Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Dol Amroth
Der Palast des Fürsten
Fine:
Hilgorn, Valion und Lóminîth aus der Stadt
Es vergingen einige ruhigere Tage, die Valion zum Großteil damit verbrachte, sich die Zeit mit Spaziergängen, Ertüchtigungsübungen und Nickerchen zu vertreiben, während Lóminîth im Zuge der Hochzeitsvorbereitungen zu Hochform auflief. Es schien, als hätte sie geradezu jeden freien Arbeiter in Dol Amroth unter Vertrag genommen, um die gewaltigste Feier zu organisieren, die der Fürstenpalast jemals gesehen hatte. Woher sie das benötigte Geld hatte, war eine Frage, die Valion sich immer mal wieder für kurze Zeit stellte, bis er jedes Mal Kopfschmerzen davon bekam und mit den Achseln zuckte, um resignierend aufzugeben. Sein persönliches Vermögen - der kleine Teil, der seit dem Fall des Ethirs noch übrig geblieben war - war jedenfalls unberührt geblieben. Seine Verlobte musste sich also wohl einer anderen Einnahmequelle bedient haben...
Ungefähr eine Woche nachdem er mit Areneth bei Hilgorn gewesen war - die Dúnadan hatte die Stadt inzwischen verlassen und sich auf die Suche nach ihrem Bruder gemacht, der mit den Waldläufern Ithiliens noch immer hinter feindlichen Linien in Lebennin agierte - war Valion gedankenverloren über einen der Märkte im unteren Teil der Stadt geschlendert, als ihn einer der Pagen des Fürstenhofes entdeckt hatte. Es war der junge Bergil, der Valion aufgefordert hatte, sich in aller Eile an Imrahils Hof einzufinden - anscheinend würden dort schon bald einige sehr wichtige Gäste eintreffen, und der Fürst hatte um Valions Anwesenheit gebeten. Unterwegs war ihnen Hilgorn begegnet, der einfache Kleidung und einen Kapuzenumhang getragen hatte. Bei ihm war Bergil zuvor schon gewesen, denn streng genommen stand der sich derzeit nicht im Dienst befindliche General unter Hausarrest, weshalb er nun von drei Soldaten der Stadtwache begleitet worden war.
So kam es, dass sie wenig später in der großen Halle der Schwanenfürsten standen, dessen Berater und Familie sich um den hohen Sitz jenseits der Marmorstufen versammelt hatten. Valion trug nun seine Rüstung sowie die Insignien seines Ranges als Lehnsfürst, während Hilgorn seine Bekleidung nicht gewechselt hatte - offiziell bekleidete er im Augenblick kein Amt, doch inoffiziell schien zumindest Imrahils Erbe Elphir zu wünschen, dass Hilgorn persönlich von den wichtigen Vorgängen am Hofe erfuhr.
Neben Imrahils Sitz war der Stuhl der Fürstin Silberglanz aufgestellt worden. Avórill trug ein tiefblaues Kleid mit silbernen Stickereien entlang der Ärmel und in ihrem Haar steckte eine weiße Blüte. Etwas mehr im Hintergrund standen Elphir, ebenfalls in Rüstung, sowie die Lehnsfürsten Golasgil, Amros und Ardamir, die jeder einen grünen Umhang trugen. Zur Linken des Thrones, ebenfalls im Hintergrund, hielten sich die Berater des Fürsten auf: der Herr der Spione, der Schatzmeister, der Hauptmann der Stadtwache und der Quartiermeister. Ihnen gegenüber standen die Hofdamen, in deren Mitte Valion Lothíriel, Mithrellas, sowie Lóminîth entdeckte.
Eigentlich war Valions Platz bei den anwesenden Lehensfürsten Gondors, doch man schien seine immer wiederkehrenden Verstöße gegen die strengen Etikette des Fürstenhofes mittlerweile stillschweigend mehr oder weniger zu akzeptieren. Daher hielt er sich etwas abseits, links neben der untersten Stufe, und tauschte sich dabei leise mit Hilgorn aus, der neben ihm stand.
"Ich frage mich, welches hohe Tier wohl heute erwartet wird," flüsterte er dem General zu.
Hilgorn warf ihm einen abwägenden Blick zu. "Nun, wenn man den Gerüchten Glauben schenkt, dann handelt es sich um potenzielle neue Verbündete für Gondor."
Valion zog fragend die Brauen zusammen, doch ehe er nachbohren konnte, öffneten sich die großen Tore am jenseitigen Ende der Halle, und der fürstliche Herold marschierte herein, begleitet vom Klang von Posaunen. Exakt drei Schritte vor der untersten Stufe blieb der Mann stehen und machte eine tiefe Verbeugung, dann entrollte er eine Schriftrolle und verkündete: "Höret, Ihr Edlen Gondors, und Ihr, Truchsess des Südlichen Königreiches, Imrahil, Sohn des Adrahil: Hier ist Thorongil, Sohn des Hador, vom Hause der Turmherren und Herr von Tol Thelyn, der Weißen Insel des Trennenden Meeres, mitsamt seiner Frau Melíril vom Turme, und seinem Sohn und Erben, Túor vom Turme."
Nun erschien ein zweiter Herold, der ein Banner trug, das in Weiß und zartem Orange gehalten war und das Siegel von Tol Thelyn zeigte: Ein Schiffssegel, einen Turm, und eine weiße Blüte, übereinander gelegt. Er sprach nicht, sondern reichte das Banner, nachdem er es Imrahil präsentiert hatte, an einen der nahe der Treppen wartenden Soldaten weiter. Inzwischen waren die angekündigten Personen selbst in der Halle eingetroffen. Umgeben von einer kleinen Eskorte in den Farben Tol Thelyns marschierte der Herr des Turmes in Imrahils Halle, gehüllt in eine neu aussehende Rüstung mit einem weißen Umhang. Ehefrau und Sohn folgten ihm auf dem Fuße, bis die Familie mitsamt ihren Begleitern vor dem Thron stand. Als sie an Valion vorbei kamen, warf Melíril - die ja in Wahrheit Minûlîth hieß - Valion einen Blick zu und lächelte, ohne vorerst jedoch etwas zu sagen. Der kleine Túor trug ein Kettenhemd und einen Dolch am Gürtel und wirkte gleichzeitig aufgeregt und ein wenig eingeschüchtert, schien sich jedoch alle Mühe zu geben, eine ernste Miene zu bewahren.
Imrahil erhob sich von seinem Sitz und breitete die Arme leicht aus, die Hände leer und die Handflächen nach oben zeigend. "Willkommen, Thorongil, am Hofe von Dol Amroth. Ich hoffe, Eure Überfahrt verlief recht angenehm?"
Thorongil legte die Hände zusammen und nickte leicht, ohne sich jedoch zu verbeugen. "Habt Dank für Euren freundlichen Empfang, Fürst Imrahil. Unser Schiff hatte keinerlei Schwierigkeiten bei der Fahrt. Eure Stadt ist beeindruckend, muss ich schon sagen," meinte er anerkennend.
"Nun, das ist der Verdienst meiner Vorfahren," erwiderte Imrahil, ehe er sich an den ganzen Saal wandte und seine Stimme lauter werden ließ. "Menschen Gondors und Dol Amroths, der Herr des Turmes ist gekommen, um die Schwester seiner Frau, die Herrin Lómíril, mit dem Herrn des Ethirs, Valion, zu vermählen. Sollte jemand dagegen berechtigte Einwände erheben, so möge er nun sprechen."
Beinahe erwartete Valion, dass Rinheryn auftauchen würde, um tatsächlich zu protestieren. Doch Duinhirs Tochter lag noch immer in der Obhut der Heiler. Die Verletzung, die sie durch Hilgorn erlitten hatte, war anfänglich recht gut verheilt, doch dann hatte die Wunde überrascht zu schwären begonnen und hatte Rinya an ihr Bett gefesselt. Valion hatte sie seither zweimal besucht - beide Male hatte sie ihm ihr Leid geklagt, wie sehr sie es vermisste, zu reiten und frei herumzulaufen. Einer der Heiler hatte Valion anvertraut, dass Rinheryn immer wieder Albträume habe und dass selbst der obersten Heilerin inzwischen die Mittel ausgingen, sie wieder zur Ruhe zu bringen.
So sprach also nun niemand gegen Imrahils Ansinnen. "Es sei also," sagte der Fürst. "Die Hochzeit soll in zwei Wochen stattfinden. Doch wie ich höre, führt Euch noch ein weiteres Anliegen an meinen Hofe, Thorongil?"
"So ist es," bestätigte der Herr des Turmes. "Eine Vermählung hat im Hochadel oft den Zweck, ein Bündnis zu besiegeln. Es war Meister Edrahil, der Herr der Spione von Dol Amroth, der aus exakt diesem Grund jene Verlobung zwischen Valion und Lómíril einfädelte. Doch seitdem Umbar wieder an unsere Feinde gefallen ist, betrifft ein solches Bündnis lediglich Dol Amroth und Tol Thelyn. Ich bin hier, um offiziell eine Allianz mit Euch einzugehen. Ihr habt uns bereits beim Wiederaufbau der Insel unterstützt, doch ich möchte diese Verbindung nun legitimieren. Lasst die Hochzeit das Zeichen dafür sein, dass die Dúnedain des Südens nun wieder vereint gegen ihre Feinde stehen."
Imrahil nickte, doch da trat einer der Lehnsfürsten vor. Es war Ardamir, der Herr von Belfalas. Mit einem Zeichen gab der Fürst von Dol Amroth ihm die Erlaubnis, zu sprechen. "Mein Fürst, eine solche Allianz ist gewiss erstrebenswert, doch bedenkt, dass der Titel des Turmherren in Gondor niemals offiziell anerkannt worden ist. Der Einschätzung der Gelehrten zufolge entspräche er wohl ungefähr einem niederen Adelsrang, allenfalls dem eines geringeren Lehenstitels. Wenn wir eine Allianz mit Tol Thelyn schließen, muss sie im Rahmen eines Lehnseides geschehen."
"Allein der König von Gondor vermag es, ein gänzlich neues Außenlehen zu schaffen," mischte sich Golasgil von Anfalas ein. "Auch wäre es meiner Meinung nach unklug, einen so standhaften Verbündeten gleich zu einem Untergebenen zu machen."
"Tol Thelyn war niemals ein Teil von Gondor," stellte Melíril klar, als sie zum erste Mal das Wort nahm. "Selbst in den Tagen der Schiffskönige, als Gondors Macht ihren Höhepunkt erreicht hatte, erhielten die Turmherren ihre Selbstständigkeit aufrecht."
"Der Truchsess des Königs hat nahezu dieselben Hoheitsrechte," hielt Ardamir dagegen, ohne auf Melíril einzugehen. "Es steht ihm frei, bei der Führung des Königreiches nach eigenen Gutdünken zu handeln. Und kehrte der König wieder-"
"Genug," unterbrach Imrahil laut. "Thorongil und seine Familie sind nicht hergekommen, um das Knie vor mir zu beugen. Dies sollte ein freudiger Tag für ganz Gondor sein - dank den tapferen Menschen von Tol Thelyn steht uns eine nie geahnte Versorgungslinie nach Harad hinein offen. Unsere Flotte liegt vor Umbar und muss keinerlei schwarzen Segel mehr fürchten. Wann konnten Gondors Küsten zuletzt so frei aufatmen?" Er ließ sich wieder auf seinem Sitz nieder. "Thorongil, wie verläuft die Belagerung Umbars? Gibt es Neuigkeiten von der Erstürmung?"
"Schleppend verläuft sie," antwortete Thorongil, dessen Miene schwer zu deuten war. "Die Verteidiger scheinen gut vorbereitet zu sein. Ich habe mehrere Tage nichts mehr von Edrahil gehört, auch wenn ich mir sicher bin, dass er die Lage unter Kontrolle zu bringen versucht. Eure Flotte blockiert den Hafen - wenn Qúsay Geduld zeigt, wird er die Stadt eines Tages ausgehungert haben."
"Und wird er diese Geduld aufbringen können?"
"Nun... ich denke nicht, dass er ewig warten wird," meinte der Herr des Turmes. "Aber mit Sicherheit kann ich es nicht sagen."
"Ich verstehe," sagte Imrahil. "Vermutlich wäre es das Beste, wenn wir uns im Detail über die Lage im Süden unterhalten, doch ich bin kein unhöflicher Gastgeber. Ihr habt einen weiten Weg hinter Euch. Hier im Palast wurden Gemächer für Euch und Eure Familie bereitgestellt. Erholt Euch dort für diesen Tag - morgen würde ich mich freuen, wenn Ihr mich in meinem Solar aufsuchen würdet."
"Ich werde kommen, Imrahil, doch eine Frage habe ich noch. Ihr nennt Euch Truchsess des Reiches, der Stellvertreter des Königs, doch... was würdet ihr tun, käme es zu einer... Rückkehr des Königs?"
Imrahil blickte nachdenklich drein. "Dies scheint... unwahrscheinlich. Geradezu unmöglich. Der König Gondors liegt in Gefangenschaft des Dunklen Herrschers persönlich, und es ist nun an uns, die Verteidigung Gondors zu übernehmen."
"Unwahrscheinlich mag es sein, doch mir geht es um Eure Einstellung. Kehrte der König wieder, würdet Ihr zurücktreten?"
"Ich... würde mein Amt zur Verfügung stellen," meinte Imrahil langsam. "Im Falle einer Rückkehr des Königs wäre ich noch immer Fürst von Dol Amroth, doch es stünde ihm frei, einen neuen Truchsess zu ernennen."
"Danke," sagte Thorongil, der zufrieden wirkte. "Ich werde morgen zu Euch kommen, damit wir in Ruhe über alles sprechen können. Habt Dank für Eure Gastfreundschaft." Er nickte Imrahil zu und ging dann auf dem Weg, auf dem er gekommen war, gefolgt von seiner Familie. Als sie fort waren, begann der Hofstaat sich langsam zu zerstreuen.
Valion warf einen Blick zu Hilgorn hinüber, der mit nachdenklicher Miene das gesamte Spektakel verfolgt hatte. Er fragte sich, was der General wohl von der ganzen Angelegenheit halten mochte.
Valion und Hilgorn in die Stadt
Fine:
Aragorn, Gandalf, Irwyne, Amrothos, Valion, Narissa und Aerien aus der Stadt
Sie verwendeten einen der Nebenzugänge des Palastes. Da die Wachen Amrothos und Valion persönlich kannten, stellten sie keine Fragen, als um Einlass gebeten wurde. Der junge Prinz führte die Gruppe durch die leeren Korridore des großen Gebäudes und brachte sie schließlich in Imrahils Solar, wo er sie bat, sich zu setzen und auf seinen Vater zu warten. Dann verschwand Amrothos durch eine Tür, die zum Schlafgemach seiner Eltern führte.
Valion trat auf den großen Balkon hinaus, der den Solar im Nordwesten begrenzte. Die Aussicht war bei Tageslicht phänomenal, denn sie bot einen unvergleichlichen Ausblick über Edhellond, die Küsten von Anfalas und die westliche Bucht von Belfalas. Im Augenblick jedoch konnte man nur erahnen, die hoch sie sich über dem Meerboden befanden, denn der Prinzenpalast war auf dem höchsten Punkt der Klippenfelsen erbaut worden, auf dem die ganze Stadt von Dol Amroth ruhte.
Ein kühler Wind bauschte Valions Umhang hinter ihm auf, und er zog die Ränder des dicken Stoffes enger um seine Schulter. Da trat eine der Frauen neben ihn; jene, die sich bisher meist im Hintergrund gehalten hatte. Sie trug einen grauen Umhang und dunkle Reisekleidung aus Leder, doch ihre Kapuze war ihr auf die Schultern gerutscht und im schwachen Licht, das aus dem Solar drang, sah Valion, dass das Mädchen schwarze Haare und graue Augen hatte. Sie erinnerte ihn stark an seine Verlobte, auch wenn er sie um ein gutes Jahrzehnt jünger schätzte. Ihr Blick ging hinaus auf die Bucht, doch dann schaute sie zu Valion auf.
"Ihr stammt von hier?" fragte sie leise. Sie besaß einen gewissen Akzent, den Valion nicht einordnen konnte. Die Kleine klang nicht so, als käme sie wie Lóminîth aus Umbar oder dem Süden.
"Ich bin Valion, Herr des Ethir Anduin... zumindest war ich das, bis Mordor ihn erobert hat," sagte er wahrheitsgetreu. "Jetzt sitze ich mehr oder weniger hier in der Schwanenstadt fest und erledige einige Dinge für Imrahil, wenn dem Prinzen danach ist." Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln. Schlecht sah sie nicht aus - ganz im Gegenteil sogar. Wenn er ehrlich war, entsprach das Mädchen sogar ziemlich genau seinem Geschmack... doch er war bereits verlobt, und die Kleine war ohnehin zu jung für ihn.
"Ein Lehnsfürst des südlichen Königreiches?" Die junge Frau riss recht erschrocken die Augen auf, dann machte sie einen anständigen Knicks.
"Lass den Unsinn, Kleine. Ich mache mir nichts aus meinen Titeln, das sage ich meinen Soldaten auch immer. Meine Verlobte ist zwar anderer Meinung, aber... diese Höflichkeiten sind nicht vonnöten. Nenn' mir einfach deinen Namen, dann hast du deine Schuld abgetan."
"Aerien," sagte sie leise.
"Und ich bin Narissa," sagte eine zweite Stimme, als die dritte Frau in Amrothos' Gruppe sich plötzlich zu ihnen gesellte. Auch sie trug keine Kapuze mehr und Valion erkannte erstaunt, dass ihr Haar schneeweiß zu sein schien. Sie sprach im Gegensatz zu Aerien akzentfrei und wirkte gleichzeitig aufgekratzt und müde, eine Mischung, die Valion nur zu gut aus seinen Tagen an der Kriegsfront kannte.
"Schön euch zwei kennenzulernen, Aerien und Narissa," sagte Valion. "Und was macht ihr in der Begleitung eines Prinzen von Dol Amroth, der sich eigentlich auf einer diplomatischen Mission nach Rohan befinden sollte?"
Beide Mädchen schauten Valion an, ohne eine Antwort zu geben. Ratlos drehte er den Blick zurück in den Solar, doch dort entdeckte er nur Irwyne, die sich geduldig auf einen der freien Stühle gesetzt hatte und auf Amrothos' Rückkehr zu warten schien. Erst auf den zweiten Blick hin bemerkte Valion, dass die beiden Männer sich in eine der Ecken des großen Arbeitszimmers zurückgezogen hatten und sich leise miteinander unterhielten.
Ehe er bei Aerien und Narissa nachhaken konnte, öffnete sich die Tür, durch die Amrothos verschwunden war, und der Prinz kehrte in Begleitung seines Vaters sowie Meister Edrahils und Golasgils von Anfalas zurück. Zuletzt kam auch Amrothos' Mutter herein, die Herrin Avórill Silberglanz. Da kam Bewegung in die beiden geheimnisvollen Männer, die sich aus ihrer Ecke auf den Fürsten zu bewegten.
"Kann es wirklich wahr sein?" sagte Imrahil und wirkte geradezu ehrfürchtig - so hatte Valion den Fürsten noch nie erlebt.
Als Valion neugierig näher kam, traten die beiden jungen Frauen neben ihn. Beide wirkten auf ihre eigene Art und Weise stolz: die weißhaarige Narissa stellte es offen zur Schau, während man Aerien die Gefühlsregung nur an dem schwachen Lächeln auf ihren Lippen ansehen konnte.
"Glaubt es, Fürst Imrahil. Unserem Feind ist ein schwerer Schlag versetzt worden," sagte der ältere der beiden Männer, und mit einem Mal hielt er einen Stab in der Hand, von dem ein geheimnisvolles Leuchten ausging. Da fiel es Valion wie Schuppen von den Augen. Er kannte ihn - er hatte ihn auf den Mauern der weißen Stadt gesehen. "Mithrandir..." murmelte er vollkommen überrascht.
Wie auf ein stummes Kommando gingen Imrahil und seine Frau, sowie Amrothos und auch Fürst Golasgil auf die Knie. Erst glaubte Valion, sie würden vor dem Zauberer knien, doch dann erkannte er an den Blicken, dass sie jemand anderes anschauten. Den zweiten Mann, der sich mit Mithrandir unterhalten hatte. Dieser setzte nun seine Kapuze ab und im Licht des Zauberstabes erkannte Valion sein Gesicht: Streng, kantig... königlich. Er hatte die Gerüchte vom Herrn Elbenstein, dem Kommandanten der Dúnedain des Nordens, die nach der Schlacht auf dem Pelennor unter den Soldaten umgegangen waren, gehört, und besagten Kriegsanführer einmal mit eigenen Augen gesehen, als dieser in den Häusern der Heilung gewesen war, wo Valion und seine Schwester gelegen hatten. Und er wusste, dass unter den Heilern das Wort ging, dass dieser Mann den Thron von Gondor einfordern konnte.
Viel zu langsam ließ er sich ebenfalls auf ein Knie herab, als Aerien und Narissa es ihm gleich taten. Nur der Zauberer blieb stehen und sagte feierlich: "So kehrt Aragorn, Sohn des Arathorn zurück aus dem Schattenland, um seinen rechtmäßigen Platz als König von Gondor wieder einzunehmen."
"Und ich als Truchsess des südlichen Königreiches werde einer solch unverhofften Rückkehr des Königs wahrlich nicht im Wege stehen," sagte Imrahil.
"Steht auf, meine Freunde," sagte Aragorn leise. "Ich danke euch, dass ihr unser Land während meiner Gefangennahme verteidigt habt und die Hoffnung der Menschen bewahrt habt."
"Doch wie seid Ihr der Gefangenschaft unseres Feindes entflohen?" wollte Avórill wissen, als alle wieder aufgestanden waren.
"Meine Befreier waren so unwahrscheinlich wie einst Earendils Fahrt durch die verwunschenen Inseln vor der Küste von Aman," sagte der König und lächelte. "Eine von ihnen kehrte freiwillig in den Schatten zurück, aus dem sie unter Einsatz ihres Lebens geflohen war. Die andere fand einen geheimen Weg, den selbst Sauron nicht kannte. Jeder im Reich soll wissen, dass es Narissa und Aerien waren, die Gondor seinen König zurückbrachten."
Erstaunt drehten sich alle zu den beiden jungen Frauen um. Während Narissa zufrieden nickte, schien Aerien die Aufmerksamkeit eher unangenehm zu sein.
"Ich bin mir sicher, da steckt eine wahre Heldengeschichte dahinter," sagte Golasgil und nickte anerkennend. "Wie gerne würde ich sie hören."
"Die Zeit dafür wird es geben," sagte Mithrandir. "Doch wir alle sind müde, und morgen steht uns ein wichtiger Tag zuvor. Ich bin mir sicher, dass der Fürst mir zustimmen wird, wenn ich ihn bitte, uns Schlafgemächer zur Verfügung zu stellen und den offiziellen Teil der Rückkehr des Königs ... auf einen anderen Tag zu verschieben." Der Zauberer schmunzelte amüsiert, und Imrahil nickte. "Das wäre wohl das Beste. Ich würde mich freuen, euch alle beim Frühstück zu empfangen, um die Einzelheiten zu besprechen. Edrahil, bitte bereite alles dafür vor." Der Herr der Spione nickte. Dann humpelte er hinaus.
Wenig später machte Valion sich schließlich auf den Heimweg. Er konnte noch immer kaum glauben, was er erfahren hatte. Gondors verschollener König war aus Mordor befreit worden - von zwei Mädchen, die zwar eindeutig Mut in den Knochen zu haben schienen, aber nicht wie unüberwindliche Krieger aussahen. Mit dem Gedanken im Kopf, dass in den kommenden Tagen wohl viele wichtige Entscheidungen getroffen werden würden, schlief Valion schließlich ein.
Eandril:
Narissa wurde von einem leisen, beinahe zaghaften Klopfen geweckt. Sie richtete sich im Bett auf, vorsichtig, um Aerien nicht zu wecken, und rieb sich mit den Fäusten die Augen.
"Narissa? Aerien?", hörte sie eine leise Stimme von der anderen Seite der Tür. "Seid ihr da?" Eine weibliche Stimme. Sie kam Narissa bekannt vor, doch in ihrem noch immer etwas schläfrigen Zustand konnte sie sie nicht richtig einordnen.
Sie stieg aus dem Bett, wobei sie die Decke wieder über Aeriens schlafender Gestalt zurecht zog, schlich auf Zehenspitzen zur Tür und öffnete sie einen Spalt weit. Draußen im noch dämmrigen Flur stand Minûlîth, deren Lächeln beim Anblick von Narissas Kopf noch ein wenig breiter wurde.
"Da bist du ja. Ich dachte mir, dass ich dich hier finde." Narissa räusperte sich, einen Augenblick lang verlegen. Tatsächlich waren ihr und Aerien getrennte Räume zur Verfügung gestellt worden, doch da sie beide in der ersten Nacht in Dol Amroth nicht allein sein wollten, hatte sich Narissa kurze Zeit später hinüber in Aeriens Zimmer geschlichen.
"Ja", erwiderte Narissa, bevor sie sich erneut die Augen rieb. Allmählich verließ sie auch der letzte Rest Schläfrigkeit. "Aber wie kommst du überhaupt hierher?"
"Später. Wenn du dir etwas anziehst, könnten wir einen kleinen Spaziergang machen und über alles sprechen. Was ist mit Aerien?"
Narissa warf einen Blick über die Schulter. Aerien drehte ihr den Rücken zu, doch sie hatte ihre Position kein Stück verändert und schlief offensichtlich weiterhin tief und fest. Narissa kämpfte einen kurzen Moment mit sich. Einerseits wollte sie Aerien auf keinen Fall wecken, denn ein wenig Schlaf in einem ordentlichen Bett konnte ihr nur gut tun. Andererseits stellte Narissa fest, dass ihr allein der Gedanke, Aerien alleine zurückzulassen, Schwierigkeiten verursachte - vor allem wenn sie daran dachte, was geschehen war, als sie sich das letzte Mal für nur kurze Zeit getrennt hatten.
Schließlich atmete sie tief durch, und drehte sich wieder zu Minûlîth, die geduldig wartete, um. "Wir sollten sie schlafen lassen. Es gibt nur ein Problem... Meine ganzen Sachen sind in meinem Zimmer."
Minûlîths Gesicht ließ kaum eine Regung erkennen, höchstens ein leichtes belustigtes Zucken. "Dann würde ich sagen, ich gehe ans andere Ende des Flurs und passe auf, das niemand kommt, und in der Zeit schleichst du zurück."
Narissa nickte, bevor sie sich so leise wie möglich ihre Unterbekleidung von einem der Stühle schnappte. Sie warf einen letzten Blick auf die schlafende Aerien, und kritzelte dann rasch mit Feder und Tinte, die auf dem einzigen Tisch bereitgestellt waren, eine kurze Notiz.
Aerien -
bin mit Minûlîth gegangen. Ich wollte dich nicht wecken.
Wir sehen uns spätestens beim Fürsten.
Die Zungenspitze zwischen die Lippen geschoben, setzte Narissa nach kurzer Überlegung noch einen weiteren Satz hinzu.
Du bist niedlich wenn du schläfst, falls ich dir das noch nie gesagt habe.
Sie ließ das Papier auf dem Tisch liegen, und schlich, ihre Kleidung an sich gepresst, auf nackten Füßen zur Tür hinaus. Natürlich hätte sie zumindest ihre Unterwäsche schon anziehen können, fiel ihr ein, während sie vollkommen nackt durch den verlassenen Flur schlich. Doch sie hatte Glück. Niemand versuchte in diesem Augenblick diesen Weg zu nehmen, und sie gelangte ohne Zwischenfälle bis zu ihrem Zimmer.
Dort angekommen stellte Narissa fest, dass ihre Reisekleidung verschwunden war - vermutlich um gewaschen zu werden, und das war auch besser so. An ihrer Stelle war zur ihrer Erleichterung kein Kleid bereitgelegt worden, sondern im Grunde ihre übliche Kleidung, nur in den blau-silbernen Farben Dol Amroths. Nachdem sie sich angezogen hatte und ihre von der Nacht zerzausten Haare ein wenig geordnet hatte, trat Narissa wieder hinaus auf den Flur, wo Minûlîth sie bereits erwartete.
"Früher musste immer meine Schwester für mich Schmiere stehen", sagte sie, mit einem nostalgischen Funkeln in den Augen. Narissa hakte sich bei ihrer Tante unter, und folgte ihr den Gang hinunter, an weiteren Türen vorbei. Nach rechts gingen verglaste Fenster auf die Bucht hinunter, doch durch sie war nicht viel mehr als Grau zu sehen. Es versprach ein trüber Tag zu werden.
"Wieso?", fragte Narissa nach, und Minûlîth lächelte ein wenig wehmütig. "Als dein Onkel und ich und kennenlernten, lebte mein Vater noch. Er war nicht besonders begeistert von Thorongil - Tayyad, wie er sich damals öffentlich nannte. Er hielt ihn für einen nutzlosen Rumtreiber, der natürlich niemals gut genug für seine Töchter sein könnte. Das hat Thorongil natürlich nicht davon abgehalten, mich zu besuchen, selbst wenn mein Vater ausnahmsweise einmal zuhause war. Zum Glück konnte ich mich auf Lóminîths Hilfe verlassen."
Sie bogen um die Ecke in einen breiteren Flur mit einem Teppich im allgegenwärtigen Blau und Silber ab.
"Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, dich hier zu sehen", wechselte Narissa das Thema. "Ist mein Onkel auch hier?"
"Ja. Und Túor auch." Bei der Erwähnung ihres Sohnes lächelte Minûlîth. "Die beiden sind noch früher auf gewesen als ich, und sind zum Hafen hinunter gegangen, um sich Schiffe anzusehen. Dafür wissen sie noch nichts von eurer Ankunft."
"Wie hast du überhaupt davon erfahren?", fragte Narissa. "Und wie kommt es, dass ihr hier in Dol Amroth seid?"
Minûlîth wirkte belustigt. "Ich hatte ja gehofft, zuerst mit den Fragen an der Reihe zu sein, aber ich hätte es besser wissen müssen." Inzwischen hatten sie einen kleinen Innenhof mit einem Springbrunnen erreicht, den sie überquerten bevor sie in den nächsten langgestreckten Flur auf der anderen Seite eintraten. "Zu deiner ersten Frage: Ich bin einem sehr freundlichen Herrn namens Mithrandir begegnet, der eine Menge zu wissen schien, und der mir von eurer Ankunft erzählt, und mir gleichzeitig einen Eid abgenommen hat, mit niemandem darüber zu sprechen." Sie beugte sich ein wenig näher zu Narissa herüber, und fügte im Flüsterton hinzu: "Heißt das, dass ihr Erfolg hattet?"
Narissa verzichtete auf eine wörtliche Antwort, sondern nickte nur kurz, wobei sie sich ein stolzes Lächeln nicht verkneifen konnte. Minûlîth blieb stehen, zog Narissa in eine kurze, aber feste Umarmung. Als sie wieder los ließ, glänzten ihre Augen, und sie lächelte.
"Und um deine zweite Frage zu beantworten... ", fuhr sie fort, als wäre nie etwas gewesen. "Meine Schwester heiratet in ein paar Tagen Valion vom Ethir, und da wollten wir dabei sein."
"Valion?", fragte Narissa. "Ich glaube, dem sind wir gestern begegnet. Er ist uns in der Stadt über den Weg gelaufen, und hat uns zum Palast begleitet."
Minûlîth wirkte aus irgendeinem Grund nicht sonderlich glücklich über diese Erkenntnis. "Er ist ein guter Mann", sagte sie. "Und er hatte einen nicht unbedeutenden Anteil daran, dass niemand aus meiner Familie in Umbar gestorben ist - und daran, Prinzessin Lóthiriel aus der Gefangenschaft zu retten. Aber..." Minûlîth seufzte leise. "Ich fürchte was er weiß, erfährt auch bald meine Schwester, und..."
Sie brach ab.
Bevor Narissa die Frage stellen konnte, die ihre auf der Zunge lag, erreichten sie das offenstehende Haupttor des Palastes, wo sie beinahe mit einem hochgewachsenen Mann zusammengestoßen wären. Der Mann verneigte sich entschuldigend, wobei ihm die schwarzen Haare ein wenig ins Gesicht rutschten, und sagte: "Bitte entschuldigt. Ich war in Gedanken, und habe euch nicht gesehen."
Minûlîth winkte großzügig ab. "Macht euch darum keine Gedanken. Wir waren so in unser Gespräch vertieft, dass wir euch ebenfalls übersehen haben."
Sobald der Mann den Kopf gehoben und die Haare aus dem Gesicht zurückgestrichen hatte, war Narissa aufgefallen, dass sein linkes Auge von einer schwarzen Augenklappe bedeckt war, was sein eigentlich gut aussehendes Gesicht ein wenig wild wirken ließ. Sein Lächeln war allerdings offen, und er erwiderte: "Dann ist es gut, dass wir alle gerade noch rechtzeitig unsere Augen geöffnet haben." Bei dem Wort Augen zuckte sein Mundwinkel ein winziges bisschen, als wäre es ein unbedachter Ausdruck gewesen, der ihm selbst Schmerzen bereitete. Doch sein Lächeln fing sich schnell wieder, als er hinzufügte: "Ich erinnere mich an euch, Herrin Melíril, doch ich fürchte, eure Begleiterin noch nie gesehen zu haben."
"Mein Name ist Narissa", erklärte Narissa. "Min- Melíril ist meine Tante. Also, die Frau meines Onkels. Thorongil. Er..." Sie brach mit einem frustrierten Laut ab. Höfliche Förmlichkeiten würden wohl nie ihre Stärke werden.
"Hilgorn Thoron, zu euren Diensten", stellte sich ihr Gegenüber formvollendet vor, und fügte in verschwörerischem Tonfall hinzu: "Unter uns gesagt, die höfische Ausdrucksweise ist nicht gerade meine Stärke." Er wandte sich wieder Minûlîth zu. "Ich bin eurem Gemahl und eurem Sohn auf dem Weg hierher begegnet. Ich habe mit eurem Gemahl bereits darüber gesprochen, aber... Nun, jedenfalls habe ich einen Neffen und eine Nichte - jetzt eher meine Stiefkinder - die in einem ähnlichen Alter sind wie euer Sohn. Ich weiß nicht, wie lange ihr in Dol Amroth bleiben werdet, doch sollte euer Sohn sich einsam fühlen... vielleicht könnten sie Freunde werden."
"Ich danke euch für das Angebot", erwiderte Minûlîth. "Und ich werde Túor danach fragen."
Hilgorn verbeugte sich erneut. "Ich fürchte, ich muss jetzt weiter, sonst komme ich zu spät. Auf Wiedersehen." Damit eilte er in den Palast hinein, seine langen Schritte auf dem hellen Marmor der Eingangshalle widerhallend.
Narissa und Minûlîth traten auf den Vorhof des Palastes hinaus, und Minûlîth führte sie durch das äußere Tor hindurch, und dann eine gepflasterte Gasse direkt unterhalb der Mauer hinab, bis ans Ufer der Bucht heran. Hier lag, ein wenig versteckt in einer Einbuchtung der Felsplatte, auf der der Palast und Teile der Stadt erbaut waren, eine kleine Anlegestelle, von der aus vermutlich die Adligen von Dol Amroth in sichereren Zeiten mit kleinen Booten auf die Bucht in See stechen konnte. Minûlîth zog Narissa auf eine niedrige Mauer neben sich, sah sich um und sagte dann: "Ich glaube, hier sind wir ungestört. Erzähl."
Also erzählte Narissa, wie die Reise nach Mordor verlaufen war - in Kurzfassung. Dennoch ließ sie nichts wichtiges aus, bis auf das, was in Durthang geschehen war. Als sie fertig war, schüttelte Minûlîth ungläubig den Kopf. "Wenn du nicht hier sitzen würdest, würde ich die ganze Geschichte für ein Märchen halten."
Narissa musste grinsen, und lehnte den Kopf gegen den Felsen hinter ihr. "Mir geht es nicht viel anders. So richtig kann ich immer noch nicht glauben, dass wir es wirklich getan haben."
Sie schwiegen einen Moment, bevor Narissa die Frage stellte, die ihr noch immer auf den Lippen brannte: "Was ist schlimm daran, wenn deine Schwester erfährt, was passiert ist? Misstraust du ihr?"
Minûlîth seufzte. "Nein, das ist nicht das richtige Wort. Ich liebe sie wirklich, aber... Lóminîth tut nichts, was ihr nicht zum Vorteil gereicht. Ich habe dir erzählt, wie sie mir geholfen hat, wenn Thorongil... zu Besuch kam." Narissa nickte, sie erinnerte sich an die Geschichte. "Sie hat mir zuverlässig geholfen und mich nie verraten, doch sie hat immer eine Gegenleistung der ein oder anderen Art von mir eingefordert. Immer. Und wenn sie die Wahrheit erfährt... ich glaube nicht, dass sie soweit gehen würde, uns an Mordor zu verraten. Nicht meine Schwester. Aber ich fürchte, dass sie unvorsichtig sein würde, was am Ende aufs gleiche hinauslaufen würde."
"Hm...", machte Narissa nachdenklich. "Vielleicht könnte Edrahil mit diesem Valion reden. Das müsste doch Eindruck machen."
Minûlîths Augenbrauen hatten sich misstrauisch zusammengezogen. "Edrahil? Aber er ist doch in Umbar."
Ihre Worte ließen Narissa stutzen. "Nein, er ist... er war gestern dabei, als wir beim Fürsten waren. Aber... er hat kein Wort zu Aerien oder mir gesagt, und er hat auch keine Regung gezeigt, als er uns gesehen hat."
"Das ist an sich nicht unbedingt bemerkenswert", meinte Minûlîth langsam. "Dieser Mann liebt seine Geheimnisse. Aber seltsam ist es doch - wieso sollte er einfach so zurückkehren, ohne seine eigene Aufgabe zu erfüllen? Das passt nicht zu ihm."
"Ich werde mit ihm reden", sagte Narissa kurzentschlossen. "Dann finde ich schon raus, was los ist."
"Tu das", erwiderte Minûlîth, doch sie wirkte besorgt. "Aber tu es am besten nicht alleine. Falls tatsächlich irgendetwas an der Sache faul ist, wärst du alleine in Gefahr."
"Aerien wird mich begleiten", stellte Narissa wie selbstverständlich fest, und musste erneut lächeln. "Ich glaube nicht, dass sie mich alleine gehen lassen würde."
"Wo wir gerade davon sprechen..." Minûlîth blickte zum Himmel auf, wo die Sonne blass durch die Wolken schien. "Wir sollten uns besser auf den Rückweg machen. Denn egal was für Heldentaten man auch vollbracht haben mag: Einen Fürsten lässt man am besten nicht warten."
Fine:
Die Sonne, die durch das kleine Fenster hereinfiel, weckte Aerien. Sie stellte fest, dass sie auf dem Bauch lag, was so gar nicht zu ihren normalen Schlafgewohnheiten passte. Schon immer hatte sie am liebsten auf der linken Seite geschlafen. Da fiel ihr wieder ein, dass Narissa spät Abends zu ihr gekommen war.
"'Rissa?" murmelte sie undeutlich und tastete mit der Hand über die Matratze. Aber ihre Finger griffen ins Leere. Verschlafen setzte Aerien sich auf, das dunkle Haar fiel ihr unordentlich über Stirn und Gesicht. Sie strich sich die Strähnen etwas unwillig hinter die Ohren und musste feststellen, dass Narissa fort war, ebenso wie deren Kleider.
Wo ist sie denn so früh bloß hingegangen? fragte sie sich. Ohne dass sie dagegen etwas tun konnte, stiegen leise Stimmen in Aerien auf die ihr einzureden versuchten, Narissa hätte Geheimnisse vor ihr. Sie verscheuchte diese Gedanken mit einem energischen Kopfschütteln und begann dann, sich für das Frühstück mit dem Truchsessen Gondors präsentabel zu machen.
Erst als sie beinahe fertig war, entdeckte sie den Zettel, auf dem in Narissas unordentlicher Schrift etwas gekritzelt stand. "Bin mit Minûlîth gegangen?" las Aerien fragend vor. "Minûlîth ist hier?" Sie schlüpfte in ein Kleid, das wohl der Hofstracht von Dol Amroth entsprach, denn es war hellblau, mit silbernen Stickereien und einem Ziersaum aus weißen Schwansymbolen am Rock und an den Ärmeln. Woher die Dienstmädchen ihre Maße kannten, fragte Aerien sich gar nicht erst - wenn Minûlîth wirklich in der Stadt war, waren solche Dinge nicht sehr verwunderlich.
Zwei Pagen wiesen ihr freundlicherweise den Weg zum Solar des Fürsten. Beide schienen von Aeriens Anblick recht angetan zu sein, was sie selbst ein wenig verlegen machte. Die Jungen waren natürlich weder in ihrem Alter, noch ihr Typ. Aber sie konnte dennoch nicht ganz verhindern, dass sie sich etwas geschmeichelt fühlte. In Durthang hatte sie gelernt, solcherlei Zuneigung für ihre Zwecke auszunutzen. Doch mittlerweile kam ihr diese Vorgehensweise so absurd vor, dass sie beinahe laut gelacht hätte.
"Wenn ich es dir doch sage, Edrahil. Hast du dir in Umbar irgendwo den Kopf gestoßen? Es passt nicht zu dir, so ein Detail einfach zu vergessen." Als Aerien diese Stimme hörte, sah sie wie Valion vom Ethir vor ihr um eine Ecke bog, in Begleitung Edrahils, der sich auf seinen Stab stützte. Sie war erstaunt, dass die beiden sich kannten und blieb stehen. Da hatte der impulsive Valion sie bereits entdeckt und kam auf Aerien zu, sein Gesprächsthema mit Edrahil beiseite lassend. "Guten Morgen, Aerien!" grüßte er sie gut gelaunt.
"Ich freue mich, Euch zu sehen, Meister Valion," sagte Aerien und machte einen angemessenen Knicks. Immerhin war dies ein Lehnsfürst Gondors, auch wenn sein Erbland wohl im derzeit von Mordor besetzten Gebiet des Reiches lag.
Eine breite Hand legte sich auf Aeriens Kopf und wuschelte ihr durch das sorgfältig in Form gebrachte Haar, und sie hörte Valion lachen. "Meister Valion?" wiederholte er. "Ich sagte doch, du sollst diesen förmlichen Kram sein lassen, Kleine." Sie schaute auf und sah, wie er breit grinste. "Ich bin Valion... mehr nicht. Wenn du schon jemandem mit Meister anreden willst, dann spare dir das für Edrahil auf."
"Du solltest nicht ihre offensichtlich gute Erziehung und vorbildliche Manieren untergraben," sagte Edrahil streng.
"Ihr beiden kennt euch?" wollte Aerien zaghaft wissen.
"Lange Geschichte," winkte Valion ab. "Wenn du möchtest, erzähle ich dir alles, was du über unseren alten Griesgram wissen willst, aber... "
"Der Fürst wartet," sagte Edrahil kühl. "Wir werden uns verspäten."
Tatsächlich trafen sie noch genau rechtzeitig ein. Eine kleine Glocke aus Silber schlug, als die drei Menschen in den privaten Gästesaal der Fürstenfamilie kamen. Gandalf, Aragorn, Amrothos und Irwyne waren bereits anwesend und hatten an einer langen Tafel Platz genommen, auf der ein ausgiebiges Frühstück aufgetischt worden war. Am Kopfende des Tisches saß Fürst Imrahil, und neben ihm seine Ehefrau, die, wie Aerien aufgeschnappt hatte, im Volksmund "Fürstin Silberglanz" genannt wurde. Neben der Fürstin saß eine Frau, die wie eine jüngere Ausgabe von ihr aussah - Aerien erkannte sie sofort als Amrothos' Schwester, Lothíriel. Und neben der Prinzessin saßen Minûlîth, und... Narissa.
Narissa! dachte Aerien, und in dem Augenblick drehte Narissa ihr den Kopf zu und winkte sie eifrig zu sich hinüber. Gerade noch rechtzeitig, denn als Aerien den freien Stuhl neben Narissa erreichte, entdeckte sie einen der anderen Würdenträger Gondors - Golasgil von Anfalas, wie sie später erfuhr - der wohl ebenfalls denselben Sitzplatz angestrebt hatte. Er neigte respektvoll das Haupt und ließ Aerien den Vortritt.
"Oh - danke!" sagte sie und nahm mit einem Lächeln Platz.
"Wie könnte ich einer Heldin Gondors den Vortritt verweigern?" sagte Golasgil schmunzelnd und wählte dann stattdessen den Sitzplatz neben Aerien. Auch Valion und Edrahil hatten mittlerweile Platz genommen - beide saßen genau gegenüber von Aerien und Narissa - und somit schien die Tafel vollständig zu sein.
Fürst Imrahil schien bereits über so manches Detail im Bilde zu sein, unter Anderem über Minûlîths Wissen über Narissas und Aeriens Reise, was wohl die Anwesenheit der Herrin des Turms an der Tafel erklärte. Von Thorongil hingegen fehlte jegliche Spur, auch der kleine Túor war nicht zu sehen. Aerien fragte sich, ob die beiden überhaupt in Dol Amroth waren. Ehe sie Minûlîth jedoch danach fragen konnte, nahm der amtierende Truchsess Gondors, Imrahil, das Wort.
"Ich hoffe, ihr hattet eine ruhige Nacht, meine Freunde. Bitte, esst und seid frohen Mutes. Gondors Stern scheint heute heller denn je zuvor, seit dem Fall der östlichen Lehen. Es wird viel zu besprechen geben, doch zunächst sollten wir uns stärken. Und während wir das tun, wird Mithrandir uns allen erzählen, wie es dazu gekommen ist, wir heute hier mit dem rechtmäßigen König der Erben Númenors zu Tisch sitzen können."
Aerien schaute erstaunt zu dem Zauberer hinüber, ihrem Blick mit einem zufriedenen Anheben der linken Augenbraue begegnete, ehe er zu sprechen begann. "Euch allen ist die Insel Tol Thelyn ein Begriff," sagte Gandalf. "Einer ihrer Söhne, Arandir der Wanderer, fand vor Jahrtausenden einen verborgenen Weg nach Mordor hinein, der selbst den Weisesten nicht bekannt war. Auch Sauron war sich dieses Weges nicht gewahr. Unzählige Jahrhunderte schlummerte Arandirs Geheimnis, bis es seinen Weg in die Hände Narissas fand, die wie Arandir aus dem Haus der Turmherren stammt. Als bekannt wurde, dass der dunkle Herrscher Gondors König in seinem Turm gefangen hielt, wurde das Schicksal von Arandirs Weg offenbart. Narissa tat sich mit Aerien zusammen, deren Wissen sich als unschätzbar erweisen sollte, und so beschlossen sie, den Gefangenen Saurons zu befreien. Sie gingen nicht allein, sondern hatten Hilfe von vielen Seiten - die Thelynrim der Weißen Insel versorgten sie mit einem Schiff und Proviant; ein Abtrünniger der Menschen Mordors leitete sie auf ihrem Weg durchs Schattenland, und.. .ein guter Freund von mir lieh ihnen in Mordor seine Kraft und seine Findigkeit."
Aerien staunte. Gandalf schien vieles zu wissen, was er nur von Narissa oder von ihr selbst erfahren haben konnte. Außer Gimli hatten die Mädchen nämlich niemandem die genauen Details ihrer Reise nach Mordor erzählt... "Gimli!" entfuhr es ihr leise, und Narissa nickt bestätigend, als sie den Namen hörte. "Er muss es Gandalf erzählt haben," flüsterte sie, ehe Gandalf weitersprach. Der Zauberer hielt sich zwar kurz, dennoch brauchte er eine halbe Stunde, um die wichtigsten Ereignisse von Narissas und Aeriens Weg von Tol Thelyn über Harondor, Mordor, Ithilien, Anórien und schließlich Rohan bis nach Dol Amroth zusammenzufassen. In der Zwischenzeit hatten alle anderen ihr Frühstück beendet, blieben aber sitzen, da weder Aragorn noch Fürst Imrahil sich erhoben hatten.
"Ihr fandet diese... Karte zu Arandirs Weg," sagte der Fürst von Dol Amroth und blickte dann seine Tochter an. "Haben wir nicht von dir, Lothíriel, etwas Ähnliches gehört, nach deiner Rückkehr aus Umbar?"
Die Prinzessin nickte. "Als man mich aus den Verliesen Hasaels befreite, entwendete der Schreiber-"
"Bayyin," warf Narissa ein.
"-Bayyin," wiederholte Lothíriel ruhig. "Er entwendete die Karte aus der Bibliothek Umbars, soweit ich weiß. Ich nehme an, er hat sie entschlüsselt."
"So ist es," sagte wieder Narissa. "Aber die Idee, Arandirs Weg zur Befreiung Aragorns zu benutzen, stammte nicht von Bayyin."
"Sondern von wem?" wollte die Fürstin Silberglanz wissen.
"Es war Ed-" sagte Aerien, und riss überrascht die Augen auf, als sich Narissas Hand auf ihren Mund legte.
Minûlîth beugte sich leicht vor und schaute zu Gandalf hinüber. Ihr Blick sagte Aerien, dass beide etwas zu wissen schienen, was den meisten anderen noch verborgen blieb. "Der Verantwortliche soll selbst erklären, wie er auf die Idee gekommen ist. Immerhin hat er dadurch einen nicht zu vernachlässigenden Anteil am Ruhme der Rückkehr des Königs."
Ratloses Schweigen antwortete ihr. Dann endlich rührte sich Edrahil, gerade als Aerien zu dem Glauben gekommen war, der alte Spion wäre im Sitzen mit offenen Augen eingeschlafen.
"Es war selbstverständlich... mein Vorschlag," sagte Edrahil.
Doch sein Zögern hatte zu lange gedauert. Etwas musste mit Edrahil geschehen sein, denn der Mann, den Aerien auf der Insel kennengelernt hatte, hätte deutlich schneller, und verärgerter reagiert, und hätte den Ruhm unwirsch zurückgewiesen. Minûlîth schien derselben Meinung zu sein. Sie erhob sich und legte die Hände zusammen. Sofort tauchten in den beiden Zugängen zur Halle bewaffnete Soldaten auf. Als auch Gandalf aufstand, und die anderen Anwesenden begannen, überrascht und wild durcheinander zu reden, starrte Aerien in Edrahils Richtung und... die Zeit schien mit einem Mal still zu stehen.
Alle Farben verblassten und der Raum wurde grau. Ein düsterer Nebel breitete sich aus. Niemand bewegte sich, und nach und nach verblassten die Menschen rings um Aerien, einer nach dem anderen, bis es nichts mehr gab als sie selbst, ihren Stuhl, den Tisch vor sich und... Edrahil auf der anderen Seite der schmalen Tafel. Er sah sie an... und als er sprach, erklang seine Stimme in Aeriens Kopf.
Hast du wirklich geglaubt, du wärest entkommen, Azruphêl?
Dachtest du, die Augen des Dunklen Turmes wären blind?
Ich wusste, dass du ihn hier her bringen würdest.
Ich habe euch erwartet.
Sie konnte sich nicht rühren. Die Stimme war wie flüssiges Eis in Aeriens Ohren. Sie erschauerte bis aus Mark, als sie sie erkannte.
Nein, du... du bist tot, keuchte sie in ihren Gedanken auf.
Tot? Ein schrilles Lachen erklang und Edrahils Gesicht schien zu schmelzen, als es sich langsam und grauenhaft umformte. Zu Metall wurde. Eine abscheuliche stählerne Maske bildete sich heraus. Die Maske des Bleichen Herolds. Es bedarf mehr als der Klinge eines erbärmlichen Verräters um mich zu töten. Der Tod ist auf meiner Seite, Azruphêl. Du gehörst mir.
Die toten Augen des Herolds leuchteten feurig leuchtend hinter seiner Maske auf, und schneller als eine Schlange schoss er über den Tisch hin auf sie zu, ein langes Messer in der Hand.
Ein langgezogener Schrei durchbrach die Starre und Aerien war es, als ob der Nebel um sie herum wie Glas zersplitterte. Es war Narissa, die entsetzt aufgeschrien hatte. Aerien konnte sich wieder bewegen, und sah, wie Edrahil über den Tisch hinweg auf sie zusprang, als wäre sein Gebrechen wie durch ein Wunder verschwunden. Der Dolch in seiner Hand hätte sich in Aeriens Herz gebohrt, wenn nicht in diesem Augenblick zwei Dinge geschehen wären. Etwas sirrte unglaublich nahe an Aeriens Gesicht vorbei, und kaum einen Sekundenbruchteil später blitzte ein blendend helles Licht auf, begleitet von einem lauten Donnerschlag und einem Krachen von berstendem Holz.
Als Aerien die Augen wieder öffnete, lag vor ihr auf dem Tisch - oder was von dem Tisch übrig war, denn er war in zwei Hälften gespalten worden - der rauchende Leichnam Edrahils. In seinem Hals steckte ein Wurfmesser, das bis zum Anschlag eingedrungen war. Als Aerien sich das Gesicht näher ansah, stellte sie fest, dass die Gesichtszüge nun keinerlei Ähnlichkeit mehr mit Edrahil hatten.
Jemand trat neben sie. Es war eine Frau mit dunkelbraunen Haaren und Augen, die beinahe dasselbe Kleid trug wie Aerien selbst. "Sieht aus als wäre meine Hilfe gar nicht vonnöten gewesen," sagte sie trocken und schaute ungerührt auf die Leiche herab, dann zog sie das Wurfmesser heraus. Es war Ta-er as-Safar.
"Es ist gut zu wissen, dass mehr Augen über Aerien wachen, als selbst mir klar war," sagte Gandalf, der nun den Tisch umrundete. Sein Stab strahlte eine gewisse Wärme aus, und wie Aerien bald schon von Narissa erfuhr, war der Zauberer für den Blitzschlag verantwortlich gewesen.
Valion vom Ethir versetzte der Leiche einen Fußtritt und diese rollte an Aerien vorbei und blieb auf dem Rücken liegen. "Das... ist verdammt noch mal nicht Edrahil," sagte der junge Adelige und sprach damit aus, was allen inzwischen klar geworden zu sein schien.
"Ich hatte es befürchtet," sagte Minûlîth.
"Wie ist das möglich?" wollte die Fürstin Silberglanz wissen.
"Dies ist das Werk des Bleichen Herolds," sagte Gandalf. "Er hat diesen Menschen behext und mit den dunklen Künsten sein Aussehen so verändert, dass die Täuschung beinahe perfekt war. Dies war von langer Hand geplant, wie es mir scheint."
Amrothos sagte leise: "Ich glaube... das war es, was... auch mit Hilgorn geschehen sollte..."
"Sauron weiß, dass wir hier sind," sagte Aragorn leise, dann erhob er sich. "Das bedeutet, das Versteckspiel ist vorbei."
Imrahil nickte. "Ich bin froh, dass dieser Verrat aufgedeckt wurde, ehe noch mehr Schaden angerichtet werden konnte."
Narissa, deren Schultern zitterten, sprang auf Aerien zu und drückte sie so fest an sich, dass es beinahe weh tat. Aber nur beinahe. "Ich... ich lass' dich nie mehr aus den Augen, hörst du!" sagte sie mit belegter Stimme, und Aerien glaubte bereits, Narissa würde in Tränen ausbrechen.
"Es... ist mir nichts passiert," sagte sie beruhigend und legte die Arme um Narissa.
"Was für ein Aufruhr am frühen Morgen," sagte Valion, der sich ziemlich fassungslos über den Nacken strich. "Ich hoffe, der Tag hat nicht noch weitere böse Überraschungen zu bieten."
Fine:
Aerien stand auf einem der vielen Balkone des Fürstenpalastes und ließ ihren Blick über die Bucht von Belfalas schweifen, die sich vor ihr nach Westen und Süden hin ausbreitete. Es war kalt, denn selbst hier im Süden Gondors, wo die Winter mild waren, lag eine kühle Luftschicht wie ein unsichtbares, kaltes Netz über dem Land und sorgte dafür, dass Aeriens Nase und Ohren eine rötliche Färbung angenommen hatten. Sie schlang ihren Umhang enger um ihre Schultern. Zwar er mit einem Pelzrand besetzt, doch sie trug darunter nur das feine Kleid, das auf Minûlîths Befehl in ihrem Zimmer für sie bereitgelegt worden war. Kälte kroch langsam ihre Beine hinauf. Aber hineingehen und sich wärmen wollte sie nicht.
Düstere Gedanken plagten Aerien, als sie auf das Meer hinausblickte. Es kam ihr grau und unbarmherzig vor. Wird es jemals aufhören? fragte sie sich. Der Bleiche Herold ist am Leben, obwohl Karnûzîr ihn getötet hat. Ich habe ihn mit eigenen Augen sterben sehen, aber dennoch kann er mich selbst hier, in der sichersten Festung Gondors noch erreichen und mir nach dem Leben trachten. Werde ich jemals wirklich in Sicherheit sein?
Sie dachte an Tol Thelyn. Auch die Weiße Insel war bereits zweimal angegriffen worden, einmal von Sûladan und einmal von Karnûzîr. Ihre Lage war längst kein Geheimnis mehr, weder in Harad noch in Gondor. Wohin ich auch gehe... die Schatten Mordors werden mir folgen, und Leid über die Menschen bringen, die mich aufnehmen. Sie seufzte verzagt und fasste den Entschluss, ein Leben auf Wanderschaft zu verbringen, sofern die Heere des Dunklen Herrschers die Welt der freien Völker nicht überrannten.
"Dunkle Worte stehen dir ins Gesicht geschrieben, Mädchen," sagte eine Stimme, die sie nicht gleich erkannte. Aerien fuhr herum und fand sich Auge in Auge mit einer hochgewachsenen Frau mit silbrigem Haar und grauen Augen. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie die Fürstin Silberglanz, die Gemahlin Imrahils.
"Herrin," sagte sie hastig und machte einen Knicks.
"Mein Name ist Avórill von Dol Amroth," sagte die Fürstin und gesellte sich zu Aerien auf den Balkon. "Erzähl mir, was du hier tust, Aerien Bêlkali."
"Ich... ich denke nach, Herrin," antwortete Aerien stockend.
"Du machst dir Sorgen wegen des Angriffs vorhin, nicht wahr?" stellte Avórill fest, während sie die Hände hinter ihrem Rücken zusammenlegte.
"So ist es, Herrin," erwiderte Aerien wahrheitsgemäß.
"Erkläre mir, wie diese Täuschung bewerkstelligt worden ist. Sicherlich kennst du derlei Praktiken aus eigener Erfahrung, aus dem Schattenland?"
Aerien zuckte um eine Winzigkeit zusammen, doch dann nickte sie und verbarg ihr Unwohlsein. "Ja, Herrin. Eine solche Illusion wird Schleier der Schatten genannt und ist nur den erfahrensten Meistern der Dunklen Künste vorbehalten," erklärte sie mit leiser Stimme. "Um sie so täuschend echt hinzubekommen sind viele Monate der Vorbereitung notwendig. Außerdem muss der Anwender das Aussehen der Person, das sein Opfer annehmen soll, sehr genau studiert haben."
"Es würde mich wundern, wenn Edrahil so etwas zugelassen hätte," sagte die Fürstin. "Er war schon immer der vorsichtigste Mensch, den ich kenne."
"Auch ein sehr vorsichtiger Mensch braucht seinen Schlaf," erwiderte Aerien. "Und nachts sind die Dunklen Künste am stärksten, und ihre Anwendung gelingt am leichtesten."
"Ich verstehe," sagte die Fürstin knapp. "Dann erzähle mir, wie sich solche Schleier der Schatten erkennen lassen."
"Die Mittagssonne gibt die Täuschung oft preis," sagte Aerien und wagte einen Blick auf Avórill zu werfen. Die Fürstin blickte ebenso wie Aerien zuvor auf das Meer hinaus; ihr Blick war streng, aber nicht bösartig. "Deswegen zeigen sich jene, die unter dem Schleier wandeln, um jene Tageszeit für gewöhnlich nicht. Aber... Herrin...."
"Was ist, Mädchen?"
"Der Herold... er..."
"So sprich!" forderte die Herrin Silberglanz sie auf. "Nur heraus damit!"
Aerien schluckte und zwang sich dazu, ihren Verdacht zu äußern. "Er wird nun auf... andere Tricks zurückgreifen, fürchte ich. Es geht ihm um mich... solange ich hier bin, bin ich eine Gefahr für ganz Dol Amroth."
Fürstin Avórill wandte sich Aerien zu und musterte sie eine ganze Weile lang mit prüfendem Blick, ohne etwas zu sagen. Dann schüttelte sie sachte den Kopf. "Nun rede keinen Unsinn, Aerien. Du hast dem Feind bereits den schlimmsten Schaden zugefügt, zu dem du imstande warst, und hast dir damit nicht nur unseren Respekt erworben, sondern auch... dich der Gefahr entledigt, in der du geschwebt bist. Mordor braucht keine Ressourcen mehr zu verschwenden, um dich zu töten."
"Herrin, Ihr... versteht nicht, welchen Stellenwert... Rache für die Diener des Dunklen Turms besitzt."
"Oh, ich bin mit dem Konzept von Rache sehr gut vertraut," sagte die Fürstin. "Aber du hast es selbst gesagt: eine solch elaborierte Täuschung anzuwenden, um dir Schaden zuzufügen, würde Monate an Zeit kosten. Zeit, die Mordor nicht hat."
"Wieso nicht?" fragte Aerien atemlos.
"Weil wir ihnen diese Zeit nicht geben werden," antwortete die Fürstin zufrieden. "Du hast Gondor seinen König zurückgebracht, und damit auch seinen Mut. Die Zeit unseres Vormarsches steht kurz bevor, sobald Elessar wieder auf dem Thron sitzt. Du wirst hier sicher sein, Aerien. Du hast mein Wort... und dieses gebe ich nicht leichtfertig."
"Ich... ich danke Euch, Herrin," erwiderte Aerien leise und senkte das Haupt.
Anstatt einer Antwort fuhr ihr Fürstin Avórill einmal überraschend sanft mit der Hand über den Kopf, dann wandte sie sich ab und verschwand im Palast.
Mehrere Minuten blieb Aerien an Ort und Stelle stehen und hatte Mühe, ihre Gedanken zu ordnen. Mit einem Mal vermisste sie ihr Schwert - oder irgend eine andere Waffe - das sie schwingen und mit dem sie sich verausgaben konnte. Ihr war nicht mehr kalt; stattdessen kam es ihr vor, als füllte sich ihr Herz langsam mit neuer Entschlossenheit. Als sie auf das Meer hinausblickte, glaubte sie, inmitten des Graus einen feinen, silbrigen Glanz wahrzunehmen.
So fand Narissa sie kurz darauf. "Hier steckst du also," beschwerte die Weißhaarige sich, ehe sie Aerien eng umarmte. "Du bist einfach so verschwunden, und wenn dieser Valion mich nicht mit seinen Kriegsgeschichten unterhalten hätte, wäre es mir auch viel früher aufgefallen!"
"Tut mir Leid, 'Rissa... ich brauchte einfach etwas frische Luft, nach... nach all dem, was beim Frühstück passiert ist."
"Versteh' ich ja, wirklich... aber das nächstes Mal sagst du mir Bescheid, ehe du dich davonmachst, versprich's mir!"
"Ich verspreche es dir."
Narissa lächelte besänftigt und begann, Aerien eine Zusammenfassung der Geschichten zu geben, die sie von Valion gehört hatte. "Wusstest du," sagte sie und wurde erstaunlich rot, um dann kichernd fortzufahren, "dass Valions Zwillingsschwester es geschafft hat, Bayyin..." Den Rest flüsterte sie Aerien ins Ohr, welche daraufhin die Hände vor den Mund schlug und noch eine Spur roter als Narissa wurde. "Wirklich! Diese Zwillinge sind, dafür dass sie Adelige sind, ziemlich nach meinem Geschmack," fuhr Narissa fort. "Sie waren sogar schon auf der Weißen Insel!"
Als sie das sagte, legte sich ein seltsamer Ausdruck auf Narissas Gesicht, der ihr typisches Grinsen ein wenig schwinden ließ. Aerien drückte sie mitfühlend an sich und sagte: "Du hast Heimweh, nicht wahr?"
Narissa nickte zaghaft. "Ja... aber nicht nur das. Ich..." Sie schwieg eine lange Minute, dann wurde ihr Gesicht hart. "Es gibt da noch etwas, das ich... erledigen muss. In Harad."
"Du willst zurück? So bald schon?" fragte Aerien erschrocken.
"Je länger ich zögere, desto schwerer wird es werden."
"Wovon sprichst du?" wollte Aerien beinahe tonlos wissen und blickte Narissa aus großen Augen an.
"Ich werde meinen Vater suchen und töten," antwortete Narissa leise. "Dafür was er meiner Mutter und meinem Großvater angetan hat. Ich muss es tun, und ich muss es bald tun."
Aerien sagte nichts. Ihr Herz wurde ihr wieder schwerer, denn sie hatte gehofft, eine Weile in Dol Amroth bleiben zu können, nun da die Fürstin ihr hier Sicherheit versprochen hatte.
So kam es, dass einer der Pagen die beiden Mädchen fand, ehe sie ihr Gespräch fortführen konnten. "Der Fürst schickt nach Euch, edle Damen," sagte der Junge und überschlug sich beinahe bei seiner Verbeugung. "Er wünscht euch beide in der Großen Halle zu sehen."
Sie sahen einander an und ohne dass sie etwas sagen mussten, verstanden beide, dass sie ihr offenes Gespräch ein andermal fortführen würden. Sie folgten dem Pagen zurück ins Innere des Palastes.
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