Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Palisor

Das Tal von Dalvarinan

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Fine:
Durin, der noch immer voran ging, war mit einem Mal stehen geblieben. Der Rest der Reisegruppe führte die Pferde nun bereits seit einer knappen Meile am Zügel. Der Wald war zu dicht geworden, um weiter zu reiten. Die Bäume bildeten ein beinahe lückenloses Dach über ihren Köpfen und standen eng nebeneinander. Es hatte zu schneien begonnen. Obwohl der dichte Wald ihnen etwas Wärme spendete, spürte Córiel, wie die Kälte langsam ihre Beine hinauf kroch. Das Licht begann bereits zu schwinden und der Abend kündigte sich an.
"Was ist los?" rief Vaicenya dem Zwerg zu. Dieser drehte sich halb zu ihnen um und deutete geradeaus.
"Riecht ihr das nicht?" fragte Durin.
Córiel schnupperte. Ein merkwürdiger Geruch lag in der Luft. Er erinnerte sie an den Rauch von Lagerfeuern, doch irgend etwas daran kam ihr unbekannt vor.
"Hmm," brummte Jarbeorn. "Riecht, als würde jemand auf offenem Feuer grillen," meinte der Beorninger.
"Das meine ich nicht," erwiderte Durin. "Es ist der Gestank von..."
"...Orks", fiel Vaicenya ihm ins Wort. "Jetzt ist er unverkennbar geworden. Ich habe genug Zeit mit diesen nutzlosen Kreaturen verbracht, um diesen Geruch überall wiederzuerkennen."
Durin nickte bekräftigend. "Als ich zuletzt hier war, habe ich noch nichts davon wahrgenommen. Gesehen hab' ich auch nichts. Aber jetzt sind Orks in der Nähe, daran besteht kein Zweifel."
"Gehen wir vorsichtig weiter," schlug Córiel vor. "Haltet die Augen offen."

Sie pirschten sich mit großer Vorsicht weiter durch den Wald. Die Pferde hatten sie auf einer kleinen Lichtung angebunden, da Durin ihnen versichert hatte, dass sie sich kurz vor ihrem Ziel befänden. Der Zwerg erwies sich als überraschend geschickt und bewegte sich deutlich leiser als Jarbeorn, der größere Schwierigkeiten damit hatte, so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen. Die Helligkeit nahm unter dem dichten Blätterdach des Waldes mehr und mehr ab. Schon bald mussten Córiel und Vaicenya voraus gehen, da sie im Dunkeln noch am besten sehen konnten. Zwerg und Beorninger folgten ihnen, während Durin hin und wieder geflüsterte Richtungsanweisungen an Córiel durchgab.
"Seht doch," wisperte Vaicenya einige Minuten später. "Dort vorne ist ein Licht."
"Nicht nur eines," ergänzte Córiel. "Ich sehe zwei, drei, vier... ein halbes Dutzend!"
"Ein rötliches Licht, wie von einer Fackel," murmelte Durin. "Das erklärt den Feuergeruch. Ich wette, die Orks sind ebenfalls nicht weit."
Sie näherten sich einem der Lichter, das zwischen den Baumstämmen unregelmäßig flackerte. Dichte Teppiche aus Moos hingen von den Bäumen herab und versperrten ihnen oft die Sicht, bis sie nahe genug an die Lichtquelle heran gekommen waren. Dann lugte Córiel vorsichtig hinter einem besonders breiten Stamm hervor... und was sie sah, ließ ihren Atem stocken. Vor ihr, an einem groben Pfahl, hing eine in Flammen stehende Leiche.
"Beim Barte meiner Ahnen..." presste Durin geschockt hervor.
"Diese Monster," zischte Vaicenya. "Wo sind sie?" Sie zog die Schwerter, doch Córiel hielt sie rasch zurück.
"Vorsicht," warnte sie. "Wir wissen nicht, wie viele Orks in der Nähe sind. Wir sollten sie überraschen, wenn wir können."
"Die übrigen Lichter..." murmelte Jarbeorn und beendete seinen Satz nicht. Sie wussten alle nur zu gut, worum es sich bei den anderen Lichtquellen handelte.
"Wir müssen sie uns ansehen," entschied Vaicenya. "Und diesen Abschaum dafür büßen lassen."

Sie fanden drei weitere Leichen, die alle ein Opfer der Flammen geworden waren. Córiels Magen drehte sich bei dem Geruch von verkohltem Fleisch mehr und mehr um. Jedes weitere Brandopfer, das sie entdeckten, wies weniger Verbrennungen auf und hatten also weniger lange in Flammen gestanden, doch alle waren bereits gestorben. Schließlich kamen sie zu einer Leiche, deren Gesichtszüge noch einigermaßen erkennbar waren. Die Haare waren bereits verschwunden, doch die feinen Gesichtszüge und die spitzen Ohren machten ihnen allen deutlich klar, worum es sich bei den Toten handelte.
"Los, weiter," drängte Vaicenya. "Die Brände werden immer frischer. Bald haben wir die Verantwortlichen eingeholt."
Sie rissen sich von dem grausamen Anblick los und hasteten weiter. Doch kaum eine Minute später drang ein Schrei an ihr Ohr, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Córiel erschauerte bei dem Gedanken, dass ein lebendes, denkendes Wesen zu einem solchen Laut fähig war.
Als sie kurz darauf das letzte Licht erreichten, war der Elb, dessen Todesschrei sie gehört hatten, erst seit wenigen Augenblicken in die Hallen von Mandos gezogen. Vaicenya knurrte gefährlich, als sie zwischen dem Laub hinter dem Brandpfahl Spuren entdeckte.
"Jetzt haben wir sie," stieß die Dunkelelbin hervor. Mit gezückten Klingen nahm sie die Verfolgung auf. Der Rest der Gruppe zog ebenfalls die Waffen und folgte ihr.

Inzwischen war es vollständig dunkel geworden. Die Geräusche des Waldes schienen mit jeder Minute lauter und bedrohlicher zu werden, auch wenn Córiel sich beinahe sicher war, dass sie sich das nur einbildete. Sie hatte einen Pfeil auf die Sehne ihres Bogens gelegt und folgte Vaicenya dicht auf dem Fuße. Sie passierten einen umgestürzten Baumstamm und drangen noch tiefer in den geheimnisvollen Wald ein. Das Unbehagen in ihren Gesichtern war deutlich zu erkennen.
Dann verschwanden mit einem Mal die Bäume auf beiden Seiten und sie standen am Ufer eines kleinen Sees. Die Sterne spiegelten sich auf dem klaren Wasser und Córiel wusste, dass sie an den Ort zurückgekehrt war, an dem Melvendë vor vielen Zeitaltern einst erwacht war.
"Dort hinten," raunte Vaicenya und deutete den Strand entlang nach Norden. Ein verräterischer Lichtpunkt war dort aufgetaucht, diesmal eindeutig von einer Fackel. Sie kamen hastig näher, während sie sich nahe am Schatten der nahen Bäume hielten. Eine Horde von ungefähr zehn oder fünfzehn Orks war es, die drei Gefangene mit sich zerrten. Eine vierte Gestalt war bereits an einen der bekannten Pfähle gebunden worden, der nahe des Wassers in den weichen Boden getrieben worden war. Der Gefangene am Pfahl zappelte und wehrte sich nach Kräften, während die Orks ihn malträtierten.
Spätestens jetzt war Vaicenya nicht mehr zu halten. Mit einem wilden Schrei sprang sie los und krachte mitten zwischen die verdutzten Orks. Ehe diese sich von ihrem Schock erholen konnten, waren drei bereits unter Vaicenyas wirbelnden Klingen gefallen.
Durin war der Nächste, der sich dem Kampf anschloss. Sein großer Kriegshammer zerschmetterte den Helm samt Kopf eines weiteren Orks, der sich zwischen den Zwerg und die Gefangenen gestellt hatte. Córiels Bogen sang zweimal und sorgte dafür, dass zwei Orks mit Pfeilen im Hals gurgelnd zusammenbrachen. Und auch Jarbeorn tat seinen Teil und vertrieb oder tötete die Orks am Brandpfahl, ehe sie mit ihrer Fackel das trockene Holz entflammen konnten.
Es dauerte nur wenigen Minuten bis alle Orks tot waren. Bei den drei Gefangenen, die Durin inzwischen von ihren Fesseln befreit hatte, handelte es sich um Elben - zwei Männer und eine Frau - die ihnen ihre Dankbarkeit in einer Sprache zeigten, die weder Córiel noch Durin oder Jarbeorn verstanden.
Vaicenya hatte nur Augen für den Elb am Brandpfahl. Sein Kopf war auf seine Schulter herabgesunken, doch seine Brust hob und senkte sich. Er war am Leben. Und als die Fackel, die Jarbeorn vorsichtig aufgehoben hatte, sein Gesicht beleuchtete, erkannte Córiel Níthrars ausgezehrtes Gesicht.
Klirrend fielen Vaicenyas Schwerter zu Boden. Sie stand beinahe regungslos vor ihrem Sohn, einen schwer zu deutenden Ausdruck auf dem Gesicht. Zögerlich hob sie die linke Hand, um ihm über die Wange zu streichen. Doch die Berührung schien sie zu erschrecken und sie zog die Finger wieder zurück.
Níthrar stöhnte leise und schlug die Augen auf. Sein Blick ging für einen Augenblick ins Leere, dann klärte er sich. "...Mutter?"
"Ich bin hier, Níthrar," erwiderte Vaicenya leise.
Ihr Sohn schwieg, doch er brach den Blickkontakt nicht ab. Eine Pause trat ein, die schließlich von Jarbeorn beendet wurde.
"Holen wir dich erst einmal da runter," brummte der Beorninger und zog sein Schnitzmesser hervor. Rasch hatte er Níthrars Fesseln gelöst und half dem Elben, sich auf dem weichen Boden am Ufer niederzulassen.
"Jarbeorn," stellte Níthrar staunend fest. "Córiel. Und..." sein Blick blieb an Durin hängen.
"Durin, Sohn des Thorin. Zu Euren Diensten." Der Zwerg verbeugte sich knapp.
"Wie nur könnt ihr hier sein?" fragte Níthrar verwundert. "Ich habe wohl so Einiges verpasst, wenn Mutter bei euch ist und ihr keine Feinde mehr zu sein scheint. Oder träume ich etwa, und bin in Wahrheit bereits auf dem Weg in den Ewigen Westen?"
"Du träumst nicht," lachte Jarbeorn. "Du und deine Freunde sind frei. Wir sind hier, weil... nun, das ist eine längere Geschichte."
"Das ist sie," stimmte Córiel dem Beorninger zu. "Ich bin froh, dass wir rechtzeitig gekommen sind, um zu verhindern, dass du das gleiche Schicksal wie die Unglücklichen erleidest, die wir um Wald gefunden haben."
Ein Schatten legte sich über Níthrars Gesicht. "So viele haben den Tod gefunden," murmelte er. "Ihre Schreie... ich glaube, ich werde sie niemals vergessen können."
"Vielleicht nicht," sagte Vaicenya und bot Níthrar die Hand an, um ihm auf die Beine zu helfen. "Aber du bist jetzt in Sicherheit. Und ich sorge dafür, dass die, die dafür verantwortlich sind, ihre gerechte Strafe erhalten."
Níthrars Zweifel an ihren Worten waren ihm deutlich anzusehen. Doch dann ergriff er Vaicenyas Hand. "Mutter, ich... weiß nicht, was ich davon halten soll. Aber... ich bin froh, dass du hier bist."

Während Vaicenya leise mit den Elben sprach, deren Sprache sie verstand, war Córiel ans Ufer des Sees getreten. Er war um ein Vielfaches kleiner als in Melvendes Erinnerung, doch es bestand kein Zweifel: Sie stand tatsächlich an den Wassern des Erwachens, am Strand Cúivienens. Mit einem Mal fühlte sie die Last der Jahrtausende, die auf ihrem Rücken ruhte und hatte das Gefühl, davon erdrückt zu werden.
Ein Arm legte sich um ihre Schulter, und die breite Gestalt Jarbeorns schob sich neben sie. "Beeindruckend," meinte der Beorninger.
"Was meinst du?"
"Das Sternenlicht," erwiderte er. "Selbst hier, so fern von der Heimat wie nur möglich, inmitten eines grausamen und fremden Landes, leuchten sie dennoch unverändert in ihrer Schönheit vom Himmel herab und spiegeln sich dort im klaren Wasser."
Córiel folgte seinem Blick. Er hatte recht. Selbst nach all der Zeit, die Córiel in Mittelerde verbracht hatte, war das Licht der Sterne noch immer dasselbe. Sie fand Trost in dieser Tatsache. Und gestattete sich ein kleines Lächeln.
"So tiefgründig warst du noch nie," stichelte sie. "Ist es mir also endlich gelungen, auf dich abzufärben?"
"Mach den Moment nicht kaputt, Stikke," hielt er dagegen, ohne seine Belustigung zu verbergen. "Wir haben noch einiges vor uns. Es wird uns gut tun, zumindest für einen kurzen Augenblick unsere Sorgen beiseite zu legen."
Córiel fand, dass der Beorninger wie so oft Recht hatte. Den Blick auf das Spiegelbild der Sterne gerichtet atmete sie tief durch und ließ zu, dass sie sich in jenem flüchtigen Moment für einige kostbare Minuten verlor.

Fine:
Laute Stimmen zwangen Córiel und Jarbeorn, sich vom Anblick des mystischen Sees abzuwenden. Zwischen Vaicenya und den drei befreiten Elben war ein Streit ausgebrochen, der in einem alten Dialekt des Quenya geführt worde. Córiel hatte Schwierigkeiten, der Auseinandersetzung zu folgen. Die Sprache erinnerte sie an die jener Elben, die ihr in Eregion begegnet waren. Vaicenya hatte beide Hände an die Griffe ihrer Schwerter gelegt und allein Níthrars Beschwichtigungsversuche hielten sie noch davon ab, die fremden Elben anzugreifen.
"Was ist denn passiert?" wollte Jarbeorn wissen und drängte sich mit seiner breiten Gestalt zwischen die Streitenden.
Vaicenya machte ein finsteres Gesicht. "Uns schlägt hier deutlich weniger Dankbarkeit entgegen, als man meinen sollte," grollte sie.
"Mutter, bitte," sagte Níthrar eindrücklich. "Beruhige dich."
"Ich, mich beruhigen?" zischte sie. "Und diese schmählichen Anschuldigungen einfach so hinnehmen?"
"Anschuldigungen?" fragte Córiel verwirrt. "Wovon sprichst du?"
"Diese drei dort," sagte Vaicenya und zeigte auf die fremden Elben, deren Gesichter voller Misstrauen waren. "Sie bezichtigen uns, mit jenen, die dieses Land heimsuchen, im Bunde zu stehen."
Durin lachte schallend. "Das sieht euch Spitzohren ähnlich! Kaum habt ihr einen Feind bezwungen, wendet ihr euch schon gegeneinander. Dabei könnte selbst ein Kind erkennen, dass wir alle Feinde dieser erbärmlichen Orks sind." Er versetzte einem der Ork-Kadaver einen saftigen Tritt und grinste.
Einer der Elben wandte sich an Córiel. "Ihr müsst entschuldigen," begann er, die Gemeinsprache mit einem schweren Akzent sprechend. "Selbstverständlich sind wir euch dankbar, dass ihr uns vor dem Tod durch die Hand dieser Yrecal gerettet habt. Doch hier in Sonuvien und in ganz Palisor gehen dieser Tage allerlei unheilvolle Dinge vor, und unser Volk ist vorsichtig geworden - insbesondere Fremden gegenüber."
"Das verstehen wir ja," erwiderte Córiel diplomatisch. "Doch die Orks sind die Feinde aller lebenden Wesen, das sollte doch selbst so weit im Osten dieser Welt bekannt sein. Hier stehen wir an den Wassern des Erwachens - Cúivienen, oder Sonuvien in eurer Sprache, wenn ich es richtig verstehe, und sind alle von der selben Art der Erstgeborenen Erus - bis auf zwei Ausnahmen." Sie deutete auf Jarbeorn und Durin, und lächelte ihrem Gegenüber unsicher zu.
"Nun, da beginnen bereits die Schwierigkeiten," sagte der Elb, zu dessen beiden Seiten sich die beiden, mit ihm geretteten fremden Elben aufstellten. "Dieser Mensch dort, dünkt es mich, trägt Kleidung und Bewaffnung, wie sie den Barbaren nicht fremd ist, die Palisor plagen und verheeren. Dem Zwerg stehen wir neutral gegenüber; zwar haben unsere Leute einst Handel mit den Städten und Festungen von Aules Volk im Gebirge östlich von hier getrieben, doch seit einem Jahrhundert ist der Kontakt abgebrochen. Weshalb sich einer von ihnen nun wieder in unseren Wäldern blicken lässt, ist uns nicht klar."
"Ich suche nach jenen Städten, von denen ihr gesprochen habt," stellte Durin rasch klar. "Ich stamme nämlich gar nicht von dort. Durin, Sohn des Thorin, zu Euren Diensten." Er verbeugte sich knapp.
Der Elb hob die Augenbrauen. "An Höflichkeit mangelte es Eurem Volk noch nie," sagte er. "Also gut. Da Ihr uns so bereitwillig Euren Namen verraten habt, Durin, Sohn des Thorin, so wisset, dass Ihr mit Mardor, Sohn des Herion sprecht. Und dies sind meine Mutter Livian und mein Vetter Vatharon."
"Ich bin Córiel und dies sind Jarbeorn, Níthrar und Vaicenya," stellte Córiel rasch den Rest ihrer Gruppe zu.
Mardor fixierte Vaicenya. "Vaicenya... Dieser Name ist uns bekannt, und er bestätigt unseren Verdacht. Wir haben kein besonders gutes Verhältnis zu jenen, die von den Tatyar abstammen."
"Was schert mich das?" murrte Vaicenya. "Wir haben euch das Leben gerettet. Also zeigt etwas Dankbarkeit. So einfach ist das."
Livian, eine Elbin mit recht kurzem, schwarzem Haar, ergriff das Wort. "Dankbarkeit ist ein Luxus, den wir uns in diesen finsteren Tagen nur noch selten leisten können," sagte sie mit demselben Akzent wie Mardor.
"Ich war mit euch Gefangener dieser Monster," meinte Níthrar, "und wir alle hätten beinahe das Schicksal jener Unglücklichen geteilt, die im Wald verbrannt sind. Ihr mögt unserem Volk und unseren Begleitern hier nicht vertrauen, doch ich bin mir sicher, dass ihr mit uns in einer Sache übereinstimmt: Diese Orks, und alle ihrer Art, haben den Tod verdient."
Der dritte Elb, den Mardor als Vatharon vorgestellt hatte, warf einen langen Blick auf Jarbeorns Axt und sagte dann: "Ich stimme dir in jener Hinsicht zu, Níthrar. Und lasst mich der Erste sein, der euch für die Vollstreckung unserer Rache an diesen Yrecal dankt.“ Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er, an den Beorninger gewandt fort: „Ich habe gesehen, wie du deine Waffe geschwungen hast, Jarbeorn, und es hat mein Herz erfreut."
Jarbeorn lachte tief. "Na, dann bin ich gerne zu Diensten gewesen, mein Freund." Er breitete die Arme aus und wandte sich an die gesamte Gruppe. "Hört mal, ich verstehe ja, dass es unter Elben Konflikte gibt, die viele Jahrtausende zurück liegen können und dass euer Misstrauen einander gegenüber womöglich sogar angebracht ist. Aber dennoch sind die Orks unser aller Feinde und ich glaube nicht, dass dieser Haufen hier das letzte war, was wir von ihnen gesehen haben. Ich wette, es gibt hier noch mehr von ihnen. Also schlage ich vor, wir suchen uns ein etwas sichereres Plätzchen als diesen zugigen Strand, so schön es hier auch sein mag. Gibt es in der Nähe vielleicht ein Dorf, in dem wir zumindest eine Nacht übernachten könnten, ehe wir weiterziehen?"
"Ja, gibt es," begann Vatharon, doch scharfe Blicke von Livian und Mardor ließen ihn verstummen. Mardor seufzte hörbar, ehe er das Wort nahm.
"Gan Lurin, der Sitz unseres Anführers Herion, liegt nicht weit von hier," sagte er mit hörbarem Widerstreben. "Aber..."
"Es ist wichtig, dass wir so bald wie möglich dorthin gehen, damit Herion uns in Sicherheit weiß. Und meine Schwester ebenfalls." wandte Vatharon ein. Er hatte in einen Dialekt des Avarin gewechselt, den Córiel etwas besser verstand. Weshalb das so war, konnte sie nicht recht sagen - vermutlich kannte nur Melvendë die Antwort darauf, und Córiel hatte noch immer Schwierigkeiten damit, alle jener uralten Erinnerungen frei nach Wunsch abzurufen. Für den Augenblick begnügte sie sich mit der Vermutung, dass Melvendë einst mit Avari in Kontakt gekommen sein musste, die eine ähnliche oder sogar dieselbe Sprache gesprochen hatten.
"Lathia wird das gar nicht gefallen," hielt Livian in derselben Sprache dagegen. "Wenn wir Fremde nach Gan Lurin bringen... und obendrein drei Tatyar."
"Sie sind hier, in Sonuvien, und haben die Sterntochter des Meeres gesehen," antwortete Vatharon darauf und deutete auf den in Sternenlicht getauchten See. "Und sie haben die Yrecal getötet, die uns gefangen nahmen. Lasst sie zumindest vor meinem Onkel sprechen. Lathia wird dafür sorgen, dass sie keinen Schaden anrichten können."
Livian und ihr Sohn Mardor tauschten einen langen Blick aus. Schließlich wandte sich Mardor wieder an die Gruppe und wechselte zurück in die Gemeinsprache. "Es sei also, Fremde. Wenn Durin, Sohn des Thorin, und Jarbeorn, Sohn des Grimbeorn, für euch - Córiel, Vaicenya und Níthrar - bürgen, so möget ihr mit uns nach Gan Lurin gehen und unser Anführer Herion wird entscheiden, ob ihr dort willkommen geheißen werdet."
Vaicenya schnaubte. Die Worte "Undankbares Pack" waren ihr nur allzu deutlich von den Lippen abzulesen. Doch dann fiel ihr Blick auf Níthrar, der sich nur schwach auf den Beinen halten konnte. Córiel wusste, was Vaicenya dachte: Níthrar brauchte dringend Ruhe, und es gab vieles zwischen Mutter und Sohn zu besprechen. Ein halbwegs sicherer Ort, wie es das Dorf Gan Lurin zu sein schien, war genau das, was sie jetzt brauchten.
"Wir werden mit euch gehen," sagte Córiel.
"Und Jarbeorn und ich werden dafür sorgen, dass ihr drei euch benehmt, damit die hiesigen Langohren euch nicht zu ihrer nächsten Mahlzeit verarbeiten... oder was auch immer man hier mit unerwünschten Eindringlingen macht." Durin grinste bei diesen Worten in sich hinein und blickte den Elben herausfordernd in die Gesichter.
Jarbeorn lachte und gab ein bestätigendes Geräusch von sich. Während sich die Gruppe zum Aufbruch bereit machte, hörte Córiel, wie der Beorninger dem Zwerg zuraunte: "Ich mag deinen Humor, mein Freund."

Die Nacht wurde immer finsterer, während sie sich zu acht durch den dichten Pinienwald Sonuviens schlugen. Vatharon ging voraus, während Mardor und Livian das Schlusslicht der Gruppe bildeten. Vaicenya und Jarbeorn stützten Níthrar, dessen Verletzungen ihr Vorankommen verlangsamten. Schließlich, nach guten drei Stunden, tauchten vor ihnen im Dunkeln vereinzelte, silbrige Lichtpunkte auf und der Wald wurde etwas weniger dicht. Ungefähr hundert Schritte weiter kamen sie auf eine Lichtung, die von einer breiten Palisade beherrscht wurde. Jenseits davon lag ein Dorf, das vom schimmernden Licht vereinzelter Elbenlampen beschienen wurde. Im Zentrum der Palisade war ein großes, verschlossenes Tor eingelassen. Ehe sie sich dem Tor weiter nähern konnten, sprang von der hölzernen Plattform oberhalb des Tores eine hochgewachsene, schlanke Gestalt herab, die mit Schwert und Bogen bewaffnet war. Langes, bronzefarbenes Haar, das der Haarfarbe Vatharons glich, wallte über ihren Rücken und endete erst auf Höhe der Leiste der Elbenkriegerin, die die Gruppe mit strengem Blick musterte. "Keinen Schritt weiter, Eindringlinge," sagte sie in scharfem Ton. Dann fiel ihr Blick auf Vatharon. "Wie kommst du dazu, diese Fremden nach Gan Lurin zu bringen?" herrschte sie ihren Bruder - um den sich offensichtlich handelte - an.
"Lathia, sie haben Livian, Mardor und mich aus der Gefangenschaft der Yrecal befreit," entgegnete Vatharon und ging zu seiner Schwester hinüber, als wolle er sie umarmen. "Bist du denn gar nicht froh, uns wohlbehalten wiederzusehen?"
Lathia schenkte ihm einen vernichtenden Blick. "Du hast meine Frage nicht beantwortet. Was haben diese Endringlinge hier verloren? Wie konntest du zulassen, dass sie hierher kommen?"
Vaicenya schien drauf und dran zu sein, sich einzumischem, doch Córiel legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie hoffte, dass Vatharon in der Lage sein würde, seine Schwester von den guten Absichten seiner Begleiter zu überzeugen.
"Herion wird über ihr Schicksal entscheiden, wie es Tradition ist," sagte Vatharon. "Sie sollen mit ihm sprechen, nachdem sie geruht haben. Einer von ihnen ist verletzt."
"Nein, das werden sie nicht," beharrte Lathia. "Heute gilt mein Wort, nicht das Wort Herions." Ein Schatten zog bei diesen Worten über ihr Gesicht.
Livian riss die Augen auf. "Was ist geschehen? Ist ihm etwas zugestoßen? Ist mein Mann am Leben?" rief sie bestürzt.
"Er lebt... wenn auch nicht viel gefehlt hat," sagte Lathia. "Bis er sich erholt hat, habe ich das Kommando in Gan Lurin." Sie hob die Hand. Oben am Tor erschienen Elben mit gezogenen Bögen, die Pfeile auf Córiel und ihre Gefährten zielend. "Vatharon, Mardor, Livian... geht von den Fremden weg. Ich werde kein Risiko eingehen."
Und tatsächlich gehorchten die drei genannten Elben und gaben den Schützen freies Schussfeld. Vaicenya stellte sich schützend vor Níthrar, während Durin und Jarbeorn wild durcheinander zu brüllen begannen...

Fine:
"Und jetzt - nehmt sie gefangen," erklang Lathias Stimme über den Tumult hinweg. Avari-Krieger strömten aus dem sich ohne Vorwarnung geöffneten Tor heraus und umstellten Jarbeorn, Durin, Vaicenya und Córiel. Vatharon war der Einzige, der dabei etwas schuldbewusst drein blickte. Mardor und Livian schienen sich den Wünschen ihrer Anführerin zu fügen und hatten gleichmütige Mienen aufgesetzt.
"Das werdet ihr bereuen," sagte Vaicenya leise und bedrohlich. Córiel nahm die Hand der Dunkelelbin und drückte sie - fest. Wenn Vaicenya jetzt in Rage geriet, waren sie alle dem Tod geweiht. Auch Níthrar machte eine beruhigende Geste in Richtung seiner Mutter. Und für den Moment schien es zu funktionieren. Vaicenya biss die Zähne zusammen und blieb ruhig, auch wenn die Blicke, die sie von sich gab, geradezu tödlich waren.
Man band ihnen die Hände zusammen und führte sie ins Innere des Dorfes. Die aus Holz gebauten Häuser waren eng aneinander gedrängt und von weiteren Elbenlampen erhellt. Dorfbewohner waren nur wenige zu sehen. Alle Elben, die Córiel sah, trugen Waffen in den Händen.
Im Zentrum des Dorfes erhob sich das einzige Gebäude des Dorfes, das aus Stein bestand. Es handelte sich um ein beinahe vollkommen rundes Konstrukt, das wie ein sich windender, überaus breiter Baumstamm geformt war und von oben bis unten mit eingravierten Schriftzeichen bedeckt war. Die Avari führten ihre Gefangenen ins Innere des Gebäudes, dessen Erdgeschoss aus einer großen, runden Halle bestand. Am anderen Ende des Raumes stand ein verzierter Sitz aus Stahl, der mit bestickten Decken belegt war. An den Wänden ringsum waren kunstvolle Malereien zu sehen, die das alltägliche Leben der Elben Palisors zeigten. Und in der Mitte der Halle brannte ein rundes Feuer, dessen Rauch von einer mit einem Gitter versehenen Öffnung in der Decke aufgefangen wurde. Erhellt wurde der Raum von weiteren Lampen sowie den flackernden Flammen des Feuers.
Während Córiel sich noch staunend umblickte, nahm Lathia auf dem Sitz am Ende des Raumes Platz. Die bewaffneten Avari trieben ihre Gefangenen vor sich her, bis diese auf der freien Fläche direkt vor dem Stuhl standen.
"Mein Name ist Lathiawen, und ich spreche für die Hwenti von Palisor," sagte die Anführerin der Elben mit stählerner Stimme. "Weil ihr daran beteiligt wart, meine Familienmitglieder aus der Gefangenschaft der Yrecals zu befreien, gewähre ich euch eine einzige Gelegenheit, mich davon zu überzeugen, dass ihr nicht unsere Feinde seid und nicht den Tod verdient habt. Sprecht! Eure Zeit läuft." Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blickte sie der Reihe nach herausfordernd an.
Vaicenya schien etwas sagen zu wollen, doch Níthrar hielt sie zurück. Stattdessen war es Jarbeorn, der das Wort nahm. "Wir danken Euch für diese Gelegenheit, Lathiawen von den Hwenti. Erlaubt mir zunächst, meine Freunde und mich vorzustellen." Er breitete die Arme aus und fuhr fort: "Ich bin Jarbeorn, Sohn des Grimbeorn, vom Volk der Beorninger. Neben mir steht Durin, Sohn des Thorin, von den Langbärten. Desweiteren stehen hier vor dir Vaicenya und ihr Sohn Níthrar vom Volk der Tatyar, sowie..."
"Mein Name ist Melvendë... ebenfalls von den Tatyar," sagte Córiel mit fester Stimme. Eine Erinnerung war über sie gekommen, als Jarbeorn zu sprechen begonnen hatte. Der Name des Dorfes, in dem sie sich befanden, lautete Gan Lurin... ein Ort, den Melvendë bereits kannte, wenn auch unter einem anderen Namen. In den langen Jahren des Friedens, vor der Ankunft der Schattenkreaturen war sie einige Male zu den Heimstätten anderer Elbenvölker gereist. Einmal hatte sie ihre Freunde, Cúwen und Tyelpion von den Stämmen des Ostens, in eines der Dörfer begleitet, die vom Volk der Hwenti bewohnt gewesen waren. Und Córiel hatte erstaunt festgestellt, dass sich an dieser Tatsache in all den vergangenen Zeitaltern offenbar nichts geändert hatte. Zwar sah sie weder Tyelpion noch Cúwen, denn Tyelpion war in den Wirren der ersten Kriege verloren gegangen, und Cúwen hatte in ihrer Trauer den Kontakt zu den Tatyar abgebrochen. Dennoch hoffte Córiel, dass es unter den Hwenti, die heute hier waren, vielleicht jemanden geben konnte, der ihren Namen schon einmal gehört hatte.
Doch stattdessen war es ein anderer Name, der bei Lathiawen eine Reaktion auslöste. Eine Reaktion, die wohl niemand erwartet hatte. Die Elbin lehnte sich in ihrem Sitz zurück und... lachte.
"Die mächtige Vaicenya also," rief die Anführerin der Hwenti. "So beeindruckend bist du gar nicht, wo ich dich jetzt von Angesicht zu Angesicht sehe."
"Was soll das denn heißen?" erwiderte Vaicenya gereizt.
"Wir haben hier in Sonuvien schon viel von deinen Taten im Süden Palisors gehört - oder sollte ich besser sagen, von deinen Untaten? Es würde mich gar nicht wundern, wenn du hinter den Yrecal-Angriffen der letzten Jahre steckst."
"Sicher nicht," hielt Vaicenya dagegen. "Wir beide wissen, dass diese Angriffe das Werk des Ilcalocë sind.“
Erstauntes Gemurmel erhob sich bei diesen Worten unter den Hwenti. Sowohl Zustimmung als auch Ablehnung glaubte Córiel daraus hervor zu hören.
"Der Ilcalocë ist nur ein Legende. Ein Märchen, das man unartigen Kindern erzählt, um sie zu erschrecken," sagte Lathiawen. "Gib mir einen einzigen Grund, weshalb ich dich nicht auf der Stelle von Kopf bis Fuß aufschlitzen sollte."
Vaicenya deutete auf die drei Elben, die sie befreit hatten. Dann senkte sie in einer überraschend demütigen Geste das Haupt und sagte leise: "Ich kenne meine Fehler und weiß, was ich in angerichtet habe. Du magst mir glauben, oder nicht - das ist mir egal. Aber ich sage die Wahrheit, wenn ich dir jetzt sage, dass ich mich geändert habe. Seitdem ich gefunden habe, was ich all die Jahre gesucht hatte." Zu Córiels Verwunderung streifte Vaicenyas Blick bei diesen Worten Níthrars Gesicht, und nicht das der Hochelbin. "Wenn du jemanden aufschlitzen willst, dann... nimm mich. Aber lass die anderen in Frieden. Sie haben dir und deinem Volk kein Leid angetan, sondern sind aus freiem Willen hier, um mir bei der Suche nach meinem Sohn zu helfen. Und sie haben dafür viel geopfert. Ich habe sie nicht darum gebeten, sondern sie taten es aus freier Entscheidung heraus."
"Eine interessante Entwicklung," sagte eine neue Stimme. Sie war leise, und doch sorgte sie für sofortige Stille unter den Hwenti. "Demut steht dir gut zu Gesicht, Vaicenya."
"Herion..." Lathiawen blickte den Elben an, der am Treppenaufgang zu den oberen Stockwerken stand. Zwei Frauen stützten den schwächlich wirkenden Herion, doch seine Ausstrahlung war die eines weisen Ratgebers und respekteinflößenden Anführers. "Was tust du hier?" wollte Lathiawen misstrauisch wissen.
Auf Herions blassem Gesicht erschien ein schmales Lächeln. "Bei dem Lärm, den ihr alle hier veranstaltet, kann doch niemand schlafen. Ich bin herunter gekommen, um nachzusehen, was hier wohl für eine solche große Aufregung gesorgt hat. Und ich bin froh, dass ich es getan habe." Livian und Mardor waren an Herions Seite geeilt, denn er wirkte außerordentlich schwach. "Lass mich unter vier Augen mit Vaicenya sprechen, und ich werde ergründen, ob sie wirklich die Wahrheit sagt. Ihre Freunde sollen in der Zwischenzeit unsere Gäste sein. Bringt sie in einem der leer stehenden Häuser unter und behandelt sie gut, denn ihnen ist es zu verdanken, dass mein Sohn und meine Frau noch am Leben sind. Wir müssen..." Er brach ab und wurde von einem ungut klingenden Hustenanfall geschüttelt. Als Herion sich mit der Hand über den Mund wischte, sah Córiel, dass Blut daran klebte. Der Anführer der Hwenti winkte Vaicenya müde zu sich, und beide verschwanden die Treppe hinauf.
Lathiawen schien ihren Zorn nur mühsam beherrschen zu können. Doch offensichtlich würde sie das Wort ihres Anführers nicht infrage stellen. Sie warf Córiel und Níthrar feindselige Blicke zu, während sie die Anweisungen Herions in die Tat umsetzte. So geschah es, dass man Córiel und die Anderen in einem der aus Holz gebauten Häuser nahe der Palisaden einquartierte und ihnen ans Herz legte, Lathiawen nicht zu weiterem Zorn zu reizen. Sie beschlossen, die Nacht hier zu verbringen und darauf zu hoffen, dass es Vaicenya gelingen würde, Herion von ihrem Sinneswandel zu überzeugen, ohne dass es zu einem Gewaltausbruch kam...

Fine:
Die Nacht verging, ohne dass Vaicenya wieder auftauchte. Am folgenden Morgen war Córiel früh auf den Beinen, während Jarbeorn, Durin und Níthrar den Sonnenaufgang verschliefen. Alle dreien schien die Ruhe nach den Strapazen ihrer Reise durch Rhûn und Palisor gut zu tun.
Córiel öffnete behutsam die Eingangstüre der Hütte, in der die Hwenti sie einquartiert hatten. Die Sonne war gerade über die Bergkette im Osten geklettert und tauchte das Dorf in warmes, morgendliches Licht. Nur wenige Elben waren unterwegs, um ihren täglichen Geschäften nachzugehen. Man warf Córiel unterschiedliche Blicke zu - ein Teil war misstrauisch, andere zeugten eher von Neugierde. Doch niemand sprach die Hochelbin an, während sie einen Spaziergang durch das erwachende Dorf machte.
Ohne dass sie es vorgehabt hatte, trugen ihre Beine sie zum zentralen Platz der Siedlung, wo der Steinerne Baum aufragte, in dessen oberen Stockwerken der Anführer des Dorfes, Herion, mit Vaicenya verschwunden war. Córiel fragte sich, ob sie wohl nachsehen sollte, was die beiden so lange aufhielt. Zögerlich näherte sie sich dem Eingang des großen Gebäudes, doch ehe sie die Türe öffnen konnte, ertönte eine kühle Stimme hinter ihr.
„Sie sind fort,“ stellte Lathiawen klar. Córiel fuhr herum und fand die Hwenti-Elbin mehrere Schritte entfernt stehend vor, die Arme vor der Brust verschränkt. „Ich habe bereits nachgesehen. Herion und Vaicenya sind verschwunden, und bis auf seine Frau, Livian, weiß niemand, wohin sie gegangen sind.“
„Sie hat es dir nicht verraten?“ wunderte Córiel sich.
Lathiawen blickt verärgert beiseite. „Livian handelt im Auftrag Herions, und ich werde seine Entscheidung diesbezüglich jetzt nicht infrage stellen. Aber eines gibt es, das ich tun kann.“ Sie fand Córiels Blick, und Lathiawens Augen blitzten. „Los! Verteidige dich!“
Etwas sauste auf Córiel zu. Instinktiv riss sie die Hand hoch und fing den Gegenstand am Griff auf. Es stellte sich als Schwert heraus. Eine gerade, ungebogene Klinge, mit einem Griff, der Platz für anderthalb Hände bot. Kaum hatte Córiel die Waffe ergriffen, sprang Lathiawen bereits auf sie zu, eine ähnliche Waffe schwingend. Ihren Angriff führte sie von oben, das Schwert über den Kopf erhoben. Córiel drehte sich weg und ließ den Schlag an ihrer Klinge abgleiten, ehe sie zwei schnelle Schritte machte und etwas Distanz zwischen sich und ihre Gegnerin brachte.
„Was soll das bezwecken?“ fragte sie, das Schwert in einer wachsamen Defensivhaltung erhoben.
„Man kann viele Worte tun, um seine Absichten zu verbergen oder offen zu legen,“ rief Lathiawen. „Doch für mich sprechen Taten lauter als Worte.“ Sie wirbelte um die eigene Achse und griff diesmal mit einem einhändigen Schlag von unten her an. Córiels Schwert parierte den Treffer mit einem metallischen Klirren, das die Aufmerksamkeit der Dorfbewohner erweckte.
„Dies entspricht nicht den Traditionen!“ riefen einige, doch Lathiawen scherte sich nicht darum. Der Kampf ging mit unverminderter Härte weiter und auf Lathiawens Angriffe folgten Córiels hastige Paraden und Ausweichmanöver.
„Wo ist Herion? Er muss dem ein Ende setzen, ehe noch jemand verletzt wird,“ rief jemand, den Córiel gerade nicht sehen konnte. Sie machte einen Ausfallschritt auf Lathiawen zu und machte dann ihren ersten offensiven Zug des Duells, indem sie die Klinge auf Bauchhöhe horizontal kreisen ließ. Die Hwenti-Elbin entging dem Treffer durch einen raschen Sprung rückwärts.
„Hierbei geht es nicht um Traditionen. Ziehe eine Waffe und du tötest oder wirst getötet,“ rief Lathiawen. „Wenn der Tod nicht eintritt, dann Verletzungen. Wenn keines davon eintritt, hast du Glück gehabt, oder deine kämpferischen Fähigkeiten überragten die deines Gegners.“ Sie stieß sich ab und sauste auf Córiel zu. Die Hochelbin verstärkte ihren Stand und hob das Schwert zur beidhändigen Parade. Lathiawens Angriff prallte dagegen und sie kamen für einen Augenblick zum Stillstand, die Gesichter ganz nahe beieinander und die Klingen gekreuzt.
„Du willst sehen, was ich zu bieten habe?“ wisperte Córiel. „Gib mir einen Speer, und ich zeige es dir.“
Lathiawen grinste. „Vielleicht werde ich das,“ entgegnete sie. „Wenn du es dir verdient hast.“ Sie ließ sich fallen und schlug nach Córiels Beinen. Die Hochelbin sprang über den Hieb hinweg und versetzte Lathiawen einen Tritt gegen die rechte Schulter, als die Hwenti-Elbin gerade wieder auf die Beine gekommen war. Sie taumelte zwei Schritt rückwärts, dann fing sie sich wieder. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stürzte sie sich auf Córiel, und es war, als würde sie erst jetzt ihr gesamtes Können einsetzen. Córiel geriet in ernsthafte Schwierigkeiten und konnte sich kaum gegen die wilden Angriffe behaupten, die auf sie einprasselten. Lathiawen schien überall gleichzeitig zu sein und drängte Córiel in die Defensive.
Die Klinge ihrer Gegnerin drang durch Córiels Verteidigung und rauschte viel zu nahe an ihrem Gesicht vorbei. Ein Büschel blonder Haare fiel zu Boden, und Córiels linkes Ohr loderte in hellem Schmerz auf. Das Schwert hatte es mit der flachen Seite gestreift und eine Verbrennung hinterlassen. Córiel biss die Zähne zusammen und packte Lathiawens ausgestreckten Arm mit der freien Hand, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dabei drehte sie sich um die eigene Achse, entging einem weiteren, hastigen Hieb ihrer Gegnerin und schlug dann mit aller Kraft zu. Zwar gelang es Lathiawen, den Angriff zu parieren, doch Córiels Klinge rutschte an ihrem Schwert ab und hinterließ einen kleinenSchnitt an Lathiawens rechtem Oberarm.
Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke. In Lathiawens Augen sah Córiel keinen Schmerz, nur Überraschung. Doch dann flackerte wieder Wut darin auf. Lathiawen griff an, mit einem vorhersehbaren Schlag gegen Córiels Mitte. Die Hochelbin brachte ihr Schwert zur Parade in Stellung, und... mit einem Mal war Lathiawens Klinge nicht mehr dort, wo sie hätte sein sollen. Anstatt von vorn zu kommen, schlängelte sich der Angriff auf beinahe unmögliche Art und Weise um Córiels Verteidigung herum, und der Griff von Lathiawens Schwert traf Córiels Handgelenk, das sofort taub wurde. Die Klinge fiel ihr aus der Hand, ohne dass sie es verhindern konnte. Etwas stieß hart gegen ihre Brust, und sie fand sich auf dem Erdboden wieder, Lathiawens Schwert an ihrem Hals.

Ehe Córiel reagieren konnte, begann Lathiawen, zu lachen. Es war so ziemlich das Letzte, was die Hochelbin in dieser Situation erwartet hatte. Die Klinge an ihrem Hals verschwand. An ihrer Stelle wurde Lathiawens Hand sichtbar, und Córiel ergriff sie und ließ sich auf die Beine ziehen.
„Gut gekämpft,“ sagte die Hwenti-Elbin. „Ein würdiger Gegner ist selten für mich zu finden.“
Córiel wusste zunächst nicht recht, wie sie darauf antworten sollte. Sie betastete ihr Ohr und warf einen Blick auf Lathiawens blutenden Arm. „Tut mir Leid wegen der Verletzung,“ sagte sie.
„Mach‘ dir keine Gedanken wegen diesem Kratzer. Ich habe es dir ja gesagt. Wer eine Waffe zieht, riskiert es, verletzt zu werden. Das gilt für mich ganz genauso, wie für dich.“
„Was wolltest du mit diesem Kampf bezwecken?“ wollte Córiel wissen.
Lathiawen lächelte - zwar war es kein freundschaftliches Lächeln, doch immerhin war die Feindseligkeit aus ihrer Stimme verschwunden. „Ich wollte wissen, was du tun würdest. Und deine Reaktionen haben mir gezeigt, dass dir und deinen Begleitern vielleicht ja doch zu trauen ist, Melvendë.“ Sie machte eine Pause und ihr Blick ging hinüber zum Steinernen Baum. „Vaicenya zu beurteilen ist nun Herions Sache.“

Jarbeorn und Durin lösten sich aus der kleinen Menge, die den Kampf beobachtet hatte. Beide schienen schwer beeindruckt zu sein.
„So etwas hab‘ ich noch nie gesehen,“ meinte der Zwerg. „Das ging ja so schnell hin und her, dass man kaum folgen konnte.“
„Gut gemacht, Stikke,“ lobte Jarbeorn und schlug Córiel freundschaftlich auf die Schulter.
„Es gehört einiges dazu, meine Schwester dazu zu bringen, sich im Kampf nicht zurückzuhalten,“ sagte Vatharon, der neben dem Beorninger aufgetaucht war.
„Ich hoffe, du bist ihr in dieser und auch in anderer Hinsicht nicht ähnlich,“ scherzte Córiel. „Ich habe für heute genug Kämpfe bestritten.“
„Mich müsst ihr nicht von eurer Vertrauenswürdigkeit überzeugen,“ erwiderte Vatharon grinsend. „Jarbeorn hat mir erzählt, was im Westen vor sich geht, und welche Abenteuer ihr bereits gemeinsam erlebt habt. Außerdem habt ihr mich gerettet. Ich weiß, dass ihr den Hwenti nicht schaden wollt.“
Lathiawen musterte ihren Bruder mit einer Mischung aus Unwillen und Nachdenklichkeit. Dann nickte sie leicht und marschierte in Richtung des Steinernen Baumes davon.
„Man sieht es ihr nicht an, aber ich bin mir sicher, dass du sie beeindruckt hast, Melvendë,“ sagte Vatharon zuversichtlich.
„Hast du eine Ahnung, wohin Herion mit Vaicenya verschwunden sein könnte?“ fragte Córiel ihn.
Doch Vatharon schüttelte den Kopf. „Mein Onkel hat seine eigenen Methoden, um die Wahrheit aus jemandem herauszubekommen. Dass die beiden spurlos verschwunden sind, bedeutet wohl, dass sie einen der unterirdischen Gänge verwendet haben, die wir die Wurzeln des Steinernen Baumes nennen. Ich vermute, Herion wird Vaicenya irgend einer Art von Prüfung unterziehen.“
„Dann hoffen wir, dass sie diese Prüfung besteht,“ sagte Durin und schlug die Fäuste gegeneinander. „Bei eurem Duell zuzusehen, hat mich hungrig gemacht. Wie wäre es mit einem wohlverdienten Frühstück?“
„Wohlverdient?“ lachte Jarbeorn. „Du hast doch nichts getan, mein Freund.“
„Ich habe sie angefeuert. Hast du mich nicht gehört?“
Der Beorninger legte den Kopf schief. „Tut mir Leid, in der Aufregung des Kampfes muss ich dich wohl überhört haben.“
„Bitte, Freunde, so streitet euch doch nicht,“ sagte Vatharon gut gelaunt. „Ihr sollt eurer Frühstück bekommen. Kommt - ich bringe euch zu mir nach Hause.“

Beinahe hatte Córiel erwartet, in Vatharons Unterkunft wieder auf Lathiawen zu treffen, denn die beiden Geschwister teilten sich ein Haus am Rande des Dorfes. Doch von der Kriegerin war nichts zu sehen, als sie sich zu viert um einen runden Tisch setzten und ein ausgedehntes Frühstück zu sich nahmen. Während sie aßen, stellte Vatharon ihnen viele weitere Fragen über die Länder im Westen. Besonders schien ihn der Verlauf des Krieges zu interessieren.
Nach einer halben Stunde gelang es Córiel, eine Frage zur Lage in Palisor zu stellen, und zu den Elben, die dort lebten.
„Wir sind alles, was vom Volk der Hwenti in Sonuvien noch übrig ist,“ sagte Vatharon. „Alle anderen sind in den letzten Monaten nach Westen gezogen.“
„Weshalb haben sie ihre Heimat verlassen?“ fragte Jarbeorn.
„Wegen den ständigen Ork-Angriffen. Und weil sie das fürchten, was womöglich hinter all dem Leid steckt, das sie in den vergangenen Jahren erdulden mussten.“
„Wovon sprichst du?“ wollte Córiel wissen.
Vatharon senkte seine Stimme zu einem Flüstern. „Meine Schwester und einige andere glauben nicht daran, aber ich bin mir sicher, dass das Auftauchen der Orks mit der Legende des Ilcalócë zu tun hat.“
Córiel wunderte sich über das Wort, das Vatharon verwendete. Es klang wie eine Eigenbezeichnung, oder ein Titel. Ehe sie sich Gedanken über die Bedeutung machen konnte, ging das Gespräch weiter.
„Was ist das für eine Legende?“ fragte Durin.
„Im Gebirge östlich von hier, in den Orocarni, gibt es viele gewaltige Berge. Doch der höchste Gipfel von ihnen wird bei unserem Volk Ilmarës Wacht genannt. Er ragt bis über die obersten Wolken hinauf, und sein Gipfel ist von immerwährendem Sternenlicht beschienen. Als die Altvorderen Tage endeten und der erste Dunkle Herrscher gestürzt wurde, gab es einige seiner Diener, die dem Gemetzel entkamen und sich an Orten wie diesem vor den Herren des Westens verbargen. So geschah es der Legende auch mit dem Ilcalócë. Er floh von den Thangorodrim bis in die Orocarni und dort oben, auf dem höchsten Gipfel, geriet er in den Bann des Lichts der Sterne. Um ihnen nahe zu sein, verließ er die Bergspitze niemals wieder...“
„Und wenn du nicht brav bist, wird sein Schlaf enden und er wird dich holen kommen,“ erklang Lathiawens spöttische Stimme von der Tür her. „Es ist nichts als eine Legende, Vatharon.“
Sie fuhren überrascht herum. Vatharons Schwester stand im Türrahmen, die Hände in die Hüften gestemmt. Ehe jemand etwas sagen konnte, fuhr Lathiawen bereits fort. „Ihr solltet rasch mit mir kommen. Herion ist soeben zurückgekehrt.“

Fine:
Rasch kehrten sie auf den zentralen Platz des Dorfes zurück. Der Anführer des Hwenti-Stammes, Herion, wartete bereits auf sie. Bei ihm waren sein Sohn Mardor sowie Vaicenya und Níthrar.
"Ich hörte, es ist dir gelungen, Lathiawens Aufmerksamkeit zu erringen, Melvendë," sagte Herion gut gelaunt, als sie sich bei ihm eingefunden hatten.
"Wenn Ihr damit auf den Kampf mit ihr anspielt, dann könnte man es wohl so nennen," meinte Córiel.
"Eine ungewöhnliche Entwicklung der Dinge. Es kommt nur selten vor, dass jemand gegen unsere beste Kriegerin bestehen kann." Herion warf Vaicenya einen Blick zu, ehe er fortfuhr: "Auch ich habe die vergangenen Stunden gut genutzt. In den uralten Wäldern, die uns seit dem Aufgang der Sterne umgeben, ist große Weisheit verborgen, die ich mir zunutze gemacht habe. Ich bin zu einer... Übereinkunft mit thíril Vaicenya gekommen."
"Na sowas," staunte Jarbeorn. "Sie kann ja doch ganz vernünftig sein, wie mir scheint."
Vaicenya funkelte ihn wütend an, sagte jedoch nichts. Stattdessen sprach der Anführer der Hwenti weiter: "Vaicenya und ihr Sohn werden einige Zeit bei uns bleiben und dafür sorgen, dass uns die Yrecals nicht länger behelligen. Sie werden Lathiawen und den anderen Hütern beim Schutze unseres Stammes von großem Nutzen sein."
Córiel hob überrascht die Augenbrauen. "Du willst wirklich hier bleiben?" fragte sie die Dunkelelbin, welche ihr mit einem schlichten Nicken antwortete.
"Ich halte das für eine gute Idee," sagte Níthrar. "In der Zwischenzeit könnt ihr dem Zwerg bei seiner Mission Unterstützung leisten."
"Ich habe einen Namen, Elb," sagte Durin unwirsch. "Durin, Sohn des Thorin, schon vergessen?"
"Wir hatten seit meiner Befreiung noch gar keine richtige Möglichkeit, einander kennenzulernen. Ich bin Níthrar - und bitte um Verzeihung, Durin, Sohn des Thorin."
"Gut, na schön," gab sich Durin zufrieden. Dann wandte er sich an Córiel und Jarbeorn. "Ihr beiden wollt mir weiterhin bei der Suche nach den Zwergen des Ostens helfen?"
"Das versteht sich doch von selbst," sagte Jarbeorn. "Immerhin hast du uns auf die Spur gebracht, die uns zu Níthrar geführt hat. Wir werden diese verschwundenen Zwergenstädte schon bald gefunden haben. Ich freue mich schon drauf, diese geheimnisvollen Berge, die ihr Orocarni nennt, zu bereisen. Im Gebirge fühle ich mich gleich wohler, vor allem, wenn es bergauf geht. Da spürt man, wie das Leben durch einen hindurchströmt."
Córiel musterte den Beorninger mit einem zweifelnden Blick. Sie wusste, dass Jarbeorn im Tal des Anduin aufgewachsen war, wo die steilen Hänge des Nebelgebirges nicht fern waren. Doch dass Jarbeorn das Gebirge den Wäldern vorzog, kam ihr etwas merkwürdig vor. "Wie dem auch sei," sagte sie etwas steif, "auch ich helfe dir, Durin. Sollte dein Vorhaben gelingen und der Erebor wieder in Zwergenhand geraten, hätte der Krieg im Norden eine wichtige Wendung genommen. Der einsame Berg liegt strategisch günstig und ein von Zwergen kontrollierter Erebor würde das Waldlandreich entlasten und neue Angriffsmöglichkeiten auf die Orks im Grauen Gebirge ermöglichen."
Durin nickte. "Dann werden wir als furchtloses Trio diese Aufgabe angehen, und sie meistern," beschloss er.
"Ihr seid voller Tatendrang, wie ich sehe," sagte Herion. "Das ist gut! Denn nach dem, was aus den Orocarni an unsere Ohren gedrungen ist, wird sich die Aufgabe wohl kaum als einfach erweisen. Seid gewarnt, und agiert mit Vorsicht! Die guten Wünsche der Hwenti mögen euch begleiten."
"Und vergesst nicht, auf dem Rückweg hier im Dorf einen Zwischenstopp einzulegen und uns zu erzählen, was ihr erlebt habt!" warf Vatharon noch ein.

Sie beschlossen, am kommenden Tag nach Osten hin aufzubrechen. Die Hwenti versorgten sie mit einigen Vorräten und Beschreibungen der Umgebung, denn Karten existierten für die ungezähmte Wildnis von Dalvarinan nicht. Herion hatte bereits vor seiner Rückkehr ins Dorf Späher ausgesandt, um die Pferde vom Waldrand zu holen, die Córiel und ihre Gefährten in Riavod gekauft hatten. Sie nahmen zwei der Tiere mit sich, und Córiel ließ Durin hinter sich in den Sattel klettern, da sein Gewicht kombiniert mit Jarbeorns muskelbepackter Gestalt zu viel für selbst das stärkste Ross gewesen wäre.
Ehe sie losritten, schärften ihnen die Hwenti noch einmal ein, besonders aufmerksam zu sein. Vatharon, der den Zügel von Córiels Pferd führte, sagte: "Meine Schwester mag den Ilcalocë nur für ein Märchen halten, aber ich bin mir sicher, dass er irgendetwas mit den Yrecals im Gebirge zu tun hat."
Durin, der hinter Córiels Rücken hervorlugte, sagte: "Was mag das bloß für eine Kreatur sein, von der du da andauernd sprichst, Vatharon?"
Der Avarin-Elb überlegte, schien nach dem richtigen Wort zu suchen. Derweil erreichten die beiden Rösser das Tor des Dorfes. Jarbeorn, der sein Pferd im Schritt gehen ließ, verließ als Erster die Ansiedlung der Hwenti. Ehe Córiel ihm folgen konnte, sagte Vatharon im Flüsterton: "Ich glaube, im Westen würde man den Ilcalocë als einen Drachen bezeichnen. Nehmt euch in Acht vor ihm!"
Mit gemischten Gefühlen ritten sie los. Drei in grün gekleidete Avari, die sich im Wald flink zu bewegen wussten, wiesen ihnen den Weg, bis sie das dichteste Waldgebiet, das das Dorf umgab, hinter sich gelassen hatten und in lichtere Regionen kamen. Hier verabschiedeten sich die Hwenti von ihnen und verschwanden so rasch wie Wassertropfen, die auf einen klaren See fallen.
Nun übernahm Córiel mit Durin als Passagier die Führung. Zwischen den Baumwipfeln hindurch konnte sie im Osten bereits die ersten rötlichen Bergspitzen hervorblitzen sehen. Zwar befanden sie sich noch immer im Wald, doch zwischen den Bäumen (zumeist Fichten und Buchen) gab es genug Platz, dass die Pferde in einen flotten Trab fallen konnten. So kamen sie zügig voran, während der Tag verstrich. Das Gebiet veränderte sich nur wenig, doch seit dem Mittag hatte der Boden zuerst sanft, dann immer steiler begonnen, nach Osten hin anzusteigen. Als die Sonne untergegangen und sie ein Nachtlager aufgeschlagen hatten, hatten sie schon beinahe die ersten Ausläufer der Orocarni erreicht.


Córiel, Jarbeorn und Durin in die Orocarni

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