Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Dol Amroth

Der Palast des Fürsten

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Eandril:
Hilgorn ordnete die Papiere, die auf seinem Schreibtisch lagen - Berichte von den Wächtern am Gilrain, von der Südküste, und aus den westlichen Fürstentümern. In keinem davon war die Rede von Kämpfen oder Angriffen, was Hilgorn eigentlich beruhigen sollte. Dennoch, die verdächtige Stille rief eher Unruhe in ihm hervor. Es erinnerte ihn weniger an eine Zeit des Friedens, sondern an die schwüle Ruhe, kurz bevor ein Sommersturm über der Bucht losbrach. Irgendetwas würde geschehen, und zwar bald.
Er verstaute die Berichte in einer Truhe, und ging noch einmal die Befehle durch, die er für die Truppen am Gilrain und in Linhir vorbereitet hatte, während er auf Valion wartete. Die Räume, die er in einem entlegenen Teil des Palastes bewohnte, waren klein und schmucklos. Den größten Teil bildete sein Arbeitszimmer, an das ein kleiner Schlafraum, den das schmale Bett beinahe ganz ausfüllte, angrenzte. Er hätte vermutlich ein größeres Zimmer bekommen können, doch Hilgorn wollte keines. Darüber hinaus war er ohnehin selten hier, wenn er nicht gerade unterwegs war hatte er sich seit einiger Zeit angewöhnt, den größten Teil seiner Freizeit in Faniels Haus zu verbringen.
Nachdem er sich versichert hatte, dass die Befehle keine Fehler enthielten, warf er einen Blick zum Fenster hinaus, das nach Südwesten über die Halbinsel auf die Bucht von Belfalas hinausging. Die Sonne stand inzwischen bereits recht weit und tief im Westen, und Hilgorn seufzte, während er die Befehle beiseite legte. Valion hatte offenbar vor, heute Nachmittag voll auszunutzen und zum spätmöglichsten Zeitpunkt zu kommen.
Gerade als er den Gedanken beendet hatte, klopfte es an der Tür und Hilgorn antwortete: "Kommt herein." Sofort betrat Valion das Zimmer, und sah sich neugierig um. "War nicht leicht, euch zu finden", sagte er, während seine Augen munter umherglitten. "Also... ziemlich eng ist es hier."
"Es reicht aus", erwiderte Hilgorn, und der kühle Unterton in seiner Stimme konnte Valion nicht entgangen sein. Der Erbe vom Ethir ließ sich jedoch nicht beirren, sondern fragte mit einem Grinsen: "Wie macht ihr das nur, wenn ihr hier mal... Besuch habt?"
Hilgorn unterdrückte ein Ächzen, und erwiderte nur ausdruckslos: "Solchen Besuch habe ich hier nicht nötig." Valions Grinsen wurde noch eine Spur breiter, doch bevor er etwas entgegnen konnte, fügte Hilgorn hinzu: "Und außerdem haben wir denke ich wichtigere Themen zu besprechen."
"Natürlich." Valion ließ sich auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch nieder, wobei er noch immer bestens gelaunt schien. Dennoch beschlich Hilgorn das Gefühl, dass seinen Gegenüber insgeheim etwas beschäftigte.
"Also", begann Valion, und breitete die Arme aus. "Der Ethir."
"Der Ethir", bestätigte Hilgorn, und betrachtete die Karte, die unter den anderen Dokumenten auf seinem Schreibtisch zum Vorschein gekommen war. "Ich vermute, dass ich gerade euch nicht erneut erklären muss, welche strategische Bedeutung der Ethir genau hat."
"Ganz sicher nicht."
"Nun, wir stehen also vor einem gewissen Problem", erläuterte Hilgorn. "Unsere wichtigste Sorge ist natürlich weiterhin, unsere östliche Grenze - Linhir und den Lauf des Gilrain - möglichst stark zu besetzen. Ethir liegt davon getrennt, und ist für uns für den Moment nur auf dem Seeweg sicher zu erreichen. Ich habe also folgendes Problem: Ihr braucht genug Männer, um die Festung instand setzen und einige Zeit verteidigen zu können. Außerdem sollt ihr gemäß dem Befehl des Fürsten die Ufer des Anduin bis Ithilien besetzen und uns den Weg dorthin öffnen."
Er fuhr mit dem Finger die blaue Linie des Anduin auf der Karte bis nach Ithilien hinauf und seufzte. Er hoffte nur, dass Mordor sich durch ihre Pläne nicht vorzeitig provozieren und zu einem Gegenschlag verleiten lassen würde. Zwar wuchs die Zahl ihrer Soldaten durch die neu rekrutierten Flüchtlinge allmählich an, und vielleicht würden sie bald durch weitere Elben verstärkt werden, doch beides brauchte Zeit.
"Ich halte zwar große Stücke auf meine Kampfkunst", meinte Valion spöttisch. "Aber alleine werde ich das wohl kaum bewältigen können."
"Natürlich nicht", entgegnete Hilgorn. "Ich werde euch... zweihundert Mann zur Verfügung stellen." Er würde sie von verschiedenen Orten abziehen, um keine Stellung entscheidend zu schwächen, und die entstandenen Lücken nach und nach wieder auffüllen.
Valions Augenbrauen zogen sich zusammen. "Zweihundert sind nicht sonderlich viel um..."
Bevor er zu Ende sprechen konnte, klopfte es heftig an der Tür, und ohne eine Antwort abzuwarten, betrat der Elb Ladion den Raum. Er sah einigermaßen mitgenommen aus, hatte einen Verband um die Stirn und seine Kleidung war zerrissen und schmutzig.
"Ich bringe wichtige Neuigkeiten", sagte er dennoch mit ruhiger Stimme, und Hilgorn konnte sich gerade noch daran hindern, hinter dem Tisch aufzuspringen.
"Geht es um meinen Bruder?" Er sah Valion aufmerksam lauschen, doch bevor er ihn bitten konnte den Raum zu verlassen, erwiderte Ladion: "Unter anderem. Ich verfolgte ihn weit nach Osten, über den Gilrain hinweg auf das von Mordor besetzte Gebiet, bis nach Osgiliath. Dort gelang es mir, ein Gespräch zwischen einigen Orkanführern zu belauschen. Offensichtlich planen sie einen Angriff auf das Weiße Gebirge, zu welchem Zweck weiß ich nicht."
Jetzt sprang Hilgorn tatsächlich von seinem Stuhl auf, und Valion, der offenbar ebenso wie er die Tragweite des Gehörten begriffen hatte, tat es ihm gleich.
"Wie es aussieht, wird die Besetzung des Ethir noch ein Weilchen warten müssen", sagte er, und verzog das Gesicht. Anscheinend war Valion keineswegs wohl bei dem Gedanken, seine Heimkehr zu verschieben, und Hilgorn konnte ihn verstehen. Trotzdem nickte er langsam. "Allerdings. Wenn Mordor das Gebirge besetzt, schneiden sie uns den direkten Weg nach Rohan ab und trennen uns von unseren nächsten Verbündeten... Ich muss zum Fürsten."
"Ich komme mit", sagte Valion, und Hilgorn erwiderte: "Warum? Das betrifft euch nicht direkt."
"Als Herr des Ethir bin ich ein Fürst von Gondor, und habe das Recht zu gehen, wohin ich will", gab Valion kalt zurück, und Hilgorn stöhnte innerlich auf. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, denn es würde mit Sicherheit darauf hinauslaufen, dass Valion sich freiwillig melden würde, um die Verteidigung anzuführen. Und Hilgorn konnte sich weitaus fähigere Anführer vorstellen, als den verantwortungslosen Herrn vom Ethir.
"Meinetwegen, kommt mit", sagte er schließlich. Er konnte immer noch dafür sorgen, dass nicht Valion sondern jemand geeigneteres ihre Truppen ins Gebirge führen würde.

Während sie durch die Flure des Palastes zu den Gemächern der Fürsten eilten, fragte Hilgorn Ladion leise: "Und was ist mit Imradon?" Der Elb lächelte flüchtig. "Nach dem, was ich belauschen konnte, scheint er bei dem Angriff auf das Gebirge dabei zu sein - als Strafe für seine Enttarnung, wie mir scheint." Hilgorn schnaubte verächtlich. Sein Bruder hatte sich sicherlich nicht freiwillig dafür gemeldet. Dann kam ihm ein weiterer Gedanke. Wenn Imradon im Weißen Gebirge war, dann... würde Hilgorn ebenfalls dorthin gehen. Und dafür sorgen, dass Imradon die Berge nicht lebendig verließ.

Hilgorn in die Stadt

Fine:
Der Krieg geht also wieder in die heiße Phase! dachte Valion mit einer Mischung aus freudiger Erwartung und leichter Besorgnis, während er Hilgorn durch den Palast zu den Gemächern Imrahils folgte. Die Nachrichten, die der Elb Ladion ihnen gebracht hatte, waren zu wichtig, um damit zu warten, weshalb sie den Fürsten von Dol Amroth bei seinem Abendessen unterbrachen. Als sie eintraten blickte Imrahil zunächst mit erstaunter Miene auf, ersparte ihnen dann jedoch eine Rüge als er die ernsten Gesichter sah.
"Mein Fürst, es hat eine wichtige Entwicklung gegeben," erklärte Hilgorn, und Imrahil bedeutete ihnen, sich zu ihm an den Tisch zu setzen.
"Es scheint in der Tat sehr wichtig zu sein," sagte der Fürst. "Berichtet."
Ladion nahm gegenüber Imrahils Platz und beugte sich leicht vor. "Ich komme gerade aus den von Mordor besetzten Gebieten von der Verfolgung des gesuchten Verbrechers Imradon zurück. Dabei gelang es mir, die bevorstehenden Pläne unserer Feinde mitanzuhören: sie haben vor, einen Angriff im Weißen Gebirge durchzuführen."
Imrahil nickte. "Also regt sich der Feind erneut. Ich hatte schon vermutet, dass ihm unsere schnelle Verbindung zu den Rohirrim seit Längerem ein Dorn im Auge ist." Er ballte die rechte Hand zur Faust. "Wenn Sauron Krieg will, dann kann er ihn haben. Wir haben lange gewartet und unsere Grenzen gesichert; haben uns an seine Bedingungen gehalten. Jetzt sehen wir also, was die Versprechungen des Dunklen Herrschers wert sind. Ruf meinen Sohn Elphir und die Offiziere her!" Ein Bote eilte aus dem Raum, um die Befehle weiterzugeben.
"Die Pfade der Toten sind das offensichtlichste Ziel, aber wir wissen nicht, aus welcher Richtung die Orks angreifen werden," sagte Hilgorn.
"Nun, durch Rohan werden sie wohl nicht ziehen," überlegte Valion. "In den jüngsten Berichten stand, dass Faramir die Grenze nach Anórien scharf bewacht hält und bereits mehrere Angriffe zurückgeschlagen hat. Und nun, da sein Hauptheer von der Belagerung Dol Guldurs zurückgekehrt ist hat er eine schlagkräftige Streitmacht unter seinem Kommando."
"Gänzlich auszuschließen ist ein Großangriff auf Rohan nicht, aber der Wortlaut der Befehle war, dass der Angriff im Gebirge selbst stattfinden soll," wandte Ladion ein. "Meine Vermutung ist, dass unsere Feinde den Gilrain nahe seiner Quelle am Fuße der Berge in Lebennin überqueren werden und sich durch die flachen Hügel am Südrand des Gebirges schleichen werden."
"Um dann im Schwarzgrundtal ihren Angriff zu beginnen," folgerte Hilgorn. "Wo ist Duinhir? Er wird sein Volk warnen wollen."
"Hier bin ich," rief der Fürst von Morthond, als er hereingeeilt kam, gefolgt von Elphir und einigen weiteren hochrangigen Offizieren. "Was ist geschehen?"
In wenigen kurzen Sätzen erklärte Hilgorn, was Ladion herausgefunden hatte. Imrahil sagte: "Am besten wäre es, sofort Nachricht ins Schwarzgrundtal zu schicken."
"Ich selbst werde gehen", stellte Duinhir entschlossen klar. "Mein Pferd ist ausdauernd und schnell. Ich werde mich in meiner Heimat auf den Angriff vorbereiten."
"Wir werden so bald wie möglich Verstärkung entsenden," sicherte der Fürst von Dol Amroth ihm zu. "Und auch die Rohirrim müssen gewarnt werden. Es kann sein, dass die Orks die Pfade durchqueren und auch Dunharg angreifen."
"Auch dafür werde ich sorgen und ihnen Bescheid geben," rief Duinhir, ehe er in Eile den Raum wieder verließ.

"Unsere Pläne für Ithilien und den Ethir sind damit wohl erst einmal vom Tisch," meinte Valion.
"Du verstehst sicher, dass die Verteidigung der freien Gebiete Gondors Vorrang hat," sagte Imrahil. "Wir können nicht zulassen, dass Sauron uns den Weg nach Rohan und zu unseren Verbündeten abschneidet. Wenn wir Glück haben, wird er den Ethir weiterhin ignorieren."
"Das wird sich zeigen. Ich möchte jedenfalls dabei sein, wenn ein Heer zur Verteidigung der Pfade der Toten ausgesandt wird," stellte Valion klar. Er wusste schon, dass Hilgorn davon nicht allzu begeistert sein würde, doch das war ihm egal. Seit seiner Rückkehr nach Dol Amroth hatte es ihn in den Fingern gejuckt, und ein ordentlicher Kampf war genau das, was er brauchte. Orks zu töten war ein erfreulicher Zeitvertreib und es fiel ihm leichter, als gegen Menschen zu kämpfen (auch wenn er natürlich auch davor nicht zurückschreckte), da Orks grundsätzlich schlechte Absichten hatten und für gewöhnlich keine Familie hinterließen.
"Es sei," entschied Imrahil. "Du hast dich bei deinem letzten Auftrag bewährt. Aber den Oberbefehl über das Entsatzheer wird Hilgorn führen."
Valion nickte. Auch das hatte er bereits erwartet. "Das wird kein Problem darstellen. Wir kommen wunderbar miteinander aus, stimmt's?" Lässig stupste er Hilgorn an, der ihm einen gereizten Blick zuwarf.
"Ich erwarte, dass ihr beide euer Bestes gebt," fuhr Imrahil fort. "Diese Sache ist von größter Wichtigkeit. Wenn die Verbindung nach Rohan durchtrennt wird, sind wir auf uns allein gestellt. Das können wir nicht zulassen."
"Wir werden es verhindern, mein Fürst," sagte Hilgorn zuversichtlich.
"Dann lasst uns die Planung angehen, meine Herren," schloss Imrahil und winkte die Offiziere herbei, die sich um seinen Tisch versammelten.

Am Ende beschlossen sie, zwei Drittel der in Dol Amroth stationierten Soldaten unter Hilgorns Kommando am folgenden Tag marschbereit zu machen und auf der Straße von Dol Amroth über Edhellond und Calembel auf schnellstem Wege ins Schwarzgrundtal zu entsenden, wo die Männer von Morthond unter Duinhir zu ihnen stoßen würden. Kundschafter wurden in die südlichen Regionen des Gebirges entsandt, um herauszufinden, wo die feindliche Streitmacht entlang ziehen würde. Im Tal von Erech plante Hilgorn, sich ihnen entgegenzustellen. Dabei zählten sie auch auf die eventuelle Unterstützung der Rohirrim von Dunharg, denn diese Bedrohung betraf Rohan genauso wie Gondor.
"Ich denke, es weiß nun jeder von euch, was er zu tun hat," sagte Imrahil am Ende der mehrstündigen Besprechung. Inzwischen war es Nacht geworden, und der Vollmond spiegelte sich auf der Wasseroberfläche der Bucht von Belfalas, die durch die Fenster zu sehen war. "Seht zu, dass bis morgen alles erledigt ist. Ich erwarte, dass unsere Streitmacht morgen rechtzeitig aufbricht!"
Die Offiziere bestätigten den Befehl und die Versammlung löste sich auf. Valion schlug Hilgorn freundschaftlich auf die Schulter und meinte: "Wir beide werden das schon hinbekommen, keine Sorge."
"Sehe ich etwa besorgt aus?" gab Hilgorn etwas gereizt zurück.
"Ein wenig," antwortete Valion. "Vielleicht tut dir eine Nacht bei deiner Geliebten gut," schlug er zwinkernd vor.
Hilgorn starrte ihn einen Augenblick wütend an, ging dann jedoch wortlos davon. "Sag ihr einen Gruß von mir!" rief Valion ihm nach, ehe der General um eine Ecke verschwand.

Valirë wartete in seinen Gemächern auf ihn. "Und, wie ist es gelaufen?" fragte seine Schwester. "Es wird bald so viele Orks zum Erschlagen geben wie lange nicht mehr," erzählte Valion mit einem Anflug von Begeisterung. "Sie wagen tatsächlich einen Angriff. Das wird ein Spaß, liebste Schwester."
"Zu schade, dass ich nicht mitkommen kann," klagte Valirë. "Erchirion bleibt hier, und das bedeutet, dass mein Platz an seiner Seite ist."
"Na sowas," wunderte sich Valion. "Du hast dich doch noch nie von solch trivialen Dingen wie Vorschriften aufhalten lassen."
"Valion, ich bin jetzt verlobt. Und du übrigens auch, falls du es vergessen hast. Die Dinge haben sich geändert. Wir können nicht einfach jede Regel brechen, so wie früher. Ich muss Imrahil davon überzeugen, dass ich ihm eine gute Tochter sein werde. Und dafür muss ich Gehorsam zeigen... zumindest für's Erste."
"Und wie läuft das bisher so?" fragte Valion. "Spielst du jetzt also die brave Ehefrau für Erchirion? Ich habe eigentlich nicht den Eindruck, dass du tagaus, tagein im stillen Kämmerchen sitzt und wartest, bis dein Gatte dich mit seiner Zeit beehrt."
"Unsinn. Ich mache was ich will - aber ich bleibe im Rahmen des Möglichen. Und heute sieht dieser Rahmen so aus, dass ich die Stadt nicht verlassen kann, wenn es Erchirion nicht ebenfalls tut. Weißt du denn, was das im Umkehrschluss für dich bedeutet?"
"Du meinst, ich sollte Lóminîth mitnehmen? Was könnte sie denn bei einem Feldzug wollen?"
"Wenn sie es wünscht, wirst du es ihr wohl kaum abschlagen können," meinte Valirë achselzuckend.
"Zum Glück für dich wünscht sie es nicht," sagte Lóminîth und trat aus den Schatten hervor. "Ich bitte dich, Valirë. Ich begebe mich doch nicht grundlos in eine solche Gefahr. Valion soll sich austoben, etwas Spaß haben... und dann möglichst in einem Stück wieder heimkehren."
"Du hast uns belauscht?" stellte Valion erstaunt fest.
"Ihr habt so laut geredet dass es beinahe unmöglich war, nichts davon mitzubekommen," gab Lóminîth zurück. "Dies ist nicht nur dein Gemach, schon vergessen?
"Tja, sieht so aus als wäre das dann wohl mein Stichwort," verabschiedete sich Valirë und verschwand.
"Du ziehst also wieder in den Krieg," stellte Lóminîth fest. "Wann geht es los?"
"Morgen schon," antwortete Valion.
"Gut - ich hatte schon befürchtet, du wärest heute schon weg."
"Nein... heute bleibe ich hier. Heute hast du mich nur für dich."
"Auf diese Antwort hatte ich gehofft," sagte sie leise, während sie sich an ihn schmiegte.


Valion, Lóminth und Valirë zum Platz der tausend Schwanenfedern

Eandril:
Hilgorn aus der Stadt

Hilgorn betrat mit langen Schritten den Solar des Fürsten, wo sich bereits eine kleine Gruppe Männer versammelt hatte. Am Kopfende des großen Tisches stand Fürst Imrahil, flankiert von seinen älteren Söhnen. Außerdem anwesend waren Amrodin, der Herr der Spione in Edrahils Abwesenheit, Beretar, der Kommandant der Stadtwache, und ein staubiger, abgerissener Mann, der vermutlich ein Bote war.
Balvorn, der im Flur von Faniels Haus gewartet hatte als Hilgorn von seinem Gespräch mit Belegorn heruntergekommen war, hatte ihm nichts näheres berichten können - nur, dass Nachrichten aus dem Osten eingetroffen waren, und dass seine Anwesenheit von Nöten war. Dennoch, allein daraus und aus der Tatsache, dass sich alle versammelten, die in Dol Amroth Rang und Namen hatten, konnte Hilgorn sich einiges zusammenreimen, und nichts davon gefiel ihm.
Als Hilgorn eintrat hob Imrahil den Kopf und nickte ihm zur Begrüßung zu. Die Miene des Fürsten war ernst, geradezu besorgt - offenbar waren die Nachrichten alles andere als gut. Kurz nach Hilgorn betrat Ladion leise den Raum, und Imrahil sagte: "Wir sind also beinahe vollständig." Dann wandte er sich an Elphir: "Was ist mit Amros und Valion? Habt ihr sie bereits auftreiben können?"
"Amros scheint einer Einladung von Herrin Lóminîth gefolgt zu sein", erwiderte der Prinz. "Ich habe bereits einen Boten zu ihrem Haus entsandt, er sollte in Kürze eintreffen."
"Herrin Valirë war am Tor", ergänzte Beretar. "Sie wollte ihrem Bruder die Nachricht selbst überbringen, wie ihr sicherlich verstehen werdet."
Hilgorn hob eine Augenbraue. Eine Nachricht, die die Zwillinge vom Ethir direkt betraf konnte nichts gutes für ihre ohnehin schon schwache Stellung östlich des Gilrain bedeuten. Im selben Augenblick betrat Amros von Edhellond mit besorgter Miene den Raum. "Also gut", meinte Imrahil. "Wenn Valion bereits Bescheid weiß, gibt es keinen Grund noch länger zu warten. Helvon, berichtet." Die letzten Worte waren an den Boten gerichtet, der nun mit einer Stimme, der man die Erschöpfung deutlich anhörte, zu berichten begann: "Vor vier Tagen erschien plötzlich einer der Schatten aus Mordor über Belegarth, und begann ununterbrochen über der Festung zu kreisen - meistens so hoch, dass wir ihn nicht sehen konnten, doch seine Anwesenheit war immer spürbar. Und noch am selben Tag erschien das Heer aus Mordor, das aus Pelargir den Anduin hinunter marschiert sein muss. Sie... hielten sich nicht lange damit auf, uns zu belagern, denn wir waren wenige und die Festung in keinem guten Zustand."
Helvon schluckte heftig, denn es schien ihm Schmerzen zu bereiten, darüber zu sprechen. Hilgorn und die übrigen warteten gespannt. Schließlich sprach der Bote leise und stockend weiter: "Sie griffen in der Nacht an, und zwei der Nazgûl waren bei ihnen. Wir kämpften so gut wir konnten, doch wir hatten keine Chance. Als alles verloren war, befahl Kommandant Amrad mir, mich zu verstecken, zu fliehen und die Nachricht hierher zu bringen. Ich weigerte mich zuerst, doch... er ließ mir keine andere Wahl."
"Es war gut getan", sagte Imrahil äußerlich ruhig, doch jeder konnte sehen, wie ihn die Neuigkeiten beschäftigten. "Je früher wir davon erfahren, desto besser."
"Der Ethir ist also erneut gefallen", stellte Amros fest, und Helvon nickte. "Ja, Herr. Und dieses Mal werden wir ihn nicht erneut halten können, denn... nachdem ich der Schlacht entkommen war, konnte ich mich am Westufer des Flusses verstecken und beobachtete, wie Mordors Truppen das wenige, was von Belegarth noch übrig war, einzureißen begannen. Ich fürchte, dort steht kein Stein mehr auf dem anderen."
"Wir haben im Augenblick ohnehin nicht die Kraft, einen Gegenschlag dorthin zu führen", meinte Hilgorn.
"Aber können wir es uns leisten, diese Stellung zu verlieren?", wandte Erchirion ein. "Immerhin stellte der Ethir unsere Verbindung zu den Waldläufern in Ithilien dar, und versperrte sämtlichen Schiffen, die der Feind auf dem Anduin haben mag, den Weg in die Bucht von Tolfalas."
"Das ist richtig", erwiderte Hilgorn. "Und dennoch, mit welchen Männern wollen wir einen Gegenschlag führen, der kräftig genug ist, den Feind vom Ethir zu vertreiben? Und wie wollen wir, selbst wenn wir das könnten, danach sicherstellen, dass Mordor uns nicht erneut zurücktreibt?"
"Arachír Hilgorn hat Recht", sagte Imrahil. "Ich werde..." Weiter kam er nicht, denn die Tür wurde mit Schwung aufgestoßen, und Valion stürmte in den Raum.

Der Schock über die Nachricht vom erneuten Fall seiner Heimat stand Valion ins Gesicht geschrieben, gepaart mit einer verzweifelten Entschlossenheit. "Was werden wir unternehmen?" Hilgorn wechselte einen betretenen Blick mit Elphir, und auch die anderen Männer wandten verlegen den Blick ab.
"Wir werden weitere Männer nach Linhir und zum Gilrain schicken", sagte Hilgorn schließlich. Er war sich der Tatsache, dass Valion eigentlich etwas anderes hören wollte, vollauf bewusst. "Das könnte nur der Auftakt eines neuerlichen Versuchs sein, Gondor vollends zu unterwerfen."
"Ich werde die Schiffspatrouillen zwischen Linhir, Tolfalas und der Harnen-Mündung verdoppeln", ergänzte Amros. "Auf diesem Weg werden sie uns nicht überraschen."
"Außerdem sollten wir die übrigen Fürsten warnen", schlug Elphir vor. "Falls Mordor tatsächlich versucht, den Gilrain zu überqueren, müssen sie bereit sein uns im Notfall zu Hilfe zu kommen."
"Jajaja", warf Valion ungeduldig ein. "Und wann erobern wir Belegarth zurück und treiben Mordors Kreaturen zurück in das Loch, aus dem sie gekrochen sind?"
Eine bleierne Stille legte sich über den Raum, bis Hilgorn feststellte, dass alle ihn erwartungsvoll anblickten. Bis auf den Fürsten selbst hatte er in dieser Angelegenheit das meiste zu sagen, und Imrahil schien tief in eigene Gedanken versunken zu sein. In diesem Moment bereute Hilgorn zum ersten Mal, das Amt angenommen zu haben.
"Wir werden nicht versuchen, den Ethir erneut zurück zu erobern", sagte er langsam. "Ihr müsst verstehen, dass..."
Valion schnitt ihm ohne Umschweife das Wort ab. "Ich verstehe nur, dass meine Heimat zum zweiten Mal Mordor in die Hände gefallen ist. Tapfere Männer haben dafür geblutet und sind dafür gestorben, dass es in unserer Hand ist, und ihr wollt einfach nichts tun?" Sein Tonfall war ungläubig, und die Augen weit geöffnet. Im Augenblick war Valion vermutlich nicht in der Lage, eine vernünftige Entscheidung zu treffen - noch weniger als sonst - und Hilgorn konnte ihn verstehen. Oder zumindest glaubte er das.
"Wir können nichts tun", versuchte Hilgorn zu erklären. "Ich verstehe, wie ihr euch fühlt, aber wenn wir jetzt zum Ethir vorrücken, wird Mordor uns vermutlich schnell zurückschlagen, und das können wir uns nicht leisten. Und selbst wenn wir siegen sollten, wie sollen wir eine Ruine gegen die ganze Macht von Mordor halten?"
"Eine Ruine", sagte Valion langsam. "Meine Heimat ist eine Ruine - ganz im Gegensatz zu eurer, nicht wahr? Eure Heimat hat dank eures verräterischen Bruders - den ich übrigens für euch getötet und euch nebenbei das Leben gerettet habe - vermutlich gar nicht mitbekommen, das Krieg herrscht. Wie könnt ihr da verstehen, wie ich mich fühle?" Hilgorn zuckte zusammen, denn Valion hatte genau seine eigenen Zweifel ausgesprochen.
"Valion, Hilgorn hat...", versuchte Elphir dazwischen zu gehen, doch Valion beachtete ihn nicht. "Ich lege eigentlich keinen großen Wert darauf, aber ihr solltet mir dankbar sein. Sieht so eure Dankbarkeit aus? Ich finde, es wirkt eher wie Feigheit."
"GENUG!", donnerte Imrahil. "Valion, wir alle fühlen mit dir, doch Hilgorn hat Recht. Ich werde keinen einzigen Mann für ein Vorhaben opfern, dass auf lange Sicht von vornherein scheitern muss. Vielleicht eines Tages, doch nicht jetzt."
Valion schnaubte verächtlich. "Schön. Ich habe es einmal alleine geschafft, ich werde es auch wieder schaffen."
"Das wirst du nicht", gab Imrahil hart zurück, und seine Stimme klang so streng, wie Hilgorn es selten erlebt hatte. Er begriff, dass der Fürst seine gesamte Autorität nutzte, um Valion von seinem selbstmörderischen Vorhaben abzuhalten. "Kein Mann von Dol Amroth wird dich begleiten, und auch sonst niemand. Bleib, und du kannst etwas bewirken und eines Tages deine Heimat wieder in Besitz nehmen. Aber geh, und du wirst in Dol Amroth keinen Platz mehr haben, ganz egal wie viel Erfolg du hast. Hast du verstanden?"
Valions Antwort bestand darin, sich auf der Stelle umzudrehen und aus dem Raum zu stürmen, wobei er die Tür mit mehr Schwung als nötig ins Schloss warf. Imrahil ließ sich mit einem Seufzer auf seinen Stuhl sinken und sagte dann: "Amrodin, lasst ihn im Auge behalten und berichtet mir, wenn er etwas unternimmt. Und Erchirion, sprich mit Valirë. Versuch auf sie einzuwirken, vielleicht kann sie verhindern, dass ihr Bruder eine Dummheit macht."
Amrodin verneigte sich knapp und Erchirion nickte, bevor beide Männer den Raum verließen.
"Hilgorn, Amros - ihr wisst, was zu tun ist", fuhr der Fürst fort. "Sichert unsere östliche Grenze, und sorgt dafür, dass kein Ork oder sonst eine Kreatur Mordors den Gilrain überquert. Beretar, sorgt dafür dass Helvon ein Quartier und etwas zu essen bekommt, und besprecht euch mit Hilgorn, wie viele Männer der Stadtwache ihr zur Not nach Linhir entsenden könnt."
Alle vier verneigten sich, und verließen nacheinander den Raum.

Draußen sagte Hilgorn zu Beretar: "Ich werde morgen früh zu euch kommen." Der Kommandant der Stadtwache nickte, und ging mit dem Boten Helvon davon. Amros hatte am oberen Ende der Treppe auf Hilgorn gewartet und sagte: "Ich sollte euch von eurem Bruder grüßen - er erwartet, dass ihr euch demnächst mit ihm trefft und ihm alles über die Schlacht in Morthond berichtet."
Hilgorn verspürte einen kleinen Stich der Verlegenheit, denn er hatte Aldar vollkommen vergessen - aber natürlich verdiente Aldar zu erfahren, was geschehen war, denn Imradon war auch sein Bruder gewesen. Er nickte nur zur Antwort, und meinte: "Ich hoffe, Valion beruhigt sich wieder. Ich habe ihn in Morthond kämpfen sehen, und es wäre nicht gut für uns, ihn zu verlieren."
"Es wird schon gut gehen", erwiderte Amros. "Zumindest wenn Prinz Erchirion es schafft, seine Verlobte zur Vernunft zu bringen - wenn sie es einsieht, wird Valion keine andere Wahl haben, denn Valirë vom Ethir ist keine Frau, der man so leicht etwas abschlägt. Nicht einmal ihr Bruder."

Valion zu den südlichen Mauern

Eandril:
Nachdem Cynewulf gegangen war, machte Hilgorn sich zunächst auf den Weg zu Hauptmann Beretar. Der Hauptmann hatte seit seiner Beförderung Hilgorns altes Quartier in der Nähe der Stadtmauern bezogen, und so brauchte Hilgorn nicht lange, um den Weg zu finden. Ihre Besprechung dauerte nicht lange, denn bereits während ihrer gemeinsamen Zeit in der Stadtwache waren sie gut miteinander ausgekommen. Beretar war ein ernsthafter und gewissenhafter Mann, und Hilgorn war froh, dass er das Kommando über die Stadtwache übernommen hatte.
Sie einigten sich darauf, einige erfahrene Männer von der Stadtwache abzuziehen und nach Linhir zu entsenden um die dortige Besatzung zu verstärken. Diese Männer hatten viel Erfahrung darin eine Stadt zu verteidigen - selbst wenn die Verteidigungsanlagen in Linhir noch immer in schlechtem Zustand waren - und konnten sich als äußerst wertvoll erweisen. Die Lücken in der Stadtwache würden zur Hälfte durch Verwundete aus der Schlacht von Morthond, die damit die Zeit hatten, sich zu erholen, und zur anderen Hälfte durch neue Rekruten aus dem westlichen Gondor ersetzt werden.
Es war keine ideale Lösung, dachte Hilgorn sich, doch sie konnten schließlich keine weiteren Männer aus der Luft herbeizaubern.

Nachdem er sich von Beretar verabschiedet hatte, kehrte er in den Palast zurück, um Amrodin aufzusuchen. Als er das Quartier des zwischenzeitlichen Herrn der Spione betrat, kam ihm eine äußerst hübsche junge Frau entgegen, die nicht allzu elegant gekleidet war und Hilgorn in der Umgebung des Palastes daher sofort auffiel.
Er schloss die schwere hölzerne Tür hinter sich, und meinte an Amrodin, der mit finsterer Miene hinter seinem - oder eher Edrahils - Schreibtisch saß: "Vergnügen im Dienst? Das hatte ich bei euch nicht erwartet." Hilgorn sagte es scherzhaft, konnte allerdings einen leichten Hauch der Missbilligung nicht aus seiner Stimme heraushalten.
"Ihr solltet mich eigentlich genug kennen, um zu wissen dass das nicht der Fall ist", erwiderte Amrodin verstimmt. "Das war etwas... berufliches."
Hilgorn nickte nur knapp, und ließ sich Amrodin gegenüber in dem hölzernen Sessel nieder ohne weiter nachzufragen. "Also." Der Spion stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte die Fingerspitzen aneinander - eine sorgfältig einstudierte Geste der vorsichtigen Aufmerksamkeit, die Hilgorn auch bei Edrahil hin und wieder beobachtet hatte. "Was führt euch zu mir, Arachír?"
Hilgorn zog unauffällig seinen blausilbernen Mantel auf dem Stuhl zurecht, bevor er antwortete: "Ich nehme an, dass ihr die persönlichen Dokumente meines Bruders aus Tíncar hier habt, nicht wahr?" Imrahil selbst hatte verlangt, dass diese Dokumente Imradons an Amrodin gehen sollten, wie es bei Verrätern üblicherweise gehandhabt wurde, und Hilgorn hatte nichts dagegen gehabt.
"Das ist richtig." Amrodin hob den Kopf und blickte ihn aus harten, hellblauen Augen an. "Sagt mir nicht, dass ihr plötzlich nostalgisch geworden seid und sie haben wollt."
Hilgorn schnaubte verächtlich. "Ganz sicher nicht. Aber ich habe mit dem Mann aus Rohan gesprochen, der sich uns in Morthond angeschlossen hat - Cynewulf. Vielleicht habt ihr bereits von ihm gehört."
Amrodin hob eine Augenbraue. "Natürlich habe ich das - er hat ein Zimmer im Gasthaus Zur goldenen Schwanenfeder hier in der Stadt gemietet. Es ist meine Aufgabe, solche Dinge zu wissen, Hilgorn."
Und trotzdem konntest du Lothíriels Entführung nicht verhindern, dachte Hilgorn bei sich, doch er sprach es nicht aus. "Nun, dieser Cynewulf möchte jedenfalls über die Grenze am Gilrain in die besetzten Gebiete gelangen, um Verwandte von sich zu suchen. Er hat mich um Hilfe dazu gebeten, und bietet uns dafür an, Informationen über die Pläne des Feindes zu beschaffen."
"Das klingt überaus interessant", gab Amrodin zurück. "Können wir ihm trauen, was meint ihr?"
"Ich habe keine Ahnung", meinte Hilgorn, und zuckte mit den Schultern. "Doch er kam aus Rohan hierher und weiß nicht sonderlich viel über unsere Lage hier - viele bedeutende Informationen wird er Mordor nicht liefern können, vor allem keine, die Imradon ihnen noch nicht geben konnte."
"Da habt ihr vermutlich Recht - vielleicht ist es in dieser Angelegenheit tatsächlich zweitrangig, ob wir diesem Rohír trauen können oder nicht." Amrodin kratzte sich nachdenklich am Kinn. "Aus eurer Frage am Anfang schließe ich, dass ihr gedenkt, die Kontakte eures Bruders in Mordors Reihen zu nutzen, um diesen Cynewulf über die Grenze zu schmuggeln - das könnte allerdings riskant sein, schließlich dürften sie bereits erfahren haben, dass wir über die Bescheid wissen. Außerdem..." Amrodin unterbrach sich, und warf Hilgorn einen scharfen Blick zu. "Ich hoffe, ich kann mich darauf verlassen, dass diese Information diesen Raum nicht verlassen wird?"
Hilgorn nickte langsam, innerlich angespannt. Es musste etwas wichtiges sein, wenn Amrodin sich seines Schweigens extra versicherte. "Ihr habt mein Wort."
"Also schön. Nachdem ihr euren Bruder auf so spektakuläre enttarnt habt, sind einige Leute über Nacht verschwunden, und seither nicht wieder in Gondor aufgetaucht - und auf alle finden sich Hinweise in den Dokumenten, die wir in Tíncar in einem verborgenen Fach seiner Truhe gefunden haben."
"Davon habt ihr mir nichts erzählt", warf Hilgorn ein, und Amrodin erwiderte kühl: "Es war ja auch bislang nicht nötig. Es sind allerdings weniger Personen verschwunden, als dort als Kontaktleute verzeichnet waren - um genau zu sein zwei weniger. Einen haben wir vor einer Woche ermordet in Edhellond aufgefunden, doch der andere ist daher umso interessanter. Es handelt sich um einen Jäger in der Nähe von Ethring, der offenbar dafür zuständig war oder ist, Botschaften und Informationen über die Grenze zu schmuggeln."
"Und ihr habt ihn bislang nicht behelligt?", fragte Hilgorn nach. Amrodin schüttelte langsam den Kopf. "Natürlich nicht. Ein Spion, den man nicht kennt, ist gefährlich. Ein Spion den man kennt natürlich ebenfalls, aber viel weniger... und er kann außerdem nützlich sein, wie in diesem Fall."
Der Herr der Spione atmete tief durch, als würde er eine Entscheidung treffen. "Ich werde diese Information nutzen, um euren Cynewulf über die Grenze zu bringen - von da an wird er auf sich gestellt sein. Und da ich damit mein Wissen in Gefahr bringe - wenn Cynewulf sich verrät wird Mordor wissen, dass wir ihren Spion in Ethring kennen - werde ich das nur unter einer Bedingung tun."
Hilgorn seufzte, denn er hatte es beinahe geahnt. Selbst wenn es Gondor nützte was sie taten, ein Mann wie Amrodin hatte immer mehr als einen Plan in der Hinterhand. Bei Edrahil war es noch schlimmer gewesen, doch auch Amrodin war für Hilgorn schwer genug zu ertragen. "Was braucht ihr von mir?"
"Nun, es hat mit der jungen Dame zu tun, deren Berufsfeld ihr vorhin so katastrophal falsch eingeschätzt habt...", meinte Amrodin. "Tatsächlich arbeitet sie für mich. Ihr habt doch sicher davon gehört, dass Herrin Lóminîth aus Umbar seit ihrer Ankunft hier sehr umtriebig gewesen ist?"
Hilgorn schüttelte verwundert den Kopf. "Nein, davon habe ich tatsächlich noch nichts gehört. Verdächtig ihr sie etwa, eine Verräterin zu sein?"
"Vielmehr keine Verräterin", entgegnete Amrodin. "Vergesst nicht, woher sie kommt. Aber um eure Frage zu beantworten: Für den Augenblick habe ich keinen konkreten Verdacht. Doch sie schart Mädchen zweifelhaften Rufs und ebenso zweifelhafter Herkunft um sich, macht sich damit bei vielen unserer edelmütigen Adligen und Bürger sehr beliebt und baut sich zugleich eine Schar munter plappernder Vögelchen auf, die ihr alles zutragen können, was in der Stadt geschieht."
"Ah. Ein solches Verhalten muss natürlich eure Aufmerksamkeit wecken", wurde Hilgorn klar. "Was könnte schließlich dahinterstecken?"
"Freut mich, dass ihr das erkennt." Amrodin beugte sich ein wenig vor, als er weiter sprach. "Ich habe bereits zwei Mal versucht, Informantinnen bei ihr einzuschleusen, doch beide Male erfolglos - dieses Mal hat sie sogar die Frechheit besessen, mich über das Mädchen grüßen zu lassen." Der Herr der Spione sprach leise und beherrscht, doch Hilgorn sah den Zorn, der verhalten in seinen hellen Augen loderte. Offenbar war Valions Verlobte dabei, sich einen sehr gefährlichen Feind zu machen und unwillkürlich fragte Hilgorn sich, wer von den beiden wohl dem anderen überlegen war.
"Ich habe mit der fraglichen Dame noch kein Wort gewechselt", sagte er schließlich. "Also glaube ich nicht, dass ich..." Amrodin schnitt ihm mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort ab. "Mit ihr sollt ihr auch gar nicht sprechen - sondern mit Valion. Findet heraus, ob und was er über die Machenschaften seiner Verlobten weiß."
Hilgorn stieß frustriert den Atem aus. "Valion und ich sind im Augenblick nicht unbedingt die besten Freunde. Vielleicht solltet ihr selbst mit ihm sprechen, Misstrauen scheint nicht in seiner Natur zu liegen. Also sollte er euch alles ohne Schwierigkeiten erzählen."
"Valion würde mir keine Probleme bereiten, dessen bin ich sicher", gab Amrodin zurück. "Nur würde Lóminîth sicherlich davon erfahren und zu verhindern wissen, dass ich etwas wichtiges erfahre. Bei euch könnte das etwas anderes sein."
"Ich..." Hilgorn schüttelte den Kopf. "Schön. Ich werde es versuchen, aber ich kann euch nichts versprechen."
"Ganz genauso kann ich euch nicht versprechen, dass es mir gelingen wird euren rohirrischen Freund heil über die Grenze zu bringen", antwortete Amrodin, während Hilgorn sich erhob. "Aber das ist auch nicht wichtig, solange wir beide unser bestes tun - die Abmachung ist, es zu versuchen, nicht ob wir Erfolg haben oder scheitern."

Von Amrodins Arbeitszimmer führte Hilgorns Weg ihn durch die Flure des Palastes bis zum Solar des Fürsten. Auf sein leises Klopfen antwortete Imrahil mit einem "Herein", und als Hilgorn eintrat, sah er den Fürsten mit dem Rücken zur Tür vor den großen Fenstern stehen, die auf die Bucht hinausblickten.
Der Fürst wandte sich zu ihm um, und sagte: "Ah, Hilgorn. Gibt es Nachrichten aus dem Osten?" Hilgorn schüttelte den Kopf, nachdem er sich verneigt hatte. "Nein, Herr. Ich komme in einer persönlichen Angelegenheit - mit einer Bitte."
Imrahil zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. "Und was könnte das für eine Bitte sein?"
"Nun... nach Imradons Tod ist Faniel nicht länger verheiratet, und da sie keine lebenden männlichen Verwandten hat, seid ihr strenggenommen nun ihr Vormund, und..."
Der verwirrte Ausdruck auf Imrahils Gesicht war einem Lächeln gewichen. "Darum geht es also. Nun denn, tragt eure Bitte vor."
"Also..." Hilgorn spürte, wie sich ein Schweißtropfen auf seiner Schläfe bildete. Es war einige Zeit her, dass er so nervös gewesen war, obwohl er es für wahrscheinlich hielt, dass Imrahil seine Bitte nicht ablehnen würde. "Ich bitte euch um die Erlaubnis, Faniel heiraten zu dürfen, denn... ich liebe sie, und sie mich."
Imrahils lächeln war noch breiter geworden, als er antwortete: "Diese Bitte werde ich euch auf keinen Fall abschlagen - wenn Faniel denn ebenfalls gewillt ist, euch zu heiraten."
"Das ist sie allerdings." Hilgorn spürte seinen Mundwinkel zucken. "Um genau zu sein, ist sie mir mit der Frage zuvorgekommen."
"In diesem Fall dürft ihr eure Verlobung verkünden. Allerdings solltet ihr bis zur Hochzeit wenigstens eine angemessene Trauerzeit abwarten... selbst wenn ihr eurem Bruder nur wenig nachtrauert", fügte der Fürst mit gespielter Strenge und kaum merklichen Augenzwinkern hinzu. "Um genau zu sein... als General Dol Amroths und Gondors verlangt es euer Rang, dass ihr an einem angemessenen Ort heiratet - hier im Palast. Hier sollte auch genug Platz für die Gäste sein."
"Gäste... im Palast", erwiderte Hilgorn schwach. Abgesehen von der Tatsache, Faniel zu heiraten, hatte er sich noch über nichts weiter Gedanken gemacht. Und die Aussicht auf eine große Feier im Palast erschreckte ihn ein wenig doch er ahnte, dass es Faniel gefallen würde. Schließlich hatte sie ihm gestanden, dass sie das Hofleben in Dol Amroth mehr genoss als erwartet.
"Natürlich", meinte Imrahil mit einem beinahe schalkhaften Ausdruck, der sich allerdings auf seine Augen beschränkte. "Ich werde meine Tochter und meine Schwiegertochter beauftragen, die Feier vorzubereiten - in etwa sechs Wochen, würde ich sagen."
"Das... klingt gut", meinte Hilgorn, der sich noch immer etwas überrumpelt fühlte - was den Fürsten ausnehmend gut zu amüsieren schien. Allmählich bekam Hilgorn das Gefühl, dass Imrahils anfängliche Verwirrung nur gespielt gewesen war, und der Fürst seit der Nachricht von Imradons Tod mit diesem Gespräch gerechnet hatte. Die Vermutung war nicht einmal allzu abwegig, denn auch Elphir zeigte hin und wieder einen etwas bizarren Sinn für Humor.
"Ich danke euch, mein Fürst." Imrahil winkte großmütig ab. "Nach euren Taten im Krieg ist es das wenigste was ich tun kann. Und es wird uns allen Hoffnung geben, in diesen Tagen ein solches Zeichen der Liebe zu beobachten..."

Hilgorn verließ den Palast in Eile in Richtung von Faniels Haus, nur noch von einem einzigen Gedanken beherrscht. Cynewulf, Amrodin, Valion, Lóminîth und der Krieg waren für den Moment vollkommen vergessen.

Hilgorn in die Stadt

Fine:
Valion aus der Stadt


Am folgenden Morgen erwachte Valion davon, dass Lóminîth ihn schüttelte und ihm einen feuchten Lappen ins Gesicht drückte.
"Du wirst noch zu spät zum Fürsten kommen," mahnte sie und erinnerte Valion mit Tonfall und Auftreten schmerzhaft an seine Mutter. Er gab ein resignierendes Grunzen von sich und schwang sich aus dem Bett. Rasch streifte er sich einfache Kleidung über und schlüpfte in seine Stiefel. Lóminîth stand kopfschüttelnd daneben. "So willst du in den Palast gehen? Du siehst aus wie ein Gewöhnlicher! Das ist deines Standes nicht angemessen."
"Mir gefällt es," entgegnete er. "Die Sachen stammen vom Ethir und sind bequem und luftig. Außerdem kennt Imrahil mich gut genug um sich nicht darum zu scheren, ob ich wie ein Adeliger aussehe oder nicht."
Lóminîth seufzte lautstark. "Also gut. Dir ist aber klar, dass meine Mädchen bereits Gerede über dich aufgeschnappt haben? Man wundert sich über die Zwillinge von Belegarth, und das schon seit geraumer Zeit."
"Das ist mir egal, und Valirë gleich zweimal," meinte Valion gleichgültig.
"Was bin ich froh, dass wir nicht mehr in Umbar sind," sagte seine Verlobte. "Dort hätte man dir dieses Verhalten niemals durchgehen lassen."
"Wir sehen uns später, Lóminîth."

Auf dem Platz vor dem Palast waren an diesem Tag viele Soldaten der Stadtwache versammelt. Offenbar fand eine Art Austausch statt. Neue Rekruten aus den friedlichen Lehen Gondors im Westen traten der Stadtwache bei und ersetzten deren beste Krieger, die nach Linhir an die Front abkommandiert wurden. Valion betrachtete einige Minuten interessiert das Treiben auf dem großen Platz, eher er die breiten Stufen zum Haupttor des Prinzenpalastes hinaufstieg. Da er weder Rüstung noch seinen Wappenrock trug wurde er nicht gleich als Lehnsherr Gondors erkannt und fand sich daher zunächst in einer kleineren Nebenhalle wieder, wo bereits einige andere Bittsteller auf eine Audienz mit dem Fürsten von Dol Amroth und amtierenden Truchsessen Gondors warteten. Eine der dort wartenden Personen fiel Valion sofort ins Auge: es handelte sich um eine dunkelrothaarige Frau, die er auf ein oder zwei Jahre jünger als sich selbst schätzte. Sie trug feste Lederrüstung und einen dunklen Wappenrock mit einer goldenen Sonne darauf und besaß einen kräftigen Körperbau, war aber dennoch sehr ansehnlich. Sie schien im Augenblick nur wenig Geduld aufweisen zu können, denn sie ging unruhig auf und ab und warf immer wieder Blicke in Richtung des Durchgangs, der zur großen Halle Imrahils führte.
"Keine Angst, wir kommen heute alle noch dran," sagte Valion mit einem breiten Grinsen in ihre Richtung. "Wenn du weiter so hektisch durch den Raum streunst, wirst du wohl ganz außer Atem vor den Fürsten treten müssen."
Die Frau blieb stehen und musterte ihn eindringlich. Ihr Blick war forsch und ohne jegliche Eingeschüchtertheit darin. "Und wer bist du, der du dir anmaßt, mir Ratschläge zu geben?"
"Mein Name ist Valion, zu deinen Diensten. Und wie heißt du, gute Frau?"
"Verdandi," sagte sie, doch sie beäugte Valion misstrauisch und blieb etwas auf Abstand. Ihre Hände hingen unruhig an ihren Seiten und Valion erkannte, dass er eine echte Kriegerin vor sich hatte. Diese Körperhaltung hatte er schon öfters gesehen, wenn auch nicht unbedingt bei einer Frau: Voller kraftvoller Anspannung und jederzeit bereit, loszuschlagen. Doch sie war unbewaffnet, und das musste unbehaglich auf sie wirken.
"Deine Hände vermissen den Griff deiner Waffe," stellte er fest. "Was bevorzugst du? Schwert? Axt? Hammer?"
"Meinen Speer," gab sie zurück und ihr Blick streifte Valions Oberkörper. "Ich sehe, du bist ebenfalls ein Krieger. Zweihändig? Ja, das sagen mir die Muskeln an deinen Unterarmen. Du hast deine Waffen ebenfalls am Eingang des Palastes abgeben müssen, nicht wahr?"
"Nun ja," setzte Valion an. Eigentlich hatte er seine Schwerter bei Lóminîth gelassen, doch Verdandi fasste seine Antwort bereits als Bestätigung auf.
"Warst du schon öfter in diesem Palast? Geben die Wachen hier gut Acht auf die Waffen, die man ihnen anvertrauen muss? Ich kann für nichts garantieren, wenn sie meinen Speer oder meinen Schild beschädigen..."
Valion erkannte, dass mit Verdandi wohl kaum zu spaßen war und verspürte kein sonderliches Bedürfnis, sie im Zorn zu erleben. Glücklicherweise kannte er die meisten Palastwachen und war mit ihrem Kommandanten befreundet. "Auf die Wachen ist Verlass, das sind gute Männer," antwortete er daher wahrheitsgemäß. "Keine Sorge, meine Dame - da geht nichts verloren."
"Hmpf," machte Verdandi, wirkte aber inzwischen etwas interessierter. Und tatsächlich setzte sie sich neben Valion auf eine der steinernen Bänke, die in der Wartehalle zur Verfügung standen und sie tauschten sich über einige eher belanglose Dinge aus. Sie sprachen darüber, welche Vorteile die Reichweite eines Speeres einem Krieger im Kampf bot und kamen darin überein, dass Beweglichkeit genauso wichtig wie Rüstung war. Valion erzählte Verdandi von seinem in jahrenlangen Übungen einstudierten Kampfstil mit zwei Schwertern, der sie tatsächlich ein klein wenig zu beeindrucken schien - oder ihm bei Verdandi zumindest etwas Respekt verschaffte. Sie hingegen zog es vor, mit Speer und Schild zu kämpfen, auch wenn sie nach Valions Einschätzung eher intuitiv zu handeln schien und gerade bei den feineren Techniken durchaus noch Steigerungspotenzial besaß.

Nachdem sie sich ungefähr eine halbe Stunde angeregt über das Thema des Kampfes unterhalten hatten trat eine Gesprächspause ein. Valion wurde es rasch langweilig, darauf zu warten, von den Palastwachen aufgerufen zu werden. Eigentlich hatte er von Anfang an vorgehabt, seinen Status dazu zu nutzen, ohne Wartezeit mit Imrahil zu sprechen, doch die Bekanntschaft, die er mit Verdandi gemacht hatte, hatte ihn zunächst davon abgehalten. Jetzt allerdings trat er an eine der an der Eingangstür postierten Wachen heran und flüsterte dem Mann leise etwas ins Ohr.
"Komm, Verdandi," sagte er als er in die Wartehalle zurückkehrte. "Wir sind dran. Der Fürst hat jetzt Zeit für uns beide."
Verdandi machte ein zu gleichen Teilen misstrauisches und verwundertes Gesicht, erhob sich aber und folgte Valion durch einen breiten Gang zur großen Halle Imrahils.

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