Milva und die Jäger aus GorthariaEtwa eine Viertelstunde waren sie stumm geritten, Klemen an der Spitze, hinter ihm Pero, der ein Packpferd neben sich führte, und am Schluss Milva und Mislav. Die Jäger waren nicht nach Südosten in Richtung der großen Hauptstraße, die sich erst südlich der Halbinsel von Gortharia teilte, geritten, sondern hatten eine kleine Straße in südwestlicher Richtung eingeschlagen. Auf diesem Weg war wenig Betrieb, doch die Felder und Dörfer, die in der Nähe der Hauptstadt das ganze Land bedeckten, wurden nur langsam spärlicher.
"Wozu sind wir zu viert? Einer oder zwei würden doch völlig ausreichen", fragte Milva Mislav leise, als sie es schließlich nicht länger aushielt, und der andere Jäger lächelte flüchtig. "Herrin Velmira serviert bei ihren Mahlzeiten ausschließlich Rehrücken - keine anderen Teile", antwortete er ebenso leise. Milva schüttelte ungläubig den Kopf. Von einem einzigen Reh konnte sie selbst mehrere Tage leben, und der Rücken war beileibe nicht der einzige essbare und schmackhafte Teil eines Tieres. Welch eine Verschwendung!
"Und was passiert mit dem Rest der Beute?", fragte sie. "Werfen wir es einfach in den Müll?" Sie argwöhnte, dass viele Adlige und Reiche so handelten - sie nahmen sich, was sie wollten, und der Rest wurde fortgeworfen, obwohl viele andere davon hätten leben können. Mislav schüttelte den Kopf. "Nein, den Rest bekommen wir und der Rest des Haushaltes. Unsere Gaumen sind schließlich nicht so verwöhnt, wie die Herrin zu sagen pflegt." Er verzog das Gesicht, und Milva schüttelte erneut ungläubig den Kopf.
Der vor ihnen reitende Pero warf einen Blick über die Schulter, und knurrte Mislav an: "Hör auf zu quasseln, Mann. Die Herrin würde sich sicher nicht freuen, wenn du schlecht über sie sprichst." Auch wenn er scheinbar gleichgültig war, schwang in seinem Tonfall doch eine versteckte Drohung mit. Milva wollte etwas entgegnen, doch Mislav warf ihr einen warnenden Blick zu, und sagte an ihrer statt kühl: "Ich habe nichts Schlechtes über die Herrin gesagt. Und wenn ihr doch so etwas zu Ohren kommt, kann ich mir denken woher."
Zur Antwort schnaubte Pero nur, und wandte sich wieder nach vorne. Mislav seufzte, und sagte: "Zum Glück sind wir bald da, und ich muss ihn nicht länger ertragen..."
Sie erreichten die Kuppe eines flachen Hügels, den die Straße überquerte, und Milva sah, dass sich etwa drei Meilen entfernt ein großes Waldstück ausbreitete, das sich nach Nordwesten bis zum Meer von Rhûn erstreckte.
"Ist das das Jagdgebiet?", fragte sie, und Mislav nickte. "Ja. Diese Ländereien und der Wald gehören seit langem dem Haus Bozhidar. Das wird sich allerdings bald vielleicht ändern..."
"Wieso?", fragte Milva, und bemühte sich, möglichst neugierig zu klingen. Der Grund war ihr natürlich aus dem, was Ryltha ihr erzählt hatte, bereits klar, doch das durfte weder Mislav noch sonst jemand wissen. Es würde Misstrauen erwägen, wenn die Jägerin aus dem Norden zu gut über die Familienverhältnisse des Hauses Bescheid wusste.
"Nun...", begann Mislav, und lenkte sein Pferd um eine schmutzige Pfütze auf dem Weg herum. Die Straße war trocken und staubig, also hatte es seit einiger Zeit nicht geregnet - bei der Pfütze handelte es sich also keineswegs um sauberes Regenwasser. "Herrin Velmira ist keine geborene Bozhidar, doch nach dem Tod ihres Mannes hat sie Land, Reichtum und Titel geerbt. Die einen sagen, weil ihr Mann sie so sehr geliebt hat, die anderen..." Er senkte seine Stimme, sodass Milva sich ein Stück hinüber beugen musste, um ihn zu verstehen. "Die anderen behaupten, sie hätte ihn vor seinem Tod dazu gezwungen... wenn du sie kennengelernt hast kannst du dir sicher vorstellen, dass es schwer ist, sich ihr zu widersetzen. Jedenfalls hat sie keine überlebenden Kinder, die den Namen Bozhidar weiterleben lassen könnten."
"Und wer erbt das Ganze dann?", fragte Milva nach, obwohl sie die Antwort darauf natürlich ebenfalls bereits kannte. "Münzen, Schätze, Land, Haus und so?" Sie mussten einem entgegenkommenden Wagen zu beiden Straßenrändern ausweichen, und als er vorbei war antwortete Mislav: "Soweit ich weiß, gibt es zwei Erben die in Frage kommen - ein Neffe des alten Herrn, und ein Vetter der Herrin."
"Mhm", machte Milva. "Viel Familie hat sie ja nicht. Man könnte fast glauben, sie wär gar keine Adlige, wo die doch sonst immer 'nen Haufen Vettern, Onkel und Tanten haben."
"Wahrhaftig." Mislav betrachtete aufmerksam Peros Rücken, doch der Jäger wandte sich nicht um und gab mit keiner Regung zu erkennen, dass er Milva gehört hatte. "Jedenfalls möchte die Herrin wohl am liebsten ihren Vetter oder dessen Sohn zum Erben erklären, denn die sind ebenso königstreu wie sie. Nicht so wie ihr Neffe, der seit einiger Zeit immer mehr davon redet, dass man Frieden schließen und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte."
Auch das war Milva natürlich bekannt, und das war der Grund, weshalb die Schattenläufer lieber jenen Neffen als Erben sähen, als den königstreuen Vetter.
Schließlich erreichten sie den Saum des Waldes, wo sie hintereinander einem schmalen Pfad folgten, der schließlich auf einer kleinen Lichtung inmitten des Waldes endete. Dort saßen sie ab, und für einen Moment genoss Milva die Umgebung, die zwar fremd war, aber gleichzeitig vertraut. Die Bäume raschelten sanft im Wind, der vom Meer kam, im Unterholz sangen und zwitscherten die Vögel, und ein Fuchs verschwand rasch zwischen den Bäumen, als die Pferde auf die Lichtung kamen. Am Westrand der Lichtung plätscherte ein kleiner Bach, der nach Norden zum Meer floss. Dort war eine Reihe Pflöcke in den Boden geschlagen, an dem die Jäger ihre Pferde anbanden.
Gerade, als Klemen etwas sagen wollte, war vom Pfad her leiser Hufschlag zu hören, und ein weiterer Reiter kam auf die Lichtung. Er war groß und schlank, mit schulterlangen schwarzen Haaren, und hob mit einem gewinnenden Lächeln grüßend die Hand.
"Ah, meine Herren - und Damen, wie ich sehe - Jäger. Ich fürchtete schon, euch zu verpassen." Die Jäger verneigten sich, während der Neuankömmling vom Pferd sprang. Milva tat es ihnen gleich, und musterte ihn währenddessen verstohlen. Er war wirklich äußerst gutaussehend, mit den rabenschwarzen Haaren, der geraden Nase, dem kräftigen Kinn und den dunklen, aufmerksam funkelnden Augen.
"Herr Silan", erwiderte Klemen schließlich. "Wir wussten nicht, dass ihr uns begleiten sollte." Das also war der Neffe des alten Herrn Bozhidar, der nach dem Willen der Schattenläufer das Erbe des Hauses antreten sollte. Milva fragte sich, was er hier vorhatte.
Silan schlang die Zügel seines Rappen um einen der noch freien Pfosten, und löste einen kurzen Jagdbogen mitsamt Köcher vom Sattel. "Ich habe meine Lieblingstante besucht, und erfahren, dass sie euch zur Jagd ausgeschickt hat... und dieses Vergnügen konnte ich mir schwerlich versagen." Er zwinkerte Milva zu, doch sein Blick verweilte nicht unschicklich lange auf ihr.
"Wir sind von eurer Anwesenheit geehrt", erwiderte Klemen, und Silan gab trocken zurück: "Daran habe ich keinen Augenblick gezweifelt. Also, wer geht wohin?"
"Nun, also...", begann der alte Jäger, doch Milva unterbrach ihn. "Verzeiht, aber bevor ich irgendwo hingehe - ich habe noch eine Angelegenheit zu klären." Klemens Augen verdunkelten sich zornig, doch Silan hob die Hand. "Das klingt interessant. Worum geht es?"
"Unser...
Jagdgefährte hier, hat mich beleidigt und meine Fähigkeiten in Zweifel gezogen", erklärte Milva, und deutete dabei auf Pero, der sichtlich überrascht war. Offensichtlich hatte er eigentlich damit gerechnet, dass sie die Sache auf sich beruhen lassen würde.
"Ist das wahr?", fragte Silan an Klemen gerichtet, doch es war Mislav, der nickte und antwortete: "Allerdings - und zwar auf recht unfreundliche Weise."
"Und ich dachte mir, dass es vielleicht einen Weg gibt zu testen, wer von uns beiden an wessen Fähigkeiten zweifeln darf", schloss Milva, und auf dem Gesicht des Adligen breitete sich ein Lächeln aus, das beinahe jungenhaft wirkte. "Ein Wettschießen, großartig. Eine sehr gute Idee, ich schlage vor, dass ihr das direkt erledigt." Sowohl Milva als auch Pero war bewusst, dass ein Vorschlag aus dem Mund eines Adligen einem Befehl gleichkam. Was Milva in diesem Fall sehr recht war, denn es nahm Pero, der angesichts ihrer Selbstsicherheit anscheinend allmählich Zweifel bekam, die Möglichkeit, einen Rückzieher zu machen.
"Wie wäre es damit?" Sie deutete auf eine hohe Kiefer auf der anderen Seite der Lichtung, etwa hundert Schritt entfernt. An einem einzelnen Ast, etwa acht Schritte über dem Boden, hingen nebeneinander, im Sonnenlicht gut sichtbar, zwei Kiefernzapfen, und schaukelten sanft im Wind. "Wir schießen abwechselnd, und wer als erster einen herunterschießt, gewinnt."
"Das ist Pfeilverschwendung, Mädchen", knurrte Klemen. "Die Ziele sind zu klein."
"Ich kann es", entgegnete Milva fest, doch sie sah nicht Klemen, sondern Silan an. "Wenn Pero es nicht versuchen will, hat er bereits verloren."
"Ich werde nicht... mich nicht von einem frechen Bauernmädchen...", stieß Pero, dessen Stirn rot angelaufen war, hervor. "Ich werde es tun, und danach..."
Silan zog die Augenbrauen zusammen. "Na, mäßige dich. Ich schließe daraus, dass du die Herausforderung annimmst?" Pero nickt zustimmend, und drehte sich ruckartig den Zielen zu, den Bogen bereits in der Hand.
Milva stellte sich neben ihn, und nahm den Bogen aus Særima vom Rücken. "Die Dame zuerst", sagte Silan, und gab damit das Zeichen zum Anfangen.
Während Milva einen Pfeil aus dem Köcher zog und auf die Sehne legte, spürte sie Stärke und Richtung des Windes. Hier auf der Lichtung, in der Nähe der Bäume war er kaum zu spüren, doch weiter oben musste er stärker sein. Er wehte von Norden, vom Meer heran, also würde er ihren Pfeil ein wenig nach rechts ablenken - nicht sehr, denn ein von diesem Bogen abgeschossener Pfeil flog schnell.
Milva zog die Sehne bis zum Mundwinkel zurück, zielte und schoss. Der Pfeil flog in Richtung der Kiefer davon, traf jedoch keinen der beiden Zapfen sondern flog geradewegs zwischen ihnen hindurch.
"Ein guter Schuss", lobte Mislav, doch Milva verzog unzufrieden das Gesicht. Er hatte Recht, der Schuss war gut gewesen - doch nicht gut genug, denn sie hatte gehofft direkt mit dem ersten Pfeil zu treffen und Pero damit unter Druck zu setzen. Dieser legte nun ebenfalls einen Pfeil auf die Sehne, spannte den Bogen und schoss ohne zu zögern. Doch Milva hatte beobachtet, dass er zu schnell geschossen und nicht sorgfältig gezielt hatte, und sein Pfeil flog ein ganzes Stück über den Ast hinweg. Der Jäger fluchte, während Milva ihren zweiten Pfeil aus dem Köcher zog. Bereits als sie die Sehne losließ wusste sie, dass der Schuss perfekt war - so etwas spürte sie in ihrem ganzen Körper.
Als der Pfeil den Kiefernzapfen durchbohrte und vom Ast herunterschlug, pfiff Silan anerkennend durch die Zähne, und Klemen meinte: "Ein Meisterschuss, Mädchen."
Mislav jedoch sagte spöttisch zu Pero: "Na, streng dich lieber an, wenn du nicht verlieren willst."
Ohne ein Wort zu sagen, griff dieser nach seinem zweiten Pfeil. Dieses Mal zielte er sorgfältiger, bevor er schoss. Der Schuss war beinahe ebenso gut wie Milvas - aber eben nur beinahe. Der Pfeil flog so nah an dem verbliebenen Kiefernzapfen vorbei, dass dieser hin und her schaukelte, doch nicht herunterfiel. "Ebenfalls ein guter Schuss", sagte Silan mit verschränkten Armen. "Aber nicht gut genug. Du hast verloren, Pero. Und ich denke, es wäre eine Entschuldigung angebracht."
Pero brummelte etwas vor sich hin, was eine Entschuldigung sein mochte, und hängte sich mit einer wütenden Bewegung den Bogen wieder über die Schulter. Silan tappte ungeduldig mit dem rechten Fuß auf den mit Moos überwucherten Boten, und sagte: "Ich habe dich nicht verstanden, Pero."
"Aber ich", fiel Milva ein. So sehr es sie auch reizte, den Jäger für seine Worte büßen zu lassen - ihr war nicht daran gelegen, zu viel Aufsehen zu erregen oder ihn endgültig gegen sich aufzubringen. Immerhin musste sie vermutlich noch einige Zeit mit ihm gemeinsam auf die Jagd bringen, und dabei waren offene Feindschaften eher hinderlich. "Lasst gut sein, Herr."
"Wenn du meinst...", entgegnete der Adlige langsam. "Damit bleibt nur die Frage: Wer geht wohin?"
"Ich werde nach Süden gehen", sagte Klemen. "Dort habe ich vor einiger Zeit ein paar vielversprechende Spuren gesehen." "Dann gehe ich nach Westen. Wenn es dort nichts zu schießen gibt, liegt am Waldrand wenigstens ein Dorf mit ein paar hübschen Frauen", meinte Silan augenzwinkernd.
"Jemand sollte auch mit Milva gehen", fuhr Klemen fort. "Bis sie sich in diesem Wald auskennt." Peros Augen leuchteten unheilvoll auf, und Milva konnte sich halbwegs vorstellen, was er denken mochte. Zwar würde er es nicht wagen, zu versuchen ihr irgendetwas anzutun, zumal der Verdacht unweigerlich auf ihn fallen würde, doch da er die Gegend kannte und sie nicht, könnte er versuchen, sie in die Irre zu führen und so dem Gespött der anderen Jäger preiszugeben. Doch dazu würde es nicht kommen, denn bevor Pero den Mund öffnen konnte, sagte Mislav: "Ich werde mit ihr gehen - nach Norden, Richtung Meer." Mit einem Zwinkern fügte er an Klemen gewandt hinzu: "Und ich wette, wir erwischen mehr als ihr."
"Davon träumst du nur, Junge", gab der Anführer der Jäger trocken zurück, und aus seinem Tonfall schloss Milva, dass Sticheleien dieser Art unter den Jägern keineswegs ungewöhnlich waren.
"Also schön, aufbrechen", sagte Klemen schließlich. "Wir treffen uns zur Mittagsstunde wieder hier."