letzter Kraft ließ Narissa sich zur Seite fallen - direkt durch das im Boden klaffende Loch. Die Zeit schien unendlich langsam zu vergehen, während sie fiel. Ein hoher, dünner Schrei der Verzweiflung gellte durch den Keller, und gerade bevor Narissa auf dem dunklen Wasser aufschlug, wurde er durch ein dumpfes Grollen übertönt und ein gleißender Blitz vertrieb die Dunkelheit. Dann traf Narissa auf die Wasseroberfläche. Durch das Brunnenloch drang fauchend eine Wand aus Feuer, doch ein heftiger Luftstoß drückte sie unter Wasser und nach hinten. Mit Wucht wurde sie in einer gewaltigen Welle rückwärts geschleudert, prallte heftig gegen die Gitterstäbe, die den Eingang zum Palast verschlossen, und sah und hörte nichts mehr.

Eandril:
Nur langsam kehrte Narissas Bewusstsein zurück. Sie spürte Wasser um sich herum und einen Druck auf ihrer Brust, der das Atmen mühsam machte. Blinzelnd öffnete sie die Augen, und nur langsam schälten sich Umrisse ihrer Umgebung aus der Dunkelheit, schwach beleuchtet von einem grünlichen Flackern irgendwo über ihr.
Ihr ganzer Körper schmerzte. Die Wunde in ihrer Seite pochte leise vor sich hin, ihr Hinterkopf fühlte sich an, als wäre er gespalten worden, und in ihren Schläfen hämmerte ein dumpfer Schmerz - doch sie lebte. Das war schon mehr, als Narissa erwartet hatte. Vorsichtig bewegte sie Arme und Beine, die lose im Wasser trieben und zog scharf die Luft ein, als ein heißer Schmerz ihre linke Schulter durchzuckte. Staub und Rauch in der Luft ließen sie husten, was die Lage nicht gerade besser machte. Als die Schmerzen sich etwas gelegt hatten, bewegte sie die linke Schulter vorsichtig erneut - es tat zwar höllisch weh, doch weniger, als wenn sie gebrochen wäre.
Nachdem sie festgestellt hatte, dass sie einigermaßen beweglich war, versuchte Narissa sich ein wenig zu orientieren. Sie trieb in dem Kanal, der Qafsahs Palast mit Wasser versorgte, glücklicherweise mit dem Gesicht nach oben, aber mit dem Oberkörper eingeklemmt zwischen den Gitterstäben hinter sich und einem großen Trümmerstück, dass offenbar aus der Decke herausgebrochen war. Durch das Loch in der Decke sah sie, dass der Palast noch immer in Flammen stand - also bestand die Möglichkeit, dass ihre Bewusstlosigkeit nicht allzu lange angedauert hatte.
Im selben Augenblick bröckelte ein weiteres Stück der Decke ab, und stürzte mit einem Platschen nicht weit von ihr entfernt ins Wasser. Sie konnte hier nicht bleiben und abwarten, bis jemand sie fand. Doch wie konnte sie hier herauskommen?
Langsam, um sich so viel Schmerz wie möglich zu ersparen, griff Narissa mit der Rechten hinter sich, und rüttelte ein wenig an dem Gitter in ihrem Rücken. Vielleicht hatte sich die Verankerung ein wenig gelockert... Und tatsächlich ließen sich die Metallstäbe ein wenig nach hinten drücken. Staub rieselte von oben auf ihre Haare herab.
"Kein anderer Ausweg...", murmelte Narissa vor sich hin und biss die Zähne zusammen. Mit aller verbliebenen Kraft drückte sie die Füße gegen die Trümmer vor sich und presste den Rücken gegen die Gitterstäbe. Über ihrem Kopf hörte sie ein leises Knirschen, mehr Staub rieselte von oben herab, und das Gitter bewegte sich ein wenig nach hinten - doch nicht weit genug. Narissa holte tief Luft, und drückte erneut, fester. Sie spürte ihre Beine zittern, und vor Anstrengung wurde ihr schwarz vor Augen... doch mit einem Mal gab das Mauerwerk, das das Gitter hielt, nach. Die Gitterstäbe lösten sich aus ihrer Verankerung, der Druck in ihrem Rücken verschwand und plötzlich ihres Halts beraubt stieß Narissa sich kräftiger als sie geplant hatte nach hinten ab. Für einen Moment tauchte sie unter Wasser und stieß sich dabei schmerzhaft die verletzte Schulter am Grund des Kanals, bevor sie reflexartig wieder an die Wasseroberfläche tauchte. Vor Schmerz tanzten helle Pünktchen vor ihren Augen, doch mit einem Beinschlag ließ sie sich gutes Stück weiter nach hinten treiben. Dem ohnehin schwer getroffenen Mauerwerk hatte ihre Befreiung den letzten Rest gegeben, und mit einem Krachen stürzte der Durchgang zum Palast in sich zusammen. Die durch die herabstürzenden Steine ausgelöste Welle spülte Narissa noch ein Stück weiter nach hinten, unter der Brücke auf der sie den bewusstlosen Wächter zurückgelassen hatte - vor einer Ewigkeit - hindurch. Mit einiger Mühe hielt sie sich über der Oberfläche, bis sich das Wasser beruhigt hatte, und zog sich dann hustend am Beckenrand ins Trockene.
"He! He du! Hilf mir!" Die seltsam gedämpfte Stimme gehörte zu dem Wächter, den sie gefesselt auf der Brücke hatte liegen lassen. Er lag noch immer dort, erkannte Narissa in der beinahe vollständigen Dunkelheit. Sie kam mühevoll auf die Füße, und humpelte auf die Brücke, einen Dolch in der Hand. Einen Augenblick zögerte sie. In ihrem derzeitigen Zustand hätte selbst ein einzelner übereifriger Wächter leichtes Spiel mit ihr. Doch eigentlich war es jetzt egal, Sûladan war tot. Also beugte sie sich herab, kämpfte einen Anfall von Schwindel nieder, und durchschnitt die Fesseln des Wächters.
"Raus hier, schnell", sagte sie. "Ich weiß nicht, wie lange die Decke noch hält."
"Natürlich, ja", erwiderte er, rappelte sich auf und rieb sich die sicherlich tauben Handgelenke. "Was ist überhaupt passiert?" Seine Stimme war noch immer seltsam dumpf, und nur langsam wurde Narissa klar, dass es gar nicht an ihm lag. In ihren Ohren ertönte auch dauerhaft ein leises Klingeln, dass sie erst jetzt bewusst wahrnahm. Der Lärm der Explosion musste auch ihr Gehör ein wenig mitgenommen haben. Sie ging nicht auf die Frage des Mannes ein, sondern wandte sich einfach ab und ging so schnell sie konnte - was nicht sehr schnell war - in die Richtung, in der sie den Ausgang vermutete.

Oben in der Stadt herrschte Chaos. Menschen hasteten in Panik auf den Straßen hin und her, und im Norden erkannte Narissa hinter den Häusern ein bedrohliches Glühen. Der Palast musste noch immer in Flammen stehen. Trotz allem sog sie dankbar die kühle Nachtluft ein. Trotz allem war sie am Leben, trotz allem hatte sie Erfolg gehabt. Hinter trat der Wächter ins Freie. "Ich frage nicht, was du dort unten zu suchen hattest", hörte sie seine Stimme wie durch tiefes Wasser. "Aber ich danke dir, dass du mich befreit hast. Wer weiß, wann mich jemand gefunden hätte." Offensichtlich war ihm nicht klar, dass er seine prekäre Situation ihr überhaupt erst zu verdanken gehabt hatte... Narissa antwortete nicht und wandte sich auch nicht zu ihm um, sondern nickte nur knapp. Zum ersten Mal, seit sie den Palast betreten hatte, drängte sich Yana wieder in ihre Gedanken, und augenblicklich verschwand jeder Anflug eines Hochgefühls über ihren Erfolg. Sie wandte sich um, und ging langsam aber zielstrebig in Richtung von Yanas Haus davon. Dieses Mal war es ihr gleich, wer sie sah - in den Gassen herrschten ohnehin ein derartiges Chaos und Durcheinander, ausgelöst durch die Zerstörung des Palastes, dass niemand ihr auch nur einen zweiten Blick schenkte. Der Wächter rief noch irgendetwas hinter ihr her, doch sie hörte gar nicht mehr richtig hin. Die Bilder der Geschehnisse im Palast wurden verdrängt durch Bilder von Yana, wie sie hochschwanger auf ihrem Bett lag, und seltsamerweise auch von Yana, wie Narissa sie als Kind in Erinnerung hatte. Die Worte, die die Hebamme Safina ihr zum Abschied mitgegeben hatte, tauchten immer wieder auf, doch sie schob sie jedes Mal wieder zur Seite. So wichtig Yana auch war, in dieser Nacht war das Schicksal von Qafsah und vielleicht ganz Harad entschieden worden. Yana würde das ebenfalls verstehen.

Sie erreichte den kleinen Hof hinter Yanas Haus, der im Chaos der Stadt wie eine Oase der Ruhe erschien. Langsam schleppte Narissa sich die Treppe hinauf, stieß die Tür auf und sah sich Auge in Auge mit Safina, die ein in Tücher gewickeltes Bündel in den Armen hielt. Die Hebamme ließ einen undeutbaren Blick von Kopf bis Fuß über Narissa wandern. Mit einem Mal wurde Narissa sich vollständig bewusst, wie sie aussehen musste. Ich habe schon schlimmer ausgesehen, wollte sie sagen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Einerseits, weil es vermutlich eine Lüge gewesen wäre - jedenfalls hatte sie sich noch nie derartig zerschlagen gefühlt, nicht einmal in Abels Gefangenschaft - andererseits, weil ihr endlich klar wurde, was Safina in den Armen hielt.
Die Hebamme streckte ihr das Bündel entgegen. "Hier. Ihr kommt gerade rechtzeitig." Mehr aus Reflex als aus Absicht nahm Narissa das Kind vorsichtig in die Arme, auch wenn ihre verstauchte Schulter heftig dagegen protestiert. Sie verdrängte den Schmerz so gut es ging. "Und jetzt geht aus dem Weg."
Mit Mühe raffte Narissa ein paar klare Gedanken zusammen. "Wieso? Wo wollt ihr so eilig hin?"
"Eine Amme holen, natürlich. Die Mutter..." Die Hebamme unterbrach sich, und ihre eigentlich harten Gesichtszüge wurden für einen Augenblick weich. Sie legte Narissa eine Hand auf die Schulter, zum Glück auf die unverletzte rechte. "Macht euch nicht zu viele Vorwürfe." Sie schob Narissa sanft zur Seite, und eilte die Treppe hinunter in die Nacht.
Narissa blieb wie angewurzelt auf dem obersten Treppenabsatz stehen, das sich leicht regende Neugeborene noch immer in den Armen. Mit einem Mal schien erneut ein Stein auf ihrer Brust zu liegen, und sie hatte Schwierigkeiten, Atem zu holen. Nur langsam sammelte sie genug Überwindung, die Türschwelle zu übertreten.
Drinnen hing ein metallischer Geruch in der Luft, den Narissa augenblicklich erkannte. Yana lag ein einem Bett aus Blut, das Gesicht tödlich blass, doch sie hatte die Augen geöffnet und lächelte schwach, als sie Narissa ins Zimmer trat. "Du siehst furchtbar aus", sagte sie leise. Narissa blinzelte ein paar Mal rasch, und zwang sich dazu, das Lächeln einigermaßen glaubhaft zu erwidern. Ohne zu Zögern ließ sie sich auf der Bettkante nieder, ohne auf die blutgetränkten Laken zu achten. Es war viel Blut, fiel ihr auf.
"Schätze schon", erwiderte sie knapp, und wandte den Blick von Yana ab und auf das winzige Gesicht des Neugeborenen in ihren Armen. Inzwischen hatte es die Augen geschlossen und schien zu schlafen. "Ein Junge", erklärte Yana mit schwacher Stimme. "Ach, Narissa... ich hätte nicht gedacht, dass es so furchtbar sein würde." Narissa wischte verstohlen eine einzelne Träne aus dem Augenwinkel, weiterhin unfähig, Yana anzusehen. "Aber wenn ich ihn ansehe... dann war es das alles wert."
"Hast du... hast du schon einen Namen ausgesucht?" Narissa spürte, wie Yanas Hand ihre umschloss. Die Hand war eiskalt.
"Ich dachte an Níthrar. Er hat... mir die Hoffnung erhalten, in den langen Jahren. Aber ich... meinst du, es wäre ihm recht?"
"Es wäre ihm eine Ehre", erwidert Narissa flüsternd, und fühlte eine Träne von ihrer Nasenspitze tropfen. "Da bin ich mir sicher."
Einen Augenblick schwiegen beide. Weitere Tränen tropften lautlos auf die Tücher, in die der kleine Níthrar eingewickelt war.
"Gib ihn mir einen Augenblick, sei so gut", sagte Yana schließlich. Als Narissa ihr ihren neugeborenen Sohn in die Arme legte, konnte sie nicht vermeiden, Yana ins Gesicht zu blicken. Yana blinzelte überrascht. "Du weinst", stellte sie fest. Sie blickte an sich hinunter, auf das blutgetränkte Bett. "Ah", machte sie leise, gleichzeitig ein Laut des Verstehens und der Überraschung. "Darum also bin ich so müde." Sie strich mit leicht zitternder Hand über den Kopf ihre Kindes. "Deswegen ist Safina gegangen." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Narissa nickte, die Lippen aufeinander gepresst und wollte sich abwenden, doch Yanas Hand schloss sich erstaunlich fest wieder um ihre und hielt sie zurück. Narissa spürte ihre Lippen zittern, und Yanas Gesicht verschwamm vor ihren Augen.
"Ich bin froh, dass du hier bist", sagte Yana leise. "Ich hätte gar nicht erst gehen sollen", stieß Narissa hervor, und schniefte. "Ich hätte... hätte... vielleicht wärst du..." Die Worte kamen nur stockend hervor. "Safina hat gesagt, ich würde... würde es vielleicht..."
"Schsch", machte Yana leise - wie eine Mutter, die ihr Kind beruhig. "Wenn Safina es nicht verhindern konnte, hättest du es auch nicht gekonnt." Sie atmete tief durch, und eine einzelne Träne lief aus ihrem linken Augenwinkel die blasse Wange hinab. "Du bist jetzt hier, und das bedeutet mir alles."
Narissa schloss für einen Moment die Augen, und wischte sich dann die Tränen fort. Doch es flossen neue. "Es ist nicht gerecht, Yana. Sûladan ist tot. Qafsah wird eine neue Zeit erleben, aber... es ist nicht gerecht. Es ist nicht gerecht, dass du es nicht erleben wirst. Dass du nicht erleben wirst, wie dein Kind..."
Yana wandte für einen Augenblick den Blick ab. "Nein", sagte sie, so leise, dass es beinahe ein Flüstern ist. "Es ist nicht gerecht, dass ich nicht erleben werde, wie mein Sohn aufwächst." Ihre Stimme wurde immer leiser. "Aber ich freue mich, dass die Welt in die er geboren wurde, vielleicht eine hellere sein wird." Sie blickte Narissa wieder direkt ins Gesicht, und ihre Augen waren klar. "Und wer weiß - vielleicht werden wir und eines Tages wiedersehen."
"Ja..." Narissa unterdrückte ein Schluchzen. Sie verstand nicht, wie Yana derart gefasst sein konnte. "Eines Tages sehen wir uns wieder. Und meine Mutter, und mein Vater... und deine Eltern... eines Tages." Sie schluckte mühsam. "Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich auf den Wachturm geklettert bin?"
Yana lächelte schwach. "Deine Mutter hatte schon wieder deine Haare geschnitten, und du warst wütend auf sie. Ich habe dir gesagt, dass du es nicht tun sollst."
"Ich wäre beinahe runtergefallen - mehr als einmal." Wider Willen lächelte Narissa durch die Tränen. "Mein Vater war so wütend, dass er mich verhauen hat. Das war das einzige Mal."
"Ich hatte recht, dass du es nicht tun solltest. Wie immer eigentlich. Weißt du noch, wie du einmal ein ganzes Salzfass in die Bierfässer im Gasthaus kippen wolltest?"
Sie sprachen weiter von den Erinnerungen ihrer gemeinsamen Kindheit, von Abenteuern die ihnen als Kindern groß und gefährlich erschienen waren, von Streichen, die sie geplant und gespielt hatten, von den anderen Kindern des Viertels und was aus ihnen wohl geworden war... Und langsam wurde Yanas Stimme immer leiser und leiser.
Und verstummte schließlich ganz.

Irgendwann kamen Safina und eine andere Frau. Sie sagten irgendetwas, doch Narissa hörte nicht zu. Sie blieb stumm auf der Bettkante sitzen und hielt weiterhin Yanas kalte Hand. Sie spürte Tränen in ihren Schoß tropfen, doch sie beachtete sie nicht weiter. Vage nahm sie war, dass die fremde Frau den kleinen Níthrar an sich nahm und mit ihm ins Nebenzimmer ging. Wieder sagte Safina irgendetwas, das sie nicht verstand, doch es war ihr egal. Sie blieb einfach an Yanas Seite sitzen. Stumm.

Navigation

[0] Themen-Index

[#] Nächste Seite

[*] Vorherige Sete

Zur normalen Ansicht wechseln