Cyneric schlug die Augen auf. Für einen Augenblick fühlte er sich orientierunglos, wusste nicht wo er war. Dann hörte er Salias leichten, regelmäßigen Atem im Bett zu seiner Rechten und seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, die in dem kleinen Raum herrschte, in dem sie übernachteten. Er blieb liegen und warf so leise es ging einen Blick in Richtung des Fensters, wo das Mädchen schlief, das er in Radomirs Palast getroffen hatte. Zarifa. Gegen das Licht des Mondes sah er ihre schmale Gestalt, die sich unruhig bewegte. Sie musste noch wach sein. Und tatsächlich stand sie wenige Momente später aus dem Bett auf, beinahe geräuschlos, bis auf ein leichtes Knarzen des Holzes. Zarifa öffnete das Fenster und war schon halb hindurch, als sich Cyneric durchgerungen hatte, etwas zu sagen.
"Du hast dich also entschlossen, zu gehen?"
Die Frage stand im Raum. Zarifa war genau in der Position erstarrt, die sie eingenommen hatte, als Cyneric gesprochen hatte. Er hatte die Frage vorsichtig und ohne negativen Klang gestellt. Innerlich drängte ihn sein Instinkt dazu, aufzuspringen und die junge Frau zurück ins Zimmer zu ziehen, doch etwas hielt ihn davon ab. Etwas sagte ihm, dass er in jenem Augenblick nichts Falscheres tun konnte. Also tat er nichts weiter, als sich langsam im Bett aufzusetzen und die Füße über die Kante baumeln zu lassen. Es war kühl geworden, da das Fenster noch immer offen war. Cyneric legte seine Decke über seine Beine und wartete auf eine Antwort.
Zarifa hatte bislang keine Reaktion gezeigt. Doch nach einer längeren Zeit des Schweigens hörte Cyneric schließlich, wie sie einen tiefen Seufzer von sich gab und er konnte sehen, wie sich die Schultern des Mädchens senkten. Sie ließ das Fenster los, das sie mit dem linken Arm offen gehalten hatte.
"Ja. Ich werde jetzt gehen," antwortete sie leise.
"Wenn du gehen möchtest, werde ich dich nicht aufhalten," wiederholte Cyneric das, was er ihr bereits am Tag zuvor gesagt hatte. Ihm fiel etwas ein und sogleich sprach er den Gedanken aus: "Ich habe gesehen, wie du auf Alvar reagiert hast. Etwas ist zwischen euch beiden vorgefallen, und du hast Angst, dass ich dir dasselbe antun würde. Ist es nicht so?"
Zarifa warf ihm einen Blick zu, der beinahe nach Schuldbewusstsein wirkte. Ihre Augen huschten zwischen dem Fenster und dem Boden vor Cynerics Füßen hin und her. Es war offensichtlich, dass sie gerade einen inneren Widerstreit mit sich selbst austrug. Schließlich ballte sie die rechte Hand zur Faust und ihr Blick füllte sich mit unterdrückter Wut. "Ich... glaubte nicht, dass du anders als er sein könntest. Du bist freundlich, aber das waren andere auch. Ich kann das nicht mehr." Sie hatte hastig und mit Nachdruck gesprochen. Als wollte sie die Worte so rasch wie möglich loswerden. "Ich werde gehen. Jetzt."
"Zarifa. Es steht dir frei zu gehen," sagte Cyneric. Die junge Frau hatte sich noch immer nicht weiter aus dem Fenster bewegt. Irgend etwas schien sie dazu zu bringen, ihm trotz ihres großen Misstrauens zuzuhören. "Lass mich dir nur eines sagen: Ich habe dir nicht geholfen, weil ich etwas von dir will, oder eine Gegenleistung erwarte. Ich glaube dir, dass du viel Schlimmes von Männern erlebt hast. Und im Gegenzug möchte ich, dass du mir glaubst, dass ich keiner von ihnen bin. Ich könnte jemandem wie dir niemals etwas antun. Genausowenig wie ich Salia hier etwas antun könnte. Ihr beiden seid wie meine Tochter, nach der ich schon so lange suche." Er machte eine Pause und fragte sich, ob Zarifa ihm noch zuhörte oder schon ihren Abstieg über die äußere Wand des Hauses plante. Also fügte er nur noch einen Satz hinzu: "Geh nur, wenn du gehen musst. Ich nehme es dir nicht übel. Doch wenn du bleibst, kann ich dir vielleicht helfen, nicht mehr in Situationen zu geraten, wo du Männern wie Alvar ausgeliefert bist."
Zarifa überraschte ihn damit, dass sie rasch ihr Bein durch das Fenster zog, es hinter sich schloss und mehrere Schritte auf ihn zu kam. "Sprich nicht von diesem... Vergewaltiger. Ich will seinen Namen nie mehr hören. Ich weiß, dass er noch am Leben ist. Und ich wünschte mir, er wäre es nicht."
Cyneric wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Dass Alvar Zarifa vergewaltigt hatte, war ihm spätestens jetzt klar. Er ärgerte sich darüber, den Mann so falsch eingeschätzt zu haben, denn als Cyneric Alvar kennengelernt hatte, hatte er ihn für einen vernünftigen Menschen gehalten. Ehe er noch recht verstand, was er da sagte, antwortete er: "Wenn ich ihn wiedersehe, werde ich ihn dafür umbringen, was er dir angetan hat."
Zarifa schien diese Aussage beinahe ebensosehr zu schockieren, wie sie Cyneric schockierte. Hier saß er und versprach einem jungen Mädchen, einen anderen Menschen kaltblütig umzubringen. Und er stellte fest, dass er es tatsächlich ernst meinte.
"Das würdest du tun?" stammelte Zarifa. "Aber... das würde nicht endgültig helfen. Da sind so viele mehr, die wie er sind. Es wird immer neue geben. So wie Yasin. Auch er ist noch am Leben."
"Wer ist er? Hat er... dasselbe getan wie Alvar?"
Zarifa setzte sich auf den Boden, Cyneric gegenüber. Als er sah, dass sie zitterte, legte er vorsichtig seine Decke um ihre Schultern. Er gab dabei acht, der jungen Frau nicht zu nahe zu kommen. Sie schniefte und nickte.
"Er ist ein reicher Mann aus Umbar, der mich an Radomir verkauft hat. Und er..."
"Ist schon gut. Du musst es nicht sagen. Es ist schrecklich genug, was dir passiert ist, Zarifa. Niemand sollte so etwas durchmachen müssen." Er saß auf seiner Bettkante, ihr gegenüber, die Hände auf die Knie abgestützt. Und als er sie dort sitzen sah, gehüllt in die dünne Decke, konnte er nicht anders, als seine Tochter vor sich zu sehen. Zarifas schmales Gesicht verschwamm und an seiner Stelle erschien das Gesicht Déorwyns, deren blonde Haare ihr wie ein Wasserfall über die Schultern fielen.
Komm und finde mich, schienen ihre Lippen zu formen. Cyneric blinzelte und sah wieder Zarifa vor sich, die einen weichen Ausdruck in den Augen hatte. Ein verdächtiges Glitzern war dort zu sehen, doch noch flossen keine Tränen.
"Du kommst also aus Umbar, nicht wahr?" fragte Cyneric. "Wie ist es dort? Ich bin nie so weit in den Süden gekommen."
"Es ist... nichts besonderes. Eine Stadt voller Reicher, die sich an den Armen noch mehr bereichern. Genau wie hier auch. Nur ist es etwas wärmer und die Menschen sprechen eine andere Sprache. Aber sie sind trotzdem genauso grausam wie hier." Sie fing an, von ihrem Leben vor Radomir zu erzählen. Erst langsam und zögerlich, dann immer befreiter. Cyneric erfuhr von Zarifas Leben auf den Straßen von Umbar und wie sie jeden Tag neu darum hatte kämpfen müssen, genug zu Essen zu haben. Er hörte von Ziad, dem einzigen Mann in ihrem Leben, dem sie vertraut hatte und von der Zeit, als es ihr vergleichsweise gut gegangen war. Und Zarifa sprach schließlich auch davon, wie es sie bis nach Gorak verschlagen hatte und wie sie von Radomir und einem Mann namens Kazimir misshandelt worden war. Sie wiederholte immer wieder, dass sie Albträume von Fingern hatte, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. Und Cyneric war froh, dass er sich bislang von ihr fern gehalten hatte.
Eine Pause trat ein, nachdem Zarifa geendet hatte. Nur das leise Schnarchen Salias war zu hören. Schließlich sagte Cyneric: "Dir ist großes Unrecht widerfahren, meine liebe Zarifa. Ich weiß nicht, wie sich das wieder gut machen lässt - ob das überhaupt möglich ist. Doch es gibt einige Dinge, die ich tun kann, um dir das Leben, was vor dir liegt, etwas einfacher zu machen, wenn du mich lässt. Ich verstehe, dass du Männern misstraust. Dennoch hoffe ich, dass es mir gelingt, dich davon zu überzeugen, dass ich dir nichts Böses will. Ich kann dir helfen, in Gortharia noch einmal ganz neu anzufangen, und kann dir zeigen, wie du dich vor Männern schützen kannt, die dich berühren wollen, gegen deinen Willen. Doch ich werde dich auch nicht dafür verurteilen, wenn du jetzt gehst. Ich bin dir dankbar, dass du mir erzählt hast, was dir zugestoßen ist, und dass du mir bis jetzt zugehört hast."
Zarifa gab ihm zunächst keine Antwort darauf. Noch immer saß sie im Schneidersitz auf dem Teppich, der den Boden des Schlafraumes bedeckte. Sie schien angestrengt über alles nachzudenken, worüber sie gesprochen hatten.
"Du hast von einer Tochter gesprochen. Mehr als einmal. Wer ist sie?" fragte die junge Frau schließlich.
"Ihr Name war Déorwyn," antwortete Cyneric. "Sie war sechzehn, als ich sie zuletzt gesehen habe. Ehe ich in den Krieg ritt. Denn als ich wieder heimkehrte, war sie fort, und bis vor wenigen Monaten hielt ich sie für tot. Doch jetzt weiß ich, dass sie dort draußen ist, und nur darauf wartet, dass ich sie finde. Und deswegen bin ich hier. Deswegen habe ich dabei geholfen, Radomir zu töten. Weil ich zur Belohnung für meine Hilfe einen Hinweis erhalten werde, wo sich meine Tochter aufhält."
"Und weshalb hilfst du dann
mir? Ich kann dir keinen solchen Hinweis geben."
"Weil... weil ich mir vorstelle, dass du
sie sein könntest. Ich kann nicht anders. Wenn ich dich sehe, oder jemand, der ihr so ähnlich ist wie du, dann stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn
sie in deiner Lage wäre, und jemanden wie mich trifft, der ihr helfen kann, aber es nicht tut. Wie kann ich da einfach nur zusehen und nichts tun? Du bist ebenfalls jemandes Tochter, Zarifa. Und ich bin mir sicher, dein Vater wäre mir dankbar dafür, dass ich dir meine Hilfe anbiete. Und gleichzeitig hoffe ich, dass meine Tochter ebenso Menschen wie mich trifft, die ihr helfen. Verstehst du, was ich damit sagen will?"
"Ich... ich glaube schon," antwortete Zarifa langsam. "Aber... wieso willst du, dass ich mit dir nach Gor..tharia gehe? Wenn du doch in Wahrheit nach deiner Tochter suchen willst?"
"Nun, die Anworten, die ich suche, sind dort, in Gortharia. Und wenn wir dorthin kommen, kann ich dir helfen, eine Unterkunft zu finden und dir vielleicht ein paar Leute vorstellen, die dir ebenso helfen können wie ich. Selbst wenn ich die Stadt vielleicht bald verlasse. Es ist wichtig, Freunde zu haben, Zarifa. Wir können im Leben nicht alles alleine schaffen."
"Wäre es nur so," erwiderte Zarifa. "Ich will auf niemanden angewiesen sein."
"Du kannst nicht allen misstrauen. Nicht alle Menschen sind schlecht. Ich hoffe, dass du mir das eines Tages glauben kannst."
"Vielleicht eines Tages."
Zarifa war schließlich aufgestanden, die Decke noch immer um ihre Schultern gehüllt. Cyneric beobachtete sie dabei, wie sie im Zimmer auf und ab ging und nachdachte. Er wusste, dass sie ihm noch nicht vollständig vertraute. Also wartete er ab und übte sich in Geduld. Ihm fiel auf, dass diese Nacht wahrscheinlich die erste war, in der Zarifa genug Zeit hatte, um über ihre nächsten Schritte in Ruhe nachzudenken. Bislang war ihr Leben von Schmerz und Rache geprägt gewesen, doch jetzt konnte sie sich frei darüber entscheiden, wie es weitergehen sollte.
"Ich denke... ich denke, ich werde vorerst mitkommen. Nach Gortharia. Hier in Gorak will ich nicht länger bleiben."
Cyneric atmete auf. Darauf hatte er gehofft. "Ich danke dir für dein Vertrauen, Zarifa."
"Das heißt nicht, dass ich dir restlos vertraue."
"Ich verstehe."
"Gut." Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte ihn herausfordernd an.
"Einen letzten Rat habe ich noch für dich," sagte er und ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.
"So?"
"Um diese Uhrzeit sollten junge Frauen in deinem Alter längst tief und fest schlafen. So wie es Salia hier vorbildlich tut."
"Du bist nicht mein Vater," antwortete sie, doch er sah, dass sich ihre Mundwinkel verdächtig angehoben hatte. Genau das hatte er beabsichtigt.
"Ich weiß. Doch wenn ich es wäre, würde ich sagen: Ab ins Bett mit dir."
"Vermutlich ist das eine gute Idee," gab sie zurück. Die Decke nahm sie mit.
Am folgenden Tag brachen sie frühmorgens auf und machten sich auf den Weg nach Gortharia.
Cyneric, Zarifa und Salia auf die Ebene westlich des Meeres von Rhûn