Seine Ruhepause dauerte sehr lange. Mathan war sich bewusst, dass er nicht richtig schlief. Sein Geist war in großer Unruhe. Erinnerungen und Eindrücke von längst vergangenen Zeiten durchfluteten ihn. Wie der Anduin flossen sie an ihm vorbei. Bilder von vergangenen Schlachten mischten sich unter Momenten tiefer Traurigkeit. Die Schlacht des letzten Bündnisses, der Tod seines Bruders, über den nie in ihrer Familie gesprochen wurde. Der vermeintliche Tod seines Vaters und das Verschwinden seiner Mutter. Die Schlachten um den Kampf um Arnor und die Niederlage an der Wetterspitze, welche seinen Glauben an seine Führungsqualitäten einen gewaltigen Dämpfer verpasst hatten. Unruhig wälzte er sich herum, doch es half nichts, die wohlverdiente Ruhe wollte einfach nicht eintreten. Erneut durchlebte er die Begegnung in den Tiefen von Forna Ascira. Dieser Hass, die Einsamkeit und die pure Boshaftigkeit, die ihm dort entgegengeschlagen waren. Erst später war ihm bewusst geworden, dass dieses Wesen weitaus älter und mächtiger war, als alles, was er je gesehen hatte - mit Ausnahme seiner Mutter. Und sie hatte Recht behalten: Das war nicht sein Kampf, nicht seine Welt. Er gehört nicht hier her.
Mathan schlug die Augen auf. Er befand sich nicht in seinem Schlafzimmer in dem Bollwerk unter dem Eis. Sein Blick war auf ein Gebirge gerichtet, das ihm sehr bekannt vorkam. Er hatte Jahre an in ihrer Nähe verbracht. Erste Anzeichen des kommenden Winters waren schon zu erkennen. Die Sonne war kälter und fast durchgehend von Wolken bedeckt. Als er blinzelte, befand er sich plötzlich woanders. Es war kühl und ein Donnergrollen zerriss die Stille. Ein Ring fiel klirrend zu Boden. Als Mathan sich danach bückte, wurde er sich seiner Umgebung gewahr. Vor ihm erstreckte sich eine bekannte Landschaft. Der Ring in seinen war so glitschtig, dass er ihm fast aus den Händen glitt. Als er den Blick senkte, waren sie voller Blut. Mit wachsendem Entsetzen betrachtete Mathan den Ring genauer, der ihm schmerzlich vertraut vorkam. Geschmiedet aus einem seltenen, schwarzen Metall und ein blauer Saphir in der Fassung. Erst jetzt bemerkte er, dass das Blut aus dem Saphir quoll. Erschrocken ließ er den Ring fallen.
Keuchend schlug Mathan die Augen auf. Rasch blickte er sich um. Zu seiner Erleichterung befand er sich in dem Schlafzimmer in Forna Ascira. Sein Blick fiel auf den Hocker neben seinem Bett, doch er war leer.
"Was hast du gesehen?", fragte die Stimme seiner Mutter leise.
Mathans Blick folgte den Worten und erkannte Ringelendis, die im Eingang zum Raums tand.
"Da war... ein Gebirge und ein Ring. Er war voller Blut", antwortete er stockend, "Was hat das zu bedeuten?"
"Ich habe es auch gesehen. Du kennst die Antwort auf deine Frage schon, doch willst du sie nicht aussprechen, nicht realiseren, doch war es so real, wie es bald sein wird."
"Das war
ihr Ring", sagte er scharf, "Sie darf nicht... Sie ist zu jung."
"Dann weißt du, was du zu tun hast." Ringelendis Augen funkelten bei den Worten. Als er nicht antwortete, legte sie den Kopf schief und fragte, was nicht simmte.
Die Erfahrung war so verstörend für ihn gewesen, dass er es anfangs nicht in Worte fassen konnte. Mathan wusste, was er gesehen hatte und was es bedeutete.
"Ja, so sehe ich die Welt", bestätigte seine Mutter seinen Verdacht, "Da du einen Teil von mir in dir trägst und dieser nun erwacht ist, wirst du diese Art zu sehen nicht mehr los."
Mathan schüttelte den Kopf, während er sich aufsetzte und sagte: "Ich will dieses verfluchte Wissen nicht. Es ist nicht für mich bestimmt, sondern für deinesgleichen."
Er wusste, dass seine Worte hart klangen, doch Ringelendis schien nicht gekränkt, sondern nickte verstehend.
"Das dachte ich mir schon, immerhin habe ich viele Jahre lang als gewöhnliche Elbe gelebt."
"Dann kannst du dir denken, dass ich fortgehen muss", fügte er an ihren Satz an.
Sie nickte knapp und lächelte sanft.
"Ja, das habe ich gesehen", antwortete sie leichthin und trat an sein Bett, "Und auch, dass du dein Erbe noch nicht antreten kannst."
Mathan konnte keine Spur bedauern aus ihrer Stimme heraushören. Seine Mutter hob ihre linke Hand und legte sie ihm auf die Brust, dort wo sein Herz schlug. Er sah, wie sich ihre Lippen bewegten, doch kein Wort drang hervor. Nach einigen Momenten löste sie sich wieder von ihm und strich ihm sanft über die Haare.
"Ich habe schon lange gewusst, dass dies nicht der Ort und die Zeit ist, an der du dein Erbe gebrauchen wirst. Wenn das Ende kommt, wirst du es brauchen, deswegen habe ich es versiegelte, bis du es soweit ist. Bis dahin werden wir uns nicht wieder begegnen."
Mathan blinzelte einen Moment und wollte wiedersprechen, besann sich aber darauf, dass seine Mutter hier eine Aufgabe hatte, die sie auf keinen Fall vernachlässigen konnte.
"Ich verstehe", sagte er nur leise und hob den Blick, "Und du verstehst, dass ich zurück muss."
"Selbstverständlich. Ich würde dich gerne begleiten, aber meine Wacht darf niemals enden. Amarin kann dir erzählen, was passierte, als ich es einmal tat. Sage ihm folgende Worte: Kalt leuchten die Sterne und heiß brennt das Feuer in der Einsamkeit. Dann wirst du verstehen."
"Wieder so kryptische Botschaften. Du hast echt einen Hang für Geheimnisse", brummte er unzufrieden, woraufhin seine Mutter kurz, aber herzlich lachte.
Überrascht von ihrem Gefühlsausbruch grinste er breit. Für einen kurzen Augenblick hatte er wieder jene Elbe vor sich, die sich mit Amarin stets neckte. Das war noch vor der Zeit in der sie sich voneinander distanzierten.
"Vielleicht hast du Recht", sagte sie schließlich noch immer lächelnd und legte ihm eine Hand auf die Schulter", Aber es wäre ja langweilig, wenn man alles auf einmal erfährt." Ringelendis lächelnd verschwand, als sie ernster nachsetzte: "Und man wird nicht alles verstehen können."
Mathan erhob sich und nickte. Seine Mutter zog ihre Hand zurück und deutete auf den Gang vor seinem Zimmer. Er verstand und ging voraus. Es war Zeit für den Abschied. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Er ahnte, wohin sie gehen würden und dachte über die Zeit nach, die er hier verbracht hatte. Dabei viel ihm auf, dass er sein Zeitgefühl komplett verloren hatte. Er wusste nicht einmal was für ein Tag heute war.
"Du wirst das Silmacil nur so führen können wie du es getan hast, bevor du herkamst", sagte seine Mutter plötzlich und blickte ihn kurz aus dem Augenwinkel an, "Aber ich sehe, dass dir seit der Zeit in der Tiefe eine Frage auf dem Herzen liegt."
Er nickte. Mathan wollte schon fragen, als er wieder erwacht war, aber ihm war es bisher nicht richtig erschienen. Er merkte, wie seine Mutter sich straffte und einen kurzen Moment mit sich Rang.
"Das was ich dir jetzt erzähle, verlässt diese Hallen nicht", verlange sie schließlich streng, woraufhin er knapp nickte.
"Dieses Wesen war einst so ähnlich wie ich, doch schloss es sich den verderbten Mächten an. Lilómëaquen nenne ich ihn, der Dunkle. Welchen der Valar er einst gedient hatte, weiß ich nicht, doch ist er glücklichweise nicht so mächtig wie Sauron. Dennoch ist seine Seele genauso verdorben. Da ich an diesen fleischlichen Körper gebunden bin, kann ich ihn nicht gänzlich vernichten, nur zurückhalten." Sie machte eine kurze Pause und blickte ihn intensiv an, "Da jedes meiner Kinder einen Teil von mir in sich trägt - oder trug - kann ich ihn nicht vernichten. Mit deiner Hilfe konnte ich ihn aber vertreiben, was bedeutsam mehr ist, als ich bisher ausrichten konnte, doch genug davon."
Sie erreichten die große Eingangshalle, mit dem großen See in der Mitte. Er ahnte, was seine Mutter damit andeuten wollte, wollte aber jetzt nich darüber nachdenken.
"Ich gehe stark davon aus, dass du nicht mitkommst", fragte Mathan, obwohl er wusste, dass es nicht möglich war.
"Meine Wacht sorgt dafür, dass die Bestien der alten Welt dort bleiben wo sie sind. Vergessen und begraben in den tiefsten Verließen Ardas. Dein Vater weiß, was hier einst für ein Ort des Schreckens stand." Als sie endete, reichte ihm eine Hand. Zögerlich nahm er sie, woraufhin Ringelendis einen Schritt auf den See machte. Knirschendes Eis breitete sich auf der Oberfläche aus und er folgte ihrem Schritt zögerlich, nur um festzustellen, dass das Wasser ebenfalls unter seinen Füßen gefror. Gemeinsam schritten sie bis in die Mitte des Sees, der etwa dreißig Meter im Durchmesser besaß. Als sie stehen blieben, ließ seine Mutter seine Hand nicht los und er ahnte, was nun folgte. Mathan hörte, wie sie etwas murmelte, woraufhin er seine Augen schloss. Kälte umschmeichelte seinen Körper, durchdrang seine Kleidung und raubte ihm den Atem, dann war es vorbei und pfeifender Wind schlug ihm ins Gesicht. Als er die Augen öffnete, befand er sich auf einem Plateau in einem Gebirge. Ringsherum scharfkantige Bergspitzen, die von einer leichten Schneeschicht bedeckt waren. Seine Mutter ließ seine Hand los und trat direkt vor ihm. Ihre dunkelblauen Augen musterten sein Gesicht ausführlich.
"Ich bin stolz auf dich. Trotz deiner jahrelangen Suche hast du dich nicht selbst verloren und bist ein geachteter Mann geworden."
Stolz streckte Mathan die Brust heraus und wusste nicht, was er erwidern sollte.
"Ich habe eine Famile, auf die ich nun Acht geben muss", sagte er stattdessen etwas unbeholfen und sie verfielen in eine unangenehme Stille.
Ringelendis atmete tief durch und zog ihn kurz, aber herzlich in eine Umarmung.
"Lebe wohl, mein Sohn. Wir werden uns wieder begegnen, das verspreche ich dir."
Mathan erwiderte die Geste und antwortete: "Wenn nicht hier, dann in Valinor."
Als sie sich voneinander trennten, meinte er ein verdächtiges Glitzern in ihren Augen zu sehen, doch Ringelendis richtete sich zu voller Größe auf und hob die Arme. Ein kräftiger Wind kam auf und hüllte sie in so viele Schneeflocken, dass iher Gesalt verschwand. Als sich der Wind wieder legte, war Mathan alleine. Er wusste wo er war und wohin er gehen musste. Es war der Ort, den er zuvor gesehen hatte.
Mathan in das Nebelgebirge