Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Rhun
Anwesen des Fürsten von Gorak
Rohirrim:
Zarifa und Tekin aus Harondor
„ALLE RAUS AUS DEN WAGEN! WIR SIND DA! UND MIT EIN BISSCHEN TEMPO, WENN ICH BITTEN DARF!“
Nach mehreren Wochen waren sie also endlich angekommen. Was auch immer als Nächstes passieren würde, zumindest war die Reise vorbei. Die Enge hätte Zarifa keinen Tag mehr ertragen. Mit einem teilnahmslosen Gesichtsausdruck verließ sie gemeinsam mit den anderen Gefangenen die Kutsche, wo sie direkt von einigen Wachen empfangen wurden.
„Denkt gar nicht erst an einen Fluchtversuch. Der Tod wäre eine Gnade im Vergleich zu dem, was euch erwarten würde“, hieß es unmittelbar nachdem Zarifa einen Fuß auf den Boden gesetzt hatte. Sie wurde fest am Arm gepackt und unsanft in Richtung eines großen Tores gestoßen. Die Gefangenen aus allen Kutschen mussten sich in einer Reihe aufstellen, um anschließend durch das Tor und den dahinterliegenden Park in Richtung eines riesigen Hauses geführt zu werden.
Zarifa ließ das alles über sich ergehen. Sie fühlte eine innere Leere in sich aufsteigen. Nichts war mehr wichtig. Sie folgte einfach nur den Anderen und versuchte an nichts zu denken. Sie wollte nicht schon wieder Ziad vor ihrem geistigen Auge sehen und hasste sich selber im gleichen Atemzug dafür, dass sie ihn aufgrund dieses Gedankens vor Augen hatte. Hätte sie in den letzten Tagen genug zu trinken gehabt, würden ihr jetzt vermutlich Tränen in die Augen schießen. Stattdessen spürte sie ein unangenehmes Brennen in ihren Augen. Sie versuchte sich abzulenken und wagte einen kurzen Blick zur Seite. Ein zahnloses Grinsen schoss durch ihren Kopf, als sie sah, wie eine der neben ihnen herlaufenden Wachen sie anscheinend interessiert musterte. Sie wollte hier weg. Schnell senkte sie ihren Blick und versuchte ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Tekin, der sich ein wenig vor ihr befand, drehte seinen Kopf in ihre Richtung und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Sie vermochte es im Augenblick jedoch nicht zu erwidern.
Die Tür des Anwesens wurde aufgestoßen und die Gefangenen wurden in eine riesige Eingangshalle und anschließend eine Treppe hinuntergeführt. Am anderen Ende der Treppe befand sich ein kahler, dunkler Raum – kein Vergleich zur prunkvollen Eingangshalle. Dieser Bereich war nicht für den Hausherren und seine Gäste. In der Mitte des Raumes stand ein kleiner Holztisch mit zwei Bänken. An den langen Wänden hingen eine ganze Reihe an Uniformen. Auf der einen Seite anscheinend die für Männer und an der anderen Seite die für die Frauen.
„LINKS DIE MÄNNER, RECHTS DIE FRAUEN“, ertönte ein lauter Ruf aus der Tür. Das war er. Der Mörder Ziads hatte den Raum betreten. Die Stimmung im Raum war zuvor schon ängstlich gewesen. Jetzt erfüllte eine Woge des Grauens die Halle, die förmlich greifbar war. Sie alle hatten Ziads Tod mitangesehen. Sein Dolch blitzte im Licht der Fackeln, die den Raum spärlich beleuchteten, immer wieder auf. Zarifa erinnerte sich an diesen Dolch und ihr wurde schlecht. Wenn sie einen Mageninhalt besessen hätte, läge dieser nun vor ihr auf dem Fußboden. Sie konnte an nichts anderes mehr Denken, als diese unfassbare Grausamkeit.
Sobald alle ihren Platz gefunden hatten, sprach der Mann erneut: „Und jetzt, verneigt euch alle vor eurem Herrn und Meister: Fürst Radomir von Gorak persönlich ist hier, um euch willkommen zu heißen." Sofort gingen alle Gefangenen auf die Knie.
„Danke, Kazimir. Ihr könnt wegtreten.“ Die Schreckensgestalt, der Zarifa nun auch einen Namen zuordnen konnte, verneigte sich und verließ den Raum.
„Die angekündigte Großlieferung aus Umbar ist also endlich angekommen. Das ist sehr gut, denn in letzter Zeit hatten wir leider einen ziemlich großen... Schwund an Arbeitsmaterial. Wir können Nachschub also sehr gut gebrauchen. Ich hoffe, euer... Haltbarkeitsdatum läuft ganz nicht so schnell ab. Aber ich schweife ab: Herzlich Willkommen in Gorak. Ihr alle habt die große Ehre dem Fürsten dieser prächtigen Stadt höchstpersönlich zu dienen. Ihr werdet die Regeln hier schon sehr bald kennen lernen. Fürs Erste reicht es, wenn ihr wisst, dass ihr mir und meinen Angestellten in allem was wir sagen zu gehorchen habt. Und jetzt wird es Zeit, euch von all euren persönlichen Besitztümern zu trennen. Legt alles was ihr habt ab, werft es auf den Tisch in der Mitte und zieht eure neue Uniform an. Meine Leute werden aufpassen, dass ihr auch wirklich alles ablegt. Und ihr wollt gar nicht wissen, was passiert, wenn sie euch erwischen. Gleichzeitig werden sie einige... Untersuchungen an euch durchführen. Lasst euch davon nicht stören. Im Anschluss daran werdet ihr in Gruppen eingeteilt und erhaltet eure Aufgaben. Ich verschwinde jetzt von hier. Ungeziefer überträgt ja bekanntlich Krankheiten.“
Der Fürst verschwand und einer der Angestellten, die er zurückgelassen hatte, forderte sie auf, sich umgehend umzuziehen. Niemand wagte es, zu widersprechen. Zarifa besaß nichts, als das weiße Laken, das sie als Kleidung verwendete. Doch sie wollte es nicht ausziehen. Nicht vor all diesen Leuten. Sie zögerte mit dem Saum des Lakens in der Hand und fing sich dafür urplötzlich einen Hieb mit einem Schlagholz in die Rippen ein. Der körperliche Schmerz war harmlos im Vergleich zu der Erinnerung an ein zahnloses Grinsen, welches abermals vor ihrem geistigen Auge aufblitzte.
„Hier wird nicht getrödelt!“, grunzte die Wache.
Es half alles nichts. Zarifa tat wie ihr geheißen. Die Angestellten gingen derweil umher, begutachteten die Gefangenen und machten sich Notizen. Von der Körpergröße über die Größe der Oberarme bis zu den Falten im Gesicht wurde alles dokumentiert. Zarifa mochte die Berührungen nicht. Sie hatte Glück, dass ihre Beine nicht auf sie hörten, denn ansonsten wäre sie schon längst zur Tür gerannt und hätte dabei vermutlich den Tod gefunden. Wenn sie Glück gehabt hätte.
Rohirrim:
Zarifa erwachte auf einem dieser Holzkonstrukte, die sie hier als Betten bezeichneten. Sie hatte 19 Jahre lang als Obdachlose in Umbar gelebt und dennoch selten so unbequem geschlafen, wie die letzten paar Tage. In jeder Nacht, die Zarifa bisher in Gorak geschlafen hatte, wurde sie im Traum von schrecklichen Bildern verfolgt – ein zahnloses Grinsen, Blutspritzer auf ihrer Kleidung, Ziads Leiche, und ein Dolch in ihrem Mund. Und jedes Mal, wenn sie aufwachte, traf es sie wie ein Schlag, dass ihr ein weiterer Tag harter Arbeit und grausamer Behandlung als Sklavin im Anwesen des Fürsten von Gorak bevorstand.
Bei der Behandlung seiner Sklaven zeigte der Fürst keinerlei Menschlichkeit. Das ganze wirkte mehr wie eine sorgsamst durchorganisierte Tierhaltung. Zarifa erinnerte sich zurück, wie sie kurz nach ihrer Ankunft in Gruppen eingeteilt wurden. Nachdem sie von den Bediensteten inspiziert worden waren, wurden sie entsprechend ihrer Größe, ihres Alters und ihrer Muskulatur in verschiedene Gruppen eingeteilt. Anschließend wurden sie gebrandmarkt. Jede Gruppe bekam einen anderen Buchstaben auf das linke Handgelenk gebrannt. Zarifa erinnerte sich zurück, wie die Bediensteten ohne jede Gnade und die Schmerzensschreie komplett ignorierend, ihre Aufgabe erfüllten. Sie selbst war an körperlichen Schmerz gewöhnt und hatte schon weit schlimmeres erlebt. Dennoch gefiel ihr das Gefühl gebrandmarkt zu sein nicht. Ein Zeichen am Körper zu haben, was sie immer an den Schrecken hier erinnern würde, war keine schöne Vorstellung, doch auch bei weitem nicht ihre größte Sorge im Moment.
Die Arbeit, die sie hier verrichten musste, war anstrengende, als alles was die junge Haradan bisher in ihrem Leben tun musste. Aufgrund ihres jungen Alters und ihres schlanken Körperbaus, war sie für Lieferungen und Botengänge im gesamten Haus zuständig. Wann immer jemand im Haus irgendetwas brauchte, war es ihre Aufgabe, dies so schnell wie möglich zu besorgen. Und wann immer Gegenstände angeliefert wurden, war es Zarifas Aufgabe, diese so schnell wie möglich zu ihrem vorgesehen Platz zu bringen. Und wann immer sie dabei gesehen wurde, wie sie sich zu langsam fortbewegte, bekam sie einen Peitschenhieb zu spüren. Eine Schicht dauerte 18 Stunden. Anschließend hatte man sechs Stunden Zeit sich auszuruhen, bevor es wieder von vorne losging. Die Anstrengung brachte Zarifa fast um. Mehrfach hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich einfach zu weigern. Sich einfach hinzusetzen und nichts mehr zu tun. Doch bisher konnte sie dieser Versuchung noch widerstehen. Schließlich wusste sie inzwischen, welche Art von Bestrafungen es hier für Sklaven gab...
Schon eine ganze Zeit lang, hatte sich in Zarifas Hinterkopf die Frage getummelt, wie zur Hölle es möglich sein sollte, so viele Sklaven gleichzeitig zu halten, ohne dass diese sich letztenendes zusammentaten und es zu einem Aufstand kam. Direkt an ihrem zweiten Tag bekam sie eine Antwort auf diese Frage. Sie hatte gerade ihre erste volle Schicht abgearbeitet und wollte sich am Abend an den kleinen Tisch, der ihr schon am ersten Tag aufgefallen war, um dort den Rest ihrer Tagesration an Nahrung zu sich zu nehmen. Allerdings bekam sie daraufhin sofort einen schmerzhaften Hieb mit einem kleinen Stock zu spüren. Ein kleiner Wachmann hatte blitzschnell reagiert und auf einen Zettel verwiesen, der mitten auf dem Tisch lag. Nur „besonders verdienten“ Sklaven, sei es erlaubt, am Tisch Platz zu nehmen. Alle anderen mussten ihr Abendbrot im Stehen zu sich nehmen.
Wie Zarifa schnell erfuhr, war dies nur eine der vielen möglichen Belohnungen für Sklaven, die entweder besonders effizient arbeiteten oder die Vergehen von anderen Sklaven meldeten. Hier wurden auf geschickte Weise die Unterdrückten gegeneinander ausgespielt. Die Sklaven kontrollierten sich gegenseitig und wer meldete, dass jemand beispielsweise eine Kleinigkeit aus der Speisekammer des Fürsten für sich selber behielt, bekam das Recht sich an den Tisch setzen zu dürfen. Weitere Belohnungen waren unter anderem das Recht auf andere Toilette gehen zu dürfen, die aufgrund der selteneren Benutzung wesentlich sauberer war, eine Erhöhung der täglichen Rationen oder das Recht, auf eine 15 minütige Pause während der Schicht. Und die ultimative Belohnung: Wer sich als meisterhafter Spion erwiesen hatte, durfte sich einen Gegenstand aus dem Korb der persönlichen Gegenstände aussuchen, die die Sklaven am Anfang abgeben mussten. An ihrem dritten Tag sah Zarifa, wie ein junger Mann, der schon länger als sie hier war, mit ihrem alten Laken, das die junge Haradan früher als Kleid getragen hatte, in den großen, kahlen Raum im Keller kam. Er warf Zarifa einen frechen Blick zu. Anschließend schnupperte er ausgiebig an dem Laken. Dabei wurde sein Blick immer gieriger. Er warf Zarifa eine Kusshand zu und stopfte das Laken anschließend in seine Hose. Zarifa war angeekelt und hätte dem jungen am liebsten eine reingehauen. Wie konnte er es wagen? Doch sie schaffte es sich zu beherrschen. Sie wollte nicht, dass der junge direkt wieder einen Anlass hatte jemanden zu melden. Schon gar nicht, wenn es dabei um sie ging. Sie fürchtete sich vor den Strafen.
Denn abgesehen von dem Belohnungssystem für Sklaven, die die Missetaten anderer Sklaven meldeten, gab es auch ein Bestrafungssystem für die entsprechenden Missetäter. Extrastunden, Peitschenhiebe, Essenskürzungen und tagelanges angekettet Werden waren nur eine kleine Auswahl der verschiedenen Strafen, die nicht nur nach Schwere der Missetat, sondern auch individuell aufgrund der Person ausgeführt wurden. Was die ultimativen Strafen waren, wusste Zarifa noch nicht, und sie war sich auch nicht sicher, ob sie wirklich die ganze Wahrheit wissen wollte. Sie hatte in dem Zusammenhang nur den Begriff „vogelfrei“ aufgeschnappt, ohne jedoch recht was damit anfangen zu können. Alles was sie wusste war, dass eine schon etwas ältere Frau eine solche Strafe einst hatte erdulden müssen. Sie weigerte sich jedoch darüber zu sprechen.
Dieses System zeigte Wirkung. Die Sklaven konnten einander nicht vertrauen und an einen Aufstand war nicht zu denken. Zarifa hatte zwar bisher noch keine anderen Sklaven verraten, doch die Bestrafungen brachten sie dazu, den Kopf unten zu halten und einfach nur durchzuhalten. Sie wollte so etwas, wie an dem Tag als Ziad starb, niemals wieder durchmachen müssen. Die Arbeit hier war zwar körperlich das anstrengendste und schmerzhafteste, was sie jemals hatte durchmachen müssen, doch es waren die Nächte, die mehr fürchtete. Die Alpträume, die immer wieder kamen. Wenn sie vor Anstrengung fast umfiel, musste sie zumindest nicht an Ziad denken. Sogesehen hatte die Arbeit fast eine positive Wirkung auf sie, obwohl sich die junge Südländern für dieses Eingeständnis selbst ein bisschen hasste.
Und dann war da immer noch Tekin. Der einzige Mensch, der sie in ihren dunkelsten Stunden motivieren konnte. Wenn sie abends weinte, kam er zu ihr und legte seinen Arm um sie. Wenn sich ihre Blicke trafen, lächelte er, während Zarifa in seine wunderschönen braunen Augen sah – mit einem Gefühl, das sie zunächst gar nicht einzuordnen vermochte.
Rohirrim:
Etwa eine Woche, nachdem Zarifa in Gorak angekommen war, hatte sich ihre Strategie, den Kopf unten zu halt und möglichst produktiv zu arbeiten, ausgezahlt. Für ihre gute Arbeit hatte man ihr das Tischrecht zugesprochen. Sie durfte sich nun in ihrer äußerst begrenzten freien Zeit an den Tisch setzen. Unglücklicherweise bedeutete das, dass jemand anderes sein Tischrecht entzogen werden musste. Der schon etwas ältere Mann blickte Zarifa äußerst finster an, als sie sich zum ersten Mal setzte. Man sah ihm an, dass er alle Mühe hatte, seine Wut zurückzuhalten und Zarifa konnte es ihm nicht einmal übel nehmen. Es widerte sie an, wie gut das System des Fürsten funktionierte. Wie er es schaffte, seine Sklaven zu spalten und gegeneinander aufzuhetzen, sodass sie niemals rebellieren würden. Es war so einfach und doch so genial. Sie würde ja aufstehen und dem älteren Herrn ihren Platz anbieten, obwohl ihre Beine sie kaum nach tragen wollten, wenn es denn etwas bringen würde. Doch niemand, der nicht das Recht dazu besaß, durfte sich an den Tisch setzen. Zwei Wachen standen am Eingang und taten den ganzen Tag nichts anderes, als darauf zu achten, dass die strengen Regeln auch eingehalten wurden. Da standen sie, finster dreinblickend und das Schlagholz im... Nanu, wo sind sie denn hin?
Tekin kam in den Raum geschlichen. Er schien etwas unter seiner Uniform zu verstecken und bewegte sich sehr bedächtig. Als er Zarifa erblickte, bedeutete er ihr mit seinem Arm, mit ihm in eine Ecke des kahlen Raums zu gehen. Dort waren sie ungestörter. Wieder einmal stieg dieses seltsame Gefühl in Zarifa auf.
„Der Fürst ist weg“, flüsterte Tekin, sobald sie beide sich etwas abseits von den anderen Sklaven befanden. Er schien diese Information unbedingt so schnell wie möglich loswerden zu wollen. Zarifa erstarrte mitten in der Bewegung. Konnte das wirklich wahr sein? „Was? Wieso? Und woher weißt du davon?“ „Ich habe eben zwei Angestellte zufällig belauscht. Anscheinend ist Radomir heute in Richtung Hauptstadt abgereist. Ich weiß zwar nicht warum, aber eines weiß ich: Kazimir hat vorübergehend die Geschäfte hier übernommen.“ Allein beim Klang dieses Namens tauchten schon wieder schreckliche Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Ein silberner Dolch, Blutflecken auf ihrer Kleidung … Ziads Leiche. Sie schob diese Bilder mühsam beiseite, während Tekin weitersprach: „Und die Angestellten sind darüber offensichtlich gar nicht mal so glücklich. Dieser Kazimir ist anscheinend noch gar nicht so lange Radomirs Vertreter zu sein und er scheint ihn nicht besonders gut ersetzen zu können.“
„Nun, in Grausamkeit steht er ihm zumindest in nichts nach“, gab Zarifa trocken zurück.
„Oh, ähm ja...tut mir leid“, meinte Tekin etwas verlegen. „Aber sieh mal. Die Wachen an der Tür sind nicht einfach zufällig verschwunden. Das liegt daran, dass Kazimir sie woanders hin beordert hat, ohne für Ersatz zu sorgen. Ihm fehlt einfach das organisatorische Talent. Im ganzen Haus herrscht mehr oder weniger Chaos. Und das habe ich ausgenutzt.“ Er machte nun auf das Etwas aufmerksam, das er unter seiner Uniform versteckt hatte und beugte sich ganz nahe an Zarifa heran, um sicherzugehen, dass niemand außer ihr seine gehauchten Sätze verstehen würde. „Die Tür zum Weinkeller stand offen und war unbewacht. Ich habe die Gelegenheit genutzt eine Flasche besten Wein entwendet. Ich dachte den können wir uns später teilen. Die Nachtschicht arbeitet jetzt schon und gleich gehen hier alle schlafen. Dann wären nur wir zwei hier. Mit einer guten Flasche Wein.“
„Ich trinke eigentlich keinen Alkohol“, meinte Zarifa. „Ich habe gesehen, was er aus Menschen machen kann. Diesen kompletten Kontrollverlust möchte ich nicht erleben.“
„Du hast gerade 16 Stunden am Stück geschuftet. Ich denke, du hast dir ein bisschen Spaß verdient, meinst du nicht. Und du musst ja nicht so viel trinken. Na komm schon.“
„Also, ich weiß nicht recht.“
„Du kannst es dir ja noch überlegen, bis die anderen endlich eingeschlafen sind.“
Rohirrim:
Zwanzig Minuten später saßen Zarifa und Tekin gemeinsam am Tisch in der Mitte des kahlen Raums. Es war bereits ziemlich spät und Zarifa war auch schon etwas müde. Doch sie hatte sich dazu durchgerungen, noch ein kleines Glas Wein zu trinken. Tekin hatte recht. Wenn es einen Grund zum Trinken gab, dann war ihre gegenwärtige Situation definitiv ein solcher. Außerdem würde sie lügen, wenn sie behaupten würde, sie sei nicht neugierig auf die Wirkung. Alle schwärmten immer davon. Und ein Glas würde wohl kaum allzu viel Schaden anrichten. Und selbst wenn: Konnte es ihr in ihrer derzeitigen Situation wirklich noch schlechter gehen? Was hatte sie schon zu verlieren?
„Na dann: Prost!“, sagte Tekin, nachdem er den Wein in zwei Gläser eingeschenkt hätte. „Auf die Freiheit, die wir hoffentlich eines Tages wiedererlangen.“ Zarifa nickte nur stumm und stieß mit Tekin an. Sie war aufgeregt. Beging sie möglicherweise doch einen Fehler? Na komm, scheiß drauf, dachte sie und nahm einen großzügigen Schluck. „Bah, was ist das denn?“, fragte Zarifa und musste sich fast übergeben. Etwas widerlicheres hatte sie noch nie im Leben getrunken. Und das musste schon was heißen, denn immerhin hatte sie in ihrer Zeit als Obdachlose bereits Wasser aus Regentonnen getrunken, um nicht zu verdursten. „Und es gibt wirklich Leute, die so etwas freiwillig trinken?“ „Es geht dabei weniger um den Geschmack, sondern mehr um die Wirkung. Und an ersteres gewöhnt man sich auch irgendwann.“, erklärte Tekin. Er hatte nicht unrecht. Zarifa spürte auf einmal eine Wärme in sich aufsteigen, die sie an diesem Ort noch nie gespürt hatte. Zunächst war es ihr aufgrund des scheußlichen Geschmacks gar nicht aufgefallen. „Nimm am besten erst einmal kleinere Schlücke. Dann wird das schon“, meinte Tekin lächelnd.
Dieses Lächeln reichte aus, um Zarifa zu bestärken. Sie vertraute diesem Mann, auch wenn sie ihn eigentlich kaum kannte. Warum wusste sie eigentlich so wenig über ihn?
„Woher kommst du eigntlich?“, fragte die junge Südländerin auf einmal relativ forsch.
„Na aus Umbar, genau wie du.“
„Ich meinte, woher genau? Familie, Freunde, Bekannte?“
„Meine Eltern sind gestorben, als ich noch ein Kind war. Mein älterer Bruder hat mich aufgezogen, doch der ist ebenfalls recht früh gestorben. Ich habe mich dann in Umbar als Aushilfskellner durchgeschlagen. Zumindest, bis es zu dem Aufstand kam.“
Der Aufstand
„Und wie genau ist es dir während des Aufstandes ergangen? Ich selber habe ja erst recht spät davon erfahren.“
„Nun, darauf bin ich ehrlich gesagt nicht stolz. Lass uns lieber von etwas anderem sprechen.“
„Ähm okay, also wieso bist du mir und Ziad damals eigentlich gefolgt? Wo doch eigentlich klar war, dass wir... dass wir...“
„Gib dir nicht die Schuld, an dem was passiert ist. Wir alle wollten an eine bessere Zukunft glauben. Ich wollte glauben, dass das was ich in der Nacht getan hatte tatsächlich einem edlen Zweck diente. Ihr habt uns ein Ziel gegeben. Ohne euch wären wir verloren gewesen.“
„Ich habe euch vielleicht ein Ziel gegeben, doch vor allem habe ich euch zu einem Ziel gemacht“, meinte Zarifa trübselig, während sie einen weiteren Schluck Wein zu sich nahm.
„Ich wollte alles besser machen, doch ich habe alles nur noch schlimmer gemacht.“
„Hey, Kopf hoch“, meinte Tekin und legte seinen Arm um sie. „Manchmal muss in seinem Leben Risiken eingehen. Es wird sich zwar nicht immer auszahlen, aber wenn man es aus den richtigen Gründen tut, wird sich irgendwann alles zum Guten wenden. Davon bin ich überzeugt.“
„Wie soll sich die Situation hier denn jemals wieder zum Guten wenden?“, fragte Zarifa skeptisch und mit einer Träne im Auge.
„Du musst das Positive sehen. Nach nur einer Woche Sklavenarbeit sitzen wir hier zusammen als Freunde an einem Tisch und trinken Wein. Es könnte schlimmer sein.“
Ja genau... als Freunde.
„Und außerdem vergisst du, was ich dir vorhin erzählt habe. Kazimir ist unfähig. Das können wir doch bestimmt irgendwie ausnutzen.“
Zarifa hob den Kopf. Meinte Tekin, was sie dachte, was er meinte?
„Du willst von hier fliehen?“
„Naja, zunächst mal will ich bei noch einem Glas Wein über das Fliehen nachdenken. Das ist deutlich weniger gefährlich und macht zumindest kurzfristig mehr Freude. Auch noch ein Glas?“
„Also gut, eins noch“
„Schmeckt es dir inzwischen besser“, fragte Tekin, nachdem er das dritte Glas Wein eingeschenkt hatte.
„Naja, es ist wie du gesagt hast. Man gewöhnt sich dran“, meinte Zarifa und suchte Tekins Blick. Das war leichter gesagt als getan.
„Du hast so wunderschöne Haare“, merkte die junge Haradan beiläufig an und fuhr ihm mit ihrer Hand dabei durch seine Frisur. Zumindest versuchte sie das. In Wahrheit verfehlte sie seinen Kopf um gute fünf Zentimeter.
„Was?“, fragte Tekin verträumt.
„Ach, nicht so wichtig“; sagte sie und grinste. Warum wusste sie selber nicht so genau, doch irgendwas an dieser Situation war unfassbar komisch.
„Also, zurück zum Ernst des Lebens. Wie willst du von hier entkommen?“, fragte Zarifa plötzlich in sehr ernstem, geschäftsmäßigen Tonfall.
„Wie bitte? Wir haben bis vor einer Minute noch darüber diskutiert, ob Brot mit Butter besser schmeckt als ohne. Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Darüber wolltest du doch vorhin sprechen.“
„Achja... aber sollten wir nicht zuerst unser aktuelles Gespräch zu Ende führen, bevor wir uns so einem wichtigen Thema widmen?“
„Wie du meinst.“
„Okay, also ich finde Butterbrot köstlich.“
„Ich nicht.“
„Okay, das hätten wir geklärt. Wie kommen wir jetzt aber hier weg?“
„Naja, ich denke wenn du unbedingt.. äh ich meine unbemerkt von den Wachen Wein stehlen konntest, müsste es theoretisch auch möglich sein unbemerkt von den Wachen zu entkommen.“
„Da ist was dran. Wir müssten es nur schaffen, den richtigen Moment abzpassen. Wenn Kazimir mal wieder die Pläne für die Wache verkackt. Nur wie bekommen wir das hin?“
Ja, wie bekommen wir das hin?
„WAS GIBT ES DARAN DENN NICHT ZU VERSTEHEN?“ Zarifa war außer sich. Dies war wirklich von Bedeutung. Es war äußerst wichtig, dass Tekin begriff, doch der war anscheinend schon viel zu betrunken, um selbst die einfachsten Dinge zu begreifen.
„Tut mir ja leid, aber ich verstehe einfach nicht inwieweit wir die Welt zu einem besseren Ort machen können, indem wir die Kleider von Adeligen zu Zelten umfunktionieren.“
„Na einfach indem... indem... verdammt, weil es halt einfach ne gute Idee ist. So von wegen... das nutzen, was die Adeligen verschwenden.“
„Ja schon klar, ich find die Idee ja auch nicht schlecht. Nur halt nicht... so besonders.“
„Du bist *HICKS* einfach schon zu betrunken, um es zu versehen.“
„Es muss doch theoretisch möglich sein, unbemerkt von den Wachen zu entkommen“, überlegte Zarifa.
„Ja, gar kein schlechter Gedanke“
„Es gibt da übrigens etwas, das du über mich wissen solltest...“
„Und das wäre?“
„Ich... Ich... Ich mag kein Butterbrot.“
„Das weiß ich doch schon lange.“
„Ich wollte es halt nochmal betonen. Is eben wichtig. Und jetzt gib mir noch mehr Wein“
„Sieh mir in die Augen, Tekin.“
„Okay“
Tekin sah sie mit seinen wunderschönen braunen Augen an. Sie wollte etwas sagen, doch sie war noch nicht so weit. Stattdessen sagte sie:
„Schenkst du uns noch Wein nach?“
„Äh ja... natürlich.“ Tekins Hand schnellte nach der Flasche, doch anstatt deren Inhalt in Zarifas Glas zu befördern, bespritzte er Zarifa mit einer großen Ladung Wein, die sich nun in ihrem Gesicht, ihrer Kleidung und ihrem Schoß ausbreitete. „Hey!“, rief Zarifa und lachte. Sie nahm sich nun die Flasche und entleerte sie über Tekins wunderschönen braunen Haaren. Beide lachten und begannen sich spielerisch zu raufen. „Pass auf, die Bank.“ „Whoa!“
Zarifa lag auf dem Boden und wusste nicht mehr ganz so genau wie sie dort hingekommen war. Sie roch nach Wein. Tekin lag neben ihr. Die beiden grinsten sich an. Sie kamen sich näher. Ihre Lippen berührten sich. In diesem Moment fühlte sich Zarifa so leicht und unbeschwert, wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
„Ups, tschuldigung“, hickste Tekin.
„Wieso Entschuldigung?“, fragte Zarifa verwirrt.
„Ich ähm... nunja“, begann Tekin, doch der Satz wurde nie zu Ende geführt, denn Zarifa leckte ihm unvermittelt übers Gesicht. „Wir wollen doch keinen Wein verschwenden, oder?“, meinte sie lachen, während Tekin etwas verdattert doch zugleich amüsiert dreinblickte. „Nein, das wäre wirklich eine Schande“, erwiderte er lachend und streifte mit seinem Finger über Zarifas Bein. Dies war das erste mal seit langem, dass sie berührt wurde und es ihr überhaupt nichts ausmachte. Im Gegenteil. Erneut küssten sich die beiden. Zarifa kam das Bild eines Schmetterlings in den Sinn.
Früh am nächsten morgen erwachte Zarifa mit einem Gefühl, als würde sich ein Schraubstock durch ihr Gehirn bohren. Es roch stark nach Wein und Erbrochenem. Neben ihr lag Tekin. Ach du Scheiße!
Rohirrim:
Zarifa konnte am Ende des Tages selber nicht genau sagen, wie sie es geschafft hatte, den Tag zu überstehen. Jeder Schritt, jede noch so kleine Bewegung tat weh. Ihr Versuch ein Frühstück zu sich zu nehmen endete damit, dass sie den Ärger eines anderen Sklaven auf sich zog, indem sie dessen Uniform vollkotzte. Zum Glück verriet er sie nicht an die Wache. Es war schön zu sehen, dass sich nicht jeder auf die Spielchen des Fürsten einließ. Dennoch war Zarifa heute wohl drauf und dran gewesen, ihr Tischrecht wieder zu verlieren, denn sie arbeitete maximal halb so produktiv wie sonst, was ihr zwischendurch auch einige Stockhiebe der Wachen einbrachte.
Während sie so am Tisch saß und immer noch unter Kopfschmerzen litt, dachte sie darüber nach, was sie an diesem Tag motiviert hatte. Sie und Tekin hatten sich geküsst. Zwar jetzt nicht unbedingt auf die romantische Art, wie sie es sich vielleicht vorgestellt hatte, aber sie hatten es getan. Und allein der Gedanke daran erfüllte sie mit Wärme. Sie wusste jetzt, was dieses Gefühl war, dass sie zuvor noch nicht richtig einordnen hatte können. Sie war verliebt. Zum ersten Mal so richtig. Es schien, als hätte sie dieses Gefühl schon seit der Abreise aus Umbar motiviert, auch wenn sie es aufgrund der Trauer um Ziad, des Hasses auf Kazimir, Yasin und Hasael und dem zeitweisen Verlust ihres Lebenswillens nicht sofort erkannt hatte. Er war so nett zu ihr gewesen und gleichzeitig so schön. Aber empfand er auch das Selbe für sie? Zählte so ein Kuss im Alkoholrausch überhaupt? Sie hatten seit gestern Nacht nicht mehr miteinander gesprochen. Hauptsächlich weil Sprechen zu schmerzhaft gewesen wäre. Möglicherweise erinnerte Tekin sich gar nicht mehr an das, was gestern Nacht zwischen ihnen passiert war? Sie mussten unbedingt noch einmal nüchtern miteinander sprechen.
Außerdem hatten sie auch davon gesprochen, von hier zu fliehen. Aber war das überhaupt möglich? Oder war das nur die Phantasie von zwei betrunkenen Sklaven gewesen? Immerhin hatte Tekin schon bewiesen, dass Kazimir nicht das organisatorische Talent des Fürsten besaß. Aber dennoch war es riskant. Und Zarifa hatte Angst. Angst vor der möglichen Strafe. Angst vor dem, was sie erwarten würde, wenn man sie erwischte. Kazimir hatte seine Grausamkeit bei der Ermordung Ziads bereits unter Beweis gestellt. Etwas Ähnliches wollte Zarifa niemals wieder durchmachen. Und immerhin hatte sie es mit harter Arbeit und geducktem Kopf bereits zu einigen Annehmlichkeiten gebracht. War es nicht leichter, einfach so weiterzumachen wie bisher und die letzte Nacht zu vergessen?
Nein, sagte sie mahnend zu sich selbst. Du darfst nicht zulassen, dass das System von Radomir funktioniert. Er will genau das erreichen. Er will, dass die Sklaven nur darauf aus sind, die möglichen Belohnungen einzuheimsen anstatt sich gegen ihre Herren aufzulehnen. Er will, dass die Sklaven sich gegenseitig misstrauen. Doch ich vertraue Tekin und er vertraut mir. Wir lieben uns (hoffe ich). Und wir wollen hier weg. Wir werden es schaffen. Wir werden gemeinsam von hier fliehen. Wir brauchen nur einen Plan.
Abrupt stand Zarifa auf, um augenblicklich mit Tekin über diesen Plan zu sprechen, doch dabei schoss der Schmerz wieder zurück in ihren Kopf.
Autsch! Okay, das Ganze kann auch bis morgen warten. Jetzt sollte ich lieber schlafen gehen... und ich darf dieses Teufelszeug nie wieder anrühren.
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