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Autor Thema: Südlich von Gortharia  (Gelesen 5231 mal)

Eandril

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Südlich von Gortharia
« am: 25. Feb 2017, 18:14 »
Milva und die Jäger aus Gortharia

Etwa eine Viertelstunde waren sie stumm geritten, Klemen an der Spitze, hinter ihm Pero, der ein Packpferd neben sich führte, und am Schluss Milva und Mislav. Die Jäger waren nicht nach Südosten in Richtung der großen Hauptstraße, die sich erst südlich der Halbinsel von Gortharia teilte, geritten, sondern hatten eine kleine Straße in südwestlicher Richtung eingeschlagen. Auf diesem Weg war wenig Betrieb, doch die Felder und Dörfer, die in der Nähe der Hauptstadt das ganze Land bedeckten, wurden nur langsam spärlicher.
"Wozu sind wir zu viert? Einer oder zwei würden doch völlig ausreichen", fragte Milva Mislav leise, als sie es schließlich nicht länger aushielt, und der andere Jäger lächelte flüchtig. "Herrin Velmira serviert bei ihren Mahlzeiten ausschließlich Rehrücken - keine anderen Teile", antwortete er ebenso leise. Milva schüttelte ungläubig den Kopf. Von einem einzigen Reh konnte sie selbst mehrere Tage leben, und der Rücken war beileibe nicht der einzige essbare und schmackhafte Teil eines Tieres. Welch eine Verschwendung!
"Und was passiert mit dem Rest der Beute?", fragte sie. "Werfen wir es einfach in den Müll?" Sie argwöhnte, dass viele Adlige und Reiche so handelten - sie nahmen sich, was sie wollten, und der Rest wurde fortgeworfen, obwohl viele andere davon hätten leben können. Mislav schüttelte den Kopf. "Nein, den Rest bekommen wir und der Rest des Haushaltes. Unsere Gaumen sind schließlich nicht so verwöhnt, wie die Herrin zu sagen pflegt." Er verzog das Gesicht, und Milva schüttelte erneut ungläubig den Kopf.
Der vor ihnen reitende Pero warf einen Blick über die Schulter, und knurrte Mislav an: "Hör auf zu quasseln, Mann. Die Herrin würde sich sicher nicht freuen, wenn du schlecht über sie sprichst." Auch wenn er scheinbar gleichgültig war, schwang in seinem Tonfall doch eine versteckte Drohung mit. Milva wollte etwas entgegnen, doch Mislav warf ihr einen warnenden Blick zu, und sagte an ihrer statt kühl: "Ich habe nichts Schlechtes über die Herrin gesagt. Und wenn ihr doch so etwas zu Ohren kommt, kann ich mir denken woher."
Zur Antwort schnaubte Pero nur, und wandte sich wieder nach vorne. Mislav seufzte, und sagte: "Zum Glück sind wir bald da, und ich muss ihn nicht länger ertragen..."
Sie erreichten die Kuppe eines flachen Hügels, den die Straße überquerte, und Milva sah, dass sich etwa drei Meilen entfernt ein großes Waldstück ausbreitete, das sich nach Nordwesten bis zum Meer von Rhûn erstreckte.
"Ist das das Jagdgebiet?", fragte sie, und Mislav nickte. "Ja. Diese Ländereien und der Wald gehören seit langem dem Haus Bozhidar. Das wird sich allerdings bald vielleicht ändern..."
"Wieso?", fragte Milva, und bemühte sich, möglichst neugierig zu klingen. Der Grund war ihr natürlich aus dem, was Ryltha ihr erzählt hatte, bereits klar, doch das durfte weder Mislav noch sonst jemand wissen. Es würde Misstrauen erwägen, wenn die Jägerin aus dem Norden zu gut über die Familienverhältnisse des Hauses Bescheid wusste.
"Nun...", begann Mislav, und lenkte sein Pferd um eine schmutzige Pfütze auf dem Weg herum. Die Straße war trocken und staubig, also hatte es seit einiger Zeit nicht geregnet - bei der Pfütze handelte es sich also keineswegs um sauberes Regenwasser. "Herrin Velmira ist keine geborene Bozhidar, doch nach dem Tod ihres Mannes hat sie Land, Reichtum und Titel geerbt. Die einen sagen, weil ihr Mann sie so sehr geliebt hat, die anderen..." Er senkte seine Stimme, sodass Milva sich ein Stück hinüber beugen musste, um ihn zu verstehen. "Die anderen behaupten, sie hätte ihn vor seinem Tod dazu gezwungen... wenn du sie kennengelernt hast kannst du dir sicher vorstellen, dass es schwer ist, sich ihr zu widersetzen. Jedenfalls hat sie keine überlebenden Kinder, die den Namen Bozhidar weiterleben lassen könnten."
"Und wer erbt das Ganze dann?", fragte Milva nach, obwohl sie die Antwort darauf natürlich ebenfalls bereits kannte. "Münzen, Schätze, Land, Haus und so?" Sie mussten einem entgegenkommenden Wagen zu beiden Straßenrändern ausweichen, und als er vorbei war antwortete Mislav: "Soweit ich weiß, gibt es zwei Erben die in Frage kommen - ein Neffe des alten Herrn, und ein Vetter der Herrin."
"Mhm", machte Milva. "Viel Familie hat sie ja nicht. Man könnte fast glauben, sie wär gar keine Adlige, wo die doch sonst immer 'nen Haufen Vettern, Onkel und Tanten haben."
"Wahrhaftig." Mislav betrachtete aufmerksam Peros Rücken, doch der Jäger wandte sich nicht um und gab mit keiner Regung zu erkennen, dass er Milva gehört hatte. "Jedenfalls möchte die Herrin wohl am liebsten ihren Vetter oder dessen Sohn zum Erben erklären, denn die sind ebenso königstreu wie sie. Nicht so wie ihr Neffe, der seit einiger Zeit immer mehr davon redet, dass man Frieden schließen und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte."
Auch das war Milva natürlich bekannt, und das war der Grund, weshalb die Schattenläufer lieber jenen Neffen als Erben sähen, als den königstreuen Vetter.

Schließlich erreichten sie den Saum des Waldes, wo sie hintereinander einem schmalen Pfad folgten, der schließlich auf einer kleinen Lichtung inmitten des Waldes endete. Dort saßen sie ab, und für einen Moment genoss Milva die Umgebung, die zwar fremd war, aber gleichzeitig vertraut. Die Bäume raschelten sanft im Wind, der vom Meer kam, im Unterholz sangen und zwitscherten die Vögel, und ein Fuchs verschwand rasch zwischen den Bäumen, als die Pferde auf die Lichtung kamen. Am Westrand der Lichtung plätscherte ein kleiner Bach, der nach Norden zum Meer floss. Dort war eine Reihe Pflöcke in den Boden geschlagen, an dem die Jäger ihre Pferde anbanden.
Gerade, als Klemen etwas sagen wollte, war vom Pfad her leiser Hufschlag zu hören, und ein weiterer Reiter kam auf die Lichtung. Er war groß und schlank, mit schulterlangen schwarzen Haaren, und hob mit einem gewinnenden Lächeln grüßend die Hand.
"Ah, meine Herren - und Damen, wie ich sehe - Jäger. Ich fürchtete schon, euch zu verpassen." Die Jäger verneigten sich, während der Neuankömmling vom Pferd sprang. Milva tat es ihnen gleich, und musterte ihn währenddessen verstohlen. Er war wirklich äußerst gutaussehend, mit den rabenschwarzen Haaren, der geraden Nase, dem kräftigen Kinn und den dunklen, aufmerksam funkelnden Augen.
"Herr Silan", erwiderte Klemen schließlich. "Wir wussten nicht, dass ihr uns begleiten sollte." Das also war der Neffe des alten Herrn Bozhidar, der nach dem Willen der Schattenläufer das Erbe des Hauses antreten sollte. Milva fragte sich, was er hier vorhatte.
Silan schlang die Zügel seines Rappen um einen der noch freien Pfosten, und löste einen kurzen Jagdbogen mitsamt Köcher vom Sattel. "Ich habe meine Lieblingstante besucht, und erfahren, dass sie euch zur Jagd ausgeschickt hat... und dieses Vergnügen konnte ich mir schwerlich versagen." Er zwinkerte Milva zu, doch sein Blick verweilte nicht unschicklich lange auf ihr.
"Wir sind von eurer Anwesenheit geehrt", erwiderte Klemen, und Silan gab trocken zurück: "Daran habe ich keinen Augenblick gezweifelt. Also, wer geht wohin?"
"Nun, also...", begann der alte Jäger, doch Milva unterbrach ihn. "Verzeiht, aber bevor ich irgendwo hingehe - ich habe noch eine Angelegenheit zu klären." Klemens Augen verdunkelten sich zornig, doch Silan hob die Hand. "Das klingt interessant. Worum geht es?"
"Unser... Jagdgefährte hier, hat mich beleidigt und meine Fähigkeiten in Zweifel gezogen", erklärte Milva, und deutete dabei auf Pero, der sichtlich überrascht war. Offensichtlich hatte er eigentlich damit gerechnet, dass sie die Sache auf sich beruhen lassen würde.
"Ist das wahr?", fragte Silan an Klemen gerichtet, doch es war Mislav, der nickte und antwortete: "Allerdings - und zwar auf recht unfreundliche Weise."
"Und ich dachte mir, dass es vielleicht einen Weg gibt zu testen, wer von uns beiden an wessen Fähigkeiten zweifeln darf", schloss Milva, und auf dem Gesicht des Adligen breitete sich ein Lächeln aus, das beinahe jungenhaft wirkte. "Ein Wettschießen, großartig. Eine sehr gute Idee, ich schlage vor, dass ihr das direkt erledigt." Sowohl Milva als auch Pero war bewusst, dass ein Vorschlag aus dem Mund eines Adligen einem Befehl gleichkam. Was Milva in diesem Fall sehr recht war, denn es nahm Pero, der angesichts ihrer Selbstsicherheit anscheinend allmählich Zweifel bekam, die Möglichkeit, einen Rückzieher zu machen.
"Wie wäre es damit?" Sie deutete auf eine hohe Kiefer auf der anderen Seite der Lichtung, etwa hundert Schritt entfernt. An einem einzelnen Ast, etwa acht Schritte über dem Boden, hingen nebeneinander, im Sonnenlicht gut sichtbar, zwei Kiefernzapfen, und schaukelten sanft im Wind. "Wir schießen abwechselnd, und wer als erster einen herunterschießt, gewinnt."
"Das ist Pfeilverschwendung, Mädchen", knurrte Klemen. "Die Ziele sind zu klein."
"Ich kann es", entgegnete Milva fest, doch sie sah nicht Klemen, sondern Silan an. "Wenn Pero es nicht versuchen will, hat er bereits verloren."
"Ich werde nicht... mich nicht von einem frechen Bauernmädchen...", stieß Pero, dessen Stirn rot angelaufen war, hervor. "Ich werde es tun, und danach..."
Silan zog die Augenbrauen zusammen. "Na, mäßige dich. Ich schließe daraus, dass du die Herausforderung annimmst?" Pero nickt zustimmend, und drehte sich ruckartig den Zielen zu, den Bogen bereits in der Hand.
Milva stellte sich neben ihn, und nahm den Bogen aus Særima vom Rücken. "Die Dame zuerst", sagte Silan, und gab damit das Zeichen zum Anfangen.
Während Milva einen Pfeil aus dem Köcher zog und auf die Sehne legte, spürte sie Stärke und Richtung des Windes. Hier auf der Lichtung, in der Nähe der Bäume war er kaum zu spüren, doch weiter oben musste er stärker sein. Er wehte von Norden, vom Meer heran, also würde er ihren Pfeil ein wenig nach rechts ablenken - nicht sehr, denn ein von diesem Bogen abgeschossener Pfeil flog schnell.
Milva zog die Sehne bis zum Mundwinkel zurück, zielte und schoss. Der Pfeil flog in Richtung der Kiefer davon, traf jedoch keinen der beiden Zapfen sondern flog geradewegs zwischen ihnen hindurch.
"Ein guter Schuss", lobte Mislav, doch Milva verzog unzufrieden das Gesicht. Er hatte Recht, der Schuss war gut gewesen - doch nicht gut genug, denn sie hatte gehofft direkt mit dem ersten Pfeil zu treffen und Pero damit unter Druck zu setzen. Dieser legte nun ebenfalls einen Pfeil auf die Sehne, spannte den Bogen und schoss ohne zu zögern. Doch Milva hatte beobachtet, dass er zu schnell geschossen und nicht sorgfältig gezielt hatte, und sein Pfeil flog ein ganzes Stück über den Ast hinweg. Der Jäger fluchte, während Milva ihren zweiten Pfeil aus dem Köcher zog. Bereits als sie die Sehne losließ wusste sie, dass der Schuss perfekt war - so etwas spürte sie in ihrem ganzen Körper.
Als der Pfeil den Kiefernzapfen durchbohrte und vom Ast herunterschlug, pfiff Silan anerkennend durch die Zähne, und Klemen meinte: "Ein Meisterschuss, Mädchen."
Mislav jedoch sagte spöttisch zu Pero: "Na, streng dich lieber an, wenn du nicht verlieren willst."
Ohne ein Wort zu sagen, griff dieser nach seinem zweiten Pfeil. Dieses Mal zielte er sorgfältiger, bevor er schoss. Der Schuss war beinahe ebenso gut wie Milvas - aber eben nur beinahe. Der Pfeil flog so nah an dem verbliebenen Kiefernzapfen vorbei, dass dieser hin und her schaukelte, doch nicht herunterfiel. "Ebenfalls ein guter Schuss", sagte Silan mit verschränkten Armen. "Aber nicht gut genug. Du hast verloren, Pero. Und ich denke, es wäre eine Entschuldigung angebracht."
Pero brummelte etwas vor sich hin, was eine Entschuldigung sein mochte, und hängte sich mit einer wütenden Bewegung den Bogen wieder über die Schulter. Silan tappte ungeduldig mit dem rechten Fuß auf den mit Moos überwucherten Boten, und sagte: "Ich habe dich nicht verstanden, Pero."
"Aber ich", fiel Milva ein. So sehr es sie auch reizte, den Jäger für seine Worte büßen zu lassen - ihr war nicht daran gelegen, zu viel Aufsehen zu erregen oder ihn endgültig gegen sich aufzubringen. Immerhin musste sie vermutlich noch einige Zeit mit ihm gemeinsam auf die Jagd bringen, und dabei waren offene Feindschaften eher hinderlich. "Lasst gut sein, Herr."
"Wenn du meinst...", entgegnete der Adlige langsam. "Damit bleibt nur die Frage: Wer geht wohin?"
"Ich werde nach Süden gehen", sagte Klemen. "Dort habe ich vor einiger Zeit ein paar vielversprechende Spuren gesehen." "Dann gehe ich nach Westen. Wenn es dort nichts zu schießen gibt, liegt am Waldrand wenigstens ein Dorf mit ein paar hübschen Frauen", meinte Silan augenzwinkernd.
"Jemand sollte auch mit Milva gehen", fuhr Klemen fort. "Bis sie sich in diesem Wald auskennt." Peros Augen leuchteten unheilvoll auf, und Milva konnte sich halbwegs vorstellen, was er denken mochte. Zwar würde er es nicht wagen, zu versuchen ihr irgendetwas anzutun, zumal der Verdacht unweigerlich auf ihn fallen würde, doch da er die Gegend kannte und sie nicht, könnte er versuchen, sie in die Irre zu führen und so dem Gespött der anderen Jäger preiszugeben. Doch dazu würde es nicht kommen, denn bevor Pero den Mund öffnen konnte, sagte Mislav: "Ich werde mit ihr gehen - nach Norden, Richtung Meer." Mit einem Zwinkern fügte er an Klemen gewandt hinzu: "Und ich wette, wir erwischen mehr als ihr."
"Davon träumst du nur, Junge", gab der Anführer der Jäger trocken zurück, und aus seinem Tonfall schloss Milva, dass Sticheleien dieser Art unter den Jägern keineswegs ungewöhnlich waren.
"Also schön, aufbrechen", sagte Klemen schließlich. "Wir treffen uns zur Mittagsstunde wieder hier."


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Eandril

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Re: Südlich von Gortharia
« Antwort #1 am: 4. Mär 2017, 18:20 »
Eine halbe Stunde, vielleicht ein wenig mehr, hatte Mislav Milva nach Norden geführt, und allmählich glaubte sie, ein Gefühl für diesen Wald zu bekommen. Das ganze Gebiet wurde von Höhenzügen durchzogen, die von der Küste im Norden in südöstlicher Richtung quer durch den Wald verliefen. Von den Kämmen der niedrigen Hügel flossen immer wieder kleine Bäche in die Senken dazwischen hinab, vereinigten sich zu größeren Wasserläufen und würden weiter nördlich schließlich ins Meer münden. Oben auf den Hügeln war es trocken und Bäume und Unterholz standen nicht allzu dicht, wogegen die Talsohlen zumeist dicht bewachsen und teilweise sumpfig waren.
"Weiter unten findet man oft etwas zu schießen", erklärte Mislav, während sie dem Verlauf eines Hügelkammes weiter nach Norden folgten. "Aber man muss aufpassen, dass man sich keine nassen Füße holt." Er deutete ins Tal hinunter, das an dieser Stelle ein wenig breiter zu sein schien. Die Bäume standen hier weniger dicht, und der Boden und das ihn bedeckende Laub waren ein wenig dunkler als üblich.
Milva nickte langsam, denn sie kannte solche Stellen ebenfalls aus ihren üblichen Jagdrevieren. Sie lagen etwas tiefer als aller umliegender Boden, und so sammelte sich dort Wasser von den Höhen in der Erde. Und wenn es nicht genug war um einen Tümpel oder Teich zu füllen, bildeten sich solche sumpfigen Stellen - in denen man normalerweise nicht einsinken konnte und die also so keine Gefahr darstellten, doch niemand hatte Interesse daran, sich auf der Jagd unnötig nasse Schuhe zu holen. Milva freute sich, dass der andere Jäger sie darauf aufmerksam machte, ohne sie zugleich zu belehrend zu behandeln.

Die beiden erreichten einen ein wenig höher gelegenen Punkt, an dem der Hügelkamm sanft in ein etwas breiteres, lichtes Tal abfiel. An den nördlichen, grasbewachsenen Hängen des Hügels standen keine Bäume, nur auf seinem höchsten Punkt wuchs eine mächtige, offenbar uralte Eiche, die Milva sofort an den Sitz der Herrin des Sternenwaldes erinnerte. Sie fragte sich, ob in diesem Wald vielleicht auch einmal Elben gelebt hatten, als Mislav neben der Eiche stehenblieb und ins Tal hinunterdeutete.
"Hier treibt sich viel Wild herum, und durch die wenigen Bäume hat man von hier ein gutes Schussfeld", sagte er, während Milva neben ihm in die Knie ging, und die Gegend aufmerksam betrachtete. Er hatte recht, der Ort war wirklich ideal. Im Tal wuchsen nur wenige, schlanke und junge Bäume, sehr spärliches Unterholz und dafür viel hohes Gras. In jeder Hinsicht eine Festtafel für Wild.
"Woher kommt diese Lichtung?", fragte sie leise, um mögliche Beutetiere nicht zu verschrecken. "Sie wirkt so... fehl am Platz."
Mislav zuckte mit den Schultern. "Einige Leute in den nahen Dörfern sagen, hier hätte vor ein paar Jahren der Wald gebrannt, obwohl keine Dürre herrschte."
"Dann hat jemand das Feuer gelegt? Aber wieso?"
"Keine Ahnung." Mislav deutete ein Stück an der Talgrenze nach Nordwesten, wo zwischen zwei Bäumen einige große, graue Steine zu sehen waren. "Aber einige sehr abergläubische Dörfler glauben, es hätte etwas mit diesen alten Steinkreis zu tun. Sie glauben wohl, er wäre verflucht." Er schnaubte abfällig, doch einen Herzschlag später hörte Milva ein Geräusch aus der Richtung des angeblich verfluchten Steinkreises. Auch Mislav schien es gehört zu haben, denn er verzog unbehaglich das Gesicht. Milva konnte sich denken, warum: Es war eine menschliche Stimme gewesen, die mit dem Wind hinüberwehte. Und außer ihnen und den anderen Jägern sollte es in diesem Wald keine Menschen geben - außer Wilderern und Banditen, wobei Milva so nah an der Hauptstadt nicht an Banditen glaubte.

Ohne abzuwarten was Mislav tun würde, eilte sie lautlos den Hang hinunter in die benachbarte Senke, und den nächsten Hang wieder hinauf. Dann folgte sie dem Kamm, der rund um die Lichtung verlief, bis sie kurz oberhalb des Steinkreises war. Dort ließ sie sich leise in das Unterholz gleiten, beobachtete und lauschte. Der Kreis war aus mehreren hohen, moosbewachsenen Steinsäulen aufgebaut, von denen allerdings die meisten schief standen und einige ganz umgestürzt waren. In der Mitte hatten sich drei Menschen in schäbiger Bauernkleidung versammelt, zwei Männer und eine Frau mit kurzen, pechschwarzen Haaren.
"... nicht besonders viel", sagte gerade einer der Männer. Seine Stimme klang erschöpft, und zwischen ihnen lagen ein sehr mageres junges Reh und zwei Kaninchen. "Mehr war nicht zu holen", erwiderte die Frau mit ebenso müder Stimme, und fügte hinzu: "Und wir sollten auch schnell gehen. Je später es wird, desto wahrscheinlicher dass Jäger der gnädigen Herrin hier im Wald auftauchen."
Sie betonte die Worte gnädige Herrin wie eine Beschimpfung - und einen Augenblick lang fühlte Milva sich wieder wie diese Frau. Sie kannte die Verachtung der Reichen, der Adligen, die wusste wie es sich anfühlte, sie zu hassen. Sie kannte den Hunger, die Müdigkeit und die Erschöpfung die er hervorriefen, und die Verzweiflung. Und sie wusste, wie es enden würde.
Bevor sie ihren Entschluss gefasst hatte, hatten die drei Wilderer unten im Steinkreis ihre magere Beute bereits zusammengerafft, und sich zum Gehen gewandt. Und bevor Milva aufspringen, sie anrufen und ihnen ihre Hilfe anbieten konnte, legte sich eine eisern zupackende Hand auf ihre Schulter und eine zweite hielt ihr den Mund zu.
"Leise", flüsterte Mislav, der sie festhielt, und nahm langsam die Hand weg. Das rettete ihn vor Milvas Versuch, hineinzubeißen um sich zu befreien. Als die Wilderer sich zwischen den Bäumen nach Norden entfernt hatten, ließ er Milva aufstehen und fragte zornig: "Was sollte das werden? Wilderern helfen?" Er hatte ihre Absichten offenbar genau durchschaut, und Milva errötete unwillkürlich und ließ den Kopf hängen. "Ich wollte doch nur...", begann sie, doch der Jäger schnitt ihr das Wort ab. "Du warst gar keine Jägerin irgendeines Adligen in Dorwinion, nicht wahr?"
Kalter Schrecken durchfuhr Milva, doch sie wusste nichts zu antworten und wich Mislavs Blick aus. Der seufzte, und sagte: "Du hast von mir nichts zu befürchten. Solange deine Absichten ehrlich sind, ist es mir deine Vergangenheit egal." Milva glaubte ihm an den Augen anzusehen, dass er es ehrlich meinte, also erwiderte sie mit einem fast unmerkbaren Kopfschütteln: "Nein. Ich habe... in den Wäldern des Herren gewildert, und musste schließlich fliehen. Und da dachte ich mir... könnte ich gleich ehrlich werden." Das war immerhin ein Teil der Wahrheit.
"Überall, wo ich als Jäger gedient habe, gab es zwei Vorgehensweisen, wenn ein Jäger Wilderer oder ihre Spuren bemerkte - und keine davon beinhaltete, für sie zu jagen." Mislav zwinkerte ihr zu, und Milva rang sich ein schwaches Lächeln ab. Das wusste sie eigentlich nur zu gut.
"Die einen verfolgten die Wilderer oder die Spur um zu sehen, aus welchem Dorf sie kamen oder wo sie ihr Versteck hatten, und verrieten sie dann an ihren Herrn", fuhr Mislav fort. "Und die anderen... nun, die hatten einfach nichts gesehen. Was man nicht gesehen hat, kann man nicht melden - und so habe ich es bisher immer gemacht. Ich dachte erst, du wolltest diese hier verraten, um in der Gunst der Herrin aufzusteigen. Aber dazu hättest du nicht aufspringen müssen, also habe ich richtig erraten, was du vor hattest."
"Es... war wahrscheinlich dumm von mir", erwiderte Milva nach kurzem Schweigen. "Aber, Mislav... diese Leute haben Hunger. Und nicht nur sie, sondern wahrscheinlich auch ihre Familien und das ganze Dorf. Wie können wir einfach zu sehen, ohne zu..."
"... helfen?", beendete Mislav den Satz für sie. "Aber das tun wir doch: Indem wir nichts tun. Wir stehen nicht neben ihnen, sondern auf der anderen Seite eines reißenden Flusses. Und wenn wir versuchen, auf einem Seil darüber zu balancieren, werden wir stürzen und selbst ertrinken."
Milva verstand, was er meinte. Wenn sie diesen Leuten direkt half, würde sich das früher oder später herumsprechen. Und bald würde sie nicht mehr Milva, die Jägerin der Herrin Velmira sein, sondern Milva, die Wilderin, die von der Herrin Velmira bestraft wurde. Und sonst hätte ihr das wenig ausgemacht, doch im Augenblick hatte sie eine andere Aufgabe, und Ryltha hatte sie überzeugt, dass es wichtig war ihre Tarnung zu halten.
Bei dem Gedanken an ihre Aufgabe fiel Milva auch ihr anderer Auftrag wieder ein - der, der sie überhaupt erst nach Gortharia geführt hatte. In den letzten Tagen hatte sie ihn vollkommen vergessen, und nun schämte sie sich dafür. Sie selbst konnte Gortharia nicht so schnell wieder verlassen, aber vielleicht konnte Ryltha dafür sorgen, dass die Information über König Bard den Sternenwald und den Verwundeten erreichte.

"Also dann...", riss Mislav sie aus ihren Gedanken, und lächelte aufmunternd. "Lass und zwei... nein, besser drei Rehe schießen. Es gibt nichts besseres, um Pero das Grinsen aus dem Gesicht zu wischen." Milva erwiderte das Lächeln, und berührte mit der Rechten das untere Ende ihres Bogens, den sie auf dem Rücken trug. Er hatte Recht, sie hatten etwas zu tun - doch sie wusste, dass sie noch einige Zeit über diese Beinahe-Begegnung nachdenken würde.

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Re: Südlich von Gortharia
« Antwort #2 am: 5. Mär 2017, 16:05 »
Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht, als Milva und Mislav wieder den Treffpunkt auf der Lichtung erreichten. Die anderen waren bereits dort und unterhielten sich leise miteinander. Neben Klemen und Pero lag jeweils ein stattlicher Rehbock, wogegen Silan glücklos geblieben schien. Dies tat seiner guten Laune jedoch offensichtlich keinerlei Abbruch, und als Milva herankam hörte sie ihn tatsächlich, von einem Mädchen aus einem Dorf am Westrand des Waldes schwärmen. Als er die beiden bemerkte, unterbrach er seine sehr farbenfrohe Erzählung mit einem breiten Lächeln, und sagte: "Da sind ja unsere fehlenden Jäger. Ich hoffe, ihr hattet mehr Glück als ich?"
"Das kann man wohl sagen", erwiderte Mislav fröhlich, wobei er Pero einen Seitenblick zuwarf. Er ließ die zwei Rehe, die er an einem Seil über der Schulter getragen hatte, vor sich zu Boden fallen, und Milva tat es ihm mit dem, das sie getragen hatte, gleich. Klemen zog eine dünne Augenbraue in die Höhe. "Reiche Ausbeute. Eines von Milva, zwei von Mislav?"
Mislav schüttelte lächelnd den Kopf. "Eins von mir. Die anderen beiden hat Milva aufgespürt und geschossen." Milva lächelte nicht, trotz der Freundlichkeit. Sie hatte nur die Fährte eines der Tiere aufgespürt und es erlegt. Die anderen beiden hatte Mislav entdeckt, und ihr beim letzten trotzdem den Schuss überlassen - vorgeblich, um Pero weiter zu ärgern. Aber insgeheim fragte Milva sich, ob er nicht noch eine andere, geheimere Absicht dabei hatte. Der Verdacht hatte sich gefestigt, als er darauf bestanden hatte, zwei der Rehe zu tragen und sich davon durch nichts hatte abbringen lassen.
Jetzt beäugte Milva ihn aus den Augenwinkeln argwöhnisch, während er Pero triumphierend angrinste. Schlecht sah er nicht aus... doch Milva fühlte bei seinem Anblick überhaupt nichts, und sie hatte im Augenblick ohnehin andere Probleme.
"Nicht schlecht, nicht schlecht", meinte Klemen anerkennend. "Die Herrin und Meister Czeslav scheinen eine gute Wahl getroffen zu haben."
"Ich hatte auch einiges an Glück", erwiderte Milva vorsichtig, und Silan brach in Gelächter aus. "Welch Bescheidenheit. Liebe Milva, Glück gehört ebenso dazu wie Können. Ich hatte auf der Jagd heute zum Beispiel kein Glück, dafür aber..." Er zwinkerte den männlichen Jägern verschwörerisch zu. "Diese kleine Schwarzhaarige da also..."
Pero entfuhr ein unwillkürliches Ächzen, und Milva ertappte sich dabei, den Atem anzuhalten. Soviel sie über Adlige wusste, musste man immer andächtig zuhören, wenn sie sprachen - und bestraften jede Missachtung streng. Dieser Adlige jedoch zuckte auf Peros Ausrutscher hin nur mit den Schultern, verdrehte die Augen und sagte: "Keine Achtung für die einzig wahre Kunst... nun ja." Er schwang sich auf das Pferd, und fügte hinzu: "Ich wünsche euch einen sicheren Rückweg."
"Reitet ihr nicht mit uns zurück in die Stadt?", fragte Klemen, der bislang mit steinerner Miene schweigend gelauscht hatte.
"Nein... ich will noch einen kleinen Besuch auf einem Anwesen ein paar Meilen südlich von hier machen..." Silan grinste erneut, wobei weiße Zähne aufblitzen, und stieß seinem Rappen die Hacken in die Seiten, und das Pferd preschte über die Lichtung davon. Milva fragte sich, ob ein solcher Mann wirklich der richtige Erbe für das Vermögen der Bozhidars war. Doch andererseits war ein schwacher Mann, der nicht aufseiten des Königs stand, für die Schattenläufer vermutlich nützlicher als ein starker, königstreuer Erbe.

"Also dann", meinte Klemen schließlich. "Die Beute auf das Packpferd, und dann zurück in die Stadt." Während sie die Rehe auf dem Rücken des Pferdes befestigten, ließ Milva noch einmal den Blick über die Lichtung schweifen. Sie wünschte sich, noch ein wenig länger hier im Wald bleiben zu können, denn hier fühlte sie sich viel mehr zuhause als in Gortharia - doch sie wusste, es ging nicht.

Milva zurück in die Stadt
« Letzte Änderung: 18. Mär 2017, 12:07 von Eandril »

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Re: Südlich von Gortharia
« Antwort #3 am: 15. Sep 2017, 20:22 »
Milva aus Gortharia...

Die Sonne über den Bäume begann bereits, sich dem Horizont entgegen zu neigen, doch die Jagdgesellschaft der Herrin Velmira Bozhidar schien kein Bedürfnis zu verspüren, sich allmählich wieder auf den Heimweg zu machen. Gegen Mittag hatte sich mehrere Adlige mit ihren Hunden, Jägern und Leibwachen auf der Lichtung, auf der Milva und die anderen Jäger bei Milvas erster Jagd ihre Pferde abgestellt hatten, eingefunden, und von dort langsam den Wald durchstreift. Es war eine ganz andere Art der Jagd gewesen als Milva gewöhnt war. Kein aufmerksames Aufspüren von Tierspuren, kein Lauschen auf die kleinste Bewegung, kein vorsichtiges Anschleichen und stundenlanges Ausharren. Stattdessen war die Gesellschaft munter plaudernd langsam durch den Wald geritten, und die Hunde hatten das Aufspüren der Beute übernommen. Erst wenn die Hunde etwas aufgespürt hatten, war Bewegung in die Gesellschaft gekommen, wenn alle auf ihren Pferden der Meute hinterherhetzten, bis die die Hunde die Beute gestellt hatten.
Silan hatte mit einem gezielten Speerwurf einen mächtigen Keiler erlegt, und Klemen mit einem wunderschönen Schuss eine junge Hirschkuh. Milva und die anderen Jäger in Herrin Velmiras Gefolge hatten keine Gelegenheit bekommen, ihrer Aufgabe nachzukommen, und Milva war sich selten so nutzlos vorgekommen.
"Warum mussten wir überhaupt mitkommen?", fragte sie leise an Mislav gerichtet, der neben ihr ritt. Die Gesellschaft folgte einem breiten Pfad durch den Wald nach Osten, wo ein Jäger des etwas schwerfälligen und kurzatmigen Hartvil Bozhidar vor einigen Tagen einen weißen Hirsch gesehen haben wollte. "Wir werden doch ohnehin nicht gebraucht, scheint mir."
Mislav warf ihr einen warnenden Blick zu und deutete mit einer fast unmerklichen Kopfbewegung auf Herrin Velmira, die einige Meter vor ihnen mit geradem Rücken auf ihrem Pferd saß. Im Gegensatz zu Milva ritt sie im Damensitz, dabei allerdings kein bisschen langsamer oder weniger verwegen als jeder der Männer in ihrem Gefolge, und deutlich sicherer als ihr Vetter Hartvil neben ihr. "Es geht ums Äußere", antwortete Mislav dennoch möglichst leise. "Je größer das Gefolge, desto größer die Macht und der Reichtum desjenigen."
Milva nickte. Das klang einleuchtend, und ganz nach den Adligen, die sie kannte. In ihrer Position mussten sie sich keine Gedanken darüber machen, was notwendig war und was nicht, sondern konnten protzen und angeben ohne sich Gedanken darüber zu machen, was sie am nächsten Tag essen würden.

Als die Reiter vor ihnen plötzlich anhielten, wechselten Milva und Mislav einen Blick. Von der Spitze des Zuges waren erregte Stimmen zu hören, die allerdings nicht freudig waren. Vermutlich war es keine Spur des weißen Hirschen, die entdeckt worden war, sondern etwas anderes, weniger erfreuliches. Milva ließ einen raschen Blick über ihre Umgebung schweifen, und zu ihrem Schrecken erkannte sie sie die Senke, an deren Rand sie sich befanden, wieder. Nur ein kleines Stück nördlich von hier stand der Steinkreis, in dem sie bei ihrer ersten Jagd die Wilderer beobachtet hatte. Mit einem Mal wurde ihr kalt, und sie glitt mit einer raschen Bewegung aus dem Sattel.
"Warte, Milva!", sagte Mislav warnend. "Vielleicht solltest du lieber hierbleiben." Offenbar hatte er die Umgebung ebenfalls wiedererkannt, und die gleichen Schlüsse gezogen wie sie. Und er hatte vermutlich Recht, doch Milva hörte nicht auf ihn. Stattdessen eilte sie mit leichten Schritten durch das Unterholz am Rand des Pfades an der wartenden Jagdgesellschaft vorbei an die Spitze des Zuges.
Im Inneren des Steinkreises hatten zwei Wächter in der Rüstung mit dem Zeichen der Bozhidars zwei Männer und eine Frau, die Milva sofort erkannte, vor Herrin Velmira auf die Knie gestoßen. Neben ihr stand mit verschränkten Armen ihr Vetter Hartvil und blickte mit finsterer Miene auf die Wilderer hinab. Ein Stück entfernt lehnte Silan an einer der moosbewachsenen Steinsäulen, und neben den Wächtern stand Pero, der gerade sagte: "... haben das hier erlegt." Er deutete auf etwas, dass vor den knienden Wilderern auf dem Waldboden lag, und als Milva näher trat, erkannte den bereits ausgebluteten und halb gehäuteten Körper eines Rehs.
"Ihr wisst, dass diese Wälder mir gehören - und alles, was in ihnen lebt, ebenso", sagte Velmira mit ernster Stimme. "Und ihr kennt die Strafe für Wilderei."
Die beiden Männer sahen schweigend zu Boden, während die Frau mit den kurzen pechschwarzen Haaren der Herrin verächtlich ins Gesicht blickte. "Allerdings kennen wir die Strafe. Doch die Strafe dafür, nicht in diesem Wald zu jagen, ist der Tod - der Hungertod."
"Ich sehe, dass eure Situation nicht einfach ist", gab die Herrin zu, und für einen Moment schöpfte Milva Hoffnung. "Und dennoch habt ihr das Recht gebrochen, anstatt auf ehrlichem Wege zu arbeiten, und dafür müsst ihr bestraft werden." Sie nickte den beiden Soldaten, die zu beiden Seiten der Wilderer Aufstellung genommen hatten, zu, und einer der beiden zog sein Schwert.
Pero hatte in der Zwischenzeit Milva entdeckt, und seine Augen glommen unheilvoll auf. "Wartet, Herrin", warf er ein. "Es gibt noch mehr zu berichten." Velmira wandte sich ihm zu, der Ausdruck auf ihrem Gesicht unmissverständlich missbilligend. "Sprich."
"Es ist bereits einige Zeit her, es war unsere erste Jagd nachdem Milva zu uns gestoßen war. Wir waren getrennt unterwegs, doch durch Zufall beobachtete ich sie und Mislav dabei, wie sie eben diese drei Wilddiebe hier an eben dieser Stelle beobachteten, und offensichtlich beschlossen, es euch zu verschweigen." Milvas Herz setzte einen Schlag aus, und begann dann schneller zu schlagen als zuvor. War es jetzt vorbei? Hatte Pero mit einer einzigen Äußerung den gesamten Plan der Schattenläufer zum Scheitern gebracht, nur weil Milva unvorsichtig gewesen war. "Nun, das ändert die Lage natürlich", erwiderte Velmira mit steinerner Miene, und ihre schwarzen Augen fixierten Milva. "Sprich, Mädchen - sagt er die Wahrheit?"
"Ich..." Milva sah sich nervös um, und ihr Blick blieb für einen Herzschlag an Silan hängen, der das Ganze aus der Entfernung aufmerksam beobachtete. Sein Gesicht hatte einen Ausdruck angenommen, den Milva nicht zu deuten wusste. "Er sagt die Wahrheit, Herrin."
"Dann ist die Sache ja klar", polterte Hartvil los. "Velmira, du solltest die Kleine schnellstens aus deinen Diensten entlassen, und diese Wilderer hier... hängt sie an den nächsten Baum." Er machte eine auffordernde Geste in Richtung der Soldaten, doch Velmira hob die Hand.
"Nicht so eilig, Vetter", entgegnete sie mit eisiger Stimme. "Noch gehört dieser Wald mir, und noch treffe ich hier die Entscheidungen - nicht du." Hartvils Gesicht rötete sich bedrohlich, doch er sagte kein weiteres Wort. Velmira wandte sich wieder Milva zu. "Also, Mädchen. Mein geschätzter Vetter mag übereifrig sein, doch man kann seine Worte nicht einfach von der Hand weisen. Du und Mislav habt mir bewusst verschwiegen, dass jemand in meinen Wäldern gewildert hat. Und auch wenn ich eure Beweggründe zu verstehen glaube, verdient ihr dafür doch eine Strafe. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?"
Milvas Herz raste, während sie fieberhaft überlegte. "Wir... als wir diese drei hier sahen, hatten sie noch keine Beute bei sich", log sie schließlich langsam, und hoffte mit jeder Faser ihres Körpers, dass Pero mehr auf sie als auf die Wilderer geachtet hatte. "Wir hätten uns vielleicht denken können, weswegen sie hier im Wald waren, aber... sie hatten noch kein Verbrechen begangen, das wir euch hätten berichten müssen. Und sie für ein Verbrechen zu bestrafen, dass sie vielleicht nicht begangen haben, ist Willkür."
"Das ist doch Unsinn", meinte Pero abfällig. "Sie hatten hier nichts zu suchen, und es sollte doch jedem klar sein, was sie..."
"Still", sagte Velmira ruhig, aber bestimmt, und ihre dunklen Augen funkelten.
"Aber Herrin, ich..." "Kein Wort mehr. Oder ich werde anfangen zu fragen, warum du deiner Pflicht nicht nachgekommen bist und mir davon nicht berichtet hast." Pero wurde blass, und sagte kein weiteres Wort.
"Also schön." Velmira schien nachzudenken. "Hartvil, Silan. Ich würde gern eure Meinung zu dieser Sache hören."
"Es ist doch klar, das Mädchen lügt um diese Wilderer zu decken", begann Hartvil eilig. "Ich sage dir, ab auf die Straße mit ihr und diesem anderen, diesem Mislav, und an den nächsten Baum mit den Wilderern."
"Nun, diese Antwort hätte ich voraussagen können", sagte Silan ironisch, und betrachtete dabei seine makellosen Fingernägel. "Und ich muss meinem geliebten Verwandten entschieden widersprechen - wir können niemanden für etwas bestrafen, das nicht bewiesen ist, und in diesem Fall steht Aussage gegen Aussage. Da ich nicht einsehe warum Pero mehr oder weniger vertrauenswürdig sein sollte als Milva, plädiere ich dafür, diese erste Sache zu vergessen, und uns auf das hier und jetzt zu konzentrieren."
Velmira betrachtete ihren Neffen mit offensichtlichem Wohlwollen. "Und ich hätte fast erwartet, dass du sie begnadigen willst." Silan zuckte mit den Schultern. "Ich neige zu Überraschungen - und ich sehe ein, wann eine Sache beschlossen ist."
Ein feines Lächeln spielte um Velmiras Lippen, das wieder verschwand als sie sagte: "Also dann. Nehmt ihnen die Linke, aber sorgt dafür, dass sie am Leben bleiben. Nein! Kein weiteres Wort mehr", fügte sie an Milva gewandt hinzu. "Ich bin gewillt, dich trotz deines Vergehens in meinen Diensten zu behalten, doch ich rate dir, meine Geduld nicht zu strapazieren. Und nun werden wir in die Stadt zurückkehren, ich habe keine Lust mehr, diesem Hirschen nachzujagen."
Als sich die Jagdgemeinschaft bereits ein Stück von dem Steinkreis entfernt hatte, hörte Milva schwach, wie eine Schwertklinge auf etwas weiches traf, und einen schmerzerfüllten Schrei, der sie auf dem Rest des Rittes in ihren Gedanken verfolgte.

Sie waren nicht mehr weit von den Toren Gortharias entfernt, als Silan sich auf seinem Rappen neben Milva fallen ließ. "Es war überaus mutig von euch, so mit meiner Tante zu sprechen, anzudeuten, dass sie diese Wilderer willkürlich bestrafen würde... und nicht allzu klug."
Milva schwieg, und blickte stur geradeaus auf Klemens Rücken. Vielleicht war es eine Falle, und Silan wollte sie dazu verleiten etwas zu sagen, was ihr schaden würde. "Sie mag euch offiziell vergeben haben, doch ihr könnt euch sicher sein, dass sie nichts vergisst. Ich fürchte, meine Tante vergisst niemals etwas." Er zog eine halb schmerzhafte, halb komische Grimasse.
"Und trotzdem könnt ihr es wagen, ihr ebenfalls öffentlich zu widersprechen", wagte Milva zu sagen. "Immerhin ist bekannt, dass ihr in vielen Dingen nicht einer Meinung mit ihr seid." Silan zog eine Augenbraue in die Höhe. "Sieh an, sieh an. Ihr kennt euch besser aus als ich gedacht hätte... Aber ja, es ist kein Geheimnis, dass meine Tante und ich uns in politischen Dingen nicht wirklich einig sind. Im Gegensatz zu ihr bin ich der Meinung, dass dieser Krieg vollkommen idiotisch ist und nicht dem Volk von Rhûn nützt, sondern nur diesem... Gott im Süden. Achja, und dass sowohl Goran als auch Ulfang vor ihm für den Thron Gortharias unfähige Idioten sind."
Milva warf einen misstrauischen Blick nach hinten, doch niemand schien Silans gefährliche Äußerungen gehört zu haben. Als er ihren Blick bemerkte, lachte Silan. "Macht euch keine Sorgen um mich, Milva. Jeder hier weiß über meine merkwürdigen politischen Einstellungen Bescheid, und ich bin viel zu unbedeutend, um deswegen in Gefahr zu geraten."
"Im Augenblick", wandte Milva ein. "Aber wenn eure Tante stirbt und ihr ihr Vermögen und ihre Macht erbt..."
Silans Augen verengten sich einen Augenblick. "Ihr wisst wirklich außergewöhnlich gut Bescheid... Aber ihr habt recht, sollte meine Tante mich und nicht ihren dämlichen Vetter als Erben einsetzen, sollte ich etwas vorsichtiger mit dem sein, was ich sage. Wenn sich bis dahin nicht etwas getan hat..."
"Vielleicht wird das ja geschehen..." sagte Milva leise, und biss sich dann erschrocken über sich selbst auf die Zunge. Silan betrachtete sie interessiert. "Ich werde vergessen, das ihr etwas gesagt habt. Aber eines Tages möchte ich mich noch einmal genauer mit euch unterhalten - unter vier Augen..."

Milva zurück nach Gortharia
« Letzte Änderung: 8. Jan 2019, 14:52 von Fine »

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