Valion, Ardóneth, Rinheryn und Areneth mit den Partisanen aus Minas TirithValion bekam nur undeutlich mit, was rings um ihn herum geschah. Jemand - er vermutete, dass es Ardóneth gewesen war - hatte ihn den ganzen Weg von den Mauern Minas Tiriths über den Pelennor bis zum Ufer des Anduins, einige Meilen nördlich von Osgiliath geschleppt, wo drei kleine Boote auf die Menschen gewartet hatten, die mit ihnen aus der Weißen Stadt entkommen waren. Man hatte Valion in eines der Boote bugsiert und sich dann seine Verletzungen angesehen. Den Dolch, den Gilvorn ihm in den Rücken gestoßen hatte, hatte Ardóneth bis jetzt an Ort und Stelle gelassen, damit die Blutung sich nicht noch verstärkte. Während der eiligen Überfahrt über den Großen Strom hatte sich jemand um die Wunde gekümmert, der sich auskannte. Ein alter Kriegsveteran der Waldläufer Ithiliens, wie Valion vermutete, der die Klinge schließlich entfernt und die Blutung mit einem dicken Verband gestoppt hatte. Denn Valion war trotz seines Zustandes nicht entgangen, um wen es sich bei ihren genau im richtigen Moment aufgetauchten Rettern handelte. Er hatte in Dol Amroth hin und wieder von den Partisanenkämpfern gehört, die im Schutze der dichten Wälder Ithiliens agierten und von den Waldläufern Gondors angeführt wurden, die beim Fall der Weißen Stadt nicht mit Faramir nach Norden geflohen waren, sondern in Ithilien in ihren verborgenen Stützpunkten geblieben waren.
Valion hatte sich den Rest des Weges mit großer Mühe dahingeschleppt, bis sie endlich in einem Versteck der Waldläufer angekommen waren, das sich in einer gut getarnten Höhle befand, die hinter einem großen Wasserfall lag. Dort endlich fand er etwas Ruhe, wenn auch keinen Schlaf. Der Schmerz in seinem Rücken hielt ihn wach. Seine drei Gefährten - Rinya und die beiden Geschwister aus Arnor - blieben in Valions Nähe und unterhielten sich leise, bis sich einer der Waldläufer Ithiliens näherte. Offenbar handelte es sich dabei um ihren Anführer. Inzwischen hatte sich Valions Wahrnehmung wieder soweit geklärt, dass er den Neuankömmling deutlich in Augenschein nehmen konnte. Es handelte sich um einen wettergegerbten Mensch, den er ungefähr zehn Jahre älter als sich selbst einschätzte.
„Ihr habt großes Glück, dass wir bei unserem Rückzug aus der Stadt so in Eile waren,“ begann der Mann, ohne sich die Mühe zu machen, sich vorzustellen. „Sonst hätten wir euch gewiss nicht erlaubt, ohne weiteres mit uns zu kommen. Doch jetzt, da wir etwas Zeit haben, habe ich einige Fragen an euch.“
„Nur zu,“ sagte Valion mühsam und richtete sich unter einigen Anstrengungen in eine aufrecht sitzende Position auf. „Lasst schon hören, guter Mann. Wir haben nichts zu verbergen.“
„Dann fangt am besten mit euren Namen an,“ forderte der Anführer der Waldläufer. „Ihr mögt vielleicht aussehen wie Gondorer, aber in diesen Zeiten kann man nicht vorsichtig genug sein. Wir haben allen Grund dazu, Fremden zu misstrauen.“
„Ich hoffe, Ihr könnt Euer Misstrauen ablegen, wenn Euch Gondor am Herzen liegt,“ mischte sich Rinya ein. „Ich bin Rinheryn von Morthond und dies ist Valion vom Ethir. Diese beiden dort sind Ardóneth und Areneth, deren Vater Argoleth einst Teil des Heeres von Gondor war. Seit einigen Jahren leben sie im Norden.“
„Nun, dies sind Namen, die mir nicht fremd sind,“ erwiderte der Waldläufer Ithiliens, und seufzte tief. „Also gut. Ich bin Damrod. Ich schätze, zumindest Duinhirs Töchterchen werde ich wohl vertrauen können. Und dich, Valion, habe ich schon einmal gesehen, während der Schlacht auf dem Pelennor, wo du und deine Schwester an der Seite eures Vaters auf den Mauern der Weißen Stadt kämpften. Herr Amlan ist ein guter Mann.“
„Das war er, bis er von dem Monster erschlagen wurde, dessen Klinge in Minas Tirith beinahe auch mein Leben gekostet hätte. Der Pfeil, der ihn davon abhielt, stammte wohl von dir, Damrod? Dafür bin ich dir etwas schuldig.“
„Ich wünschte nur, ich hätte besser gezielt und ihm ins Auge geschossen,“ antwortete Damrod verbittert. „Du tust recht daran, diesen Balkazîr als Monster zu bezeichnen. Er hat den Großteil meiner Leute auf dem Gewissen, denn entweder durch List oder Verrat fand er die Lage unseres Hauptstützpunktes unterhalb von Bâr Húrin heraus und richtete ein Blutbad an. Nur eine Handvoll Überlebender sind unter meiner Führung entkommen.“
„Dann war euer Auftauchen in Minas Tirith wohl kein Zufall,“ meinte Rinheryn.
„Ganz und gar nicht. Unser Ziel war die Befreiung der Zwangsarbeiter, doch genauso sehr wollten wir Balkazîr tot sehen. Doch wir sind nach der schweren Niederlage, die wir in Süd-Ithilien erlitten haben, einfach zu wenige geworden, um Mordor ernsthaft Schaden zuzufügen.“
Valion sah sich in der Höhle um, in der sie sich befanden. Ungefähr ein Dutzend Waldläufer von Ithilien waren dort mit unterschiedlichen Tätigkeiten beschäftigt, und nicht mehr als zehn ehemalige Zwangsarbeiter waren zu sehen. Damrod hatte also kaum dreißig Mann, die unter seinem Kommando verblieben waren. Damit ließ sich nicht viel ausrichten.
„Trotz allem sind wir euch äußerst dankbar für euer zeitiges Eintreffen in Minas Tirith,“ sagte Areneth.
„Im Ausgleich dafür wäre ich daran interessiert, zu erfahren, was euch dorthin verschlagen hat,“ entgegnete Damrod.
Es war Valion, der antwortete. „Im Auftrag des Truchsessen Imrahil jage ich den Verräter Gilvorn, der sich in vielerlei Verbrechen gegen Gondor schuldig gemacht hat. Er scheint jetzt zu einem von Arnakhôrs Günstlingen aufgestiegen zu sein.“
„Truchsess Imrahil,“ wiederholte Damrod mit einer Spur Verachtung in der Stimme. „Dieser Titel steht ihm nicht zu.“
„In Faramirs Abwesenheit brauchte Gondor einen neuen Anführer,“ versuchte Rinheryn zu erklären, doch Damrod winkte nur ab.
„Was hat Imrahil denn schon groß für Gondor getan? Den Sieg bei Linhir errangen sein Sohn und sein Heerführer, mit der glücklichen Hilfe der abtrünnigen Haradrim. Und als ich ihn um Unterstützung beim direkten Kampf gegen Mordor bat, den meine Leute nun schon seit drei Jahren unermüdlich führen, bestand seine Antwort daraus, ich solle mich an den neuen Fürsten von Harondor wenden. An diesen haradischen Emporkömmling! Hätte Imrahil uns die nötige Unterstützung gegeben, wäre Bâr Húrin vielleicht nicht gefallen und wir wären weiterhin in der Lage, Mordors Versorgungslinien empfindlich zu bedrohen. Doch dank Imrahils Zögern stehen wir nun vor dem Ende des Widerstands in Ithilien.“
„Solange ihr am Leben seid, lebt auch der Widerstand,“ hielt Rinheryn dagegen. „Mordors Heere mögen nun gegen die Bollwerke bei Linhir und am Gilrain anrennen, doch noch bedrohen die Rohirrim Saurons nördliche Flanke in Anórien. Erst vor wenigen Tagen wurde dort eine Schlacht geschlagen und eins Vorstoß nach Rohan verhindert. Der Vormarsch Mordors wird nicht ewig weitergehen. Die Menschen Gondors und Rohans werden ihn aufhalten, und Ihr könnt noch immer euren Teil dazu beitragen. Dieser Stützpunkt ist noch immer sicher, oder nicht?“
„So lange, bis ein neuer Verräter in unseren Reihen aufsteht,“ sagte Damrod finster. „In Bâr Húrin war ich mir so sicher, dass niemand die Lage des Versteckes verraten würde. Doch es scheint als habe mich mein Urteilsvermögen diesmal getäuscht.“
„Wir können uns nicht sicher sein, ob es wirklich Verrat war, der Bâr Húrin zu Fall brachte,“ warf ein junger Waldläufer ein, der offenbar ihr Gespräch mitangehört hatte. „Die Horden Mordors tauchten ohne Vorwarnung am Hauptzugang des Versteckes auf, doch ich habe niemanden unter ihnen gesehen, der sie dorthin geführt haben könnte.“
„Still, Glóradan,“ brachte Damrod den Waldläufer zum Schweigen. „Ich will nichts mehr über diesen verfluchten Tag hören. Sag den Männern, sie sollen die Streifzüge rings um den verbotenen Weiher verdoppeln und ihre Wachsamkeit verdreifachen. Wenn uns jemand hierher gefolgt ist, werden wir es schon bald wissen. Und... lass eine Flasche von dem Wein aus den unteren Höhlen in meinen Unterschlupf bringen.“
Glóradan eilte davon und auch Damrod entfernte sich, ohne sich zu verabschieden. Valion fand, dass man dem Waldläufer die langen Jahre des Krieges nur allzu sehr ansah. Damrod schien an die Grenzen seiner Belastbarkeit gelangt zu sein.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis Glóradan zurückkehrte. Offenbar hatte er seine Aufträge bereits erledigt. Er war einer der wenigen unter den Partisanen, der noch nicht von Hoffnungslosigkeit erfasst zu sein schien. Doch auch er schien den Ernst der Lage erkannt zu haben.
„Eigentlich hätte es alles ganz anders ablaufen sollen,“ sagte der junge Widerstandskämpfer niedergeschlagen. „Vor wenigen Wochen noch sah es so gut für uns aus. Wir hatten einige Erfolge beim Überfallen von Verstärkungstruppen Mordors zwischen Minas Morgul und Osgiliath gehabt und planten, den Rest der in Minas Tirith verbliebenen Gefangenen auf einen Schlag zu befreien. Der feindliche Kommandant, der damals noch das Sagen hatte, schien nicht imstande zu sein, etwas gegen uns zu unternehmen. Doch seit dieser Balkazîr da ist sind die Dinge mächtig schief gelaufen. Wir verloren Bâr Húrin und nahezu neunzig Prozent unserer Leute. Deshalb waren wir, die wenigen Überlebenden, dazu gezwungen, unseren Befreiungsplan in eine Verzweiflungstat umzuwandeln. Wir gingen rein, mit vollem Risiko, um die zu retten, die wir retten konnten. Denn wir brauchen mehr Kämpfer, um weiterhin ernsthaften Widerstand zu leisten. Dass wir Balkazîr bei dieser Gelegenheit nicht töten konnten ist wohl das, was Damrod endgültig die letzte Hoffnung geraubt hat.“
„Ich muss zugeben, ich habe schon zuversichtlichere Menschen als ihn gesehen,“ gestand Valion, der vorsichtig seinen verbundenen Rücken betastete. Die Wunde schmerzte noch immer, doch einer der beiden Heiler, die sich um die Verletzung gekümmert hatten, hatte ihm versichert, dass er Glück gehabt hatte. Die Klinge hatte keines der inneren Organe verletzt.
„Ich vermute, dass der wahre Grund für Damrods Laune Serelloth heißt,“ murmelte Glóradan.
„Wer ist Serelloth?“ wollte Rinheryn neugierig wissen. „Etwa seine Geliebte? Ist sie in Bâr Húrin gestorben?“
Glóradan warf Duinhirs Tochter einen seltsamen Blick zu. „Serelloth ist Damrods Tochter. Sein einziges Kind. Sie ist seit Monaten nicht aus Harad zurückgekehrt, und wir fürchten das Schlimmste.“
„Und wenn sie es nun tut, wird sie nur die Ruinen von Bâr Húrin vorfinden und ihren Vater und den Rest der Widerstandskämpfer für tot halten,“ überlegte Valion. „Es sei denn, sie weiß von diesem Ort.“
„Niemand außer Damrod und dem alten Thandor wusste über Henneth Annûn Bescheid,“ antwortete Glóradan traurig. „Serelloth wird denken, dass wir gefallen sind... falls sie nicht selbst schon längst den Tod gefunden hat.“
„Kopf hoch,“ sagte Rinheryn. „Die Lage mag übel aussehen, aber ihr könnt Gondor immer noch helfen.
Wir können Gondor immer noch helfen.“
„Und wie genau hast du dir das vorgestellt?“ erklang Damrods Stimme hinter ihnen. „Die Männer sind kriegsmüde und demoralisiert. Wir sind zu wenige, um etwas zu bewegen.“
„Für das, was ich vorhabe, braucht es nicht viele,“ erwiderte Rinheryn mit einem gewinnenden Lächeln im Gesicht. „Ihr Waldläufer kennt dieses Land besser als niemand sonst, nicht wahr?“
Glóradan und Damrod nickten langsam.
„Dann werden wir uns hier einen oder zwei Tage ausruhen und die Wunden der Verletzten versorgen. Und dann versetzen wir Mordor einen Schlag, der es hart treffen wird. Wir schlagen der Schlange den Kopf ab und rächen uns nicht nur an Balkazîr, sondern auch an dem miesen kleinen Verräter Gilvorn. Seid ihr dabei?“