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Anwesen des Fürsten von Gorak

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Rohirrim:
Alles war bereit. Die letzten zwei Tage hatten Tekin und Zarifa akribisch damit verbracht, einen Plan zu schmieden und den hatten sie jetzt. Sie würden sich in einem günstigen Moment in Kazimirs Büro im ersten Stock schleichen und den Dienstplan für die Wache fälschen, der an diesem Nachmittag ausgehängt werden sollte. Da sie heute für die Nachtschicht eingeteilt waren, hatten sie die Zeit dazu. Sie würden dafür sorgen, dass die Ausgänge und der Hof unbewacht sein würden. Aufgrund von Kazimirs Unfähigkeit, würde das zunächst nicht verdächtig auffallen und es würde ihnen ein kurzes Zeitfenster zur Fluchtmöglichkeit geben. Tekin meinte, er würde dafür sorgen, dass die Tür unbewacht und nicht abgeschlossen sein würde. Zarifa wusste zwar nicht, wie er das anstellen wollte, doch sie vertraute Tekin. Allerdings schien dieser das Vertrauen nicht zu erwidern, was die junge Haradan ziemlich verunsicherte. Zumindest hatte Tekin sich am Vortag sehr merkwürdig verhalten. Ständig hatte er ihr zugeflüstert, dass sie ihm vertrauen müsse und dabei extrem darauf geachtet, dass niemand sie beobachtete. Was sollte das? Wieso sollte sie ihm denn nicht vertrauen? Immerhin hatten sie sich bereits geküsst. Sie mochten einander. Sie hatten sich doch ausgesprochen und sich gegenseitig gestanden, dass ihre Zuneigung füreinander nicht nur Folge des übertriebenen Alkoholkonsums war, sondern echt. Wieso stellte Tekin das jetzt infrage? Und wieso blickte er sie die ganze Zeit so besorgt an. Hatte er etwa doch keinen echten Plan? Seine ständigen Ermahnungen, ihm zu vertrauen, hatten eher das Gegenteil bewirkt. Und dann hatte er sie auch noch mehrfach gefragt, ob sie Schlösser knacken und klettern könnte, ohne jedoch auf ihre Nachfrage, wieso er das wissen wollte, zu antworten. Es schien fast, als würde er Informationen vor ihr zurückhalten und einen eigenen Plan schmieden.
Je länger Zarifa, über Tekins merkwürdiges Verhalten nachdachte, desto weniger glaubte sie daran, dass es wirklich eine gute Idee war, den Plan heute durchzuziehen. Sie wollte daran glauben, doch die Angst davor, was passieren würde, wenn man sie erwischte. Doch andererseits konnte und wollte sie jetzt nicht zweifeln. Nicht jetzt, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben spürte, was Liebe war. Wenn sie dem Mann den sie liebte nicht vertrauen konnte, was bedeutete die Liebe dann überhaupt? Oder war sie inzwischen schon blind vor Liebe geworden?
Nein, denk sowas nicht, ermahnte Zarifa sich selbst. Es wird alles gut. Der Plan wird funktionieren und Tekin und ich werden frei sein. Oh Mist, schon so spät. Zeit nach oben zu gehen.

Zarifa betrat den ersten Stock und traf sich dort mit Tekin. Erleichtert stellte sie fest, dass er offenbar Wort gehalten hatte, denn die Tür zu Kazimirs Büro war unbewacht.
„Ah da bist du ja. Sollen wir?“, fragte Tekin mit einem leichten Zittern in der Stimme, das er anscheinend nicht ganz unterdrücken konnte. Auch Zarifa fühlte sich etwas unsicher, nickte aber und die beiden betraten Kazimirs Büro. Die Tür war tatsächlich nicht abgeschlossen. Eine Woge der Erleichterung durchfuhr Zarifa. Tekin hatte Wort gehalten. Er hatte einen Plan gehabt. Sie konnte ihm vertrauen.
„Also, wo ist der Dienstplan für die Wachen?“, fragte Zarifa und ging ein paar Schritte auf den Schreibtisch zu, um mit der Suche zu beginnen. Sie hatten nicht viel Zeit. Doch Tekin blieb stehen. Sie spürte seinen Atem im Nacken. Verwundert drehte sie sich um und blickte direkt in Tekins braune Augen. Er wirkte gequält. Verzweifelt. Tränen standen ihm in den Augen. In der Hand hielt er eine Glasflasche. „Bitte vertrau mir. Es tut mir leid“, hauchte er, bevor er zuschlug. Die Glasflasche traf auf Zarifas Kopf und die junge Frau sah nur noch schwarz.

Rohirrim:
Zarifa schlug die Augen auf. Sie lehnte mit zusammengebundenen Händen und Füßen an einer Wand. Ihr Kopf schmerzte. Ihre Kleidung lag neben ihr zerrissen auf dem Boden. Zunächst wusste die junge Haradan all diese Dinge nicht so recht einzuordnen. Doch dann trafen sie die Erinnerungen wie ein Schlag. Der Plan, Tekins merkwürdiges Verhalten, die offene und unbewachte Tür, Tekins zögern und schließlich der Schlag mit der Glasflasche. Sie hatte ihn geliebt und dachte, umgekehrt gelte das gleiche. Doch Tekin hatte sie verraten und sie hier nackt und gefesselt in Kazimirs Büro zurückgelassen. Wieso hatte er das getan? Hatte Kazimir ihm eine Belohnung dafür versprochen, genau wie all die anderen Sklaven belohnt wurden, die Regelverstöße petzten? Das wäre zumindest nicht überraschend. Was Zarifa jedoch überraschte, war, dass Tekin darauf eingegangen war. Wut stieg in der jungen Frau auf. Gab es denn auf dieser gesamten verfluchten Welt nicht einen Menschen, dem man vertrauen konnte? Waren alle einfach nur egoistische, auf den eigenen Vorteil bedachte, geldgeile Arschlöcher?
Nein, dachte sie. Es gab einen Menschen, dem ich vertrauen konnte. Der mich bereits als kleines Baby vor dem sicheren Tod gerettet hatte und seitdem immer für mich da gewesen war, wenn er die Möglichkeit dazu hatte. Doch der ist Tod. Warum musste ausgerechnet an ihm ein Exempel statuiert werden? Hätte Kazimir nicht stattdessen einfach Tekin töten können? Dann wäre mir all das hier erspart geblieben. Ziad hätte mich nicht hintergangen. Für keine Belohnung auf dieser Welt. Er war immer loyal. Im Gegensatz zu Tekin...
Je länger Zarifa über Tekin nachdachte, desto zorniger wurde sie. Wie hatte er ihr das nur antun können?
Falls ich es irgendwie schaffe hier raus zu kommen, wird Tekin bezahlen. Ich werde ihn aufspüren und töten. Und wenn es das letzte ist, was ich tue. Seine letzten Worte schossen ihr in den Kopf: [/i]„Bitte vertrau mir. Es tut mir leid.“ Was zur Hölle soll das bedeuten?[/i]

Die Tür ging auf und Kazimir betrat den Raum. Sofort schossen wieder Gedanken Zarifas Kopf, die sie eigentlich verdrängen wollte. Gedanken an Ziads Leiche. Den Dolch, der seinen Körper durchbohrte. Den Geschmack seinen Blutes. Sie schloss die Augen. Sie konnte den Anblick dieses Mannes einfach nicht ertragen.

„Ah, der Junge hat also Wort gehalten. Wie schön“, sagte Kazimir mit einer höchst selbstzufriedenen, arroganten Stimmlage, während er die Tür schloss.
„Mir ist zu Ohren gekommen, dass du meine Warnungen ignoriert hast. Ich dachte, der Tod deines Freundes wäre dir eine Lehre gewesen, dich nicht gegen mich aufzulehnen. Doch da habe ich mich offenbar getäuscht. Du hast zusammen mit diesem Jungen Pläne geschmiedet, von hier zu entkommen. Dachtest du, mir würde so etwas nicht auffallen. Dachtest du, meine Wachen wären blind? Nun ja, wie auch immer. Ich wusste, dass ich dich nicht zur Kooperation bewegen können würde. Doch ich wollte dem Anderen eine Chance geben. Ich dachte, er wäre vielleicht etwas vernünftiger als du und anscheinend hatte ich Recht. Ich habe ihm die Freiheit und etwas Geld angeboten, wenn er dich hier in diesem Zustand in meinem Büro hinterlässt.“
Darum war die Tür also offen und unbewacht, schoss es Zarifa durch den Kopf.
„Und tada, hier bist du. Weißt du, was wir mit Ungeziefer machen, dass sich gegen seine Herren auflehnt? Wir sorgen dafür, dass es sich auf andere Weise nützlich machen kann. Wir sind schließlich keine Unmenschen, weißt du? Bei uns bekommt jeder, der einen Zweck erfüllen kann die Chance, das auch zu tun, selbst wenn sich derjenige oder diejenige zuvor bereits als unnütz erwiesen hat. Und du hast sehr viel Potential, was wir ausnützen können. Weißt du, es gibt bei uns sehr viele, hart arbeitende Leute, die ab und an einfach mal ein wenig Entspannung brauchen. Und gibt es eine bessere Art der Entspannung als die... Vergnügung mit einem hübschen Mädchen? Zumindest keine, die mir bekannt wäre. Du wirst diese Entspannung sein. Du musst auch gar nicht so viel tun. Einfach nur rumstehen, dein Maul halten und dich nicht widersetzen. Klingt einfach oder?“ Zarifa bekam mit jedem gesprochenen Wort mehr und mehr das Bedürfnis, sich zu übergeben. Das konnte er doch unmöglich ernst meinen? Doch dann erinnerte sie sich zurück an die Frau, die einst die Höchststrafe für schlechtes Benehmen hatte erleiden müssen. Auf einmal ergab es einen Sinn, dass sie nicht darüber hatte sprechen wollen. Zarifa hätte in diesem Augenblick alles getan, um dieser Strafe zu entgehen. Verzweifelt ruckelte sie mit den Armen, um sich irgendwie von den Fesseln zu befreien. Dabei stellte sie fest, dass die Fesseln relativ locker saßen. Gleichzeitig drang ein seltsamer Geruch in ihre Nase.
Wie merkwürdig

„FEUER!“ Kazimir schnellte herum. Hastige Schritte waren zu hören und der Gestank nach Rauch wurde immer prägnanter. Ohne der jungen Haradan auch nur einen weiteren Blick zuzuwerfen, verließ Kazimir sein Büro, um der Sache auf den Grund zu gehen. Zarifa war nun wieder allein. Nun, da sie einmal festgestellt hatte, dass ihre Hände nur sehr locker zusammengebunden waren, hatte sie keine großen Schwierigkeiten, sich selber zu befreien. Sie lachte bei dem Gedanken an Tekins Unfähigkeit. Was würde Kazimir wohl dazu sagen, wenn er feststellen musste, dass Tekin zwar der Egoistische von den Beiden war, aber gleichzeitig auch der Unfähige. Mit den befreiten Händen war es nun auch kein Problem mehr, die Fußfesseln zu lösen. Sie war frei und sah sich um. Was jetzt?
Vor der Tür waren immer noch hastige Schritte zu hören. Das Feuer musste ganz in der Nähe sein. Durch die Tür konnte sie also nicht gehen. Doch hier bleiben konnte sie auch nicht. Wenn man sie fand, würde man sie einfach erneut fesseln. Sie musste hier weg. Vielleicht durch das Fenster? Bei einem Brand in der Wohnung, würde doch bestimmt niemand bemerken, wenn sich jemand durch den Garten davonschleichen würde? Doch wie sollte sie die Glasscheibe kaputt kriegen? Ein einfacher Faustschlag war sehr riskant. Das hatte Ziad ihr bereits in sehr jungen Jahren eingeschärft. Bei einem Einbruch niemals das Fenster einschlagen. Zum einen wegen des Lärms, aber vor allem wegen der möglichen Schnittverletzungen, die im schlimmsten Fall sogar tödlich enden konnten. Moment, was ist das? Ein Hammer auf der Fensterbank? Kazimir ist wohl wirklich nicht der hellste. Oder er hat einfach zu sehr darauf vertraut, dass Tekins Fesseln sicher wären. Wie naiv, dachte Zarifa spöttisch. Da war er, der Weg hier raus und in die Freiheit. Sie musste nur aufpassen, dass niemand das Klirren des Glases hörte. Zum Glück ging es vor der Tür immer noch sehr laut zu. Die Löscharbeiten mussten noch in vollem Gange sein. Zarifa schloss die Augen und hoffte. Irgendwann musste sie doch auch mal wieder Glück haben.
*KLIRR*
Das Glas ging zu Bruch. Ängstlich blickte Zarifa zur Tür. Doch dahinter ging es immer noch genauso laut zu wie zuvor. Anscheinend hatte niemand etwas gehört. Erleichtert atmete sie auf. Die Wand herunterzuklettern würde eine ihrer leichteren Übungen sein. Immerhin waren sie gerade einmal im ersten Stock. Zarifa blickte noch einmal auf ihre Kleidung, doch die war völlig zerstört. Und für eine Reparatur blieb keine Zeit. Sie musste hier weg. Vorsichtig, und darauf bedacht sich nicht an den Scherben zu schneiden, kletterte Zarifa durch das Fenster. Dreißig Sekunden später hatte sie festen Boden unter den Füßen. Sie hatte es geschafft.
Während sie durch den Garten schlich und dabei erleichtert feststellte, dass tatsächlich gerade niemand hier war, ließ sie ihre Flucht noch einmal Revue passieren. Sie hatten wirklich verdammt viel Glück gehabt. Ihre locker anliegenden Fesseln, das Feuer im richtigen Augenblick, der Hammer auf der Fensterbank... Plötzlich kam ihr ein Verdacht.

„ZARIFA“, hörte sie den Ruf, als sie sich dem Zaun des Anwesens näherte. Es war Tekin. Er kam auf sie zugerannt, ein weißes etwas vor sich ausgestreckt und demonstrativ zur Seite blickend. „Bitte, Bitte verzeih mir“, stammelte er mit sich überschlagender Stimme. „Ich hatte keine Wahl. Ich wurde gezwungen. Ich habe alles getan, um deine Flucht zu ermöglichen. Ich wusste, du würdest es schaffen. Hier, ich habe Kleidung für  dich besorgt und bin dann hierher zurückgekehrt, um...“
*KLATSCH*
Zarifa hatte ihm eine saftige  Ohrfeige verpasst. „Warum hast du Mistkerl mich denn nicht eingeweiht? Ich wäre vor Angst fast gestorben.“ „Nun, äh, ich...“, begann Tekin und wagte nun doch einen vorsichtigen Blick auf Zarifa. Sie blickte ihn wütend an, doch innerlich war sie fast ein bisschen belustigt über Tekins Verunsicherung. Auch wenn sie gleichzeitig immer noch zornig darüber war, dass er ihr nichts gesagt hatte. Sie riss ihm das Kleidungsstück aus der Hand, was er immer noch vor sich ausgestreckt hielt. Es war ein einfaches, kurzes, weißes Kleid, fast wie Zarifa es früher getragen hatte. Nur etwas professioneller hergestellt. Sie warf es sich schnell über, während Tekin weiter stammelte und wieder demonstrativ wegsah. „Ich konnte es doch nicht riskieren. Kazimir hat mitbekommen, dass wir etwas planten. Und er hat angekündigt, mich genau im Auge zu behalten. Wenn er auch nur den Verdacht geschöpft hätte, dass ich dich einweihe, wäre ich Tod gewesen. Oder schlimmeres.“ Vermutlich eher schlimmeres, dachte Zarifa.
*KLATSCH*
Sie hatte Tekin noch eine Ohrfeige verpasst. „Sieh mir gefälligst in die Augen!“ Tekin blickte sie mit seinen wunderschönen braunen Augen an. Eine Träne kullerte seine Wange herunter. „Es tut mir... wirklich Leid. Ich weiß, ich habe es nicht verdient, aber bitte... verzeih mir. Ich mache alles wieder gut“; schluchzte er. Zarifa konnte nicht anders. Sie grinste. „Gehen wir ein Bier trinken?“

Zarifa und Tekin in die Straßen von Gorak

Rohirrim:
Zarifa und Tekin aus den Straßen von Gorak

Heute werde ich meine Rache bekommen. In weniger als einer Stunde wird Kazimir, der Mörder von Ziad, tot vor mir liegen. Ich kann es vor mir sehen. Gelöste Fesseln, ein erschrockenes Gesicht, ein silbern schimmernder Dolch, aufspritzendes Blut und das befreiende Gefühl der Vergeltung.
Ein befreiendes Gefühl. Wird es wirklich befreiend für mich wirken? Auch wenn ich nicht mehr physisch eingesperrt bin, so bin ich dennoch gefangen in meinen eigenen Gefühlen. All diese Bilder: Ein silberner Dolch, Blutspritzer auf meiner Kleidung, ein Keuchen... Ziads Leiche... ein blutiger Dolch in meinem Mund. Ich kriege sie einfach nicht aus dem Kopf.

Und plötzlich schoss Zarifa noch ein anderes Bild durch den Kopf: das Bild eines zahnlosen Grinsens.

Schluss damit! Kazimir ist dafür maßgeblich verantwortlich. Er hat mir diese Bilder in den Kopf gepflanzt. Ich hoffe nur, dass sein Tod mir wirklich helfen kann. Was wenn nicht? Wäre ich dann im Grunde nicht auch nur ein Mörder wie jeder andere? Rede ich mir vielleicht sogar nur ein, dass ich ihn töten muss, um mich selber zu retten? Oder will ich einfach nur töten? Für das was er mir angetan hat?

Nun tauchte ein anderes Bild vor ihrem geistigen Auge auf. Ein weinender Junge, der durch ein Fenster dabei zusieht, wie sein Vater Tod geprügelt wird. Stumme Tränen rollen seine Wangen herunter. Zarifa verkniff es sich, selbst eine Träne zu verdrücken.

Wie dem auch sei. Es gibt keine Entschuldigung, für Kazimirs Verhalten. Er hat den Tod verdient. Genau wie der Kaufmann, der Ziad gefangen gehalten hatte, es nicht anders verdient hatte. Es ist tragisch, dass diese Menschen eine Familie haben, die sie vermissen wird. Doch darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Selbst wenn es mir nicht hilft, so ist die Welt in jedem Fall besser ohne Kazimir dran. Und das wäre doch auch zumindest schonmal etwas. Ist das vielleicht sogar die Lösung für die allgemeine Ungerechtigkeit? Die Herrschenden töten? War ich in meinen bisherigen Anstrengungen vielleicht einfach nicht radikal genug? Kann man das System vielleicht nur verändern, indem man es mit Gewalt zerschlägt? Aber wäre man dann überhaupt besser als die kriegstreibenden, slavenhaltenden und ungerechten Herrscher? Eine schwierige Frage.
Egal, das ist heute nicht so wichtig. Heute ist es was Anderes. Und heute muss ich konzentriert bleiben. Ich darf mich nicht ablenken lassen. Dafür ist das hier zu wichtig. Oh, wir sind da.

Sie standen vor dem großen Tor zum Anwesen des Fürsten. Fast zwei Wochen war es inzwischen her, dass Zarifa zum ersten Mal vor diesem Tor stand. Damals hatte sie Angst gehabt, weil sie nicht wusste, was sie erwarten würde. Heute fürchtete sie sich vor dem, was sie tun würde. Tekin hatte sie mit auf dem Rücken zusammengebundenen durch die Stadt geführt. Zumindest sah es danach aus. Er hatte der Wache am Stadttor erklärt, er habe Zarifa in den bergen gefunden und wolle sie persönlich zu Kazimir bringen, um eine Belohnung abzustauben. Die Wache war nach kurzer Diskussion einverstanden gewesen, hatte jedoch auf eine Begleitung bestanden. Die Wache, die dafür auserkoren worden war, redete nun mit der Wache des Anwesens und erklärte die Situation. Wenige Augenblicke später wurden sie hereingelassen und von einer Wache des Anwesens in Richtung des Hauses geleitet.

„Ich werde euch unverzüglich zu Kazimir ins Büro bringen. Ihr habt euch eure Belohnung redlich verdient, Tekin. Ich bin mir sicher, Kazimir wird sehr zufrieden sein und sich entsprechend erkenntlich zeigen.“

Zarifa erinnerte sich daran, wie sie vor fast zwei Wochen hier im Gänsemarsch mit den anderen Sklaven lang laufen musste. Sie war damals an ihrem Tiefpunkt gewesen. Immer noch traurig über Ziads Verlust, immer noch traumatisiert von Yasins und Kazimirs Misshandlung und große Angst bezüglich der Zukunft. Ohne Tekin, überlegte sie, hätte sie es niemals da durch geschafft. Hatte sie ihm eigentlich jemals wirklich dafür gedankt? Sie beschloss, das unmittelbar nach der ganzen Aktion nachzuholen. Sie hatte damals dringend jemand gebraucht und Tekin war dieser Jemand gewesen. Er war der Einzige, der sich für sie zu interessieren schien. Die anderen Sklaven, die Zarifa noch aus ihrer gemeinsamen Zeit aus Umbar gekannt hatte, hatten kaum noch mit ihr gesprochen. Einige hatten vermutlich zu viel Angst, andere gaben ihr vielleicht sogar dir Schuld für die Gefangennahme.
Und ganz Unrecht hätten sie damit nicht, dachte Zarifa verbittert. Eines Tages werde ich diese ganze Sklavenhaltung hier auflösen. Doch heute ist erst einmal Kazimir dran.

Sie betraten das Haus und gingen direkt in den ersten Stock zu Kazimirs Büro. Die Bediensteten, an denen sie vorbeikamen, staunten nicht schlecht und es gab viel Getuschel hinter ihrem Rücken. Wenige Augenblicke später klopfte eine Wache an Kazimirs Tür und sie traten ein. Als Kazimir die junge Südländerin erblickte, breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. Er wirkte euphorisch, fast wie in Ekstase. Zarifa dagegen kamen sofort wieder die altbekannten Bilder in den Sinn und ihr Hass aber auch ihre Entschlossenheit wuchs. Dies war der Moment. Sie war so nahe. Ziad würde gerächt. Sie selbst würde wieder frei sein. Der Mann, den sie mehr als alles Andere auf der Welt verachtete, würde endlich tot sein. Nur noch ein paar Minuten musste sie ruhig bleiben. Sich nichts anmerken lassen. Ihren Plan nicht durch Gesten und Mimik preisgeben. Nachdem eine der Wachen kurz erklärt hatte, was passiert war, blickte Kazimir Tekin freudestrahlend an.

„Ich wusste doch, dass auf dich Verlass ist. Weißt du, ich hatte meine Zweifel, ob du wirklich Wort gehalten hattest, oder ob du Zarifa hier doch in unser kleines Geschäft eingeweiht hattest. Doch hier stehst du nun und lieferst sie mir aus. Etwas, was meine Leute tagelang erfolglos versucht haben.“

Er blickte streng zu den Wachen, die sich noch im Büro befanden. Diese blickten demütig zu Boden.

„Ihr könnt wegtreten. Ich brauche euch nicht mehr. Dies ist eine Sache zwischen Tekin, Zarifa und mir.“

Die Wachen taten, wie ihnen geheißen.

„Also, das entflohene Vögelchen ist wieder da. Weißt du, es hat mir gar nicht gefallen, als ich nach dem Brand zurück in mein Büro kam und feststellen musste, dass du von deinem zugewiesenen Platz abgehauen warst. Weißt du, wir alle haben im Leben eine Rolle zu spielen. Und ich hatte eine Rolle für dich auserkoren. Niemand anderes in dieser Stadt würde einer dunkelhäutige, vorlaute junge Frau auch nur den Hauch eines Nutzens zusprechen. Doch ich, großzügig wie ich nunmal bin, weiß, dass in jedem Menschen ein Nutzen steckt. Ich wusste, du als eines der hübschesten Exemplare unter dem Ungeziefer, würdest eine hervorragende Leistung bei der *Motivation* unserer männlichen Angestellten leisten. Doch du wolltest dieses Geschenk meinerseits nicht annehmen. Niemals erkennt das Ungeziefer, wenn jemand höhergestelltes ihnen eine Gnade erweist. Doch so ist Ungeziefer nunmal. Es kann nicht denken.“

Zarifa wurde schlecht. Sie erinnerte sich noch zu gut an die „Rolle“, die Kazimir für sie auserkoren hatte und am liebsten hätte sie sich genau in diesem Augenblick schon auf ihn gestürzt und ihn erwürgt. Doch das wäre unklug. Sie musste ihren Zorn noch ein wenig im Zaum halten. Nur noch ein kleines bisschen länger.

„Aber, ich will mal nicht so sein. Ich weiß, du hast Potenzial, auch wenn du dich weigerst, es auszuschöpfen. Meine männlichen Bediensteten werden noch viel Freude an dir haben. Doch zunächst, möchte ich dir Tekin, den Vortritt lassen. Neben einer weiteren finanziellen Belohnung, hast du denke ich auch ein Interesse daran, dich von dem *Potenzial* unserer jungen Freundin hier zu beeindrucken oder?“
„Nun, wenn sie das so ausdrücken wollen...“; antwortete Tekin. Zarifa bebte innerlich.
„Na dann komm mal mit.“

Kazimir betätigte einen Schalter und auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers tat sich eine Geheimtür auf.

„Das, mein lieber Tekin, ist meine Lieblingskammer. Ich bin mir sicher, du wirst alles finden, was du brauchst. Tob dich ruhig aus. Dir steht alles zur Verfügung. Sorg nur dafür, dass sie am Leben bleibt. Alles andere ist mir egal.“

Scheiße, eine extra Kammer? Hoffentlich denkt Tekin mit. Das gehört nicht zum Plan. Von meinen Fesseln bin ich bereits befreit. Es kann eigentlich nichts mehr schief gehen, wenn Tekin jetzt gut improvisiert.

„Ähm Sir.... ich hab da nochmal eine Frage, doch ich befürchte, es könnte unhöflich sein.“
„Nur raus damit mein Junge. Du hast mir heute einen großen Dienst erwiesen. Da kann man sich ein bisschen Unhöflichkeit ruhig erlauben.“
„Also, sie haben da doch diesen Dolch, mit dem sie Ziad getötet haben... Könnte ich mir den, nun eventuell ausleihen? Ich möchte bei Zarifa gerne einige... Erinnerungen wecken. Wenn sie verstehen, was ich meine.“
„Ah, ich verstehe. Sie schätzen die Macht von seelischen Schmerzen ebenso wie die Körperlichen. Genau wie ich. Also gut. Aber nicht zu tief reinbohren.“
Er gab Tekin den Dolch.
„Keine Sorge. *Ich* werde diesen Dolch nicht zu tief reinbohren.“

Das war der Moment. All der Zorn, der sich in Zarifa innerhalb der letzten Minuten aufgestaut hatte, entlud sich. Sie riss die Hände von ihrem Rücken, nahm den Dolch an sich und stürzte sich auf Kazimir. Der war nicht in der Lage, die plötzliche Wendung schnell genug wahrzunehmen. Er rührte sich nicht von der Stelle. Blut spritzte auf. Kazimir keuchte. Tekin reagierte schnell und stopfte dem Vertreter des Fürsten seine Faust in den Mund, um den Schrei zu ersticken.
„Das ist für Ziad, du Bastard“, flüsterte Zarifa mit so viel Zorn in der Stimme wie nur möglich. Am liebsten hätte sie geschrien, doch dann wären sie innerhalb von Sekunden von Wachen umzingelt. Kazimirs Augen weiteten sich. Zarifa zog den Dolch wieder zu sich und der Mörder von Ziad ging ebenso hilflos wie sein Opfer damals zu Boden. Dieser Gedanke machte Zarifa fast wahnsinnig. Dieses Arschloch starb auf die gleiche Weise wie Ziad? Das war nicht richtig. Das reichte nicht. Wie im Wahn begann Zarifa, mit dem Dolch auf Kazimirs sich ohnehin kaum noch rührenden Körper ein. Zarifas Kleid wies inzwischen mehr rote als weiße Stellen auf.

„Hey Zarifa, das reicht“, meinte Tekin und zog die junge Haradan weg.
„Was soll das heißen? Dieser Mann hat Ziad getötet? Wie kann da irgendetwas reichen.“
„Er ist tot. Und wir müssen hier weg.“
„Aber...“
„HERR; WAS IST DA DRINNEN LOS?“
„Okay, du hast recht. Weg hier.“

Wie sie gehofft hatten, war das Fenster noch nicht wieder repariert worden. Dies war ihr Ausweg. Es war ihnen gelungen.

Zarifa und Tekin in die umliegenden Berge von Gorak

Rohirrim:
Zarifa aus den umliegenden Bergen von Gorak

„Ich will ganz offen zu dir sein: Ich halte dich für sehr talentiert, Zarifa.“ Sie hatten soeben das Anwesen Radomirs erreicht. „Du hast es geschafft meinen Vertreter zu töten, ohne erwischt zu werden. Das verdient Bewunderung und ich fände es schade, dein Talent zu verschwenden. Von daher wirst du nun erneut Zeugin meiner Großzügigkeit. Ich werde deine Worte von vorhin einfach vergessen und dir eine weitere Chance geben. Ich will dich in meinen Diensten.“
Zarifa antwortete nicht. Sie stand in der Eingangshalle umgeben von Wachen und durfte sich nun diese Worte von dem Mann anhören, der vor weniger als einer Stunde Tekins Tod befohlen hatte. Sie traute ihren Ohren nicht. Glaubte Radomir wirklich, dass sie das einfach vergessen? Dass ihr eine Anstellung bei ihm mehr Wert war, als das Leben ihrer ersten großen Liebe?
Radomir schien zu ahnen, was in der jungen Frau vorging.
„Es fällt dir schwer, Tekin zu vergessen, nicht wahr? Aber ich hatte nunmal keine andere Wahl. Hätte ich ihn am Leben gelassen, hätte das ein falsches Signal gesendet. Und jetzt ist es ohnehin vorbei. Du musst jetzt an dich selber denken, wenn du Tekins Schicksal nicht teilen willst.“
Lieber sterbe ich, als irgendeinen Handel mit dir einzugehen, hätte Zarifa fast gesagt, doch sie entschied sich, vorläufig noch abzuwarten. Möglicherweise ergab sich ja noch eine bessere Gelegenheit. Auch wenn Zarifa allmählich Frieden mit dem Gedanken schloss, dass es aus ihrer derzeitigen Situation keinen Ausweg gab. Radomir war im Gegensatz zu Kazimir extrem gut organisiert und fähig. Er hatte es innerhalb eines Tages geschafft sie zu finden – etwas was Kazimir in über einer Woche nicht geschafft hatte. Und er würde sie nicht wieder entkommen lassen. Sollte sie also vielleicht doch eine Weile mitspielen? So tun, als hätte sie alles vergessen? Zum Schein auf Radomirs Seite stehen, um im entscheidenden Moment zuschlagen zu können? Das Bild von Tekins abgetrenntem Kopf, der ihr von Radomir ins Gesicht gepresst wurde, erschien vor ihrem geistigen Auge. Angewidert blickte sie zu Radomir auf, sagte jedoch weiterhin nichts.
Nein, eine Zusammenarbeit kam nicht infrage. Nicht einmal zum Schein. Ihre Abscheu für diesen Mann war nicht in Worte zu fassen. Dies war der Mann, der hinter all ihrem Unglück steckte. Der Mann, der sie als Sklavin aus Umbar gekauft hatte. Der Mann, der Kazimir befohlen hatte nach Umbar zu fahren und damit letztlich auch Ziads Tod herbeigeführt hatte. Der Mann, der seine Sklaven wie Dreck behandeln ließ. Und der Mann, der Tekin hatte töten lassen und sie anschließend mit dem abgetrennten Kopf von Tekin verhöhnt hatte. Kazimir war nur ein Handlanger gewesen. Grausam und schrecklich, doch letztlich nur ein Handlanger. An den Vorgängen in diesem Anwesen hatte Kazimirs Tod rein gar nichts geändert. Es war Radomir, der sterben musste.
Zarifa wurde wütend und traurig zugleich. Sie wollte Radomir töten, wie sie auch Kazimir getötet hatte. Doch sie hatte keine Möglichkeit dazu. Sie befand sich in Gefangenschaft. Und mit Tekin war auch ihr einziger Verbündeter in der Stadt gestorben. Sie war also komplett auf sich allein gestellt. Denn wer sonst wäre dumm genug, einen Anschlag auf Fürst Radomir in dessen eigenem Anwesen zu versuchen?
Nein, niemand würde kommen und sie selbst konnte nichts tun. Denn so verlockend der Gedanke auch war, sie konnte sich auf keinen Handel mit dem Mann einlassen, der so viel Leid in ihr Leben gebracht hatte. Die altbekannten Bilder tauchten erneut vor ihrem geistigen Auge auf. Und so sehr sie auch versuchte, an etwas anderes zu denken, gelang es ihr nicht. Wie könnte sie, selbst wenn es nur zum Schein war, mit dem Mann zusammenarbeiten, der letztlich für all das verantwortlich war? Finger, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. Ein silberner Dolch. Blutspritzer auf ihrer Kleidung. Ziads Leiche. Der Geschmack von Blut auf ihrer Zunge. Tekins abgetrennter Kopf in ihrem Gesicht.
Es kam nicht einfach nur darauf an, Radomir zu töten. Es ging hier auch um das Prinzip. Wenn sie Radomir um jeden Preis töten wollen würde, würde sie zum Schein mit ihm zusammenarbeiten, um sein Vertrauen zu erlangen. Doch dann wäre sie mitverantwortlich für das Leid der Sklaven in diesem Anwesen und aller anderen, die unter Radomirs Herrschaft litten. Sie müsste Befehle ausführen, die sie nicht ausführen wollte. Sie müsste Radomir anlächeln, obwohl sie ihm am liebsten einen Dolch zwischen die Rippen rammen würde. Und das konnte sie einfach nicht. Nicht nach Allem, was Radomir getan hatte.
Während Zarifa all diese Gedanken durch den Kopf schossen, wurde sie in Richtung des Raums geführt, in dem Kazimir seine letzten Atemzüge getan hatte, und der inzwischen vermutlich wieder von Radomir als Büro genutzt wurde. Der Fürst ergriff nun erneut das Wort:

„Wie du sicherlich bereits festgestellt hast, gibt es unter meinem Eigentum immer wieder Gesindel, das Fehler begeht. Und wie du sicherlich auch schon festgestellt hast, toleriere ich keine Fehler. Fehltritte müssen bestraft werden. Und hier kommt nun deine zweite beziehungsweise schon dritte Chance ins Spiel. Sei gewarnt, denn eine weitere Chance wird es nicht geben. Auch wenn ich ehrlich zu dir war, als ich sagte, dass ich dich für talentiert halte, solltest du nicht glauben, dass ich auch nur eine Sekunde zögern werde, dich fallenzulassen. Denn letztlich bist du nichts wert. Ich biete dir an, deinem Leben einen Wert zu geben, indem du mir dienen darfst. Wenn du das ablehnst, bist du ein nichts und wirst auch so behandelt.“

Was für ein unfassbar arrogantes Arschloch, dachte Zarifa, während Radomir den Schalter für die Geheimtür zur Folterkammer betätigte. Es geht in die Folterkammer? Was hat Radomir vor? Soll ich etwa gefoltert werden, wenn ich sein Angebot ablehne? Seine letzten Worte klangen jedenfalls nicht so, als wolle er mich töten. Das scheint ihnen allen nicht zu reichen. Doch er hat auch immer noch nicht genau erklärt, was ich jetzt eigentlich für ihn tun soll. Immer noch als Vorkosterin dienen? Oder ist dies ein neues, verbessertes Angebot? Und was geschieht mit mir, wenn ich ablehne?

Ein Schauer des Grauens durchfuhr Zarifa, als sie daran zurückdachte, was Kazimir einst mir ihr vorgehabt hatte. Er hatte davon erzählt, als sie zum Schein gefesselt in seinem Büro gewesen war. Zarifa mochte die Worte nicht einmal in ihrem Kopf wiederholen, so schrecklich war die Vorstellung. War es das, worauf es hinauslaufen würde? Der Tod wäre die bessere Alternative.
Sie betraten nun die Folterkammer. Hier drin war es dunkel. Nur sehr wenige Fackeln erleuchteten den Raum. Zarifa sah viele Gerätschaften, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte und deren genauer Zweck sich ihr entzog. Vermutlich ging es aber bei allen Geräten darum, in irgendeiner Form einer anderen Person Schmerzen zuzufügen. Hier spielten sich also vermutlich die meisten Bestrafungen für Sklaven ab. In der Mitte des Raumes war ein gefesselter, junger Mann zu sehen.

„So, da wären wir“, ergriff Radomir nun erneut das Wort. „Hier ist nun deine letzte Chance, Zarifa. Ich mache dir noch einmal das gleiche Angebot, wie vorhin in der Höhle. Ich biete dir an, mich zu beschützen. Du wirst alles in deiner Macht Stehende tun, um einen potentiellen Anschlag auf mich zu verhindern.“
Haben es etwa wirklich Leute auf ihn abgesehen? Oder ist er einfach nur paranoid?, dachte Zarifa.
„Und weil ich dich für wirklich talentiert halte, habe ich hier noch ein kleines Extra für dich. Erkennst du unseren jungen Gast hier?“

Zarifa betrachtete den gefesselten Mann in der Mitte des Raumes nun genauer. Was sollte das alles? Er hatte kurze blonde Locken und ein markantes Kinn. Zarifa erschrak. Sie erkannte ihn tatsächlich wieder. Doch die Erinnerung an ihn steigerte ihre Stimmung nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Sie konnte es noch genau vor sich sehen. Es war an ihrem dritten Tag in Gorak gewesen, als eben dieser junge Mann, der schon länger als sie hier gewesen war, mit ihrem alten Laken, welches Zarifa früher als Kleid getragen hatte, in den großen, kahlen Raum im Keller gekommen war. Er hatte ihr einen frechen Blick zugeworfen und anschließend ausgiebig an dem Kleid geschnuppert, bevor er Zarifa eine Kusshand zugeworfen und sich das Kleid in seine Hose gesteckt hatte. Die junge Haradan erinnerte sich noch gut daran, wie gerne sie ihm damals eine reingehauen hätte. Und jetzt hockte eben dieser Mann hier gefesselt in der Mitte der Folterkammer. Was hatte das alles zu bedeuten?

„Ah, dein Blick sagt alles. Du kennst ihn, richtig? Er hat dich verhöhnt, als du an deinem emotionalen Tiefpunkt warst, nicht wahr? Und du würdest nichts lieber tun, als ihm für sein gemeines Verhalten Schmerzen zuzufügen, richtig?“

Zarifa war von sich selbst angeekelt, weil Radomir genau ihre Gedanken aussprach. Er schien sie zu verstehen und das machte sie wütend. Sie wollte nicht von ihm verstanden werden. Sie wollte ihn töten. Doch immer noch sagte die junge Frau kein Wort. Ein kleiner Teil von ihr wollte sogar hören, was Radomir als Nächstes zu sagen hatte, auch wenn der restliche Teil ihres Bewusstseins sie selbst dafür verachtete.

„Nun, es trifft sich, dass dieser junge Mann namens Rami sich in letzter Zeit gar nicht gut geschlagen hat und es jemanden braucht, der ihn wieder auf Linie bringt. Ich schätze mal, so etwa zehn Peitschenhiebe dürften ausreichen. Na, wie klingt das?“

Zarifa nahm wahr, wie eine der Wachen, eine lange Peitsche hervorholte. Unwillkürlich dachte Zarifa an einen kalten kahlen Raum, mit einer verschlossenen Tür, die den einzigen Ausweg darstelle. Sie verwarf den Gedanken und fragte sich, ob Radomir dachte, was sie dachte, was er dachte.

„Ich drücke dir diese Peitsche in die Hand, als Zeichen meines Vertrauens. Du wirst Rami bestrafen. Ich weiß, wie sehr du es willst. Im Gegenzug, wirst du mich beschützen. Und wenn ich nach einer Woche noch lebe und meine Feinde tot sind, stelle ich dich als Angestellte in diesem Anwesen ein. Dies ist das großzügigste Angebot, das ich jemals einer rebellischen Sklavin gemacht habe. Ich bin mir sicher, du wirst mich nicht enttäuschen.“

Es war also wahr. Radomir wollte Zarifas Abscheu gegenüber Rami ausnutzen, um sie gefügig zu machen. Er wollte damit von den noch viel abscheulicheren Taten seiner selbst ablenken. Genau dieses System nutzte er, um seine Sklaven gefügig zu machen. Misstrauen untereinander säen, damit es nicht zum kollektiven Aufstand kommt. Die Aussicht auf ein besseres Leben bieten, wenn man sich lange genug fügte. Das war seine Art und Zarifa hasste, wie gut es funktionierte.

„Los, zieht Rami das Oberteil aus und stellt ihn mit dem Kopf zur Wand“, befahl Radomir und seine Wachen gehorchten sofort. Doch Zarifa würde nicht zulassen, dass Radomirs System auch bei ihr funktionierte. Sie würde sich nicht an ihn verkaufen. Sie würde nicht alles verraten, wofür sie stand, nur um ein einfacheres Leben zu führen. Sie würde nicht zuschlagen. Oder?
Zarifa blickte auf die Peitsche, die Radomir ihr nun in die Hand drückte. Die Worte „süße Diebin“ kamen ihr in den Sinn. Warum, konnte sie zunächst auch nicht so genau sagen.
Wie war es eigentlich, wenn man Geld verdiente, indem man einer Arbeit nach ging? Wenn man nicht täglich darauf angewiesen war, andere Leute zu bestehlen, um zu überleben? Zarifa blickte Rami an, wie er nun mit nacktem Rücken zu ihr stand. Er hatte keinerlei Narben auf dem Rücken, im Gegensatz zu ihr. Er musste bis vor kurzem ein braver kleiner Sklave gewesen sein, dem immer nur auf den eigenen Vorteil bedacht gewesen war. Was hatte er nun getan, um hier zu landen? Es waren gerade Leute wie er, die dafür sorgten, dass Radomirs System der Unterdrückung so gut funktionierte. Weil Leute wie er selber alles tun würden, um sich selbst ein besseres Leben zu ermöglichen, konnte es niemals zu einer Rebellion der eigentlichen Mehrheit kommen. Leute wie er, versuchten in einem ungerechten System, egoistisch das Beste für sich selbst zu erreichen, anstatt gemeinsam und solidarisch mit den Anderen für eine Abschaffung des ungerechten Systems zu kämpfen.
War Rami nicht im Grunde genauso wie Radomir selbst? Egoistisch, machthungrig und skrupellos? Das hatte er doch bereits bewiesen. Ihm fehlte einfach nur die Macht, für grausamere Taten. Und ihr stand er nun vor ihr und sie hatte die Macht, ihm Schmerzen zu bereiten. Doch was sollte das bringen? Letztlich kannte Zarifa ihn doch auch gar nicht.

„Na los, Zarifa. Tu es! Ich weiß doch, wie sehr du es willst. Nur keine Skrupel.“
Vielleicht konnte es doch nicht schaden, das Spiel für eine Weile mitzuspielen? Wenn es wirklich konkrete Anschlagspläne gegen Radomir gab, konnte sie dann nicht zum Schein für ihn arbeiten und insgeheim dafür sorgen, dass der Anschlag gelänge? Erneut blickte Zarifa auf die Peitsche. Ein Schlüssel, der sich im Schloss dreht, kam ihr in den Sinn.
Hatte Rami nicht im Grunde genau das hier verdient? Wen kümmerte es schon, von wem der Befehl kam? Gerechtigkeit war Gerechtigkeit. Sie musste einfach nur ausholen und zuschlagen. Rami bekam was er verdiente und sie selbst würde die Chance erhöhen, dass ein potentieller Anschlag auf Radomir gelingen würde. Was war daran falsch?
Eine sich quietschend öffnende Tür, tauchte vor Zarifas geistigem Auge auf.
Aber hatte Rami das hier wirklich verdient? Konnte sie einem seit Monaten und vielleicht sogar Jahren eingesperrten Mann wirklich vorwerfen, dass er seinem Leben ein wenig mehr Freude verpassen wollte?
Aber diese Freude kam auf meine Kosten, sagte Zarifa innerlich zu sich selbst.
Aber wenn ich jetzt zuschlage, verbessere ich mein Leben auf seine Kosten. Will ich wirklich so tief sinken? Bin ich nicht besser als das? Rami ist ein Sklave, genau wie ich. Wir müssen zusammenarbeiten, antwortete der andere Teil ihres Bewusstseins.

Rami drehte den Kopf nun leicht zu ihr hin. Sie blickte ihm in seine blauen Augen. Und sofort schossen ihr wieder die Bilder in den Kopf. Wie sie selber erschöpft von der Arbeit, um Ziad trauernd und dabei zu versuchen, die Misshandlung durch Yasin zu vergessen, in dem Aufenthaltsraum der Sklaven stand. Und wie dann diese blauen Augen einen gierigen Blick zu ihr hinüberwarfen. Wie dieses schmierige Arschloch ihr altes Kleid in der Hand hielt und daran schnupperte. Es sich letztlich sogar in die Hose steckte und sie anschließend noch mit einer Kusshand verhöhnte. Hass stieg in ihr auf. Rami verdiente das hier. Er war nichts weiter als ein widerliches, auf den eigenen Vorteil bedachtes, triebgesteuertes Arschloch.
Zarifa hob die Peitsche in die Luft, sammelte all ihren Zorn und schlug zu. Der von Rami ausgestoßene Schmerzensschrei durchfuhr Zarifa wie ein elektrischer Schlag. Er halte im gesamten Raum wieder. Und jetzt schossen andere Bilder in Zarifas Kopf. Bilder, von Fingern, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. Die Erinnerung an Hilfeschreie, die niemand hörte. Und schließlich ein zahnloses Grinsen. Ein zahnloses Grinsen, das zu einem dicken Mann gehörte, der die damals noch sehr junge Zarifa in einem kalten, kahlen Raum mit nur einer verschlossenen Tür als Ausweg aufsuchte. Er baute sich vor dem jungen Mädchen auf, mit einer Peitsche in der rechten Hand.
„NEIN!“, schrie Zarifa. Sie konnte das nicht tun. Rami mochte Vieles sein, doch im Moment war er genau wie sie damals, ein ängstlicher, eingesperrter Mensch, dem schreckliche Qualen drohten und dem niemand zur Hilfe eilen würde. Es gab in diesem Raum nur einen, der diese Schmerzen verdient hatte. Zarifa holte erneut mit der Peitsche aus. Doch diesmal zielt sie auf Fürst Radomir, der in einer Ecke stand und dessen breites Grinsen nun schlagartig zu Eis gefror. „Was zum...?“ Zarifa schlug zu und brachte ihn damit zum Schweigen. Hier ging es nicht um Rami. Hier ging es nicht um Wahrscheinlichkeitsmaxim ierung. Hier hing es um den Unterschied zwischen richtig und falsch. Um den Unterschied zwischen gut und böse. Den Unterschied zwischen dem einfachen Weg und dem richtigen Weg. Kurz gesagt: Hier ging es ums Prinzip.
Doch das Prinzip war der jungen Frau leider nicht freundlich gesonnen, denn sie wurde sofort von Radomirs Leuten überwältigt. Die Peitsche wurde ihr aus der Hand gerissen und sie wurde grob gegen die Wand gedrückt.
„Herr, seit ihr okay?“
„Argh... ja es geht schon. Es ist bedauerlich, dass dieses Gesindel nie erkennt, wann es eine Möglichkeit ergreifen sollte. Los sperrt sie in den Kerker. Ich habe jetzt keine Zeit dafür. Doch keine Sorge, ihr werdet euren Spaß schon noch bekommen. Wir wissen ja zum Glück, was man mit aufständischen kleinen Mädchen tun kann. Doch heute Nacht brauche ich euch alle. Wir müssen uns vorbereiten. Ich bin mir nicht sicher, wie viel Zeit wir noch haben.“

Zwei Männer packten Zarifa nun fest an den Armen und schleiften sie mit. Sie versuchte sich zu wehren, doch es hatte keinen Zweck. Hatte sie überstürzt gehandelt? Hatte sie sich gerade eine Riesenchance durch die Finger gleiten lassen? Doch wie hätte sie Rami weiter auspeitschen können? Er hatte es nicht verdient, genauso wenig wie sie das verdient hatte, was ihr im Alter von elf Jahren geschehen war. Radomir war der wahre Schurke. Und sie hatte alles in ihrer Macht Stehende getan, um ihm so viele Schmerzen wie möglich zu bereiten. Das war zwar nicht viel, doch es war das Richtige. Und wenn sie dafür mit dem Leben bezahlte, dann war das eben so. Ohne Tekin wusste sie ohnehin nicht, was sie mit ihrem Leben noch großartig anfangen sollte. Doch dann kamen Zarifa wieder die Worte von Radomir in den Sinn. Und ihre schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten. Hätte Radomir sie töten wollen, hätte er das einfach getan. Bei Tekin hatte er auch nicht gezögert. Doch er ließ sie einsperren. Das konnte nichts gutes heißen.

Sie waren nun vor einer kleinen Zelle angekommen, in die Zarifa hineingestoßen wurde. Anschließend wandte sich die kleinere der beiden Wachen an die andere Wache:
„Was meinst du? Für einen kleinen Vorgeschmack dürfte doch noch Zeit sein, oder?“
„Das denke ich auch“, antwortete die andere Wache mit einem gemeinen Grinsen.
Die beiden betraten nun ebenfalls die Zelle und schlossen die Tür hinter sich.

Rohirrim:
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Zarifa blickte auf. Ein zahnloses Grinsen kam ihr in den Sinn. Die Narben auf ihrem Rücken fingen wieder an zu brennen. Sie hatte gewusst, dass es irgendwann so kommen würde. Die letzten zwei Tage hatte die junge Frau relativ unbehelligt in ihrer kleinen Zelle gesessen. Vermutlich war Radomir zu sehr mit seinen eigenen Hirngespinsten beschäftigt. Bis auf eine sehr dürftige Nahrungsversorgung und dumme Sprüche seitens einiger Wachen war nicht viel passiert. Zumindest nicht von außen betrachtet.
Innerlich hatte Zarifa mehr und mehr begonnen, zu resignieren und sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Die einzigen beiden Menschen, denen sie jemals vertraut hatte, waren Tod. Sie hatte keine Freunde mehr auf dieser Welt. Es gab keinen Ausweg für sie. Ihr innerer Antrieb, das Feuer, das die Rache an Kazimir in ihr entfacht hatte, war fast komplett erloschen. Die Kräfte, mit denen sie sich angelegt hatte, waren zu groß gewesen. Sie war nur eine einfache Obdachlose aus Umbar, die es teilweise mit mehr Glück als Verstand geschafft hatte, irgendwie am Leben zu bleiben und sogar einige Nadelstiche gegen die von ihr verhasste Obrigkeit zu setzen. Doch was waren diese kleinen Nadelstiche schon, im Vergleich zu dem Leid, das sie dadurch erlitten hatte. Ihr gesamter Einsatz, ihr gesamter Versuch, die Situation für die armen Leute zu verbessern, hatte ihr nur Schmerz und Trauer gebracht. Erreicht hatte sie nichts. Es wäre ihr besser ergangen, wenn sie Ziad niemals wieder gefunden und befreit hätte. Der Gedanke schmerzte, doch es war die Wahrheit. Wäre sie einfach weiterhin egoistisch durchs Leben gegangen, wäre ihr all das Leid erspart geblieben. Sie wäre immer noch eine einfache Obdachlose in Umbar, die sich jedoch mit Diebstählen einigermaßen über Wasser halten konnte. Sie wäre immer noch frei und unbeschwert. Stattdessen war sie nun traurig und traumatisiert. Selbst wenn sie wie durch ein Wunder lebend hier raus käme, wäre sie nie wieder in der Lage, ein so unbeschwertes Leben zu führen wie damals. Denn die Erinnerung an ihr eigenes Leid würde sie nicht mehr loslassen. Sie konnte nur noch darauf hoffen, einen möglichst schnelles und schmerzfreies Ende zu finden. Doch selbst das schien an diesem Ort unmöglich zu sein.
Zarifa blickte auf die Tür, deren Klinke nun heruntergedrückt wurde. Sie fühlte sich an jenen Ort zurückversetzt, an dem sie vor etwa sechs Jahren erstmals erfahren hatte, was es bedeutete, ein junges und wehrloses Mädchen in der Hand von mächtigen Männern zu sein. Ein völlig kahler Raum. Modriger Geruch von Wänden. Nur eine einzige verschlossene Tür als Ausweg. Kälte, sowie das angsteinflößende Gefühl der Verunsicherung. Ein Schlüssel, der sich im Schloss dreht. Angstschweiß auf ihrem Rücken. Eine sich quietschend öffnende Tür. Ein zahnloses Grins... Moment mal!

„Alvar?“, fragte Zarifa erstaunt? Es war wirklich eine grausame Ironie des Schicksals, das ausgerechnet der Mann, dem sie erst vor wenigen Tagen Informationen über Kazimir entlockt hatte, nun vor ihr Stand, um ihre Strafe zu vollstrecken. Oder zumindest einen Teil ihrer Strafe. Oder was zum Teufel auch immer sich dieser kranke Bastard Radomir für sie ausgedacht hatte.
„Psst“, zischte Alvar. Ein starker Alkoholgeruch ging von ihm aus. Das erinnerte sie an ihre letzte Begegnung mit diesem Mann. Er war damals nicht besonders gut auf den Vertreter von Fürst Radomir zu sprechen gewesen. Und jetzt stand er hier so geheimnistuerisch in ihrer Zelle. Was hatte das zu bedeuten?
„Ich bin hier, um dich zu befreien.“
„Wie bitte?“

Zarifa und Alvar in die umliegenden Berge von Gorak

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