Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Dol Amroth

Der Palast des Fürsten

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Fine:
Valion hatte eine anstrengende Nacht hinter sich. Er hatte nur wenige Stunden schlafen können, da Lóminîth ihn noch bis spät in die Nacht wach gehalten hatte, um sich ausführlich mit ihm über alles zu sprechen, was seit der Verkündung von Imrahils Urteil und ihrer zeitweiligen Verbannung nach Linhir ergeben hatte. Valion blieb davon aufgrund seiner zunehmenden Müdigkeit nur das Wichtigste im Kopf: Seine Verlobte war froh, wieder in Dol Amroth zu sein und würde versuchen, in den kommenden Wochen einen Platz unter den Hofdamen des Fürsten zu ergattern. Und der dafür wichtigste Schritt würde es sein, ihre Verlobung mit Valion in eine offizielle Ehe zu verwandeln.
Damit die Hochzeit in aller Förmlichkeit stattfinden könnte, würden noch viele Vorbereitungen getroffen werden müssen. Valions Mutter würde aus dem fernen Nan Faerrim nach Dol Amroth geholt werden müssen. Und nicht nur das: Lóminîth bestand darauf, dass auch ihre Seite der Familie zu den Feierlichkeiten eingeladen würde. Und das bedeutete, dass Nachrichten nach Tol Thelyn gesandt werden müssten. Valion fragte sich, wie der Herr und die Herrin der Weißen Insel auf die Einladung wohl reagieren würden und ob sie wirklich nach Gondor reisen würden, wo doch der Krieg in Harad noch immer beinahe vor ihrer Haustüre tobte.

Am frühen Morgen kehrte Valion in Imrahils große Halle zurück und unterdrückte ein Gähnen. Der Fürst hatte noch vor Sonnenaufgang einen Boten zu Valion entsandt und ihn zu sich rufen lassen. Valion fragte sich, ob er nun erfahren würde, was Imrahil von der ganzen Angelegenheit rings um Hilgorns Befreiung hielt.
Doch die Antwort auf seine Fragen würden noch ein Weilchen auf sich warten lassen. In Imrahils Solar wartete nicht nur der Fürst selbst auf Valion, sondern auch seine Söhne Elphir und Erchirion sowie seine Tochter Lothíriel - und zu Valions Überraschung war auch seine Zwillingsschwester, Valirë, unter den Anwesenden. Sie grinste Valion frech zu, sagte jedoch nichts.
Imrahil nickte zufrieden als Valion eintrat. Der Fürst hatte auf seinem großen Schreibtisch eine detaillierte Seekarte der Bucht von Belfalas ausgebreitet und deutete gerade auf den Punkt, der für Dol Amroth stand.
"Gut, nun sind wir alle hier," begann Imrahil. "Es gilt, eine Unternehmung zu besprechen, die ich schon einige Zeit im Sinne gehabt habe. Gestern Nacht haben mich nun Nachrichten erreicht, die meine Pläne beschleunigen." Er machte eine Pause und fuhr mit dem Finger von Dol Amroth über die blaue Bucht nach Südwesten hin. "Ich gedenke, einen großen Teil der Flotte gen Umbar zu senden," fuhr der Fürst fort. "Qúsays Heer belagert die Stadt, doch solange sie den Seeweg nicht blockieren können, wird sich Hasael dort lange halten können. Die freien Haradrim verfügen über kaum eigene Kriegsschiffe. Und auch wenn ich nur ungerne in unserer prekären Lage Soldaten nach Harad entsende, bin ich nach gründlicher Überlegung zu der Entscheidung gekommen, dass es das Risiko wert ist. Mordors Seemacht ist mit dem Niedergang der Korsaren schon lange gebrochen. Unsere Flotte wächst mit jedem Tag und wir verfügen über gut ausgebildete Mannschaften sowie frische Rekruten aus den westlichen Lehen. Wenn Umbar fällt, stünde uns die gesamte westliche Küste Harads für den Handel offen, der dringend benötigte Güter und Vorräte zu uns bringen würde. Außerdem lenkt ein Sieg Qúsays vielleicht einen Teil der Aufmerksamkeit Saurons fort von Gondor und es könnte uns gelingen, die Grenze am Gilrain weiter zu stabilisieren. Jetzt, wo das Komplott um Hilgorn aufgedeckt wurde, bin ich der Meinung, zumindest für einen gewissen Zeitraum relativ sicher vor weiteren Intrigen Mordors zu sein. Wir haben die Gelegenheit, Qúsays Bundtreue zu belohnen und sich uns damit seine Dankbarkeit zu verdienen. Es mag sein, dass er sich schon bald in der Lage sieht, uns auch hier im Norden militärisch zu unterstützen, wenn der Krieg in Harad gut verläuft. Deshalb stelle ich den Teil der Flotte, der in den Häfen von Edhellond und Dol Amroth liegt mit sofortiger Wirkung unter das Kommando Erchirions."

Der letztgenannte Name überraschte Valion. Er versuchte, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Je länger Imrahils Rede gedauert hatte, desto mehr hatte Valion befürchtet, dass der Fürst ihn zum Kommandanten der Flotte zu machen und zurück nach Umbar zu entsenden. Er hatte nur wenig Lust, in den warmen Süden zurückzukehren. Stattdessen wollte er nach Rinheryn sehen, und die Grenzen Gondors gegen die Orks von Mordor verteidigen. Und nun, da Imrahil Erchirion mit dem Kommando beauftragt hatte, würde Valion nicht zu einer Rückkehr nach Harad gezwungen sein. Er unterdrückte ein zufriedenes Grinsen.
"Ich werde tun, was getan werden muss," sagte Erchirion und klang gleichzeitig stolz und etwas überrascht. Offenbar hatte er ebenfalls nicht erwartet, eine solche Ehre von seinem Vater gewährt zu bekommen.
"Das wirst du. Da bin ich sicher," meinte Imrahil. "Elphir wird die Verteidigung im Osten übernehmen während Amrothos in Rohan ist, und Lothíriel wird mir hier in Dol Amroth helfen, die Angelegenheiten des Reiches zu regeln. Was dich angeht, meine Tochter..." er wandte sich an Valirë.
"Ich möchte mit Erchirion gehen," wagte Valirë zu fordern. "Edrahil ist dort unten, irgendwo im Umbar. Wenn wir die Stadt einnehmen - und diesmal auch richtig - dann wird er vielleicht endlich nach Hause kommen können. Er verdient endlich etwas Ruhe, wie ich finde."
Imrahil zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe. "Ich wollte dich eigentlich in meiner Nähe behalten, doch die Bitte, bei meinem Sohn zu bleiben, werde ich dir nicht abschlagen. Ihr beiden arbeitet gut zusammen, das habt ihr bereits bewiesen. Doch mir ist auch zu Ohren gekommen, welchen Einfluss du auf einige der Kapitäne hast, Valirë. Du wirst auf dem Flaggschiff bleiben, das Erchirion auswählt, und es wird keine weiteren Eskapaden geben, hast du verstanden?"
Valirë nickte demütig - eine geradezu absurde Verhaltensweise für seine Schwester, wie Valion feststellte. "Ich höre und gehorche." Das werde ich dich nie vergessen lassen, dachte Valion und hatte noch mehr Schwierigkeiten, sein Grinsen zu verbergen. Er wusste, dass er sich den Zorn seiner Schwester einhandelte, wenn er sie für ihre Unterwürfigkeit Imrahil gegenüber aufzog, doch die Verlockung war einfach zu groß.
"Dann ist es beschlossen," entschied Imrahil. "Erchirion und Valirë werden die Flotte noch heute abfahrtbereit machen und so bald es möglich ist gen Umbar in See stechen."

Nach dem Ende der kleinen Beratschlagung des Fürsten bat Imrahil Valion nur, noch einige Zeit in Dol Amroth zu bleiben, bis seine Dienste wieder vonnöten sein würden, und alle Hintergründe der Verschwörung Hilgorns aufgedeckt wären. So verließ Valion den fürstlichen Solar und suchte erneut die Heilkammern des Palastes auf, um nach Rinheryn zu sehen.
Duinhirs Tochter war inzwischen wach, doch sie sprach nur wenig. Etwas schien noch immer zwischen ihr und Valion zu stehen. Als ihm endlich einfiel, was Rinheryn kurz vor dem Aufbruch von Linhir zu ihm gesagt hatte, war bereits eine zu lange Zeit des unangenehmen Schweigens verstrichen. Er brachte es nicht über sich, das Thema in diesem Moment anzusprechen.
"Die Heiler sagen, du kommst wieder in Ordnung," sagte er etwas betreten.
Rinheryn schlug die Augen nieder. "Das ist gut, schätze ich."
"Du wirst es sehen. Bald stehst du wieder auf eigenen Beinen als wäre gar nichts gewesen."
Ein tiefes Seufzen antwortete ihm. Dann suchte Rinya Valions Blick. "Warum hat er das getan?" verlangte sie zu wissen.
"Hilgorn? Ich weiß es nicht. Ich verstehe es selbst nicht ganz."
"Dann solltest du es herausfinden. Sprich mit ihm, wenn du kannst."
Valion nickte. "Das werde ich." Ich komme später wieder, wollte er noch hinzufügen, aber die Worte wollten seinen Mund nicht verlassen.
Etwas ratlos irrte er einige Minuten in den Gängen des Palastes herum, bis er um eine Ecke bog und beinahe mit Prinzessin Lothíriel zusammengestoßen wäre. Fast hätte er sie nicht erkannt, denn sie trug einen festen Wappenrock aus Leder, ein Kettenhemd darunter und hatte sich ein Schwert umgegürtet.
Sie hielt Valions Blick stand und sagte: "Ich glaube es nicht."
"Wovon sprichst du?"
"Dass Hilgorn ein Verräter sein soll. Das Ganze riecht für mich nach übler Hexerei aus Mordor. Und das werde ich auch beweisen." Sie wirkte so entschlossen wie an dem Tag, an dem Valion sie zum ersten Mal als Fürstin von Tolfalas kennengelernt hatte - an dem sie ihn gefangen genommen hatte.
"Wie-" setzte Valion an.
"Komm mit. Wir werden uns selbst ein Bild der Lage machen, und mit Hilgorn sprechen."
Ohne auf eine Antwort zu warten, eilte Lothíriel davon. Valion blieb nichts anderes übrig als ihr zu folgen - hinab in die Verliese, wo man Hilgorn eingesperrt hatte.

Eandril:
Hilgorn erwachte von leisen Stimmen. Er lag auf sauberem Stroh, und um ihn herum war es dunkel, bis auf das flackernde Licht einer Fackel, das durch das in der Tür eingelassene, vergitterte Fenster schien. Offenbar befand er sich in einer Zelle des fürstlichen Kerkers im Palast von Dol Amroth - in seiner Anfangszeit als Gardist hatte er hin und wieder hier unten Wachdienst gehabt. Damals hatte ihm die Dunkelheit der Verliese Unbehagen bereitet. Heute war er froh darüber, hier eingesperrt zu sein, denn hier würde er niemandem schaden können.
"Ich habe Anweisungen, zuerst den Fürsten zu benachrichtigen, wenn der Gefangene aufwacht", stellte eine männliche Stimme entschieden fest. "Und ich darf niemanden zu ihm lassen."
"Für mich würde mein Vater eine Ausnahme machen", erwiderte eine hellere, weibliche Stimme, die Hilgorn entfernt bekannt vorkam. "Glaubst du, wir würden das hier ohne Grund tun, Gwerion?"
"Vermutlich nicht, Herrin", meinte der erste Sprecher zögerlich. "Also schön, ich werde euch einlassen, wenn ihr meint, dass es wichtig ist."
"Kopf hoch", erklang eine dritte Stimme. "Imrahil wird vermutlich zuerst mir den Kopf abreißen. Aber das bin ich gewohnt." Der Sprecher legte eine ironische Schicksalsergebenheit an den Tag, und auch diese Stimme kam Hilgorn bekannt vor. Er hatte das Gefühl, sich sicher sein zu müssen, doch sein Verstand schien in einem dichten Nebel gefangen zu sein.
Die dicke Holztür öffnete sich mit einem Knarren, und eine Frau, die eine Fackel trug, trat vorsichtig in den kleinen Raum dahinter. Eine etwas größere Gestalt folgte ihr, vermutlich einer der beiden Männer, die Hilgorn hatte sprechen hören.
"Ihr seid wach", stellte die Frau fest, als Hilgorn sich ein wenig nach hinten schob, aufrichtete und mit dem Rücken an die kalte Steinwand lehnte. Hilgorn versuchte, sich zu erinnern, wer ihm gegenüber stand, doch sein Gedächtnis ließ ihn im Stich. Stattdessen bemerkte er, wie sich seine rechte Hand im Stroh unwillkürlich zur Faust ballte, als wollte er die beiden Fremden schlagen. Eine kalte Welle Hass überspülte ihn, und ließ ihn ebenso schnell wie sie gekommen war verwirrt zurück.
"Ihr seid... Lothíriel. Imrahils Tochter. Und... Valion?" Hilgorn fragte sich, wie er die beiden nicht hatte erkennen können. Lothíriel wirkte erleichtert.
"Nun, dass Ihr uns erkennt, ist ein gutes Zeichen."
"Was wollt ihr von mir?", fragte Hilgorn müde, und rieb sich abwesend das zerstörte Auge.
Valion schwieg, und betrachtete ihn nur eindringlich. Stattdessen sprach wieder Lothíriel: "Ihr erinnert mich an meinen Bruder, Hilgorn. Für einige Zeit, hatte er einen der neun Ringe bei sich. Er hat mir anvertraut, wie er sich damals gefühlt hat: "Während jener Zeit... lebte ich wie unter einem Schatten. Manchmal wusste ich nicht, wer ich war, oder was ich tat. Manchmal wusste ich, dass ich etwas Falsches tat, doch ich konnte nichts dagegen tun. Es war, als stünde ich unter einem finsteren Zauber, und in gewisser Weise war es auch so, denn der Ring... übte Macht über mich aus." So hat er es mir erzählt, Wort für Wort," schloss Lothíriel.
Hilgorn lauschte, äußerlich gleichmütig, doch seine Gedanken rasten. Er hatte keinen Ring von Arnakhôr bekommen, doch was Lothíriel erzählte, kam ihm nur allzu bekannt vor. Er sagte jedoch nichts, sondern ließ die Prinzessin weiter sprechen. "Ich habe den Verdacht, dass Ihr nicht aus freiem Willen gehandelt habt, sondern unter einem ähnlichen Bann steht", endete sie, und Hilgorn schloss für einen Augenblick sein verbliebenes Auge.
Dann antwortete er: "Was ich oben in der Halle getan habe... habe ich aus freien Stücken getan. Gewissermaßen." Er glaubte, Unverständnis und Abneigung in Valions Augen zu lesen, und Verwunderung in Lothíriels. "Ich... " Es fiel Hilgorn schwer, die richtigen Worte zu finden. Beinahe hatte er das Gefühl, dass etwas in ihm sich dagegen sperrte, die Wahrheit zu sagen. "Ich hatte den Wunsch, Gondor zu schaden", fuhr er schließlich fort. "Also... musste ich etwas tun. Irgendetwas, um eure Aufmerksamkeit zu erregen."
Valion schüttelte den Kopf. "Ich verstehe nicht. Wie konntet Ihr..."
Lothíriel unterbrach ihn. "Ihr habt Euch selbst ausgetrickst", meinte sie, und die Verwunderung war ihrer Stimme deutlich anzuhören. "Nicht wahr?"
"Ja", erwiderte Hilgorn mühsam. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, als wollte er sich selbst daran hindern, zu antworten. "Ihr... hättet mir vertraut. Valion hat mir geglaubt. Ihr alle hättet mir geglaubt, und ich hätte euch ins Verderben geführt. Ich musste... Aufmerksamkeit erregen."
Der Gedanke, dass er sich hatte täuschen lassen, schien Valion nicht sonderlich zu gefallen. Er verschränkte die Arme, und sagte: "Ich hatte mir diese Befreiungsaktion ein wenig anders vorgestellt, wisst ihr? Nun stellt sich heraus, dass alles umsonst war."
Lothíriel schüttelte den Kopf, und betrachtete Hilgorn nachdenklich. "Ich denke nicht, dass es umsonst war. Der Zauber, mit dem die schwarzen Númenorer Hilgorn belegt haben... nun, es war ihm ja offensichtlich möglich, ihn zu einem gewissen Grad zu umgehen. Ich nehme an, dass deine Rettungsaktion sie daran gehindert hat, seinen Geist vollständig zu brechen, da ihnen dafür die Zeit gefehlt hat." Valion wirkte ein wenig beruhigt.
"Wie... wie hat Euer Bruder den Einfluss des Rings brechen können?", presste Hilgorn mühsam hervor. Er wusste nicht, warum er das gefragt hatte. Es war doch unbedeutend. "Nicht alleine, so viel ist sicher", antwortete Lothíriel. "Er hatte Hilfe, aber den Ausschlag... den Ausschlag hat Irwyne gegeben." Ihre Miene wurde nachdenklich. "Einen Versuch wäre es wert. Vielleicht sollten wir..."
Hilgorn hatte bereits begriffen. "Nein", stieß er hervor, und versuchte sich, aus seiner sitzenden Position hochzustemmen, doch eine seltsame Lähmung schien seinen Körper ergriffen zu haben. "Bringt sie nicht hierher. Auf keinen Fall!"
Valion hatte offenbar ebenfalls verstanden, denn er wandte sich an Lothíriel: "Bist du sicher, dass das er einzige Weg wäre? Wenn es scheitert, was dann? Welche Qual wäre es für Faniel, Hilgorn so zu sehen, und ihm nicht helfen zu können?"
"Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es helfen würde", gab Lothíriel betreten zurück. "Ich... ich wünschte, Meister Elrond wäre hier. Oder Radagast. Oder Mithrandir. Sie wüssten sicherlich, was wir tun könnten."
Die Worte drangen zwar an Hilgorns Ohr vor, doch er begriff ihre Bedeutung nicht. Seit er Faniels Namen gehört hatte, kreisten seine Gedanken nur noch darum.
"Bringt sie nicht hierher", bat er erneut. "Ihr müsst sie beschützen... ihr... wenn es nötig ist, tötet mich. Nur... bringt sie nicht hierher."

Fine:
Mehr oder weniger verstört verließen Lothíriel und Valion die Kerkerebene unterhalb des Palastes. In gedämpftem Ton unterhielten sie sich darüber, was sie gesehen und gehört hatten.
"Ich fürchte, man kann Hilgorns Lage wohl doch nicht so sehr mit jener vergleichen, in der sich Amrothos einst befand," meinte Lothíriel und klang einigermaßen ernüchtert. "Sein Wahn ging von diesem verfluchten Ding aus, diesem unscheinbaren Ring - ich kann kaum glauben, dass ein so einfaches Schmuckstück den Geist meines Bruders so gewaltig beherrschen konnte, und bin so froh, dass es vorbei ist. Man sagte mir, dass der Elb, Oronêl Galion, den Ring für immer zerstört hat." Sie atmete tief durch und fuhr fort: "Und doch war Amrothos' Situation damals eher durch Zufall entstanden, wenn ich es aus seiner Erzählung richtig verstanden habe. Niemand zwang ihm diesen Ring in böswilliger Absicht auf. Amrothos erlag seiner Versuchung."
"Worauf willst du damit hinaus?" wollte Valion wissen.
"Ich will sagen, dass Hilgorns Zustand absichtlich herbeigeführt wurde," erklärte Lothíriel. "Dieser Mornadan, dieser Schwarze Númenorer - er hat Hilgorn gefoltert und ihn mit böswilliger Absicht seinem Willen unterworfen. Ich glaube nicht, dass Hilgorn sich selbst davon befreien kann, und seine Reaktion auf meinen Vorschlag, Faniel zu ihm zu bringen, sagt mir, dass auch sie es nicht könnte. Wir brauchen jemanden, der größere Macht als derjenige besitzt, der Hilgorn mit diesem Wahn belegt hat."
"Ich fürchte, so jemanden gibt es in Gondor nicht," meinte Valion niedergeschlagen. "Kaum jemand wagt es, die dunklen Künste des Feindes zu studieren, und mit denen, die es tatsächlich versuchen, nimmt es nur selten ein gutes Ende."
Lothíriels Antwort bestand aus einem zaghaften Lächeln. "Ich denke, ich kenne jemanden, der vielleicht einen Rat haben könnte."

Ohne auf Valions Nachfrage einzugehen führte Lothíriel ihn hinauf in die obersten Stockwerke des Palastes, wo die Familie des Schwanenfürsten lebte. Sie kamen durch mehrere luxuriös eingerichtete, weitläufige Gemächer bis auf einen großen Balkon, der nach Südwesten hin einen atemberaubenden Blick auf die Bucht von Belfalas bot. Dort standen drei Frauen am Geländer, die prunkvolle Kleider in den Farben der Stadt trugen - das zarte Blau der ruhigen See und das Schwanensilber von Dol Amroth. Valion machte große Augen, denn zwar erkannte er die erste der drei Frauen sofort, doch es war viele Monate her, dass er sie zuletzt in einem solchen Aufzug gesehen hatte. Es war Ta-er as-Safar. Sie warf Valion einen wissenden Blick zu.
Die zweite Frau war eine vollkommen Unbekannte. Die Dritte hingegen kam Valion entfernt bekannt vor, doch erst als sie sprach, wurde him klar, wen er da vor sich hatte.
"Lothíriel! Was hatte ich über das Tragen von Waffen in meinen Gemächern gesagt?"
Valion beugte respektvoll das Haupt, während Lothíriel mit einem unwilligen Murren den Schwertgurt abschnallte. "Ja doch, Mutter."
Lothíriels Mutter - die Fürstengemahlin Imrahils, Avórill von Dol Amroth, die vom einfachen Volk "Herrin Silberglanz" genannt wurde, fasste nun Valion ins Auge. "Das gilt auch für dich, Valion." Imrahils Frau war zu Beginn des Krieges mit Mordor auf die als sicher geltende Insel Tolfalas gebracht worden, wo sie auch nach Lothíriels Rückkehr in die Schwanenstadt verweilt war. Weshalb sie nun zurückgekehrt war, wusste Valion nicht - bis jetzt hatte er nicht einmal gewusst, dass die Herrin Silberglanz wieder in der Stadt war.
Er wusste, dass er keine wirkliche Strafe zu befürchten hatte. Denn wo Imrahil (und Edrahil) stets streng gewesen waren, als die Zwillinge jung gewesen waren und den Kopf voller Streiche gehabt hatten, war die Fürstin eine der wenigen gewesen, die über die Späße lachen konnte. Sie war es gewesen, die die schlimmsten Strafen von Valion und Valirë abgewandt hatte und die den Zorn ihres Gemahls hatte besänftigen können. Trotzdem tat Valion es Lothíriel gleich und legte seine Waffe beiseite.
"Habt ihr mit dem General sprechen können?" wollte Ta-er as-Safar ungewohnt interessiert wissen.
"Das hat sich ja rasch herumgesprochen," murmelte Valion.
Lothíriel schien einen ähnlichen Gedanken zu haben. "Wer weiß noch davon? Vater befahl, dass niemand zu Hilgorn vorgelassen werden soll."
"Niemand weiß davon," erklärte Avórill beruhigend. "Ich habe es erraten, dass ihr den jungen Hilgorn aufsuchen würdet, als ihr beiden so lange verschwunden geblieben seid." Sie musterte sie beide mit einem interessierten Blick. "Doch ich vermute, ihr seid nun nicht unseretwegen hier, nicht wahr?"
Das wüsste ich auch gerne, dachte Valion, als Lothíriel nickte. "Wir sind hier, um mit Mithrellas zu sprechen."
Die dritte Frau, die sich bislang eher im Hintergrund gehalten hatte und auf das ruhige Meer hinaus geblickt hatte, wandte sich ihnen zu, als Lothíriel ihren Namen nannte. Sie war von atemberaubender Schönheit. Valion war überrascht, dass er dennoch, anstatt sich zu ihr hingezogen zu fühlen, stattdessen einen tiefen Respekt vor der Fremden empfand.
"Dies ist Mithrellas, Tochter des Oronêl Galion und Ahnherrin der Fürsten von Dol Amroth," stellte Lothíriel die Dame mit hörbarem Stolz vor.
Erst jetzt fiel es Valion auf, dass er eine Elbin vor sich hatte. Und obwohl die Tore der Schwanenstadt nun schon seit mehreren langen Monaten von Elben bewacht wurden und er einen von ihnen, Ladion, ein wenig kennengelernt hatte, waren Elben für Valion noch immer ein etwas befremdlicher Anblick. "Hier ist Valion vom Ethir, einer unser tapfersten Krieger," stellte Avórill Valion der Elbin mit einem schelmischen Lächeln vor.
Mithrellas bedachte Valion mit einem forschenden Blick. "Du hast Gilmîths Augen," sagte sie in einem sonderbaren Tonfall. "Wie wundersam die Gabe der Zweitgeborenen doch ist. Imrahils Familie trägt Galadors Blutlinie in sich, doch sie sind bei weitem nicht die Einzigen, die von meinen Kindern abstammen."
"Gilmîth von Dol Amroth, Schwester Galadors des Ersten heiratete den Fürsten von Belfalas," sagte Lothíriel und erinnerte Valion daran, dass sie auch als Mädchen schon gerne mit ihrem Wissen angegeben hatte.
"Ich fühle mich geehrt," sprach er etwas holprig und deutete eine Verbeugung vor Mithrellas an. "Doch ich glaube nicht, dass wir hier sind, um über Stammbäume und Ahnen zu sprechen."
"Nein, sind wir nicht," ergriff Lothíriel rasch die Gelegenheit. "Es stimmt, dass wir mit Hilgorn gesprochen haben. Und es steht wahrlich nicht gut um ihn. Die Knechte Mordors haben ihn lange gefoltert und nun ist er nicht mehr der, der er einst war. Sein Angriff, der meinem Vater galt und die arme Rinheryn traf, ist der größte Beweis dafür."
"Und ihr ersucht nun meinen Rat, wie man General Hilgorn von seinem Leiden befreien könnte," schloss Mithrellas scharfsinnig.
"So ist es," meinte Valion überflüssigerweise.
"Ich bin keine Kriegerin und kenne mich in den dunklen Künsten der Diener des Feindes nur wenig aus," antwortete die Elbin entschuldigend. "Andere von meinem Volk könnten weiseren Rat geben, doch sie weilen fern von hier. Selbst mein Vater hat die Stadt bereits wieder verlassen."
"Ihr müsst ihm doch irgendwie helfen können," sagte Valion. "Immerhin seid Ihr älter als die Grundfesten dieser Stadt!"
"Alter und Weisheit gehen nicht immer Hand in Hand," konterte Mithrellas mit einem traurigen Lächeln. "Ich habe viele Jahre in tatenloser Bitterkeit verbracht und oft sind die goldenen Blätter Lóriens gefallen, ehe sich etwas daran änderte."
Valion wechselte einen Blick mit Lothíriel, die sich ganz offensichtlich mehr erhofft hatte und enttäuscht drein blickte. Erst ein strenger Blick von ihrer Mutter brachte die Prinzessin dazu, sich zu beherrschen und eine neutrale Miene aufzusetzen.
"Eure Augen haben mehr gesehen, als unsere es jemals könnten," sagte die Fürstengemahlin diplomatisch. "Vielleicht genügt es bereits, wenn Ihr einfach nur mit dem General sprecht."
"Nun, diese Bitte werde ich euch nicht abschlagen," erwiderte Mithrellas. "Die Zeit meiner Tatenlosigkeit ist vorbei. Wenn ich etwas dazu beitragen kann, diese Stadt meiner Kinder, die ich liebe, in Sicherheit zu wissen, dann will ich tun, was ich kann."
Sie verließ ihren Platz am Geländer des Balkons und schien sich direkt auf dem Weg zu den Zellen machen zu wollen. Als sie an Valion vorbeikam, blickte ihm die Elbin für einen langen Moment in die Augen, der die Verbundenheit noch verstärkte, die er ihr gegenüber fühlte. Doch erst als sie gegangen war, fiel ihm auf, was Lothíriel zuvor schon angedeutet hatte: Mithrellas, die einst den Begründer der Linie von Dol Amroth geheiratet hatte, war nicht nur die Vorfahrin Imrahils und seiner Kinder - durch ihre Tochter und deren Nachfahren floss ein winziger, längst bis zur Unkenntlichkeit verdünnter Teil von Mithrellas' elbischem Blut auch in den Adern der Zwillinge vom Ethir...

Fine:
Obwohl Valion durchaus daran interessiert war zu erfahren, was die Herrin Mithrellas wohl zu Hilgorn sagen würde, wurden Lothíriel und er jedoch von der Fürstin Avórill am Gehen gehindert.
"Ich habe eine Bitte an euch beide," sagte Imrahils Gemahlin, während Ta-er sich mit scheinbarem Desinteresse abgewandt hatte und auf das Meer hinaus blickte. "Erst seit ungefähr zwei Wochen weile ich wieder in der Stadt, doch mir ist aufgefallen, dass sich am Hof des Fürsten einiges verändert hat. Schmerzlich vermisse ich nun Edrahils Abwesenheit - er verstand es, die allzu ambitionierten Adeligen im Zaum zu halten. Sein Stellvertreter vermag es, wohl über die Spione an unseren Grenzen zu gebieten, doch ich fürchte, Amrodins Ohren und Augen fehlt einfach noch die Erfahrung, um auch das leisere, verborgenere Geflüster in den Hallen des Palastes aufzuschnappen."
"Worauf willst du hinaus, Mutter?" wollte Lothíriel wissen.
"Es gibt einen neuen Spieler am Tisch der Mächtigen, die um die Macht am Hofstaat des amtierenden Truchsessen ringen. Jemand schart Leute um sich, die auf die eine oder andere Art und Weise ihren Weg in den Palast finden und dort auf subtilstem Wege Einfluß zu nehmen. Hier ein geflüstertes Wort in das richtige Ohr, dort ein wie zufällig wirkendes Gerücht... selbst vor der Fürstenfamilie machen diese Leute keinen Halt. Für meine beiden noch unverheirateten Kinder -" sie blickte hierbei eindringlich Lothíriel an "-gab es in den vergangenen Wochen vielerlei Verlöbnisangebote, die auf mich höchst suspekt wirken. Sie stammen allesamt von plötzlich auftauchenden Nachfahren längst untergegangener Adelshäuser oder von Junggesellen im falschen Alter, die sich eigentlich längst für ein unverheiratetes Leben entschieden hatten. Und darüber hinaus stelle ich immer wieder fest, dass nicht alle der Bediensteten im Palast im besten Interesse ihrer Herren zu handeln scheinen. Immer wieder verschwinden scheinbar unwichtig wirkende Gegenstände. Truhen mit persönlichen Besitztürmern werden durchwühlt und Schränke mit Gewalt geöffnet. Zwei angesehene Adelige sind tot - in Friedenszeiten wäre dies ein Schock und würde eine gründliche Untersuchung einleiten. Doch es herrscht Krieg, und selbst die Stadtwache ist bis an die Grenzen ihrer Kapazität ausgelastet. In beiden Fällen scheint ein Selbstmord vorzuliegen, doch ich glaube längst nicht mehr daran. Deshalb will ich, dass sich jemand dieser ganzen Angelegenheit annimmt, dem ich absolut vertrauen kann."
Bedeutungsvoll sah sie Valion und Lothíriel an. "Ich spreche von euch beiden," fügte Fürstin Avórill unnötigerweise hinzu. "Findet heraus, was wirklich vor sich geht, und wer dahintersteckt. Ich kann nicht erlauben, dass jemand die Autorität meines Gatten untergräbt und die innere Sicherheit Gondors gefährdet."
"Wo... wo sollen wir anfangen?" stieß Valion überrumpelt hervor.
"Bei deiner Verlobten," schlug Lothíriel vor. "Ich weiß, dass sie viele Waisenmädchen in ihre Dienste genommen hat und bin mir fast sicher, dass einige von diesen jungen Frauen identisch mit so mancher frisch verheirateten Adeligen aus einem der lange verschollen geglaubten Häuser sind."
Valion seufzte. "Ich werde sehen, was sich machen lässt," meinte er. "Doch ich glaube nicht, dass Lóminîth Gondor verraten würde. Sie hat ohnehin schon genug mit den Vorurteilen zu kämpfen, die ihr aufgrund ihrer Herkunft entgegenschlagen."
"Ich teile deine Einschätzung, Valion," sagte Avórill. "Doch ist diese Angelegenheit zu wichtig, um nicht alle Möglichkeiten zu untersuchen. Sprich mit Lóminîth und finde die Wahrheit über ihre Absichten heraus. Vielleicht kann sie dir sogar bei den Nachforschungen behilflich sein."
"Und was ist meine Aufgabe in all dem?" wollte Lothíriel wissen.
Seine Mutter lächelte wissend. "Du wirst uns dabei helfen, eine Falle für unseren geheimnisvollen Spieler zu stellen. Dein Bruder, Amrothos, wird dabei den Köder spielen. Noch wissen nur wenige von Irwynes Existenz, was das arme Kind bislang vor den meisten Intrigen verschont hat. Sicherlich wirst du mir zustimmen, wenn ich sage, dass es am Besten so bleiben sollte. Amrothos wird sich also offen für Verlobungsangebote geben und du, Lothíriel, wirst dir die Bewerberinnen ganz genau ansehen und ihre Hintergründe offenlegen."
"Aber -" wagte Lothíriel zu protestieren.
"Lothíriel, das war keine Bitte."
"Mutter, so höre doch. Ich fürchte... Irwyne wird es nicht verstehen, ich -"
"Sie wird Einsicht zeigen. Sie ist ein kluges Mädchen, wie du selbst auch. Und natürlich wird Amrothos nicht ernsthaft auf eine Verlobung eingehen," erklärte Avórill gelassen.
Lothíriel ließ geschlagen die Schultern hängen. "Da verlangst du aber viel von ihm, Mutter."
"Denk daran, dass Gondors Sicherheit auf dem Spiel steht," erinnerte die Fürstin sie.

Einige Minuten später hatte sich Valion von Imrahils Familie verabschiedet. Er suchte in seinen Gemächern nach Lóminîth, doch seine Verlobte war nicht dort. Eine der Bediensteten ließ Valion ausrichten, dass die Herrin in der Stadt unterwegs und mit diversen äußerst wichtigen Vorbereitungen für ihre anstehende Hochzeit beschäftigt sei und nicht gestört werden wollte. Die Hochzeit, fiel es Valion wieder ein. Er hatte in all der Aufregung völlig vergessen, dass er diesbezüglich einen dringenden Brief an seine Mutter in Nan Faerrim zu schreiben hatte.
Etwas unschlüssig stand Valion am Eingang des Gemaches herum und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Ob er den Brief jetzt sofort aufsetzen sollte? Oder wäre es sinnvoller, zunächst nach Lóminîth zu suchen?
Dass jemand an ihn herangetreten war, bemerkte er erst, als sich eine zaghafte Hand auf seinen Arm legte.
"E-entschuldigung," stieß die junge Frau hervor und zog ihre Hand sofort wieder zurück. Endlich erkannte Valion sie: die Schwester des Waldläufers des Nordens, der er gemeinsam mit Rinheryn in Anórien begegnet war.
"Areneth, richtig?" fragte er.
Sie nickte. "Ich habe nach dir gesucht," sagte sie ein wenig außer Atem. "Ich brauche deine Hilfe, Valion."
Schon die Nächste, die etwas von mir will, dachte Valion, und sagte mit einem schiefen Grinsen: "Das wollen viele."
Areneth warf ihm einen verärgerten Blick zu. "Lass den Unsinn! Ich bin keine von... dieser Sorte Frauen."
"Natürlich nicht," wagte Valion zu sagen.
Die Dúnadan gab ein leises Schnauben von sich, ehe sie sich wieder fasste. "Ich muss in die große Bibliothek im Stadtzentrum. Aber man will mir keinen Zugang gewähren!"
"Was suchst du dort denn?"
"Zwei Dinge: Einerseits Spuren, die mich zu den Nachfahren des Hauses Glórin führen können. Und zweitens jemanden, der mir bei der Suche zu helfen versprach: Thandor, der alte Archivar aus Minas Tirith, der mit uns aus Ithilien nach Dol Amroth gekommen ist."
"Und weshalb hat man dich nicht in die Bibliothek hineingelassen?"
Areneth verdrehte die Augen. "Diese ganze Stadt scheint zurzeit unter Verfolgungswahn zu leiden. Man traut keinen Fremden mehr. Sie haben mich verdächtigt, eine Spionin Mordors zu sein!"
"Vielleicht sollte ich mal ein Wörtchen mit Onkel Beretar wechseln," murmelte Valion, als ihm einfiel, wer nach Hilgorns Beförderung zum General das Kommando über die Stadtwache von Dol Amroth übernommen hatte. "Also gut, Areneth. Gehen wir. Ich werde schon dafür sorgen, dass man dich in die Bibliothek lässt."
"Danke, Valion," sagte die Dúnadan des Nordens. "Ich bin jetzt schon beinahe einen Monat in dieser Stadt und bin dem Artefakt, das mein Bruder mir zu finden auftrug, noch keinen Schritt näher gekommen. Ich wünschte, ich hätte bei ihm bleiben und mich im Kampf nützlichen machen können..."
"Dafür ist sicherlich auch später noch Zeit," meinte Valion leichthin. Er warf einen Blick aus einem nahen Fenster, um nach dem Stand der Sonne zu sehen. Seiner Schätzung nach hatte der Nachmittag gerade erst begonnen. Er rechnete nicht damit, dass Lóminîth vor dem Abend zurückkehren würde. Sich mit ihr zu befassen konnte also warten. "Komm, Areneth. Ich werde dir bei deiner Suche ein wenig unter die Arme greifen."


Valion und Areneth zur Bibliothek des Túron

Eandril:
Nachdem Valion und Lothíriel ihn wieder in der Dunkelheit allein gelassen hatten, hatte Hilgorn sich mit dem Rücken an die kalte Steinwand gelehnt, die Augen geschlossen, und begonnen, langsam und gleichmäßig tief durchzuatmen - eine Technik, die ihm während seiner Ausbildung beigebracht worden war. Eigentlich sollte sie dazu dienen, sich vor einem Kampf so weit wie möglich zu entspannen und den Geist für die kommende Aufgabe zu schärfen, doch jetzt versuchte Hilgorn nur die Schreckensbilder, die ihn plagten, zu verdrängen. Bilder von Faniel, wie sie sah, was Arnakhôr aus ihm gemacht hatte. Wie sie sich entsetzt abwandte, und vor ihm floh. Er glaubte nicht, dass er sie jemals wieder sehen wollte, sofern kein Wunder geschah. Sollte sie die Erinnerung an den Mann, der er einst gewesen war, behalten.
Langsam beruhigte sich sein Herzschlag, und für einen Augenblick konnte Hilgorn beinahe vergessen, in welcher Lage er sich befand. Vielleicht würde der Fürst ihm eines Tages, wenn der Krieg vorüber war, gestatten, den Kerker zu verlassen. Er könnte weit nach Westen gehen, in die Wildnis von Anfalas, wo er niemandem schaden konnte. Der Gedanke stimmte Hilgorn gleichermaßen froh wie traurig.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als ein leises Knarren ihm verriet, dass seine Zellentür geöffnet wurde. Merkwürdigerweise hörte er keine Schritte, und als er langsam das rechte Auge öffnete, blendete ihn für einen Augenblick eine seltsame Helligkeit. Vor ihm stand eine hochgewachsene, schlanke Gestalt, die von innen heraus zu leuchten schien. Hilgorn blinzelte in der unerwartete Helligkeit, und die Gestalt ging vor ihm auf ein Knie nieder und ergriff seiner Hände.
"Ich weiß nicht, ob ich etwas für dich tun kann", sagte eine weibliche Stimme. "Doch ich werde es versuchen." Hilgorn konnte nicht anders, als ihr ins Gesicht zu blicken. Es war von einer unwirklichen Schönheit, deren verwirrend graue Augen sich geradezu in seinen Geist zu bohren schienen. Ein Teil von ihm hasste und fürchtete dieses Gesicht, und wand sich unter diesem Blick. Ein anderer Teil fühlte sich unter ihrem Blick geborgen und beschützt, und beide Teile kämpften miteinander um die Vorherrschaft.
"Sieh mich an, Hilgorn aus dem Hause Thoron. Ich spüre die Dunkelheit, die sich auf deinen Geist gelegt hat. Ich spüre, wie Furcht, Hass und Hinterlist versuchen, dich zu überwältigen. Doch deine Seele ist unberührt vom Schatten. Und darum, Hilgorn, gibt es Hoffnung."
Bei den letzten Worten wurde sich Hilgorn der Kälte, die sich in seinem Inneren ausgebreitet hatte, zum ersten Mal bewusst. Es fühlte sich an wie ein Eissplitter, der tief in ihm steckte. Sein Blick fiel auf eine zweite Person, die noch im Türrahmen stand und nun zögerlich näher kam. Ihr langes, rabenschwarzes Haar fiel ihr bis auf die Hüften, und Hilgorn fühlte seine Hände bei ihrem Anblick zittern.
"Nein", murmelte er undeutlich. "Nicht..." Er fühlte den Druck warmer Hände, und die Stimme fuhr fort: "Jeder hat das Recht, sich seine Kämpfe auszuwählen. Und jeder hat das Recht zu wählen, ein Opfer zu bringen. Und manchmal... ist es in Ordnung, andere dieses Opfer für einen selbst bringen zu lassen."
Faniel kniete sich neben Hilgorn ins Stroh, und blickte ihm fest ins Gesicht. "Mit dir habe ich die Liebe gefunden, die ich mein Leben lang gesucht habe", sagte sie leise, aber spürbar entschlossen. "Und ich werde mir das von niemandem wegnehmen lassen, auch nicht von Sauron selbst. Hörst du? Von niemandem."
Hilgorn erwiderte ihren Blick, und stieß einen langen, zitternden Atem aus. Er spürte, wie der Eissplitter in seinem Inneren schmolz, wie sich Wärme in ihm ausbreitete. Er konnte stark genug sein. Vielleicht nicht für Imrahil, für Dol Amroth, oder die ganze Welt, doch für sie konnte er Hilgorn bleiben. Um Faniels Willen würde Arnakhôrs Zauber nicht die Macht über ihn erringen.
Mit einem Mal breitete sich ein stechender Schmerz über seinen ganzen Körper hinweg aus, und er öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei. Der Druck der Hände, die die seinen hielten, verstärkte sich, ein helles Licht erfüllte den Raum, und mit einem Mal war der Schmerz verschwunden. Und nicht nur der Schmerz. Sein Geist schien zum ersten Mal seit Tagen wieder vollständig klar zu werden, und das immer im Hintergrund lauernde Bedürfnis zu töten und zu zerstören, war verschwunden.
Hilgorn atmete tief durch, und blickte Faniel an, die bei diesem Blick die Hand vor den Mund schlug, und ein Schluchzen unterdrückte. Die andere Frau ließ seine Hände los, und sackte ein wenig in sich zusammen. Das Leuchten, das für Hilgorn noch vor kurzem den Raum beherrscht hatte, war verschwunden, und jetzt erkannte Hilgorn sie.
"Herrin Mithrellas", sagte er langsam, mit rauer Stimme. "Mir war nicht klar, dass ihr Wunder vollbringen könnt."
Mithrellas wischte sich mit einer Hand über die Stirn und lächelte schwach. Ihre unwirkliche, überirdische Erscheinung war verschwunden, und trotz aller elbischen Schönheit wirkte sie im Vergleich zu vorher überraschend ungewöhnlich. "Nun, ich habe auch eher gehofft etwas bewirken zu können, als dass ich es wusste", erwiderte sie. "Vermutlich hätte ich es nicht gewagt, hätte euer Freund Valion mich nicht so eindringlich darum gebeten."
Hilgorn nickte langsam. Offenbar schuldete er Valion inzwischen mehr, als er hoffen konnte jemals zurückzuzahlen. Er tastete mit der rechten Hand nach Faniels Linker und ergriff sie fest. "Wie kommst du hierher?", fragte er. "Ich... ich wollte eigentlich nicht, dass du mich hier siehst."
Faniel schnaubte verächtlich, und blinzelte eine einzelne Träne weg. "Die Geschichte von deiner Rückkehr konnte nicht ewig geheim bleiben, und als ich hörte, was geschehen ist, musste ich zum Palast kommen. Dort bin ich Mithrellas begegnet, und sie hat mich mit hierher genommen."
"Was sich als kluge Entscheidung herausgestellt hat", warf Mithrellas ein, die sich inzwischen erhoben hatte, und in der Tür stand. "Ich werde mit Imrahil sprechen", erklärte sie dann. "Er muss erfahren, was geschehen ist."
Hilgorn nickte abwesend, doch der Fürst war im Augenblick seine letzte Sorge. Mit Faniels Hilfe kam er etwas mühsam auf die Füße, bevor er seine Frau fest in seine Arme zog, das Gesicht in ihre dichten schwarzen Haare gepresst. Nach einer halben Ewigkeit, die ihm immer noch zu kurz erschien, ließ er sie wieder los.
"Ich hoffe, du zweifelst jetzt nicht, dass du den richtigen Mann geheiratet hast", sagte er leise, und deutete mit einer nachlässigen Geste auf seine linke Gesichtshälfte. Faniels Antwort bestand aus einer Ohrfeige, die Hilgorns rechte Wange brennen ließ und ihn in seinem gegenwärtigen Zustand beinahe von den Füßen gerissen hätte. "Einen solchen Satz möchte ich nie wieder aus deinem Mund hören", stieß sie hervor, und packte Hilgorn bei den Schultern. In ihren Augen glitzerten nun Tränen. "Ich habe dich nicht für dein gutes Aussehen geheiratet, weißt du. Das da... das ändert nichts. Ich trage dein Kind unter dem Herzen, und ich möchte weitere Kinder mit dir haben. Ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen, und es ist mir völlig gleichgültig, ob du zwei Augen hast oder nur eines. Vollkommen gleichgültig, verstehst du? Also sag so etwas nie wieder."
Hilgorn musste gegen seinen Willen lächeln, und wischte mit dem Daumen eine Träne von ihrer Wange. "Also gut", erwiderte er. "Ich werde aber darauf achten, nicht noch ein Auge zu verlieren. Ich würde dich nämlich gerne weiterhin ansehen können."
Faniel blickte ihn für einen Moment an, als hätte er den Verstand verloren, doch dann brach sie in hilfloses Lachen aus. "Es gibt wahrlich niemanden, der so schöne Komplimente machen kann und dabei ein vollkommener Narr ist." Dann küsste sie ihn.

Sie wurden von einem vernehmlichen Räuspern unterbrochen. In der offenen Zellentür stand Imrahil, Fürst von Dol Amroth, begleitet von drei seiner Leibwächter. Der Fürst sah angespannt und müde aus, wirkte allerdings ein wenig erleichtert. "Mithrellas hat mir berichtet was geschehen ist", sagte er. "Und ich hoffe, sie hat nicht übertrieben. Seid ihr wieder bei uns, Hilgorn?"
Hilgorn verneigte sich. "Ich denke schon, Herr. Doch wie kann ich jemals wirklich sicher sein?", fragte er wahrheitsgemäß. Im Augenblick hatte zwar tatsächlich das Gefühl, dass Arnakhôrs Zauber geschwunden war, doch er konnte nicht wissen, ob er tatsächlich völlig gebrochen war oder nur für einige Zeit gewissermaßen schlief.
"Das ist eben das Problem", erwiderte Imrahil ernst. "Ich würde nichts lieber tun, als euch sofort in eure alten Ämter wieder einzusetzen und euch an die Front zu schicken - wir sind wahrlich schwach genug aufgestellt. Doch ich kann diese Wagnis nicht eingehen."
"Ich verstehe. Was also soll mit mir geschehen?"
Imrahils Blick wanderte von Hilgorn zu Faniel und zurück. "Ich werde euch nicht in diesem Kerker belassen", sagte der schließlich. "Aber für den Moment kann ich es nicht wagen, euch in völlige Freiheit zu entlassen. Nicht nur wegen der Ungewissheit, was euren Zustand betrifft, sondern auch weil es vermutlich Duinhir verärgern würde. Immerhin habt ihr seine Tochter, sein einziges überlebendes Kind verwundet. Ich werde euch bis auf weiteres unter Hausarrest stellen. Ihr könnt euch in eurem Haus und Garten frei bewegen, doch für alles weitere benötigt ihr meine persönliche Erlaubnis."
Mit diesen Bedingungen war Hilgorn nur allzu gerne einverstanden. Es bedeutete, dass er Faniel sehen konnte, und Iorweth und Belegorn, so oft er wollte.
Er neigte den Kopf ein wenig vor Imrahil. "Ich danke euch, Herr." Zur Antwort nickte Imrahil knapp, machte dann aber einen Schritt auf Hilgorn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Wir werden irgendeinen Weg finden, wie wir sicher sein können, dass ihr nicht mehr in Gefahr seid", sagte er leise. "Und eines Tages, Hilgorn, werdet ihr wieder eine Armee Gondors in die Schlacht führen, und dann werdet ihr die Gelegenheit bekommen, euch bei Arnakhôr zu revanchieren. Das verspreche ich euch."

Hilgorn und Faniel in die Stadt

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