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Autor Thema: In den Straßen von Gorak  (Gelesen 8327 mal)

Rohirrim

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In den Straßen von Gorak
« am: 10. Okt 2017, 02:31 »
Zarifa und Tekin aus dem Anwesen des Fürsten von Gorak

„Es tut mir wirklich unendlich leid“, erklärte Tekin zum wiederholten Mal. Sie saßen in einer Kneipe am Stadtrand. Sie wollten möglichst außerhalb der unmittelbaren Reichweite von Kazimir sein, wenn dieser merkte, das Zarifa geflohen war. Dabei wurde schnell deutlich, dass die Leute immer ärmer wurden, je weiter sie sich vom Anwesen des Fürsten entfernten. Ähnlich war es in Umbar auch gewesen. Die Kneipe, in der sie sich nun befanden, war sehr heruntergekommen und schmutzig. Einerseits behagte es Zarifa hier nicht, aber andererseits war dies für ihre Zwecke kurzfristig perfekt, denn hier fielen sie zwischen den anderen ärmlich aussehenden Gestalten gar nicht weiter auffallen. Sie waren zwar etwas jünger als die meisten anderen Leute hier, doch ansonsten sahen sie aus, wie die anderen Gäste auch: ungepflegt, unterernährt und schmutzig.
„Du hättest mir ja zumindest irgendeinen Hinweis geben können. Was glaubst du, wie ich mich gefühlt habe, als ich wieder zu mir gekommen bin? Ich glaubte, der einzige Mensch den ich je... äh ich meine dem ich noch vertrauen konnte, hätte mich verraten und ich befände mich in der Gewalt eines Irren, der anscheinend Freude an Grausamkeit hat. Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie das für mich war?“ Die Wut, die Zarifa auf dem Weg hierher noch einigermaßen zurückgehalten hatte, brach nun aus hier heraus. Sie war zwar einerseits immer noch erleichtert, dass Tekin sie nicht verraten hatte, doch sie konnte einfach nicht verstehen, wie Tekin sie einer solchen Situation hatte aussetzen können. „Und außerdem war es viel riskant. Was wenn ich nicht bemerkt hätte, dass die Fesseln locker saßen? Was wenn ich gar nicht erst rechtzeitig zu mir gekommen wären? Was wenn sie dich beim Legen des Feuers erwischt hätten? Wir hatten gemeinsam einen guten Plan ausgearbeitet. Warum hast du mich nicht auf die Änderung im Plan hingewiesen?“ Beim Sprechen wurde Zarifa nun immer lauter und Tekin wirkte verunsichert. Eine Träne kullerte seine Wange herunter.
„Nun, das konnte ich doch nicht“, begann er mit brüchiger Stimme. „Kazimir hat davon Wind bekommen, dass wir etwas planten. Er hat mich beiseite gezogen und mir dieses Angebot gemacht. Er drohte mir mit dem Tod, wenn ich ihn hintergehen würde. Er würde mich genau beobachten. Ich konnte mich nicht länger mit dir unterhalten. Das wäre doch verdächtig gewesen. Ich stand total im Stress. Unser beider Leben stand auf dem Spiel und ich musste irgendwie einen neuen Plan zurechtlegen. Ich hoffte, du würdest meine Andeutungen verstehen, wenn du wieder zu dir kommst.“ „Andeutungen? 'Bitte vertrau mir' ist doch keine Andeutung. Das ist so nichtssagend, da hättest du auch gleich 'Wir schaffen das' sagen können.“ Zarifa wurde jetzt richtig laut. Einige umstehende sahen sie bereits verärgert an. Natürlich konnten sie nicht verstehen, was sie sagte, doch ihr Tonfall war unmissverständlich. „Und außerdem, warum hast du mich nicht einfach in Kazimirs Büro eingeweiht. Da waren wir alleine und ungestört. Da wären doch wohl zwei bis drei erklärende Sätze drin gewesen, bevor du mich mit der Glasflasche niederstreckst, oder?“
„Ähm...“
„Was 'ähm'?“
„Ähm... daran habe ich irgendwie gar nicht gedacht“, meinte Tekin verlegen.
„Was? Ist das dein Ernst?“
„Ja. Ich war so darauf fixiert, den Plan durchzuziehen, dass mir gar nicht mehr aufgefallen ist, dass das ja der perfekte Moment gewesen wäre, dich einzuweihen. Du musst verstehen...“
„Verstehen? Was muss ich verstehen?“
„Hör mal, ich weiß, dass du extrem wütend auf mich bist und das zurecht. Aber bitte hör mir zu. Du musst verstehen, dass ich extrem unter Stress stand. Ich musste mir innerhalb eines Tages einen neuen Plan ausdenken, bei dem es so aussah, als würde ich mein Wort gegenüber Kazimir halten. Gleichzeitig musste ich aber auch einen Weg finden, dich zu befreien. Die einzige Möglichkeit, die mir einfiel war, es so aussehen zu lassen, als würdest du dich selber befreien. Und da Kazimir mich beobachtete, konnte ich dich nicht einweihen. Also schuf ich den Plan, dich wirklich niederzuschlagen, dich aber nur lasch zu fesseln, dir einen Weg durch das Fenster zu ermöglichen und Kazimir mit einem Brand abzulenken. Es schien mir der einzig möglich weg. Und als wir dann zusammen in Kazimirs Büro waren, konnte ich gar nicht mehr klar denken. Ich wusste, ich würde dir weh tun müssen, und das war eigentlich das letzte was ich tun wollte. Ich musste all meine Konzentration und Willenskraft dafür aufbringen, mich selber zu überwinden und meinen Plan durchzuziehen. Jetzt wo du es so sagst, würde ich mich am liebsten selber ohrfeigen.“
„Ach, es hat dich also ganz viel Überwindung gekostet, mich niederzuschlagen. Und wie viel Überwindung hat es dich dann gekostet, meine Kleidung zu zerreißen? Oder war dir der Teil des Plans eigentlich ganz recht? Hattest du vielleicht sogar Spaß dabei?“
„Was? Nein! Bitte, das musst du mir glauben. Es war eine explizite Anweisung Kazimirs, dich ohne Klamotten zu fesseln. Ich hätte das niemals freiwillig tun können. Ich bin dann auch gleich los und hab was Neues für dich gekauft. Unmittelbar nachdem ich den Brand gelegt hatte. Bitte... bitte glaub mir.“
Tekins Gesicht war nun voller Tränen. Zarifa sah ihn an. Konnte sie ihm vertrauen? Seine Erklärung klang glaubwürdig. Dennoch hatte er sie in eine extrem unangenehme Situation gebracht, die bei ihr sofort wieder die schlimmen Erinnerungen geweckt hatten. Erinnerungen an Finger, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. An ein lautes, fast hysterische Lachen. An das Gefühl, vollkommen wehrlos zu sein. An ein zahnloses Grinsen eines Mannes, der ihre Zelltür aufschob. Konnte sie das einfach vergessen?
Erneut blickte die junge Haradan ihrer ersten großen Liebe in die Augen, die immer noch voller Tränen waren und der nun einen großen Schluck aus seinem Bier trank. Das erinnerte sie an das letzte Mal, als die beiden gemeinsam Alkohol getrunken hatten. Wie sie versucht hatte Tekin zu erklären, dass Zelte aus den Kleidern von Adeligen die Welt retten würde. Wie Tekin sie versehentlich mit Wein bekleckerte. Wie die Bank zu Boden fiel. Wie die beiden sich auf dem Boden liegend ansahen und küssten. Zarifa konnte einfach nicht anders, als unwillkürlich zu lächeln. Tekin blickte auf.
„Und? Was ist jetzt?“, fragte er schluchzend doch auch ein wenig hoffnungsvoll?
*KLATSCH!*
Ehe er sich versah, bekam Tekin erneut eine saftige Ohrfeige von Zarifa zu spüren.
„So, das musste sein. Jetzt können wir darüber nachdenken, wie es weitergeht“, sagte Zarifa lächelnd. Tekin war erleichtert und rieb sich die Wange. „Musstest du denn unbedingt so fest zuhauen?“, fragte er grinsend. „Du hast mich aus Dummheit niedergeschlagen, ausgezogen, gefesselt und anschließend allein gelassen, anstatt mich einfach in deinen verdammten Plan einzuweihen. Sei froh, dass ich nicht noch viel häufiger zuschlage“, entgegnete Zarifa, doch auch sie lächelte. Nun, da sie sich einmal ihre Wut von der Seele geredet hatte, ging es ihr deutlich besser. Sie konnte Tekin einfach nicht mehr böse sein. Schließlich stand nunmal der unwiderlegbare Fakt, dass sie nur seinetwegen wieder eine freie Frau war. Und ihre Freiheit, war das wichtigste Gut für die junge Haradan.
„Okay, wenn man es so betrachtet, hatte ich das tatsächlich verdient. Aber wie machen wir jetzt weiter? Wir sind zwei entlaufene Sklaven mit dem bisschen Geld, was Kazimir mir mitgegeben hat. Wenn wir Glück haben, glaubt Kazimir immer noch, ich hätte mein Wort gehalten, doch nach dir wird er mit ziemlicher Sicherheit suchen lassen. Und viel Geld ist auch nicht mehr übrig, da ich bereits dein neues Kleid und zwei Bier davon gekauft habe. Es reicht vielleicht noch für zwei Mahlzeiten und ein Zimmer.“
„Das klingt doch schonmal nach 'nem guten Anfang. Bestellst du uns was zu essen und fragst, ob der Wirt noch ein Zimmer hat?“
„Ein Zimmer in einem Gasthof? Ist das nicht zu riskant? Kazimirs Leute werden doch mit Sicherheit die Gasthöfe absuchen.“
„Hmm das stimmt. Aber irgendwo müssen wir schlafen und mir wäre es lieber, wenn das nicht draußen wäre. Wir können ja abwechselnd Nachtwache halten, während der jeweils andere schläft. Falls jemand kommt und nach uns fragt können wir ja schnell abhauen. Wir haben ja eh nichts bei uns.“
„Die Frage ist nur, ob wir aus dem Zimmer überhaupt so schnell abhauen können.“
„Naja, frag doch erstmal, ob er überhaupt noch ein Zimmer freihat. Falls nicht, ist diese Diskussion eh überflüssig und falls doch, können wir uns das Zimmer ja erst-mal anschauen.“
„Hast recht. Ich bestelle uns was zu essen und frage nach.“

Zwei Minuten später kehrte Tekin mit düsterer Miene an den Tisch zurück.
„Was ist los?“, fragte Zarifa.
„Der Wirt meinte, er vermietet kein Zimmer an uns. Wir seien zu 'dunkel'?“
„Was? Was soll das denn heißen?“
„Keine Ahnung. Vielleicht habe ich ihn auch falsch verstanden. Mein Westron ist nicht allzu gut und seins vermutlich auch nicht. Jedenfalls will er uns hier nicht übernachten lassen. Wir können allerdings etwas zu Essen bekommen.“
„Ne, das hätte der wohl gerne. Der bekommt von uns kein Geld mehr, wenn er uns hier nicht übernachten lassen will. Wir trinken nur noch unser Bier aus und dann verschwinden wir. Was zu Essen bekommen wir auch woanders. Und eine Übernachtungsmöglichkeit finden wir schon auch irgendwo.“
„Wo nimmst du denn auf einmal diesen Optimismus her?“
„Ich habe neunzehn Jahre lang in Umbar auf der Straße gelebt. Wäre doch gelacht, wenn ich es hier nicht einmal einen Tag schaffe.“
„Okay, also dann würde ich sagen: Prost!“
„Prost!“

Als die beiden ihr Bier ausgetrunken hatten, lächelten sie sich an und Zarifa ergriff das Wort:
„Sag mal, weißt du noch was passiert ist, als wir das letzte Mal zusammen Alkohol getrunken haben?“
„Du meinst, dass wir nebeneinander in unserer eigenen Kotze aufgewacht sind?“
„Ägh, nein. Ich meine den weniger peinlichen Teil.“
„Weniger peinlich? Also mir ist der ganze Abend bis heute peinlich. Aber nur, weil wir eine bestimmte Sache noch nicht wiederholt haben.“
„Jetzt sprechen wir eine Sprache.“

Zarifa sah Tekin tief in die Augen. Diese wunderschönen braunen Augen, die ihr Herz immer wieder aufs neue dahinschmelzen ließen. Und dann küsste sie ihn. Und er küsste sie. Diesmal gab es keinen Zweifel an der Ehrlichkeit dieses Kusses (auch wenn technisch gesehen wieder Alkohol im Spiel war). In diesem Augenblick war Zarifas Glück perfekt und sie wollte, dass er nie endete. All die Sorgen, all die Wut und all das Leid der letzten vierundzwanzig Stunden waren vergessen.
Als die beiden sich wieder voneinander lösten, sahen sie sich noch eine ganze Zeit lang einfach nur an. Beiden Haradrim stand das Glück ins Gesicht geschrieben. Schließlich war es Zarifa, die das Wort ergriff:

„Ich habe eine Idee: Die Stadt liegt doch direkt an einem Gebirge. Dort gibt es doch sicherlich Höhlen. Da können wir uns doch bestimmt ganz gut verstecken und sind gleichzeitig vor Wind geschützt. Wir besorgen uns nur noch eben was zu Essen und dann verlassen wir die Stadt.“
„Gute Idee, aber kommen wir denn einfach so aus der Stadt raus? Die Tore werden doch sicher bewacht und wenn die Bescheid wissen, dass du geflohen bist, werden sie dich sofort erkennen und verhaften. Das Risiko ist zu groß.“
„Hmm, das stimmt. Wie wärs damit: Wir verstecken uns in dem Wagen einer Kutsche, die die Tore passieren will.“
„Was ist das denn für eine bescheuerte Idee? Erstens ist es schon spät und es sind kaum noch Kutschen unterwegs. Zweitens, woran erkennst du denn bitte, ob eine Kutsche aus der Stadt raus will? Und drittens, wie willst du unbemerkt in die Kutsche gelangen und anschließend wieder rauskommen? Wie kommst du nur auf sowas?“
„Hmm, keine Ahnung. Ich hatte schon früher mal den Plan, mit einer Kutsche aus Umbar zu fliehen, aber dazu ist es nie gekommen. Daher kam es mir wohl einfach in den Sinn. Aber du hast recht, so auf die Schnelle wird das jetzt auch nichts. Dann bleibt wohl nur noch eins: Klettern“
„Bist du verrückt? Ich kann nicht klettern. Und außerdem ist die Mauer viel zu hoch.“
„So hoch ist sie auch wieder nicht und es gibt immer einen weg. Keine Angst, ich werde dir helfen.“
„Die Freiheit scheint dich ja echt optimistisch gemacht zu haben. Ich hoffe nur, du wirst jetzt nicht leichtsinnig.“
„Ach quatsch. Vertrau mir.“

Zarifa und Tekin in die umliegenden Berge von Gorak
« Letzte Änderung: 12. Okt 2017, 00:57 von Rohirrim »
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Char Zarifa in Rhûn

Rohirrim

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Re: In den Straßen von Gorak
« Antwort #1 am: 13. Okt 2017, 01:02 »
Zarifa und Tekin aus den umliegenden Bergen von Gorak

„Puh, das hat schonmal funktioniert. Deine Tarnung scheint gut zu sein“, stellte Tekin nüchtern fest. „Das hoffe ich. Immerhin sehe ich aus wie ein Kanarienvogel, den man so stark gemästet hat, dass er nun nicht mehr in der Lage ist zu fliegen.“
„Ach quatsch, du siehst toll aus“, meinte Tekin und grinste.
„Mein Kleid wiegt mehr als ich“, entgegnete Zarifa spöttisch. „Als Sklave in Radomirs Anwesen musste ich weniger Lasten tragen als jetzt.“
„Nunja, die Hauptsache ist, dass wir in der Stadt sind. Ich bin auch nicht gerade glücklich mit meinem Aussehen, aber wir dürfen nunmal nicht erkannt werden.“
„Du hast leicht reden. Du trägst ja auch normale Klamotten und nicht so ein 50 Kilo schweres, mit Steinen besetztes Stück Stoff.“
„Du hast die Sachen geklaut, erinnerst du dich? Warum hast du dir denn nichts Einfacheres genommen?“
„Das habe ich doch. Das was du gerade trägst, war für mich gedacht.“
„Aber das ist für Männer?!“
„Na und? Das hier ist für fette Schweine und ich bin auch kein fettes Schwein, oder?“
„Heißt das, du hast für dich Herrenklamotten gestohlen und für mich die Klamotten für ein fettes Schwein?“
„Äh.. ah guck mal. Wir sind da.“
Zarifa und Tekin standen vor der Kneipe, die sie schon in der Nacht ihrer Flucht besucht hatten. Zwar widerstrebte es ihnen das Geld, das Zarifa auf dem Weg hierher gestohlen hatte, ausgerechnet hier auszugeben, wo ihnen der Wirt doch ein Zimmer für die Nacht verweigert hatte, doch es schien ihnen hier draußen in der ärmlichen Gegend am sichersten. Hier würden wohl kaum zufällig irgendwelche Leute des Fürsten absteigen und sie wiedererkennen.

Die Tage zuvor hatten Zarifa und Tekin damit verbracht, einen Plan für die Ermordung von Kazimir  zu entwickeln. Tekin konnte Zarifas Lage nachvollziehen und befand ebenfalls, dass ein solch kaltblütiger und grausamer Mörder den Tod verdient hatte. Doch wie sollten sie an ihn herankommen? Das Anwesen war zu gut bewacht, um sich einfach reinzuschleichen. Zwar war Kazimir bisweilen nachlässig, wenn es um Dienstpläne für Wachen ging, doch das konnten sie wohl kaum planen. Sie brauchten mehr Informationen. Vielleicht verließ Kazimir das Anwesen ja ab und zu mal. Oder vielleicht gab es irgendeinen einfachen Weg ins Anwesen hinein.
Um diese Informationen einzuholen, mussten die beiden Haradrim jedoch wohl oder übel erst einmal wieder in die Stadt. Sie hatten ein wenig darauf gehofft, dass Kazimir die Suche nach ihnen inzwischen eingestellt hätte, doch zur Sicherheit hatten die Beiden sich zusätzlich getarnt. Zarifa trug nun das erste Mal in ihrem Leben hochgesteckte Haare und ein langes, rotes, mit bunten Steinen verziertes Kleid. Es ähnelte sehr stark dem Kleid, das Zarifa einst in dem Haus einer reichen Kaufmannsfamilie gefunden und anprobiert hatte. Sie musste unweigerlich grinsen, als die daran zurückdachte, wie sie sich mit Ziad über derartige Kleidung lustig gemacht hatte. Bei dem Gedanken an Ziad überkamen sie jedoch augenblicklich auch wieder Gedanken an dessen Tod. Doch darüber durfte sie jetzt nicht nachgrübeln. Sie musste sich konzentrieren.

„Also, dann los“, meinte Tekin und die beiden betraten die Kneipe. Es war wieder mal sehr voll hier. Und unmittelbar nachdem sie die den Fuß über die Türschwelle gesetzt hatte, fiel Zarifa die Schwäche in ihrem Plan wie Schuppen von den Augen. Ihre Tarnung war zwar perfekt gewesen, um nicht wie eine entflohene Sklavin auszusehen, doch hier in der ärmlichen Gegend der Stadt fiel sie in ihrem extravaganten Kleid natürlich sofort auf. In dem schwachen Licht der Abendsonne, das noch durch die offene Tür fiel, schien sie regelrecht zu leuchten. Viele Leute drehten sich um, starrten die junge Haradan an und begannen Worte zu flüstern, die Zarifa nicht verstand. Doch der Tonflall gefiel ihr überhaupt nicht. 
„Sollen wir lieber wieder gehen?“, fragte Tekin.
„Nein. Sollen uns die Leute doch anstarren. Hier sind wir vor Wachen sicher.“
„Ja, aber dass es hier keine Wachen gibt, bedeutet auch, dass die Leute dir etwas antun könnten. Allein die Steine auf deinem Kleid sind bestimmt mehr Wert als der Besitz vieler Leute. Da kommt man schonmal in Versuchung.“
„Scheiße, du hast recht.“
Die beiden wollten gerade umdrehen, als sie plötzlich jemanden sehr laut sprechen hörten. Und noch ungewöhnlicher war, dass er Westron sprach, sodass Zarifa ihn verstehen konnte:
„Den ganzen verdammten Tag nur auf der Suche. Dafür hab ich mich nicht einstellen lassen, verdammt.“
Die beiden sahen sich um. Gesprochen hatte ein Mann, der alleine am Tresen saß. Zarifa wollte sich schon wieder gelangweilt abwenden, als ihr plötzlich etwas auffiel und sie innerlich zu Eis erstarrte. Der Mann trug die Uniform von Radomirs Wachen.
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Char Zarifa in Rhûn

Rohirrim

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Re: In den Straßen von Gorak
« Antwort #2 am: 14. Okt 2017, 02:30 »
„Die Gelegenheit ist zu gut, um es nicht zu riskieren“, meinte Tekin.
„Aber was, wenn er uns erkennt und sofort festnimmt?“, erwiderte Zarifa.
Die Beiden standen nun schon seit einigen Augenblicken unentschlossen auf der Türschwelle. Sollten sie es wagen, der augenscheinlich bereits sehr betrunkenen Wache von Radomirs Anwesen einige Informationen zu entlocken? Oder sollten sie lieber sofort kehrt machen? Zarifa wurde immer noch von fast allen anderen Besuchern aufgrund ihrer extravaganten Kleidung angestarrt.
„Selbst wenn er in diesem Zustand noch in der Lage ist uns trotz Tarnung zu erkennen, so ist er definitiv nicht mehr in der Lage uns festzunehmen. Er ist ganz allein.“
„Na schön, wie du meinst. Ich hoffe nur, dass die restlichen Besucher uns in Frieden lassen.“
„Ich hoffe darauf, dass sie sich nicht trauen, vor einer Wache Radomirs ein Verbrechen zu begehen. Aber wenn du möchtest, kann ich die Befragung des Mannes auch alleine übernehmen und du kannst in der Zwischenzeit was Anderes erledigen.“
„Nein!“, meinte Zarifa entschieden. „Ich komme mit.“ Es behagte ihr zwar überhaupt nicht, von so vielen Leuten angestarrt zu werden, doch noch weniger wollte sie von Tekin getrennt werden. Er war ihr einziger Verbündeter in dieser Stadt. Der Einzige, dem sie trauen konnte. Außerdem war sie viel zu gespannt, ob die Wache ihnen möglicherweise wichtige Hinweise geben konnte.
„Also dann“, meinte Tekin und setzte sich neben den Mann an den Tresen. Zarifa folgte ihm.
„Guten Abend“, sprach Tekin den Mann auf Westron an. „Dürfen wir uns zu ihnen setzen?“
„Gerne doch. Ich bin froh über ein wenig Gesellschaft“, antwortete der Mann mit einem unüberhörbaren Lallen in der Stimme. Zarifa hatte Mühe ihn zu verstehen. Sie beschloss, sich aus der Unterhaltung eher rauszuhalten. Sie wollte lieber nur zuhören.
Tekin bestellte drei Bier und fing an, unverbindlich mit dem Mann zu plaudern. Sie hatten Glück. Er schien sie nicht zu erkennen. Schon bald hatten sie erfahren, dass der Mann Alvar hieß und ursprünglich aus Gortharia stammte. Tekin hörte ihm interessiert zu und stellte stets sicher, dass der Mann auch genug Bier zu trinken bekam. Er war aus „persönlichen Gründen“ erst vor kurzem nach Gorak geflohen und hatte sogleich eine Anstellung als Wache bei Kazimir gefunden. Er war natürlich sehr begeistert davon gewesen, so schnell eine neue Arbeit zu finden. Doch schon bald begannen seine Zweifel.
„Ihr dürft aber niemandem davon erzählen.“
„Keine Sorge. Dein Geheimnis ist bei uns sicher“, meinte Zarifa, die sich nun erstmals in das Gespräch einmischte. Sie hatte die ganze Zeit schweigsam dagesessen, doch jetzt hatte sie ihre Neugier gepackt. Alvar zweifelte an Kazimir? Woran genau? Und warum? Alvar blickte sie kurz verwirrt an, als hätte er sie eben zum ersten Mal gesehen. Zarifa hatte Angst, er würde sie nun doch erkennen. Doch Alvar schüttelte sich nur kurz und begann dann zu sprechen:
„Also schön. Kazimir ist besessen davon, eine entflohene Sklavin wiederzufinden. Er stellt laufend neue Leute ein, nur um sie zu suchen. Er ist wie im Wahn.“
Zarifa erschrak und Tekin reagierte instinktiv: „Bitte dreimal das Stärkste, was sie haben.“
„Oh nein, vielen Dank. Ich habe wirklich schon genug getrunken. Und warum *hicks* spendieren sie mir überhaupt so viel?“ Plötzlich blickte Alvar misstrauisch.
„Ach, das ist doch nichts“, erwiderte Tekin und hatte dabei Mühe, seine Panik in der Stimme zu verstecken.
„Wir finden einfach, dass die Leute, unseren Fürst beschützen hin und wieder ein kleines Dankeschön verdient haben“, griff Zarifa beschwichtigend ein. Das schien Alvar auch erst einmal zu beruhigen. Zarifa roch an dem Schnaps, den sie soeben gereicht bekommen hatte und musste sich fast übergeben. War das wirklich ein Getränk oder nicht doch eher pures Gift? In weiser Voraussicht beschloss sie, nur so zu tun, als würde sie trinken. Sie brauchte einen klaren Kopf. Tekin dagegen trank gemeinsam mit Alvar den Schnaps. Und obwohl er schon deutlich mehr Erfahrung mit Alkohol hatte als Zarifa, schien er es zu bereuen. Das bestärkte Zarifa in ihrer Entscheidung. Sie ließ das Glas vor sich stehen und umschloss es mit ihrer Hand, um zu verdecken, dass es noch voll war.
„*Hicks*... vielen Dank. Also, wo war ich?“, fragte Alvar ein wenig zerstreut.
„Kazimir ist davon besessen, eine entlaufene Sklavin wiederzufinden...“
„Achja richtig. Also, Kazimir sieht ihre Flucht anscheinend als persönliche Beleidigung. Er tut alles dafür, um sie wiederzufinden. Nur darum bekam ich so schnell eine Stelle bei ihm. Er ist wie im Wahn. Und jetzt darf ich den ganzen Tag damit verbringen, nach einer Sklavin Ausschau zu halten, von der ich nur eine Zeichnung habe. Und wenn ich Feierabend habe, darf ich mich etwa zehn Minuten lang ununterbrochen anschreien lassen, wieso ich denn so unfähig bin. Dabei lässt er auch überhaupt nicht vernünftig mit sich reden. Wir alle wissen im Grunde, dass sie die Stadt längst verlassen haben muss. Zum einen, weil wir sie nun schon seit Tagen suchen und zum anderen, weil sie ja wohl auch keinen guten Grund hat hierzubleiben. Doch Kazimir meint, es ist unmöglich die Stadt einfach so zu verlassen. Er hat irgendwie das Gefühl, alles er habe alles in dieser Stadt unter Kontrolle. Er leidet komplett unter Realitätsverlust, wenn ihr mich fragt. Er hat doch nichtmal die Kontrolle über sein eigenes Anwesen. Und dann ist da noch dieser andere Sklave, von dem er nicht genau weiß, ob er ihn betrogen hat oder nicht. Und wie er aussieht, weiß er auch nicht so genau. Der Typ ist einfach unfähig. Und trotzdem muss ich ihm gehorchen. Und wenn der Fürst wiederkommt, bin ich vermutlich meinen Job los.“
Nachdem er einmal angefangen hatte, war Alvar kaum noch zu bremsen. Trotz offensichtlicher Trunkenheit, sprudelten diese Worte extrem schnell und ohne große Fehler aus ihm heraus. Zarifa hatte Mühe, dem ganzen zu folgen und die wichtigen Informationen herauszufiltern. Kazimir war also unfähig. Nun, das hatten sie auch vorher schon gewusst. Doch hier hatten sie eine neu eingestellte Wache, die ihm gegenüber eine offene Abneigung hegte. Und Kazimir war sich nicht sicher, ob Tekin ihn verraten hatte, oder ob Zarifa es alleine geschafft hatte zu fliehen. Und dann war doch noch etwas.
„Was meinst du damit, dass Kazimir nicht einmal die Kontrolle über sein eigenes Anwesen hat?“
„Naja, nachdem ich und die anderen neuen Wachen sie am ersten Tag nicht gefunden hatten, fing Kazimir an, noch mehr Wachen aus dem Anwesen zu entsenden. Einige suchen wohl auch in den umliegenden Bergen. Im Anwesen selbst sind nur noch sehr wenige Wachen stationiert. Ich frage mich, ob irgendjemand das mal ausnutzt.“
Ja, gute Frage, dachte Zaifa. Inzwischen hatte sie eine ziemlich gute Idee, wie sie an Kazimir ran kommen konnte. Er hatte schließlich schon einmal nicht bemerkt, dass Tekin ihm die Hände nicht wirklich zusammengebunden hatte. Im Grunde konnten sie gehen. Sie wussten nun alles, was sie wissen wollten. Doch eine Sache interessierte die junge Frau dann doch noch:
„Was genau ist denn eigentlich der Befehl, wenn ihr die Sklavin findet? Sollt ihr sie augenblicklich töten?“
„Oh nein, auf gar keinen Fall. Kazimir will sie lebend. Wenn wir sie töten, wird er uns wahrscheinlich auch umbringen. Er will sie bestrafen, denke ich. Und er hat demjenigen, der sie findet eine 'besondere Belohnung' im Bezug auf sie versprochen. Das ist auch der einzige Grund, wieso ich überhaupt noch ernsthaft nach ihr suche. Denn zumindest auf dem Bild, das sie von ihr gemalt haben, sieht die Kleine schon sehr süß aus. Wenn ihr versteht was ich meine“, sagte er zwinkernd. Zarifa hätte sich am liebsten auf der Stelle übergeben. Das war es also, was ihn antrieb. War das eigentlich der einzige Grund, aus dem Männer sich für sie interessierten? Yasin hatte sie aus genau dem gleichen Grund verraten. Und sofort schossen wieder Bilder in ihren Kopf. Bilder von Fingern, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. Bilder von...Nein, nicht jetzt, dachte Zarifa verzweifelt. Sie blickte auf das immer noch volle Schnapsglas in ihrer Hand und trank. Es war das widerlichste, was sie je in ihrem Leben getrunken hatte und bevor sie genau wusste, wie ihr geschah, musste sie sich übergeben. Das verzierte Kleid hatte nun eine weitere Verzierung bekommen. Tekin, der das ganze mit ansah, reagierte blitzschnell. „Ja gut, wir müssen dann auch los. Wie viel?“, fragte er an den Barmann gewandt und legte die genannte Summe auf den Tisch. Zarifa hatte mehr als genug Geld gestohlen. Doch mit Geld konnte man zwar die Rechnung bezahlen, sich jedoch nicht aus seinem eigenen Erbrochenen befreien.
„Ich muss sofort aus diesem Kleid raus“, meinte sie angewidert und begann es vorsichtig abzulegen. Zum Glück hatte sie darunter nur für den Fall noch ihr normales, kurzes, weißes Kleid angezogen, das von dem Vorfall verschont geblieben war. Die gesamte Bar starrte sie nun an.
„Nein warte, wir müssen hier zuerst raus. Was wenn dich jemand erkennt?“, zischte Tekin.
Doch zu spät. Zarifa stand nun wieder in ihrem üblichen Aufzug da. Nur die hochgesteckten haare unterschieden sie noch von ihrer üblichen Erscheinung. Der Wirt hatte bereits genervt angefangen, mit einem Lappen das Erbrochene aufzuwischen. Alvar schielte Zarifa nun mit merkwürdigen Augen an. Er schien das Ganze nicht zu begreifen. Er öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder und zeigte mit der Hand auf sie.
„Also, tschüss dann“, meinte Tekin und die beiden verließen so schnell sie konnten die Kneipe.

„Puh, das war knapp. Meinst du, er hat mich erkannt?“
„Hoffen wir einfach, dass er sich morgen nicht mehr an alles erinnern kann. Ich bezweifle, dass er sich seiner Sache wirklich sicher sein kann. Aber wie kommen wir jetzt durch das Tor?“
„Ich muss wohl wieder klettern. Hat ja schonmal geklappt. Du kannst durch das Tor gehen und wir treffen uns in der Höhle.“
„Okay, aber pass auf dich auf... Warum musstest du denn auch ausgerechnet in dem Moment den Schnaps trinken? Es wäre alles perfekt gelaufen. Und kannst du in deinem Zustand überhaupt noch klettern?“
„Ich hatte meine Gründe“, meinte Zarifa etwas unwirsch. „Wieso hast du ihn überhaupt für mich bestellt. Sei mal lieber froh, dass ich schlau genug war nicht sofort zu trinken. Sonst wüssten wir jetzt immer noch gar nichts. Und natürlich kann ich noch klettern. Der Schnaps kam ja sofort wieder raus.“
„Also gut, wie du meinst.“

Zarifa und Tekin in das Anwesen des Fürsten von Gorak
« Letzte Änderung: 24. Nov 2017, 15:55 von Rohirrim »
RPG:
Char Zarifa in Rhûn

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Die Stadt im Gebirge
« Antwort #3 am: 2. Nov 2017, 10:10 »
Cyneric, Salia und Ryltha aus Gortharia


Sie waren zwei Tage im Eiltempo zunächst direkt nach Osten über die flachen Ebenen jenseits der roten Mauern Gortharias geprescht, ehe sie sich am dritten Tag nach Nordosten gewendet hatten, auf die am Horizont aufragenden Berge von Gorak zu. Cyneric erinnerte sich bei diesem Anblick an seine Ankunft in Rhûn, als er Ryltha zum ersten Mal getroffen hatte. Damals hatte er sie noch für eine einfache Soldatin gehalten. Nach zwei Monaten Aufenthalt in der Hauptstadt des mächtigen Reiches der Ostlinge und in der Gesellschaft der Schattenläufer wusste er, dass viel mehr dahintersteckte.
Schon bald war das Gelände unwegsamer und unebener geworden, und nachdem die drei Reiter die Grenze zum Fürstentum Radomirs überquert hatten, hatten sich schon bald zu beiden Seiten der kleinen Straße, der sie folgten, hohe Felswände aufgetürmt. In schier endlosen Serpentinen hatte sich der Weg durch die steinige Landschaft Goraks geschlängelt und war dabei stetig angestiegen. Cyneric war froh gewesen, dass sie auf ausdauernden und kräftigen Pferden geritten waren und nicht zu Fuß hatten gehen müssen.
Fünf Tage nach ihrem Aufbruch aus Gortharia kamen Cyneric und die beiden Schattenläufer in der Hauptstadt des Fürstentums an, die inmitten kahler Berggipfel versteckt lag. Am Stadttor wurden sie einigermaßen misstrauisch empfangen, doch da sie einen offiziellen Auftrag des Königs nachweisen konnten, ließ man sie schließlich durch. Cyneric fiel auf, dass die Wachen keine gewöhnlichen Soldaten Rhûns waren, sondern offenbar aus vom Fürsten direkt angeheurten Söldnern und freigelassenen Sklaven bestanden. Ihre Loyalität galt in diesem Fall wahrscheinlich nur Radomir selbst - und nicht der Krone. Auch wenn die Schattenläufer letzten Endes den König stürzen wollten, tarnten sie sich im Augenblick dennoch als Soldaten der königlichen Armee. Für den Moment schien diese Tarnung auszureichen, doch Cyneric wusste nicht, ob das auch so bleiben würde.
Salia schien einen ähnlichen Gedanken gehabt zu haben. Während sie ihre Pferde am Zügel durch die belebten Straßen Goraks führten, sagte sie nachdenklich: "Ich frage mich, ob Radomir jetzt vollständig das Vertrauen in den König verloren hat, und vielleicht sogar mit dem Gedanken spielt, sich unabhängig von Gortharia zu machen."
"Das würde er nicht wagen. Er ist kein Idiot," widersprach Ryltha. "Radomir verdankt König Goran seinen Rang und seine Macht, und er weiß, dass all seine Söldner niemals gegen die geballte Schlagkraft der Armee von Rhûn bestehen können. Gorak mag ein unzugänglicher und gut zu verteidigender Ort sein, aber ich denke nicht, dass es Radomir wagen würde, offen gegen Goran zu rebellieren. Nein, die Wachen die ihr gesehen habt, sind aus einem anderen Zweck hier. Viele von ihnen sind ehemalige Sklaven, die Radomir mit der Freiheit belohnt hat, weil sie sich als treu und vertrauenswürdig erwiesen haben. Das gibt jenen, die noch in Ketten gelegt sind, einen Ausweg vor Augen, auf den sie hinarbeiten können. Ich habe gehört, dass es für die Sklaven Radomirs ein ausgeklügeltes Belohungs- und Bestrafungssystem gibt, und dass ein Sklave es bei ihm weit bringen kann, wenn er sich als nützlich und treu erweist."
"Und wenn das Gegenteil der Fall ist?" fragte Salia.
"Nun, ich schätze, an Sklaven gibt es keinen Mangel," antwortete Ryltha ungerührt. "Radomir kann es sich leisten, sich jener zu entledigen, die nutzlos für ihn sind."
Cyneric blickte die blonde Schattenläuferin mit Unverständnis an. Wieder einmal wunderte er sich darüber, wie Ryltha so kalt sein konnte. Er stellte sich vor, wie es sein musste, ein Sklave zu sein und keine freien Entscheidungen mehr treffen zu können. In Gortharia hatte er viele Sklaven gesehen, doch in der Hauptstadt schien es ihnen zumindest etwas besser zu gehen als in Gorak, unter Radomirs Joch.

Ryltha, die inzwischen weiter vorausgelaufen war, blieb vor einem großen Gasthaus stehen. "Das Berghorn" hieß es, was an dem großen Schild über dem Haupteingang gut zu erkennen war. Ryltha winkte einen der Stallburschen herbei und trug ihm auf, sich um die Pferde zu kümmern. Kurze Zeit später hatte sie ein Zimmer für zwei Wochen bezahlt und die drei Gefährten trafen sich dort, um über ihre nächsten Schritte zu beraten. Das Zimmer besaß ein einziges, rechteckiges Fenster, das an der Nordseite des Gasthauses lag, und war mit vier Betten bestückt. Es lag im obersten Stockwerk des Gebäudes.
"Dass Radomir bereits wieder in der Stadt ist, wissen wir bereits," begann Ryltha die Informationen zusammenzufassen, die sie auf dem Weg vom Stadttor bis zum Berghorn aus den Gesprächen der Stadtbewohnern herausgehört hatten. "Und auch, dass es vor einigen Tagen ein Feuer in seinem Anwesen gab," ergänzte Salia. "Offenbar sind Radomirs Sklaven in letzter Zeit nicht sonderlich folgsam."
"Ich habe die Wachen sagen hören, dass der Fürst vor Kurzem einen wichtigen Fang gemacht hat. Wahrscheinlich hat er die Unruhestifter gefasst und bestraft. Zu schade - das Chaos hätte uns zum Vorteil gereichen können."
"Die Wachen scheinen nicht allzu gut ausgebildet zu sein," meinte Cyneric nachdenklich. Ihm war aufgefallen, dass die Wächter an den Toren keine aufmerksame Haltung besessen hatten, sondern gelangweilt und verärgert gewirkt hatten. Das waren keine besonders guten Voraussetzungen für einen effektiven Wachdienst, wie Cyneric aus langjähriger Erfahrung wusste. "Wenn wir Glück haben, sieht es am Anwesen Radomirs ähnlich aus."
"Dass seine Wachen nicht sonderlich viel taugen, lässt sich für Radomir leicht ausgleichen, indem er einfach ihre Anzahl erhöht," sagte Salia. "Er hat in Gortharia viele gute Leute verloren und wird sicherlich schon für Ersatz gesorgt haben."
Ryltha stand von der Bettkante auf, auf der sie gesessen hatte und trat ans Fenster. "Das Anwesen sollte unser erstes Ziel sein. Wir müssen es gründlich auskundschaften und uns einen Überblick über die Lage dort verschaffen. Radomir wird sicherlich klug genug sein, Vorkehrungen zu treffen. Er weiß, dass wir kommen. Aber er weiß nicht, mit wem er es zu tun hat. Die Schatten sind für die meisten Ostlinge nur ein Mysterium. Und so sollte es auch bleiben."
"Dann sollten wir keine Zeit verlieren," sagt Cyneric. Er war begierig darauf, diesen Auftrag so rasch wie möglich abzuschließen und nach Gortharia zurückzukehren. Denn dort wartete der geheimnisvolle Brunnen auf ihn, in dessen Tiefen sich womöglich der entscheidende Hinweis auf den Aufenthaltsort seiner verlorenen Tochter verbarg.
"Geduld, Cyneric. Wir können nicht einfach am hellichten Tage in Radomirs Anwesen spazieren und uns höflich nach den Sicherheitsvorkehrungen erkundigen," meinte Ryltha mit einem verschmitzen Lächeln. "Nein, wir müssen es uns nachs ansehen, am besten kurz vor Schichtwechsel der Wachposten. Außerdem werden wir einen Informanten brauchen, der sich vor Ort auskennt. Ideal wäre eine der Wachen. Erst wenn wir alle Teile beisammen haben, können wir unser Vorgehen gegen Radomir planen."
"Außerdem sind wir im Augenblick viel zu auffällig," ergänzte Salia. Die goldenen Rüstungen der Rhûn-Soldaten waren in der Masse der Stadtbewohner nur allzu deutlich herausgestochen. Sie streifte ihren langen, roten Umhang ab, und Ryltha tat dasselbe. Alle drei hatten sie einfachere Kleidung mitgebracht, die in den Satteltaschen ihrer Pferde verstaut gewesen waren.
"Wenn du dich bitte umdrehen würdest, Cyneric?" Rylthas Lächeln war inzwischen zu einem Grinsen geworden.

Wenige Minuten später kehrten sie auf die Straßen Goraks zurück. In gewöhnliche Reisekleidung gehüllt waren sie nun deutlich besser an die Menschenmenge angepasst und niemand schenkte ihnen mehr besondere Aufmerksamkeit. Cyneric trug nun ein Oberteil aus festem Leder und Schulter- und Armschützer aus demselben Material. Ein grauer Umhang und einfache Hosen und Stiefel vervollständigten sein Aussehen. Bewaffnet war er weiterhin mit Schwert und Schild. Salia trug eine enge schwarze Hose und ein blassrotes Oberteil aus Stoff, und darüber ein großes, weißes Halstuch, das den Großteil ihres Oberkörpers bedeckte. Ihre Ärmel waren lang und weit, um ihre Dolche zu verbergen. Ryltha hingegen hatte ein schwarzes Kleid gewählt, das sie mit einem ähnlichen Umhang kombinierte, wie ihn auch Cyneric trug. Unter ihrer Kapuze lugten mehrere blonde Strähnen hervor. Ihren Bogen trug die Schattenläuferin auf dem Rücken.
"Prägt euch die Straßen der Stadt gut ein, damit ihr euch rasch orientieren könnt," sagte Ryltha. "Wir wissen nicht, wie schnell wir von hier verschwinden müssen, wenn die Tat getan ist."
Sie suchten sich ihren Weg durch das Stadtzentrum Goraks, vermieden es jedoch, offen nach der Lage von Radomirs Anwesen zu fragen. Es war wichtig, keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn Fürst Radomir mit Verfolgern aus Gortharia rechnete, würde er sicherlich seinen Wachen auftragen, die Augen und Ohren nach allem Verdächtigem offen zu halten. Und Leute, die sich nach dem Sitz des Fürsten erkundigten, würden sicherlich dazu zählen.
Sie beschränkten sich zunächst darauf, das große Anwesen Radomirs nur aus einiger Entfernung zu betrachten und sich seine Position innerhalb der Stadt zu merken. Schon von Weitem war deutlich zu sehen, dass der Gebäudekomplex scharf bewacht war.
Ryltha zog Salia und Cyneric in eine Seitengasse und begann, ihnen im leisen Ton ihre Anweisungen zu geben. "Téressa, du wirst hier bleiben und aus den Schatten heraus die Wachabläufe beobachten. Wir müssen wissen, in welchen Abständen die Wachposten ausgetauscht werden und wie lange die einzelnen Wachschichten dauern." Salia nickte und trat an eine der beiden Hauswände heran, zwischen denen sie gestanden hatte. Rasch begann sie, daran hinaufzuklettern, um auf dem Dach Stellung zu beziehen.
"Cyneric, deine Aufgabe wird es sein, dich in einer der Kneipen in der Nähe des Anwesens umzuhören. Vielleicht findest du ja eine redselige Wache oder kannst auf anderem Wege Informationen darüber beschaffen, wie es im Inneren des Anwesens aussieht. Ich will wissen, wo Radomir sich aufhält, und wie es um seine Sklaven steht. Womöglich können wir einen Aufstand entstehen lassen, der uns als Ablenkung dient, wenn wir in Radomirs Zuflucht eindringen."
"Also gut," bestätigte Cyneric. "Und was wirst du tun?"
Ryltha setzte ihre Kapuze mit einem bösen Lächeln ab. "Ich finde heraus, ob der gute Fürst eine... Schwäche für das weibliche Geschlecht hat."
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Informationsbeschaffung
« Antwort #4 am: 3. Nov 2017, 20:50 »
Einige Stunden später betrat Cyneric die dritte Taverne - die letzte, die er in der nahen Umgebung des Fürstenanwesens gefunden hatte. In den ersten beiden Kneipen waren zwar durchaus Wachen gewesen, die gerade Freigang hatten, doch sie waren entweder zu betrunken gewesen, um ihnen Informationen zu entlocken, oder hatten Cynerics Gesprächseinladung misstrauisch, mürrisch oder feindselig abgewiesen. Daher hatte er nun nur wenig Hoffnung, in der dritten Schänke tatsächlich Glück zu haben, doch er würde es dennoch versuchen. Zuviel stand auf dem Spiel, um jetzt einfach aufzugeben.
Er blickte sich im Inneren der Taverne um. Auf den ersten Blick erschien es ihm, als würde sie sich nicht sonderlich von den beiden anderen Kneipen unterscheiden, die er zuvor besucht hatte. Ähnliche Gestalten lungerten am Tresen oder an den langen Tischen, die aneinander gereiht standen. Niemand schenkte Cyneric besondere Aufmerksamkeit, wofür er dankbar war. In einer der Ecken entdeckte er einen von Radomirs Gardisten - erkennbar an der Uniform, die das Siegel des Fürsten von Gorak trug - und gesellte sich auf gut Glück zu dem Mann.
"Hätte nicht gedacht, dass um diese Zeit schon Schichtwechsel ist," sagte Cyneric und ließ seine Stimme etwas rauher als gewöhnlich klingen.
Glücklicherweise verstand der Gardist Westron und er schien auch noch nicht allzu sehr betrunken zu sein. Vor ihm stand ein nicht einmal halbleeres Trinkhorn. Der Mann wandte sich Cyneric zu und grinste. "Hier in Gorak gelten andere Regeln, Freund," antwortete er. "Auf der Suche nach Arbeit? Ich erkenn' einen ehemaligen Gardisten, wenn ich einen sehe."
Cyneric gab ein bestätigendes Grunzen von sich. "Hab' gehört, Fürst Radomir hat ein paar offene Stellen in seinem Anwesen, und er soll ganz gut zahlen."
"Ha! Wer auch immer dir das mit der Bezahlung erzählt hat, er hat gelogen. Die ist kaum einen Deut besser als der Sold, den sie den verdammten Goldröcken in der Hauptstadt hinterherschmeißen."
"Verdammte Goldröcke," wiederholte Cyneric und war froh, dass er tatsächlich wusste, wovon er sprach. "Es gibt einfach zuviele von diesen Bastarden."
Der Mann sah ihm direkt in die Augen und legte leicht den Kopf schief. "Bist wohl auch mit ihnen aneinandergeraten, was? Und hast dich nach Gorak geflüchtet, damit dich die Berge vor ihnen verstecken, stimmt's?"
Cyneric hob schuldbewusst die Arme. "Erwischt."
Der Gardist lachte und winkte eine der Bedienungen herbei. "Ein Bier für einen arg gebeutelten Kollegen! Geht auf mich, alter Knabe." Er reichte Cyneric die Hand. "Alvar."
"...Cyneric," erwiderte Cyneric und ergriff die angebotene Hand. Die Vorstellung war zu schnell gekommen; er hatte keine Zeit mehr gehabt, sich einen falschen Namen auszudenken. Innerlich verfluchte er sich dafür und hoffte, dass Alvar nichts mit dem Namen anfangen konnte. Doch dieser nickte nur und nahm einen langen Schluck von seinem Bier.
"Ein erfahrener Bursche wie du ist genau das, was der Fürst jetzt braucht. Der Haufen, der derzeit sein Anwesen bewacht, ist noch grün hinter den Ohren; nichts als Anfänger, das kannst du mir glauben."
"Was kannst du mir über die Wachschichten erzählen? Und, was noch wichtiger ist: Wie ist die Verpflegung?"
"Für Essen und Trinken sorgen die Sklaven," erklärte Alvar. Er verzog ein klein wenig das Gesicht, ehe er fortfuhr. "Die Schichten dauern je acht Stunden und decken drei Tagesabschnitte ab. Wechsel ist für gewöhnlich um Mitternacht und acht Stunden davor und danach."
"Sklaven?" wiederholte Cyneric interessiert.
"Das ganze Anwesen ist verdammt nochmal voll von ihnen," sagte Alvar, dem diese Tatsache nicht zu gefallen schien. "Wenn du aus der Hauptstadt kommst, bist du es vielleicht gewohnt, dass ein Fürst oder ein Adeliger zwei, drei oder maximal ein Dutzend Sklaven hat. Radomir übertrifft sie alle. Es müssen hunderte sein, die er in seinem Anwesen zusammengepfercht hat. Manche sind einfach nur dort, damit er seine grausamen Spielchen mit ihnen treiben kann. Und glaub mir, du willst ihn nicht wütend machen. Er hat ein ausgeklügeltes System von Strafen und Belohnungen, bei dem es mir jedes Mal aufs Neue den Rücken hinunterläuft. Erst vorgestern hat er diese hübsche Kleine mit in seine Folterkammer genommen und..." Er brach ab und blickte betreten beiseite.
"Nun, zum Glück habe ich nicht vor, den Fürsten zu verraten," versuchte Cyneric, das Gespräch wieder in eine angenehmere Bahn zu lenken. "Wieviele Wachen gibt es denn im Anwesen, Alvar?"
Doch Alvars Laune schien nun umgeschlagen zu sein. "Wieso willst du das wissen?" wisperte er. "Ich dachte, du suchst nur Arbeit. Planst du etwa... einen Angriff auf das Anwesen des Fürsten?"
Cyneric legte sich rasch seine Worte zurecht, doch ehe er auf Alvars Frage antworten konnte, fuhr der Gardist schon fort: "Ich... würde dir dabei gewiss nicht im Weg stehen." Seine Stimme war nun zu einem kaum hörbaren Flüstern herabgesunken. "Weißt du, wenn ich ehrlich bin... Radomir ist ein Monster. Ich bin noch nicht lange bei ihm, aber ich habe es deutlich genug gesehen. Ich sollte etwas tun und ein einziges Mal in meinem Leben Mut beweisen. Ich sollte..."
"Du hast von einer Sklavin gesprochen, die in Radomirs Folterkammer gefangen gehalten wird," sagte Cyneric ebenso leise. "Wenn dir etwas an ihr liegt, dann geh und befreie sie. Und halte dich in den nächsten Tagen vom Anwesen fern."
Alvar musterte ihn einen langen Augenblick aus weit aufgerissenen Augen. Dann nickte er langsam. "Ich... ich werde sehen, was ich tun kann." Er erhob sich taumelnd, doch dann wurde sein Blick klar und er eilte mit festen Schritten hinaus und rannte dabei beinahe Ryltha um, die gerade herein kam. Rasch kam die Schattenläuferin an Cynerics Tisch und sank neben ihm auf die Bank.
"Was hast du herausgefunden, Cyneric?"
Rasch fasste Cyneric die Informationen zusammen, die er von Alvar erhalten hatte. Doch er ließ dabei aus, dass er dem Gardisten einen eindeutigen Hinweis gegeben hatte, dass es schon bald womöglich einen Angriff auf das Anwesen Radomirs geben würde. Bei der Erwähnung der Sklaven nickte Ryltha zufrieden.
"Das werden wir uns zunutze machen. Ich habe etwas ganz Ähnliches beobachten können, als ich versuchte, auf... anderem Wege an Informationen über Radomirs Anwesen zu gelangen. Der Fürst scheint sich nicht sonderlich für Frauen zu interessieren, sondern verbringt seine Freizeit viel lieber mit seinen Sklaven, mit denen er seine Spielchen treibt und sie sowohl seelisch als auch körperlich foltert. Ich kann es kaum erwarten, ihm einen Pfeil zwischen die Augen zu schießen."
Sie stand so rasch auf, wie sie sich wenige Minuten zuvor hingesetzt hatte und zog Cyneric mit sich. "Los. Suchen wir Téressa und bringen wir die Sache ins Rollen."


Ryltha, Salia und Cyneric zu Radomirs Anwesen
« Letzte Änderung: 26. Nov 2017, 08:59 von Fine »
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Im “Berghorn”
« Antwort #5 am: 20. Dez 2017, 15:28 »
Cyneric, Zarifa und Salia vom Anwesen des Fürsten von Gorak


Während sie sich durch die engen Gassen der Stadt drängten, sprachen sie nur wenig. Zwar war es nicht sonderlich weit zu dem Gasthaus, in dem Cyneric und die Schattenläufer ein Zimmer genommen hatten, doch das Chaos in und um Radomirs Anwesen herum sorgte noch immer dafür, dass die Straßen voller als üblich waren. Viele Menschen schienen die Stadt verlassen zu wollen. Cyneric fragte sich, ob sie vielleicht Vergeltung vonseiten des Königs von Rhûn fürchteten und stellte fest, dass es sogar ziemlich wahrscheinlich sein würde, dass König Goran Truppen in das Fürstentum Radomirs entsenden würde, um einerseits seine Macht zu demonstrieren und andererseits den Frieden zu wahren.
Ein Gespräch zwischen Ryltha und Salia vor ihrem Aufbruch nach Gorak fiel ihm ein. Darin war es unter Anderem um Radomirs Nachfolgerin gegangen, seine Schwester Rhiannon. Diese war beim Volk von Gorak deutlich beliebter als ihr tyrannischer Bruder, doch im Augenblick hielt sie sich noch in der Hauptstadt der Ostlinge auf. Cyneric hoffte, dass Herrin Rhiannon schon bald nach Gorak zurückkehren würde und die Wogen rasch glätten würde.

Als sie das “Berghorn” endlich erreicht hatten, stellte Cyneric erfreut fest, dass sich im Inneren nur wenige Gäste aufhielten. Er wechselte einen raschen Blick mit Salia, die ungewöhnlich guter Laune war. Auch Cyneric war froh, dass die gefährliche Mission der Schattenläufer zu einem erfolgreichen Ende gekommen war. Sobald sie nach Gortharia zurückgekehrt waren, würde er seine Belohnung erhalten: Einen weiteren Blick in den geheimnisvollen Brunnen namens Anntírad, und darin hoffentlich ein genauerer Hinweis auf den Aufenthaltsort seiner Tochter Déorwyn.
Salia ging und bestellte großzügig Essen und Bier für drei Personen, das sie sich auf ihr Zimmer bringen ließen. Dort gab es einen kleinen Tisch, an dem sie zu dritt genug Platz hatten. Da Ryltha bereits abgereist war, war ein Stuhl für Zarifa frei, die sich bislang schweigsam im Hintergrund gehalten hatte. Als sie den reich gedeckten Tisch sah, schien die junge Frau wie aus einem Traum zu erwachen und ein Ausdruck großer Verwunderung zog über ihr Gesicht.
“Wir müssen unseren Erfolg natürlich feiern,” kommentierte Salia geradezu fröhlich. “Und da du Radomir getötet hast, bist du eingeladen, Zarifa.”
Zarifa nahm vorsichtig Platz, doch das Essen rührte sie nicht gleich an. Sie schien sich noch nicht ganz sicher zu sein, was sie von all dem halten sollte.
“Nur zu,” ermutigte Cyneric die junge Frau. “Du musst hungrig sein. Keine Sorge, es ist genug für alle da.” Er füllte drei Krüge mit Bier und reichte Salia und Zarifa jeweils einen, ehe er selbst einen großen Schluck nahm. Die kühle Flüssigkeit fühlte sich in seiner Kehle in jenem Moment unglaublich gut an.
Salia tat es ihm gleich und machte ein wohliges Geräusch, nachdem sie ihren Krug wieder abgesetzt hatte. “Ist zwar nicht vergleichbar mit dem, was es in Th... im Norden zu trinken gibt, aber es nicht nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht.”
Zarifa hingegen schien sich zunächst mehr für das Essen zu interessieren und begann, sich reichlich an dem Angebotenen zu bedienen. Cyneric vermutete, dass sie schon längere Zeit nicht mehr die Gelegenheit gehabt hatte, sich richtig satt zu essen, denn sie sah sehr abgemagert und furchtbar dünn aus. Er freute sich darüber, ihr dies nun zu ermöglichen und lächelte. Dann nahm er sich ebenfalls mehrere Scheiben Brot und begann zu essen.

Das Bier reichte genau für zwei Krüge pro Person, was Cyneric ein klein wenig bedauerte. Doch ein Teil von ihm war auch froh darüber, denn er erinnerte sich noch allzu gut daran, was mit Milva geschehen war; an jenem Abend in Gortharia, an dem sie zu viel getrunken hatte. Cyneric war sich nicht sicher, ob er mit zwei angetrunkenen jungen Frauen zurecht gekommen wäre. Salia und Zarifa hatten zwar beide etwas Röte auf Wangen und Nase bekommen, doch sie verhielten sich abgesehen davon normal.
“Ich möchte wirklich deinen Erfolg nicht schmälern, Zarifa,” sagte Salia, nachdem sie ihren Teller geleert hatte. “Aber dennoch hätte ich wirklich nichts dagegen gehabt, diejenige gewesen zu sein, die Radomir ein Messer zwischen die Rippen rammt.”
“Da hättest du wohl etwas schneller sein müssen,” erwiderte Zarifa, die inzwischen etwas aufgetaut war. “Weshalb wart ihr eigentlich hinter diesem Abschaum Radomir her?”
“Das ist eine etwas längere Geschichte,” meinte Salia ausweichend.
“Nun, ich denke, wir haben Zeit dafür,” mischte Cyneric sich ein. “Vor morgen früh werden wir Gorak nicht verlassen.”
“Ich denke nicht, dass wir einfach so alle unsere Geheimnisse preisgeben sollten,” wisperte Salia ihm zu, doch Cyneric war sich beinahe sicher, dass Zarifa die Worte nicht entgangen waren. Deswegen sah er es auch nicht ein, vor ihrem Gast zu flüstern.
“Zarifa hat uns geholfen, und ich vertraue ihr.”
“Wir kennen sie gar nicht richtig.”
“Ich kann euch hören,” sagte Zarifa mit Nachdruck und machte ein verstimmtes Gesicht.
Salia schwieg. Sie schien nicht recht zu wissen, was nun zu tun war. Ohne ständige Anweisungen von Ryltha oder Morrandir war sie dazu gezwungen, wieder eigene Entscheidungen zu treffen, woran sie ganz offensichtlich nicht mehr ganz gewöhnt war.
Cyneric nahm ihr Schweigen als Zustimmung auf und begann. “Radomir ist einer der Fünf Fürsten von Rhûn, die die fünf Fürstentümer regieren, auf die König Gorans Macht gestützt ist. Salia und ich gehören einer Gruppe an, die dafür kämpft, diese Macht zu brechen, denn der König ist grausam und wahnsinnig. Mit dem Tod Radomirs ist der erste Schritt getan. Jetzt wird Radomirs Schwester Rhiannon seinen Platz einnehmen. Sie hegt eine Abneigung gegen Sklaverei und ist beim Volk sehr beliebt.”
“Quasi das genaue Gegenteil ihres Bruders,” ergänzte Salia, die Cyneric genau beobachtete. Offenbar war sie bereit, einzuschreiten, wenn er versuchte, die Geheimnisse der Schattenläufer zu verraten.
“Und sie unterstützt den König nur unter Vorbehalten. Wenn die übrigen Fürsten stürzen, wird sie ihn fallen lassen.”
Zarifa dachte einen Augenblick über diese Enthüllungen nach. Von ihrem Gesichtsausdruck war nicht abzulesen, was sie davon hielt. Schließlich sagte sie: “Das klingt doch ganz gut.”
Cyneric fuhr fort: “Ich selbst stamme nicht aus Rhûn. Sondern aus Rohan. Und Sa...” Ein rascher Blick zu Salia, die heftig den Kopf schüttelte, ließ ihn den Satz abbrechen. Ganz eindeutig hatte die Schattenläuferin etwas dagegen, dass er Zarifa verriet, dass sie eigentlich aus Thal stammte. “Nun, jedenfalls bin ich auf der Suche nach meiner Tochter. Sie ging beim Ausbruch des Krieges verloren. Und Salias... Freunde besitzen Informationen, die mir helfen werden, sie zu finden. Deswegen helfe ich ihnen. Und jetzt, wo Radomir tot ist, werde ich einen weiteren Hinweis erhalten und kann mich hoffentlich schon bald auf den Weg machen.”
Salia mischte sich ein. “Dann kannst du es sicherlich kaum erwarten, nach Gortharia zurückzukehren. Ich für meinen Teil bin allerdings ganz froh, diese Nacht in einem echten Bett zu verbringen anstatt in einem Lager unter freiem Himmel an der Straße nach Gortharia. Heute war ein langer Tag. Oh! Wir sollten nach deiner Verletzung sehen, Cyneric. Komm, zeig’ mal, wo sie dich erwischt haben.” Sie sprang von ihrem Stuhl auf, umrundete den Tisch und schob Cynerics linken Ärmel hoch. Er hatte seine Schulterschützer bereits abgelegt, doch das reichte noch nicht aus, damit Salia die Wunde untersuchen konnte. Sie wedelte mit der Hand und bedeutete ihm, das Hemd abzulegen, das er trug. Mit etwas Widerwillen kam er der Bitte nach. Er fühlte sich nicht zu Zarifa oder Salia hingezogen - dafür waren sie zu jung, und erinnerten ihn zu sehr an seine Tochter - aber dennoch fühlte er sich seltsam, als er ihre Blicke auf seinem Oberkörper spürte.
Ein scharfer Schmerz stach in seine Schulter, als Salias Finger über den Rand der Wunde strich, die Cyneric während des Gefechts mit Radomirs Wachen erlitten hatte. Er zuckte zusammen, und Salia beschwerte sich, dass er nicht still hielt. Die Wunde blutete zwar nicht mehr, doch der Schmerz blieb. Salia strich etwas Salbe darauf und legte einen dicken Verband darum, ehe sie ihr Werk mit kritischem, aber zufriedenen Blick begutachtete.
“Jetzt kann ich wieder beruhigt schlafen, ohne mir Sorgen zu machen, dass du über Nacht verblutest,” kommentierte sie.
Zarifa hatte die Behandlung schweigend beobachtet, doch nun sagte sie mit einem Grinsen: “Ja, wenn er verbluten würde - wer würde uns dann frisches Bier besorgen?”
Salia lachte, und auch Cyneric musste schmunzeln. “Sag, Zarifa, was hat dich dazu gebracht, Radomir zu ermorden? Ich bin mir sicher, du hast einen guten Grund dafür gehabt,” wollte er wissen.
Offenbar hatte er genau das Falsche gesagt, denn Zarifas gute Laune verschwand so schnell wie sie gekommen war. “Ich will nicht darüber sprechen,” sagte sie leise und Zorn blitzte in ihren dunklen Augen auf. “Es ist gut, dass der Bastard tot ist. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.”
Cyneric wollte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter legen, doch die junge Frau wich vor ihm zurück. “Ist schon gut,” meinte er. “Du musst es uns nicht erzählen. Am besten ruhen wir uns jetzt aus und versuchen zu schlafen; es ist spät geworden. Wir haben morgen einen langen Ritt vor uns.”
“Sie wird uns begleiten?” fragte Salia.
“Wenn sie das möchte,” antwortete Cyneric. “Wir kehren nach Gortharia zurück, der Hauptstadt von Rhûn. Wir geben uns als Soldaten aus, weshalb uns niemand aufhalten oder behelligen wird. Du kannst mit uns gehen, Zarifa.”
“Ich weiß nicht recht,” erwiderte sie. “Ich... ich habe hier niemanden mehr, doch ich kenne auch in Gortharia niemanden.”
“Wenn wir in der Hauptstadt angekommen sind, kann ich dir weiter helfen und dir vielleicht eine Unterkunft besorgen,” fuhr Cyneric fort. “Bleibst du in Gorak, bist du außerhalb meiner Reichweite und auf dich alleine gestellt.” Er machte eine Pause und stand auf. Draußen war die schmale Sichel des Neumondes zu sehen, die sich über den umliegenden Bergen von Gorak erhob. “Natürlich werde ich dich zu nichts zwingen. Am besten schläfst du eine Nacht darüber, und triffst morgen deine Entscheidung. Unser Zimmer hat drei Betten - du kannst dir eines aussuchen.”
Zarifa nickte langsam, sagte jedoch nichts.
Sie entschied sich für das Bett direkt unterhalb des Fensters. Salia löschte das Licht der kleinen Öllampe, die über dem Tisch hing, und alle drei legten sich schlafen. Am folgenden Tag würde sich zeigen, wie Zarifas Entscheidung aussehen würde...
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Re: In den Straßen von Gorak
« Antwort #6 am: 6. Jan 2018, 21:44 »
Zarifa legte sich in das Bett direkt neben dem Fenster. Sie überlegte, dass sie lange nicht mehr so bequem gelegen hatte. Es war zwar ein komplett gewöhnliches und an allen gängigen Standards gemessen vermutlich eher unterdurchschnittliches Bettgestell, doch im Vergleich zu dem Boden einer Höhle oder den fast nur aus Holz bestehenden Betten in Radomirs Anwesen, war dies ein wahrer Traum. Und doch konnte die junge Frau nicht einfach ruhig und entspannt liegen. Die Ereignisse der letzten 24 Stunden brannten wie Narben in ihrem Gedächtnis. Wie konnte so viel überhaupt in nur so kurzer Zeit passieren? Die Ereignisse liefen vor ihrem geistigen Auge ab, ohne dass Zarifa es stoppen konnte:
Alvar, der sie zunächst aus der Zelle in Radomirs Anwesen befreite und anschließend in den Bergen seinen „verdienten Lohn“ einforderte. Zarifa erinnerte sich, wie sie um Hilfe geschrien und Alvar angefleht hatte, sie endlich gehen zu lassen. Doch Alvar hatte nur wie im Wahn gelacht und sie schließlich halb bewusstlos in den Bergen zurückgelassen. Zarifa erinnerte sich zurück an das Gefühl der Leere und der Hoffnungslosigkeit, dass sie ergriffen hatte. Es schien keinen Ausweg aus dem Elend zu geben – bis auf den Tod. Zarifa dachte an ihre Wanderung durch das Gebirge zurück. Wie sich in ihrem Kopf mehr und mehr der Entschluss festigte, sich von einem Abhang zu stürzen, nur um die nicht enden wollende Flut an schmerzlichen Erinnerungen irgendwie zu stoppen. Wie sie dann jedoch kurz vor dem Absprung den Entschluss fasste, lieber Radomir statt sich selber zu töten. Und wie durch ein Wunder, war es ihr tatsächlich gelungen. Sie hatte Radomir einen Dolch mitten ins Herz gerammt. Doch nur eine Sekunde später musste sie Alvar wieder in die Augen sehen. Und sie hatte feststellen müssen, dass auch Radomirs Tod nicht das Ende des Leids gewesen war. In Panik war sie aus Radomirs Zimmer geflohen und direkt in eine Falle gelaufen. Zarifa erinnerte sich, wie sie den unausweichlichen Tod akzeptiert und sogar willkommen geheißen hatte. Denn wenn sie tot gewesen wäre, hätte sie Alvar nie wieder sehen müssen.
Doch dann war Cyneric aufgetaucht und hatte sie gerettet. Einfach so? Hatte er ihr damit überhaupt einen Gefallen getan? Zarifa hatte Radomir getötet und damit Ziads und Tekins Tod gerächt. Was gab es für sie auf dieser Welt denn noch zu tun? Wofür lohnte es sich noch zu leben? Es gab niemanden mehr, dem Zarifa nahestand. Niemanden mehr, dem sie Vertrauen konnte. Es gab... Cyneric?
Zarifa dachte weiter nach. Was genau machte sie hier eigentlich? Wieso war sie hier? Weil Cyneric es so wollte? Weil sie keine andere Wahl hatte? Oder hatte sie die etwa doch? Radomir war Tod, oder etwa nicht? Was genau sollte Zarifa also davon abhalten, dahin zu gehen, wo sie hingehen wollte? Oder wollte sie etwa genau hier sein? Immerhin hatte Cyneric sie wirklich gerettet. Und bisher hatte er sich ihr gegenüber durch und durch freundlich verhalten. Er hatte ihr zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder eine vernünftige Mahlzeit ermöglicht. Und doch kannte sie ihn eigentlich gar nicht. Warum sollte sie mit ihm mitgehen? War sie alleine nicht besser dran? War sie nicht ihr ganzes Leben lang besser dran gewesen, wenn sie auf sich allein gestellt war? Hatte all das Elend nicht eigentlich nur damit angefangen, dass sie begonnen hatte, sich für andere Menschen einzusetzen?
Zarifa blickte auf das einzige Fenster in diesem Zimmer. Es war so nahe. Sie könnte einfach rausklettern und verschwinden, bevor sie jemand aufhalten konnte. Cyneric und Salia schliefen mit Sicherheit schon. Sie könnte einfach verschwinden und sich hier in Gorak ein neues Leben aufbauen, genau wie sie es in Umbar getan hatte. Radomir und Kazimir sowie der Großteil der Wachen und Bediensteten waren Tod. Man würde gewiss nicht nach ihr suchen. Sie konnte sich einfach irgendwo in der Stadt ein Zelt aufbauen, sich eine Mahlzeit stehlen und diese in aller Ruhe genießen. Bis auf das schlechte Wetter gäbe es keinen Unterschied zu Umbar. Doch auch das ließe sich irgendwie ertragen. Wäre das nicht herrlich? Einfach nur frei sein, eine vernünftige Mahlzeit im Bauch haben und den Rest des Tages faulenzen. Viel mehr wollte Zarifa doch gar nicht. Und es war niemand mehr in der Stadt, der sie daran hindern würde... oder?
Wie ein Blitz durchfuhr Zarifa erneut der Gedanke an Alvar und mit ihm auch die Bilder des Missbrauchs und des Verrats. Sie presste ihre Hände auf die Augen. Sie wollte diese Bilder nicht mehr sehen. Doch je angestrengter sie versuchte, an etwas anderes zu denken, desto deutlicher wurden die Bilder, die in ihr Abscheu, Verachtung und Trauer auslösten. Alvar war noch am Leben. Und er war irgendwo in der Stadt. Oder war er vielleicht doch in dem brennenden Anwesen umgekommen? Irgendwie konnte Zarifa das nicht so recht glauben. Es schien fast, als könnte sie spüren, dass Alvar noch am Leben war. Konnte sie wirklich frei und unbeschwert in der Stadt leben, in der ihr Vergewaltiger frei herumlief? Selbst wenn Alvar sie vielleicht nicht explizit suchen würde, so konnte sie sich wohl kaum wohlfühlen, solange sie wusste, dass er in der Nähe war. Wie sollte sie vergessen, was geschehen war, wenn sie so nahe am Tatort und noch viel näher am Täter war? Sie würde nicht ruhig schlafen können. Sie würde keine Sekunde genießen können, weil die Bilder und Gedanken sie weiter verfolgen würden. Die Bilder von Fingern, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. Die Gedanken an Hilfeschreie, die von niemanden gehört wurden. Der Gedanke, dass der Tod besser war als das hier.
Ein zahnloses Grinsen tauchte vor Zarifas geistigem Auge auf. Tränen schossen ihr ins Gesicht. Sie wollte doch einfach nur ein ganz normales Leben führen. Wieso gelang ihr das nicht? Wieso wurde ausgerechnet sie immer wieder Opfer von Missbrauch, Vergewaltigung und Verrat? Oder war es in Wahrheit nicht nur sie? Waren es in Wahrheit viel mehr Menschen, die nur nicht gehört wurden, weil die Mächtigen sie rechtzeitig zum Schweigen brachten?
Zarifa schob den Gedanken beiseite. Wen kümmerte das im Augenblick? Es ging hier darum, wie sie es schaffen konnte, sich trotz allem was ihr widerfahren war, wieder ein normales Leben aufzubauen. Oder zumindest das, was Zarifa sich als ein normales Leben vorstellte. Vielleicht konnte sie dahin zurückkehren, wo für sie alles angefangen hatte? Zurück nach Umbar? Es gab doch bestimmt Wege, wie man unkompliziert nach Umbar gelangen konnte. Man brauchte nur genug Geld und das ließe sich leicht auftreiben. In Umbar hatte sie die mit Abstand längste Zeit ihres Lebens größtenteils unbeschwert vollbracht. Und außerdem war das Wetter dort eh viel besser als hier. Warum also nicht einfach zurückkehren?
Zarifa erinnerte sich zurück, wieso sie damals die Stadt verlassen hatte. Sie war als Sklavin von Fürst Hasael von Umbar an Fürst Radomir von Gorak verkauft worden. Doch wie hatte Hasael sie eigentlich verkaufen können? Abermals schoss ein Name wie ein Blitz in Zarifas Gedächtnis: Yasin. Auch Yasin war noch am Leben. Derjenige, dessen Verrat alle weiteren Ereignisse ausgelöst hatte. Yasin hatte Zarifas Vertrauen gewonnen und sie anschließend an Hasael verraten. Alles was er dafür von Hasael verlangt hatte war...
Erneut tauchten schreckliche Bilder vor Zarifas innerem Auge auf. Bilder von Fingern, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. Gedanken an Hilfeschreie, die von niemanden gehört wurden. Der Gedanke, dass der Tod besser war als das hier. Auch Yasin war noch am Leben. Genau wie bei Alvar, spürte die junge Frau das irgendwie. Wie sollte sie jemals wieder ein unbeschwertes Leben führen, wenn diese Leute noch am Leben waren? Erneut schossen Tränen in die Augen der jungen Frau. Egal in welche Richtung sie dachte, ihre Gedanken endeten unweigerlich am gleichen Punkt...
Ein zahnloses Grinsen tauchte vor Zarifas geistigem Auge auf. Sie erinnerte sich zurück an die Nacht, in der sie zum ersten Mal erfahren hatte, dass seelischer Schmerz viel schlimmer war als körperlicher Schmerz. Sie war gerade mal 12 Jahre alt gewesen und hatte es im Laufe der Zeit beinahe verdrängen können. Doch in letzter Zeit erinnerte sie sich immer wieder an diese Nacht zurück. Als sie wegen Diebstahls in einer Zelle hockte und dann mitten in der Nacht von den Wachen...
Zarifa verpasste sich nun selber eine Ohrfeige. Sie wollte nicht daran zurückdenken. Sie wollte nicht an Ziad denken. Sie wollte nicht an Tekin denken. Sie wollte nicht hier herumliegen und nur ihrer eigenen Verzweiflung nachhängen. Doch was sie auch versuchte, es hörte nicht auf. Finger, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. Hilfeschreie, die niemand hörte. Blutspritzer auf ihrer Kleidung. Ziads Leiche. Der Geschmack von Blut in ihrem Mund. Tekins abgetrennter Kopf vor ihrem Gesicht. Ein zahnloses Grinsen. Eine Hand, die langsam ihr Kleid hochzog. Peitschenhiebe, die sie nicht verdient hatte. Schallendes Gelächter im Hintergrund.
Was tat sie hier eigentlich? Sie befand sich in einem Zimmer zusammen mit einem älteren Mann, der eine Art Soldat oder Wachmann zu sein schien, und einer Frau, die Zarifa nicht erzählen wollte, warum sie hinter Radomir her war. Wieso war sie hier? Sie war aus der simplen Notsituation und aus Mangel an Alternativen mit Cyneric mitgegangen, doch jetzt hier im Bett liegend, fiel ihr auf wie bescheuert das Ganze war. Sie kannte diesen Mann nicht. Sie wusste nichts über ihn. Er war zwar bisher sehr freundlich gewesen, doch Yasin hatte bewiesen, dass das überhaupt nichts heißen musste. Er hatte sich damals ihr Vertrauen erschlichen, um einen Sklavenhandel einzufädeln. Hatte Cyneric ähnliches vor? Er wollte sie mit nach Gortharia nehmen. Wieso? Um sie zu verkaufen? Welchen Grund hätte er sonst? Vielleicht spielte er ihr den freundlichen alten Mann nur vor. Er hatte sie bereits betrunken gemacht. Er selbst hatte extra nichts getrunken, damit Zarifa etwas bekam. Sie musste hier weg, bevor es noch schlimmer wurde. Sie musste irgendwo an einen stillen Ort und über alles in Ruhe nachdenken. Weg von den Fremden. Weg von alten Männern, die sie nur missbrauchen wollten. Sie musste sofort raus aus diesem Zimmer.
Zarifa blickte erneut zu dem einzigen Fenster in diesem Raum. Es war groß genug, dass sie locker hindurchpassen würde. Jetzt oder nie! Zarifa stand auf. Dass Bett knarzte leicht, doch das viel der jungen Frau gar nicht auf. Sie war schon halb auf den Fenstersims geklettert, als plötzlich eine Stimme hinter ihr ertönte:
„Du hast dich also entschlossen zu gehen?“
« Letzte Änderung: 29. Jan 2018, 00:15 von Rohirrim »
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Char Zarifa in Rhûn

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Unter vier Augen
« Antwort #7 am: 7. Jan 2018, 14:57 »
Cyneric schlug die Augen auf. Für einen Augenblick fühlte er sich orientierunglos, wusste nicht wo er war. Dann hörte er Salias leichten, regelmäßigen Atem im Bett zu seiner Rechten und seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, die in dem kleinen Raum herrschte, in dem sie übernachteten. Er blieb liegen und warf so leise es ging einen Blick in Richtung des Fensters, wo das Mädchen schlief, das er in Radomirs Palast getroffen hatte. Zarifa. Gegen das Licht des Mondes sah er ihre schmale Gestalt, die sich unruhig bewegte. Sie musste noch wach sein. Und tatsächlich stand sie wenige Momente später aus dem Bett auf, beinahe geräuschlos, bis auf ein leichtes Knarzen des Holzes. Zarifa öffnete das Fenster und war schon halb hindurch, als sich Cyneric durchgerungen hatte, etwas zu sagen.
"Du hast dich also entschlossen, zu gehen?"

Die Frage stand im Raum. Zarifa war genau in der Position erstarrt, die sie eingenommen hatte, als Cyneric gesprochen hatte. Er hatte die Frage vorsichtig und ohne negativen Klang gestellt. Innerlich drängte ihn sein Instinkt dazu, aufzuspringen und die junge Frau zurück ins Zimmer zu ziehen, doch etwas hielt ihn davon ab. Etwas sagte ihm, dass er in jenem Augenblick nichts Falscheres tun konnte. Also tat er nichts weiter, als sich langsam im Bett aufzusetzen und die Füße über die Kante baumeln zu lassen. Es war kühl geworden, da das Fenster noch immer offen war. Cyneric legte seine Decke über seine Beine und wartete auf eine Antwort.
Zarifa hatte bislang keine Reaktion gezeigt. Doch nach einer längeren Zeit des Schweigens hörte Cyneric schließlich, wie sie einen tiefen Seufzer von sich gab und er konnte sehen, wie sich die Schultern des Mädchens senkten. Sie ließ das Fenster los, das sie mit dem linken Arm offen gehalten hatte.
"Ja. Ich werde jetzt gehen," antwortete sie leise.
"Wenn du gehen möchtest, werde ich dich nicht aufhalten," wiederholte Cyneric das, was er ihr bereits am Tag zuvor gesagt hatte. Ihm fiel etwas ein und sogleich sprach er den Gedanken aus: "Ich habe gesehen, wie du auf Alvar reagiert hast. Etwas ist zwischen euch beiden vorgefallen, und du hast Angst, dass ich dir dasselbe antun würde. Ist es nicht so?"
Zarifa warf ihm einen Blick zu, der beinahe nach Schuldbewusstsein wirkte. Ihre Augen huschten zwischen dem Fenster und dem Boden vor Cynerics Füßen hin und her. Es war offensichtlich, dass sie gerade einen inneren Widerstreit mit sich selbst austrug. Schließlich ballte sie die rechte Hand zur Faust und ihr Blick füllte sich mit unterdrückter Wut. "Ich... glaubte nicht, dass du anders als er sein könntest. Du bist freundlich, aber das waren andere auch. Ich kann das nicht mehr." Sie hatte hastig und mit Nachdruck gesprochen. Als wollte sie die Worte so rasch wie möglich loswerden. "Ich werde gehen. Jetzt."
"Zarifa. Es steht dir frei zu gehen," sagte Cyneric. Die junge Frau hatte sich noch immer nicht weiter aus dem Fenster bewegt. Irgend etwas schien sie dazu zu bringen, ihm trotz ihres großen Misstrauens zuzuhören. "Lass mich dir nur eines sagen: Ich habe dir nicht geholfen, weil ich etwas von dir will, oder eine Gegenleistung erwarte. Ich glaube dir, dass du viel Schlimmes von Männern erlebt hast. Und im Gegenzug möchte ich, dass du mir glaubst, dass ich keiner von ihnen bin. Ich könnte jemandem wie dir niemals etwas antun. Genausowenig wie ich Salia hier etwas antun könnte. Ihr beiden seid wie meine Tochter, nach der ich schon so lange suche." Er machte eine Pause und fragte sich, ob Zarifa ihm noch zuhörte oder schon ihren Abstieg über die äußere Wand des Hauses plante. Also fügte er nur noch einen Satz hinzu: "Geh nur, wenn du gehen musst. Ich nehme es dir nicht übel. Doch wenn du bleibst, kann ich dir vielleicht helfen, nicht mehr in Situationen zu geraten, wo du Männern wie Alvar ausgeliefert bist."
Zarifa überraschte ihn damit, dass sie rasch ihr Bein durch das Fenster zog, es hinter sich schloss und mehrere Schritte auf ihn zu kam. "Sprich nicht von diesem... Vergewaltiger. Ich will seinen Namen nie mehr hören. Ich weiß, dass er noch am Leben ist. Und ich wünschte mir, er wäre es nicht."
Cyneric wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Dass Alvar Zarifa vergewaltigt hatte, war ihm spätestens jetzt klar. Er ärgerte sich darüber, den Mann so falsch eingeschätzt zu haben, denn als Cyneric Alvar kennengelernt hatte, hatte er ihn für einen vernünftigen Menschen gehalten. Ehe er noch recht verstand, was er da sagte, antwortete er: "Wenn ich ihn wiedersehe, werde ich ihn dafür umbringen, was er dir angetan hat."
Zarifa schien diese Aussage beinahe ebensosehr zu schockieren, wie sie Cyneric schockierte. Hier saß er und versprach einem jungen Mädchen, einen anderen Menschen kaltblütig umzubringen. Und er stellte fest, dass er es tatsächlich ernst meinte.
"Das würdest du tun?" stammelte Zarifa. "Aber... das würde nicht endgültig helfen. Da sind so viele mehr, die wie er sind. Es wird immer neue geben. So wie Yasin. Auch er ist noch am Leben."
"Wer ist er? Hat er... dasselbe getan wie Alvar?"
Zarifa setzte sich auf den Boden, Cyneric gegenüber. Als er sah, dass sie zitterte, legte er vorsichtig seine Decke um ihre Schultern. Er gab dabei acht, der jungen Frau nicht zu nahe zu kommen. Sie schniefte und nickte.
"Er ist ein reicher Mann aus Umbar, der mich an Radomir verkauft hat. Und er..."
"Ist schon gut. Du musst es nicht sagen. Es ist schrecklich genug, was dir passiert ist, Zarifa. Niemand sollte so etwas durchmachen müssen." Er saß auf seiner Bettkante, ihr gegenüber, die Hände auf die Knie abgestützt. Und als er sie dort sitzen sah, gehüllt in die dünne Decke, konnte er nicht anders, als seine Tochter vor sich zu sehen. Zarifas schmales Gesicht verschwamm und an seiner Stelle erschien das Gesicht Déorwyns, deren blonde Haare ihr wie ein Wasserfall über die Schultern fielen. Komm und finde mich, schienen ihre Lippen zu formen. Cyneric blinzelte und sah wieder Zarifa vor sich, die einen weichen Ausdruck in den Augen hatte. Ein verdächtiges Glitzern war dort zu sehen, doch noch flossen keine Tränen.
"Du kommst also aus Umbar, nicht wahr?" fragte Cyneric. "Wie ist es dort? Ich bin nie so weit in den Süden gekommen."
"Es ist... nichts besonderes. Eine Stadt voller Reicher, die sich an den Armen noch mehr bereichern. Genau wie hier auch. Nur ist es etwas wärmer und die Menschen sprechen eine andere Sprache. Aber sie sind trotzdem genauso grausam wie hier." Sie fing an, von ihrem Leben vor Radomir zu erzählen. Erst langsam und zögerlich, dann immer befreiter. Cyneric erfuhr von Zarifas Leben auf den Straßen von Umbar und wie sie jeden Tag neu darum hatte kämpfen müssen, genug zu Essen zu haben. Er hörte von Ziad, dem einzigen Mann in ihrem Leben, dem sie vertraut hatte und von der Zeit, als es ihr vergleichsweise gut gegangen war. Und Zarifa sprach schließlich auch davon, wie es sie bis nach Gorak verschlagen hatte und wie sie von Radomir und einem Mann namens Kazimir misshandelt worden war. Sie wiederholte immer wieder, dass sie Albträume von Fingern hatte, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. Und Cyneric war froh, dass er sich bislang von ihr fern gehalten hatte.

Eine Pause trat ein, nachdem Zarifa geendet hatte. Nur das leise Schnarchen Salias war zu hören. Schließlich sagte Cyneric: "Dir ist großes Unrecht widerfahren, meine liebe Zarifa. Ich weiß nicht, wie sich das wieder gut machen lässt - ob das überhaupt möglich ist. Doch es gibt einige Dinge, die ich tun kann, um dir das Leben, was vor dir liegt, etwas einfacher zu machen, wenn du mich lässt. Ich verstehe, dass du Männern misstraust. Dennoch hoffe ich, dass es mir gelingt, dich davon zu überzeugen, dass ich dir nichts Böses will. Ich kann dir helfen, in Gortharia noch einmal ganz neu anzufangen, und kann dir zeigen, wie du dich vor Männern schützen kannt, die dich berühren wollen, gegen deinen Willen. Doch ich werde dich auch nicht dafür verurteilen, wenn du jetzt gehst. Ich bin dir dankbar, dass du mir erzählt hast, was dir zugestoßen ist, und dass du mir bis jetzt zugehört hast."
Zarifa gab ihm zunächst keine Antwort darauf. Noch immer saß sie im Schneidersitz auf dem Teppich, der den Boden des Schlafraumes bedeckte. Sie schien angestrengt über alles nachzudenken, worüber sie gesprochen hatten.
"Du hast von einer Tochter gesprochen. Mehr als einmal. Wer ist sie?" fragte die junge Frau schließlich.
"Ihr Name war Déorwyn," antwortete Cyneric. "Sie war sechzehn, als ich sie zuletzt gesehen habe. Ehe ich in den Krieg ritt. Denn als ich wieder heimkehrte, war sie fort, und bis vor wenigen Monaten hielt ich sie für tot. Doch jetzt weiß ich, dass sie dort draußen ist, und nur darauf wartet, dass ich sie finde. Und deswegen bin ich hier. Deswegen habe ich dabei geholfen, Radomir zu töten. Weil ich zur Belohnung für meine Hilfe einen Hinweis erhalten werde, wo sich meine Tochter aufhält."
"Und weshalb hilfst du dann mir? Ich kann dir keinen solchen Hinweis geben."
"Weil... weil ich mir vorstelle, dass du sie sein könntest. Ich kann nicht anders. Wenn ich dich sehe, oder jemand, der ihr so ähnlich ist wie du, dann stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn sie in deiner Lage wäre, und jemanden wie mich trifft, der ihr helfen kann, aber es nicht tut. Wie kann ich da einfach nur zusehen und nichts tun? Du bist ebenfalls jemandes Tochter, Zarifa. Und ich bin mir sicher, dein Vater wäre mir dankbar dafür, dass ich dir meine Hilfe anbiete. Und gleichzeitig hoffe ich, dass meine Tochter ebenso Menschen wie mich trifft, die ihr helfen. Verstehst du, was ich damit sagen will?"
"Ich... ich glaube schon," antwortete Zarifa langsam. "Aber... wieso willst du, dass ich mit dir nach Gor..tharia gehe? Wenn du doch in Wahrheit nach deiner Tochter suchen willst?"
"Nun, die Anworten, die ich suche, sind dort, in Gortharia. Und wenn wir dorthin kommen, kann ich dir helfen, eine Unterkunft zu finden und dir vielleicht ein paar Leute vorstellen, die dir ebenso helfen können wie ich. Selbst wenn ich die Stadt vielleicht bald verlasse. Es ist wichtig, Freunde zu haben, Zarifa. Wir können im Leben nicht alles alleine schaffen."
"Wäre es nur so," erwiderte Zarifa. "Ich will auf niemanden angewiesen sein."
"Du kannst nicht allen misstrauen. Nicht alle Menschen sind schlecht. Ich hoffe, dass du mir das eines Tages glauben kannst."
"Vielleicht eines Tages."

Zarifa war schließlich aufgestanden, die Decke noch immer um ihre Schultern gehüllt. Cyneric beobachtete sie dabei, wie sie im Zimmer auf und ab ging und nachdachte. Er wusste, dass sie ihm noch nicht vollständig vertraute. Also wartete er ab und übte sich in Geduld. Ihm fiel auf, dass diese Nacht wahrscheinlich die erste war, in der Zarifa genug Zeit hatte, um über ihre nächsten Schritte in Ruhe nachzudenken. Bislang war ihr Leben von Schmerz und Rache geprägt gewesen, doch jetzt konnte sie sich frei darüber entscheiden, wie es weitergehen sollte.
"Ich denke... ich denke, ich werde vorerst mitkommen. Nach Gortharia. Hier in Gorak will ich nicht länger bleiben."
Cyneric atmete auf. Darauf hatte er gehofft. "Ich danke dir für dein Vertrauen, Zarifa."
"Das heißt nicht, dass ich dir restlos vertraue."
"Ich verstehe."
"Gut." Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte ihn herausfordernd an.
"Einen letzten Rat habe ich noch für dich," sagte er und ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht.
"So?"
"Um diese Uhrzeit sollten junge Frauen in deinem Alter längst tief und fest schlafen. So wie es Salia hier vorbildlich tut."
"Du bist nicht mein Vater," antwortete sie, doch er sah, dass sich ihre Mundwinkel verdächtig angehoben hatte. Genau das hatte er beabsichtigt.
"Ich weiß. Doch wenn ich es wäre, würde ich sagen: Ab ins Bett mit dir."
"Vermutlich ist das eine gute Idee," gab sie zurück. Die Decke nahm sie mit.

Am folgenden Tag brachen sie frühmorgens auf und machten sich auf den Weg nach Gortharia.


Cyneric, Zarifa und Salia auf die Ebene westlich des Meeres von Rhûn
« Letzte Änderung: 15. Jan 2018, 15:24 von Fine »
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Re: In den Straßen von Gorak
« Antwort #8 am: 5. Jul 2018, 23:38 »
Ceyda aus den umliegenden Bergen von Gorak

Ceyda konnte in der Nacht nicht wirklich schlafen. Das lag vermutlich daran, dass es sich so anhörte, als würde draußen ein Krieg toben. Sie und die Wachen von Rhiannon, welche sie auf dieser Reise begleiteten, waren gerade dabei gewesen, zwei Zimmer im Berghorn zu beziehen, als Kampfgeräusche an ihre Ohren gedrungen waren. Diese schienen vom Palast zu kommen und Ceyda hatte sich erinnert, das kurz zuvor alle Wachen Goraks zum Fürsten gerufen worden waren. Daraufhin hatten Rhiannons Wachen darauf bestanden, dass Ceyda sich in ihr Zimmer zurückzog, während sie der Sache auf den Grund gingen.Nur Teijo, der jüngste von Ceydas Begleitern, wurde zu ihrem Schutz zurückgelassen und bewachte nun die Tür.
Ceyda hatte es inzwischen aufgegeben, zu schlafen und stattdessen angefangen, sich aus Langeweile in dem Zimmer umzusehen. Es gefiel ihr nicht, alleine hier zurückgelassen worden zu sein, ohne zu wissen, was da draußen vor sich ging. Doch andererseits, war es hier drin vermutlich wesentlich sicherer als draußen auf den Straßen. Und kämpfen konnte sie ohnehin nicht. Von daher war es wohl das beste, dass sie sich jetzt hier in diesem Zimmer langweilte.
Sie zündete eine Kerze an, um besser sehen zu können. Dabei fielen ihre Augen auf etwas in der Wand, was ihr zuvor noch nicht aufgefallen war. Ein Vandale hatte dort ein paar Worte eingeritzt. Da sie ohnehin nichts besseres zu tun hatte, ging näher ran und versuchte die Worte zu entziffern.

„Die Mutter ist 21 Jahre älter als ihr Kind. In 6 Jahren wird das Kind 5mal jünger sein als die Mutter.
Frage: Wo ist der Vater“

Was zur Hölle? Ceyda dachte angestrengt nach. Sollte das bloß ein Scherz sein, oder verbarg sich dahinter tatsächlich ein Rätsel? „Die Mutter muss aktuell 21 Jähre älter als ihre Kind sein und in fünf Jahren dann fünf mal so alt wie ihr Kind, Das bedeutet auf jeden Fall, dass die Mutter eher jung sein muss, weil der aktuelle Altersunterschied ansonsten höher ausfallen müsste. Aber...“
Es klopfte laut an der Tür.
„HERRIN KONTIO! DAS ANWESEN DES FÜRSTEN WURDE NIEDERGEBRANNT. ES HEIßT, RADOMIR SEI TOT!“
„WOHER SOLL ICH DENN WISSEN, WO DER VERDAMMTE VATER IST?“
„WAS?“
„WAS?“
Ceyda schüttelte den Kopf. Erst jetzt wurde ihr klar, was sie gerade gehört hatte. Sie warf sich schnell ihren Morgenmantel über und öffnete die Tür.
„Was erzählst du da?“, fragte sie so ruhig, wie sie es in diesem Moment nur konnte.
„Die anderen sind eben zurückgekehrt“, begann Teijo. „Sie haben es gesehen. Eine riesige Meute hatte sich vor Radomirs Anwesen versammelt und ihm die Hölle heiß gemacht. Dann fingen auch die Sklaven an zu rebellieren und noch ehe die Anderen genau wussten, was passiert war, brannte das Anwesen bereits und ein Kampf war ausgebrochen. Auf einmal war es, als wäre die ganze Stadt durchgedreht.“
„Und Radomir ist tatsächlich tot?“
„Das wissen wir nicht sicher. Aber das Anwesen ist komplett in sich zusammengestürzt und die ganze Stadt wollte ihn tot sehen. Wenn er in dem Anwesen war, dann lebt er jetzt nicht mehr.“
„Die ganze Stadt wollte ihn tot sehen? Was hat Rhiannons Bruder hier nur gemacht, um etwas Derartiges auszulösen?“
„Das würde ich auch gerne Wissen.“
„Wie spät ist es jetzt?“
„Fast vier Uhr.“
„Okay! Dann würde ich sagen, wir versuchen jetzt alle noch ein wenig Schlaf zu bekommen. Morgen früh machen wir uns dann gemeinsam auf zum Anwesen. Ich will sehen, ob wir irgenetwas tun können. Und ich muss wissen, ob Radomir wirklich tot ist“, erklärte Ceyda.
„Alles klar. Ich wünsche ihnen eine Gute Nacht, Herrin Kontio“, gab Teijo zurück.



Ceyda wachte schon früh am Morgen auf. Ihr Blick fiel dabei sofort auf das seltsame Rätsel an der Wand. „Bestimmt nur ein dummer Scherz“, dachte sie, während sie aufstand und begann, sich anzuziehen. Sie hörte bereits, wie zwei von Rhiannons Leuten sich vor ihrer Tür unterhielten. Vermutlich hatten sie es nicht lassen können und die ganze Nacht über ihr Zimmer bewacht. Einerseits war sie dankbar dafür, dass diese Männer so gut auf sie aufpassten, doch andererseits fühlte sie sich ein wenig unwohl bei dem Gedanken, 'Untergebene' zu haben. Sie selbst war einst nur die Tochter eines Bauern gewesen und wusste, wie es sich anfühlte, wenn Höhergestellte auf einen hinabsahen. Und jetzt war sie selbst eine solche Höhergestellte.
„Aber ich bin anders!, sagte Ceyda zu sich selbst. „Ich werde niemals auf Leute hinabsehen, nur weil sie dem Rang nach unter mir stehen. Außer vielleicht auf Zwerge. Aber das hat dann mehr etwas mit der Körpergröße zu tun.“.
Ceyda gluckste über ihren eigenen Scherz. Und gleichzeitig nahm sie sich vor, den Wachen von Rhiannon deren formelle Ausdrucksweise ihr Gegenüber auszutreiben. Sie mochte es nicht, mit „Herrin Kontio“ angesprochen zu werden. Zumal sie bei dem Klang ihres Nachnamens immer an Jari denken musste. Und dabei war sie doch gerade nach Gorak gefahren, um sich ein wenig abzulenken.
Ein paar Minuten später hatte Ceyda sich fertig gemacht und begab sich nach draußen, wo Rhiannons Wachen bereits auf sie warteten. Gemeinsam gingen sie nach unten in das Lokal, wo zwei junge Frauen und ein mittelalter Mann gemeinsam frühstückten. Ceyda glaubte, die jüngere Frau an dem Tisch schon einmal gesehen zu haben, konnte sie im Moment jedoch nicht einordnen. Und noch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, hatten sie das Lokal schon verlassen.
Die Straßen sahen so aus, als hätte ein heftiger Sturm die Stadt heimgesucht. Fenster waren zersplittert, Gegenstände lagen wild verstreut auf dem Boden und an vielen Stellen hatten sich Wassermengen gebildet. Letzteres diente wohl dem Löschen von Bränden, überlegte Ceyda, die in der Ferne immer noch Rauch aufsteigen sah. Es schien, als hätte sich die Situation immer noch nicht komplett beruhigt, auch wenn die meisten Stadtbewohner im Moment wohl Schutz in ihren Häusern suchten oder noch schliefen. Jedenfalls war es um sie herum einigermaßen ruhig. Und die paar Menschen, die ihnen begegneten, schienen sich nicht großartig um sie zu scheren. Ceyda hatte Rhiannons Wachen angewiesen, sich unauffällig zu kleiden und nur kleine Waffen mitzunehmen, die sie verbergen konnten. Sie befürchtete, dass Männer in Wachmontur in Gorak zurzeit nicht allzu gut ankamen.
Ein paar Minuten später erreichte die Gruppe das niedergebrannte Anwesen von Fürst Radomir. Und es dauerte nicht lange, bis Ceyda fand, wonach sie gesucht hatte. Er befand sich vor dem Eingangstor... Ausgezogen und an eine Holzkonstruktion gefesselt blickte die Leiche des ehemaligen Fürsten von Radomir auf Ceyda hinab. Sie konnte nicht hinsehen. Egal wie schrecklich dieser Mann zu Lebzeiten gewesen war... So etwas hatte im Tod niemand verdient. Ceyda wusste nicht recht, was sie denken sollte. Nach allem was sie gesehen und gehört hatte, war dieser Mann die Schlimmste Sorte Herrscher gewesen, die sie sich vorstellen konnte. Aber war dieses Chaos wirklich die bessere Alternative? Sie blickte auf das zusammengestürzte Anwesen und die unzähligen Leichen, die sich drumherum und vermutlich auch drinnen befanden. War es das wirklich wert? Gab es keinen besseren Weg, einen Tyrann abzusetzen?

Ceyda ins Anwesen der Kontios in Gortharia
« Letzte Änderung: 23. Sep 2018, 01:08 von Rohirrim »
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