Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Eregion

Ost-in-Edhil

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Curanthor:
Faelivrin verbrachte den Nachmittag damit, Befehle zu erteilen und ihr Volk auf den kommenden Kampf vorzubereiten. Sie orderte neue Pfeillieferungen und zerbrach sich den Kopf, wie sie den Feind an die stärkste Seite ihrer Mauern locken konnte. Die Torburgen im Osten und im Norden waren in aller Eile fertig gestellt worden und ihr größter Schutz für ihr Volk. Die einzelnen Türme, die die Mauerabschnitte überwachten erhielten gerade ihr hölzernes Innenleben aus Treppen und kleinen Lagerräume für Pfeile und Steine. Luscora, der ihr gerade Bericht erstattete, deutete auf eine große Karte, auf dem Kartentisch im Thronsaal auf die östliche Mauer. Mit seiner gewohnt nachdenklichen Art, erklärte er ihr, dass er noch Probleme hatte, die Spannkatapulte aufzustellen. Er deutete auf die zwei Stellen, jeweils zwei Mauerabschnitte von der Torburg rechts und links gelegen.
"Wie lange brauchst du noch?", fragte Faelivrin ihren Sohn besorgt, "Ich bin mir sicher, dass wir sie in dem Kampf brauchen werden. Sie sind unsere größte Waffe gegen Belagerungswaffen."
Luscora warf ihr einen Blick mit einer Mischung aus Anspannung und Stress zu. Insgeheim tat er ihr leid, dass sie ihn so unter Druck setzte, aber sie hatten keine Zeit mehr. Sie beschloss ihm die ungemütliche Wahrheit zu sagen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Es ist von größter Wichtigkeit, denn wir haben nicht die Kraft, einem anrückenden Feind in einer Feldschlacht zu begegnen. Du hast die Besprechungen erlebt. Die Hwenti sind stur und die übrigen Stämme weigern sich. Die Manarîn stehen allein."
Sie sah, dass sich sein Blick veränderte. Berechnender und vor allem gefestigt.
"Sind sie es, die stur sind?", fragte Luscora und hob eine Braue, "Oder erwartest du etwas von ihnen, das sie noch nie hatten. Treue für eine Herrin, die sie nie kennengelernt haben, Loyalität für ein Land, das fremd für sie ist. Du bittest sie, ihr Blut zu vergießen, ihre Kinder auf das Schlachtfeld zu schicken, von dem sehr viele nicht widerkehren werden." Er warf ihr einen ernsten Blick zu, "Mutter, du hast dich nach Vaters Ableben verändert. Früher hast du uns alle immer gefragt, ob wir etwas tun möchten. Du hattest uns abstimmen lassen, ob wir in neue Gefilde ziehen wollen. Du hattest eine Vision. Ambitionen. Ein Bild, von einem vereinten Stamm, nein, mehr noch, du wolltest die Wälle der Stämme zu Fall bringen. Das war es, das Finuor sich stets gewünscht hatte, mein ehrenwerter Vater. Schwesterherz lebt seinen Wunsch weiter. Ich tue es auch. Nicht nur für Vater, nicht nur für dich, sondern für unser Volk, für meine Kinder und deren Kinder und unser aller Wohl."
Luscora wandte sich ab, ihre Hand rutschte von seiner Schulter. Faelivrin blieb wie erstarrt stehen. Noch nie hatte ihr Sohn so offen ihr ins Gesicht gesagt, was er dachte. Er war stets der wohlgesonnen und überlegte Mann, der sich im Hintergrund neue Dinge einfallen ließ.
Sie blickte zu Boden. "Du hast Recht", sagte sie mit belegter Stimme. Ihre Hand ballte sich zur Faust, "Und doch habe ich keine Wahl. Ivyn hat ihre erste Warnung ausgesprochen."
Luscora drehte sich ihr wieder halb zu und hob skeptisch eine Braue. "Man hat immer eine Wahl", sagte er kühl.
"Du verstehst nicht!", sagte sie nun lauter, mit deutlicher Strenge. Ihr Sohn zuckte ein wenig zusammen, überrascht von dem plötzlichen Schwung ihres Temperaments. Gefasster setzte sie nach: "Es ist Schicksal. Eine Warnung wird angedacht, den schnatternden Krähen auf dem zitternden Dach; die zweite Warnung, der verborgenen Flamme, die im Zwielicht bange; die Dritte ... , soll erst enthüllt werden, wenn die Zeit gekommen ist."
Luscoras Verstand erfasste die erste Warnung sofort und er drehte sich mit neu gewecktem Interesse wieder zu ihr. Sie wusste, dass er eigentlich nichts von Prophezeiungen, oder der Gabe der Weitsicht hielt.
"Die Krähen... die Stämme der Avari. Das Dach soll wohl Eregion sein. Sie schnattern und kümmern sich nicht darum, dass ihnen das Dach unter den Füßen wegbricht. Wer hat diese Voraussicht ausgesprochen?"

Faelivrin blickte zur Seite, da Ivyn ihr nicht viel mehr erklärt hatte. "Großmutter hat es mir nicht sagen wollen, sie sprach nur davon, dass nach der dritten Warnung alles was sie kannte und wofür sie gearbeitet hatte, zunichte gemacht sei. Offenbar trägt sie diese Warnungen schon ziemlich lange mit sich herum, noch vor meiner Geburt."
Luscora schien zu verstehen, sagte jedoch: "Vielleicht dauert es noch hunderte Jahre, bis die zweite Warnung ausgesprochen wird. Ich denke, du solltest dich bei deinen Entscheidungen nicht auf so etwas Vages verlassen."
Faelivrin machte einen Schritt auf ihn zu und fasste ihn mit beiden Händen an den Schultern. "Edanel, wir stehen mit dem Rücken zu Wand", sagte sie ernst und blickte ihm in die dunkelbraunen Augen, "Die Manarîn sind die Einzigen, auf die ich mich jetzt verlassen kann. Kann ich mich auf dich verlassen?"
Ihr Sohn schaute ihr ebenfalls gefasst in die Augen. Kurz senkte er den Blick und atmete tief aus. Dann blickte er wieder auf. "Natürlich, Mutter", sagte er leise, so als ob er wieder an andere Dinge dachte. Für einen winzigen Augenblick sah sie in seinen Augen Furcht aufflackern, es war so kurz, wie ein Blinzeln. Nachdenklich ließ sie ihn los.
"Ich werde die Spannkatapulte bis zur Schlacht fertigstellen", versprach er ihr und wandte sich ab, "Selbst wenn ich dafür selbst ein Schwert ergreifen muss."
Faelivrin wollte noch etwas sagen, wusste aber nicht was. Luscora war das Kämpfen zuwider, das war weithin bekannt. Offenbar hatte sie ihn mit ihrer unbedachten Äußerung, ob sie sich auf ihn verlassen konnte gekränkt. Sobald sich die Tore zum Thronsaal schlossen und sie alleine war, hieb Faelivrin wütend über sich selbst mit der Faust auf den Kartentisch.


"So schlecht gelaufen?", fragte eine bekannte Stimme von der Seite her. Sofort richtete sie sich auf und streckte den Rücken durch. Aus dem Schatten trat ihr Vater. Mathan war in eine Rüstung gehüllt, wie sie ihr Volk trug. Der polierte Brustpanzer schimmerte silbern, ein roter Mantel mit goldener Schmuckborte hing von seinen Schultern hinab - ein Zeichen der königlichen Familie. Sofort erkannte sie das Schwert ihrer Mutter an seiner Seite, in seinen Händen hielt er einen Schild aus ihrer persönlichen Rüstkammer. Sie lächelte darüber. Eigentlich wollte sie ihm den Schild als Geschenk überreichen. Offenbar war ihre Mutter schneller gewesen.
"Es ist nicht immer einfach", antwortete sie ausweichend auf die Frage und fragte stattdessen: "Und, gefällt er dir?"
Mathan drehte den Schild in seinen Händen und ließ ihn einmal spielerisch durch die Luft wirbeln. Mit einer gekonnten Bewegung fing er ihn so auf, dass er ihm kampfbereit am Arm lag. Mathan nickte knapp. Faelivrin hatte extra Amarin gebeten einen Schild zu schaffen, der ihrem Vater perfekt saß. Es war ein stählerner Rundschild, der einen Großteil des Oberkörpers schützte, ein Buckel in der Mitte diente als Dekoration, das Wappen der Manarîn war darin eingeätzt. Eine aufgehende Sonne über dem Meer.
"Ich glaube, ich habe dich noch nie ohne Doppelschwerter gesehen", gab sie nach einem kurzen Moment des Überlegens zu.
Mathan schien einen Moment unwohl zu sein, dann sagte er mit düsterer Stimme: "Nun, ich ziehe in den Kampf. Also kämpfe ich, um zu beschützen und zu töten."
Dabei hob er jeweils seinen Schild und legte die freie Hand an den Griff seines Schwerts. "Faelivrin, ich bin stolz auf das, was du geleistet hast. Du hast das Leben zurück in meine Heimat gebracht - in unsere Heimat. Jetzt werde ich für dieses Leben kämpfen."

Sie blinzelte einen Moment, erneut überrascht von dem plötzlichen Kompliment, fing sich dann aber wieder. Faelivrin wollte Mathan eigentlich nicht so früh bitten zum Schwert zu greifen. Es war ihr Notfallplan gewesen. Ihr Vater war ein Meister des Schwertkampfes, sie fühlte sich nicht wohl dabei, ihn aus der Stadt gehen zu sehen. Er war wohl der Einzige, neben Ivyn, der wirklich Kriegserfahrung unter ihnen allen hatte. Seine Erfahrung wurde hier gebraucht. Zwar gab es damals bei den Hwenti und später den Manarîn auch vereinzelte Belagerung aber niemals solche, wie in diesem Ausmaß, das sich hier anbahnte.
"Vater ich-"
"Deine Tochter", unterbrach er sie und Faelivrin machte erneut eine überraschte Pause, "Deine Mutter macht sich große Sorgen um sie. Und du weißt, dass, wenn Halarîn irgendwo ein schlechtes Gefühl hat..."

Er musste den Satz nicht zu Ende bringen. Ihr lief ein winziger Schauer über den Rücken. Sie wusste noch zu gut, dass Halarîn es war, die den großen Waldbrand in tiefsten Rhûn bemerkt hatte, als sie noch zu klein war, um für sich selbst zu sorgen. Mathan war zu dem Zeitpunkt etwas zu Essen auftreiben gewesen. Hätte ihre Mutter nicht so früh geahnt, dass etwas nicht stimmte, hätte das Feuer sie beide eingeschlossen. Der Geruch von brennenden Kiefern weckte in ihr immer noch Furcht.
"Sie ist bei Rómen Tirion, zusammen mit Sanas", sagte sie schließlich nach einer Weile, "Sie müssten bald ankommen, wenn sie im vollen Galopp reiten."
Ihr Vater nickte knapp. „Ich werde heute Abend losreiten. Nachts werden die Orks entschlossener angreifen, aber auch unvorsichtiger. Vielleicht gelingt es mir sie durch eine List sie abzulenken und dem Turm damit eine Verschnaufpause zu verschaffen.“



Mathan wollte schon wieder den Raum verlassen, als seine Tochter ihm am Arm hielt. Ihr Blick sprühte vor Entschlossenheit.
„Du gehst nicht alleine“, sagte sie bestimmt und ihr Blick wurde wieder weicher, „Meine Späher haben mir von immer stärker werdenden Angriffen berichtet. Du wirst gegen eine Übermacht antreten und wir brauchen dich noch in den nachfolgenden Konflikten.“ Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. „Dreihundert. Ist das in Ordnung?“
Er blinzelte überrascht. Mathan hatte zwar schon einmal größere Truppen befehligt, aber nie mehr als zweihundert Elben. Vielleicht war es an der Zeit, mehr Verantwortung zu übernehmen. Und er wollte aufhören, vor seiner Vergangenheit davon zu laufen. Seine großen Niederlagen hatten ihn auch viele Dinge gelernt. Dinge, die er nun gegen den Feind brauchen würde, dessen gierigen Krallen nach seiner Familie griffen.
„Das wird genügen. Wie sind sie ausgebildet, worauf spezialisiert…“ Er verstummte, als seine Tochter anfing zu lächeln.
„Es sind die Besten“, antwortete sie nur knapp und er spürte, dass ihr Hand anfing zu zittern, „Du hast Isanasca gesehen. Sie ist die Zukunft dieses Landes. Sie wird uns beide eines Tages übertreffen. Der Traum meines Mannes… mein Traum, lebt in ihr und meinen Sohn weiter. Lass‘ ihn nicht vergehen. Es ist eine selbstsüchtige Bitte, das weiß ich und dennoch...“
Mathan spürte ihre Angst um das Wohl der Elben, die ihr Vertrauten und die vielen Leben, dir von ihren Entscheidungen abhingen, aber die Augen, die ihn anstarrten waren die einer Mutter, die um ihr Kind fürchtete. Er legte ihr beruhigend seine Hand auf die Ihre.
„Faelivrin, ich werde mein Enkelkind beschützen, verlasse dich auf mich. Ich bin dein Vater, ich kann es nicht ertragen dich, oder irgendjemand anderes unserer Familie leiden zu sehen.“
Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Ihre Hand löste sich von seinem Arm. Als sie die Augen öffnete, war die Furcht wieder verschwunden. Mathan lächelte ihr aufmunternd zu. Ein silbernes Flimmern huschte über die stahlgrauen Augen, dann wandte sie sich ab.
„Wachen“, sagte seine Tochter leise, woraufhin die zwei Palastgardisten am Tor zur Vorhalle aus den Schatten traten. Beide sanken sofort auf ein Knie, die geballte Faust auf dem Boden aufgestützt. „Man schicke einen Boten zu Anastarios mit folgenden Befehlen: Hisst die Flaggen auf den Türmen und bemannt sie mit den schärfsten Elbenaugen, die sich finden lassen. Verdoppelt die Anstrengungen der Pfeilmacher, rekrutiert dazu alle Handwerker, die nicht kämpfen werden – aber zieht keine Arbeiter von den Mauern und den Gräben ab. Die Heiler sollen frische Bandagen und Kräuter bereithalten. Unterbrecht den Bau der Brücke an der südlichen Torburg.“
Einer von beiden senkte den Kopf und antwortete ergeben: „Jawohl, Herrin.“
„Und versammelt eine Nernehta meiner Leibgarde. Dazu zweihundert aus der regulären Armee.“ Die beiden Wachen erhoben sich, verneigten sich knapp und stießen das Tor weit auf. Zwei neue Palastwachen, die aus der Vorhalle kamen, nahmen ihre Plätze ein. Seine Tochter bedeutete ihm Geduld zu haben und schritt bedächtig ebenfalls durch das Tor.
Mathan hob indessen eine Braue und hakte nach: „Eine Sturmspitze?“ Nur um sicher zu gehen, dass er sie richtig verstanden hatte. Er kannte diese Art von Truppenteil nur aus der Schlacht auf der Dagorlad, sie waren die schlagkräftigste aller Einheiten gewesen. Die Speerspitze, die jeden Angriff anführte und Breschen in die feindlichen Linien schlug.  Wenn keine großen Schlachten anstanden versammelte man sie eigentlich nicht, umso mehr verwunderte ihn es, jetzt davon wieder zu hören.
Faelevrin warf ihm einen Seitenblick zu, schaute aber dann auf die großen Tore des Palastes, die sich gerade wieder schlossen und den Blick auf die breite Außentreppe verweigerten. Sie schlenderte langsam in die Vorhalle und er trat neben sie, sodass sie gemeinsam durch die Halle gingen. Eine ihrer Hände strich sanft über eine der großen Marmorsäulen, die die hohe Decke trugen. „Die Manarîn sind keine großen Baumeister wie die Noldor. Wir waren nicht so kämpferisch wie die Kinn-Lai, sind nicht so offen zu Fremden wie die Kindi, oder waren geschickt wie die Cuind, keine guten Schmiede wie die Windan oder zäh wie die Penni. Mein Volk ist aber an den Herausforderungen auf den Inseln gewachsen, mehr als alle anderen. Zwar sind wir einem voll ausgebildeten Trupp Kinn-Lai bei gleichen Zahlen unterlegen, aber wir können ihnen mittlerweile einen harten Kampf liefern. Auf dem Schlachtfeld aber, dürfte uns keiner der anderen Stämme mehr gewachsen sein. Wir sind vielleicht nur ein paar tausend, aber mit Ivyns Wissen und Weisheit haben wir uns darauf vorbereitet unsere Heimat mit allen Mitteln zu verteidigen.“
„Deswegen deine Furcht um Isanasca. Sie ist die absolute Elite, wie ich es schon vermutet habe –sozusagen dein Meisterstück. Und ihr wirst du die Krone vermachen.“
Seine Tochter nickte und erklärte, dass Ivyn sie persönlich ausgebildet hat. Faelivrin wirkte einen Moment so, als ob sie mit etwas haderte. Ihr Blick huschte aus dem Augenwinkel kurz zu ihm. Eine kurze Stille trat ein, doch der Moment ging vorbei. Sie sagte nichts und ging in den Ostflügel, zu dem ihnen die Wachen das Tor öffneten. Mathan folgte ihr in den Korridor, der einfach in einer Baustelle endete. Sie steuerte eine Treppe an, die links in einer Nische versteckt war.
„Gibt es da etwas, das du mir vielleicht sagen möchtest?“, fragte er schließlich sanft, nun da sie endlich alleine waren. Er ging etwas versetzt hinter ihr, als sie gerade die erste Stufe nahm.
Sie erstarrte in der Bewegung. Mathan konnte ihr Gesicht nicht erkennen, doch er sah, wie sie kurz den Kopf senkte. Schließlich stieg sie weiter die Treppe hinauf und sagte nur leise: „Später, da gibt es etwas anderes, das ich zuerst loswerden will.“
Er respektierte ihren Wunsch und bohrte nicht weiter nach. Sie führte ihn durch das obere Stockwerk des Ostflügels. Von hier oben konnte man den Thronsaal und die gigantische Kuppel bewundern, doch der Blick war nicht ungestört. Überall waren hölzerne Geländer errichtet, es fehlten ganze Wände und kein einziger Raum hatte eine Decke. Weiter hinten konnte er sehen, wie der hintere Teil des Ostflügels von ein paar Elben weitergebaut wurde. Eine Art Kran mit Laufrad wurde genutzt, um die schweren Steine auf die Mauern zu setzen. Faelivrin beobachtete die Arbeiten und nickte zufrieden, als er sich neben sie stellte.

„Einer der frisch eingetroffenen Hwenti hat Nachrichten von Herion überbracht“, sagte seine Tochter schließlich mit etwas gedämpfter Stimme. Mathan horchte auf, als sie fortfuhr: „Onkel Herion sagte, dass Mutters Schwester gesichtet wurde. Die Beschreibung sei eindeutig zutreffend. Sie hat aber nicht die Ländereien der Hwenti betreten. Er wollte uns nur Vorwarnen.“
Mathan blinzelte erstaunt und drehte sich zu ihr. „Vorwarnen? Verstehen sich die Zwei so schlecht? Halarîn erzählt nie über sie, sie kennt noch nicht einmal ihren Namen.“
Faelivrin zuckte etwas unwohl mit den Schultern und scharrte mit ihrem Stiefel kleine Steinchen zur Seite. Er rief sich wieder in Erinnerung, dass Telperiel Halarîn verboten hatte nach ihren Geschwistern zu suchen.
„Onkel schrieb, dass sie wohl mittlerweile als Rámalin gekannt sei. Eine berüchtigte Söldnerin.“
„Hmm… Flügelmelodie… mich würde interessieren wie sie zu dem Namen gekommen ist.“
„Er schrieb, dass sie mit einigen hundert Reitern oder mehr aus dem Norden nach Süden unterwegs war. Wahrscheinlich will sie mit ihren Gefolge nach Kushan oder Minzhu, denn die beiden Reiche werden wohl bald einen massiven Krieg gegeneinander führen. Und das würde auf ganz Palisor Auswirkungen haben“
Mathan hob eine Braue und fragte, warum das so wichtig war. Seine Tochter vermutete, dass es das erste Lebenszeichen ihrer Tante war seit einer langen Zeit, was für ihn auch Sinn ergab. Sie berichtete weiter, dass Kushan bisher Minzhu an weiterer Expansion stets gehindert habe, doch seit geraumer Zeit strebte Kushan selbst nach mehr Ländereien und Bodenschätzen. Dies führte unweigerlich zu Konflikten mit den Nachbarn. Mathan erinnerte sich dunkel, wie Halarîn ihm die Zustände in Palisor erklärt hatte, aber der Süden war immer schon eher für sich gewesen und seine Frau hatte da kaum Kenntnis über die Lage dort gehabt. Er selbst war nur einmal in Minzhu gewesen, aber damals hatte es dort nur zersplitterte Kleinreiche gegeben, die von Kriegsherren beherrscht wurden – keine zentrale Ordnung oder Macht.
„Ich habe Mutter noch nichts von der Nachricht erzählt“, unterbrach sie seine beginnende Grübelei, „Heron hatte sie geschickt, weil Halarîn ihn darum bat ihr Bescheid zu geben, wenn ihre verschollenen Geschwister auftauchten. Die Beschreibung hatte sie wohl meiner widerwilligen Großmutter entlockt.“

Mathan schlug vor das erst später weiterzuleiten, da Halarîn dringen Ruhe brauchte. Er machte sich so schon große Sorgen um sie, da sie eben ungewöhnlich blass gewesen war. Seine Tochter nickte bestätigend und führte ihn wieder zu der Treppe nach unten. Kurz überlegte er, sie danach fragen, was ihr vorhin an der Treppe durch den Kopf gegangen war. Mathan verwarf es, als sie ihn in das fertige Gebäude über der Vorhalle führte, was sich als ihre privaten Gemächer herausstellte. Es war ein riesiger, lichtdurchfluteter Raum, der von einem großzügigen Bett in der Mitte dominiert wurde. Felle und Teppiche lagen auf dem kühlen Marmorboden, eine große, doppelflügelige Tür zog seinen Blick an. Faelivrin ging vor und öffnete sie. Vor ihm lag die Terasse, die auf dem Vorbau des Palastes gebaut worden war. Sie maß vielleicht zehn Schritte, direkt neben der Tür hatte Faelivrin sich einen gemütlichen Liegestuhl hingestellt, zusammen mit einem Beistelltisch, auf dem ein Buch lag. Ein kleines Flämmchen flackerte in einer Feuerschale.
„Hier verbringe ich gern meine Abende, wenn ich allein sein möchte. Ein gutes Buch beim Sonnenuntergang entspannt“, sagte seine Tochter, als sie seinen Blick bemerkte, „Komm, ich glaube sie sind mittlerweile angetreten.“

Er folgte ihr und genoss den Blick auf die Stadt, der sich ihm bot. Der Palast saß auf dem höchsten Punkt und man hatte eine gute Übersicht auf die vielen Häuser, die inzwischen errichtet wurden. Wenn er alles ausblendete, meinte er sogar das Plätschern des Glanduins hören zu können. Oder es war seiner Erinnerung die ihm einen Streich spielte, da Ost-In-Edhil genau dort errichtet worden war, wo der Sirannon sich mit dem Glanduin vereinte. Leider war der Sirannon schon seit langer Zeit ausgetrocknet, sonst hätte er nicht einfach trockenen Fußes das Nordtor erreicht. Faelivrin bedeutete ihm an die Brüstung zu treten. Mathan stellte sich neugierig sie und blickte hinab. Ein Befehl wurde auf Avarin gebrüllt. Vor den Treppen des Palasts hatten sich einhundert Elben in einer strengen Formation versammelt. Sie trugen schwere Plattenrüstungen aus silbernem Stahl, lange Hellebarden in den Händen und Umhänge aus rotoranger Seide hingen von ihren Schultern. Schwarze Mundtücher bedeckte das Gesicht bis auf die Augen. Ihre Helme waren prunkvoll verzierte Flügelhelme, die in der Form von Sonnenstrahlen gearbeitet waren. Jeder der Krieger war in etwa gleich groß und jeder trug die gleiche Ausrüstung. Neben der Hellebarde war jeder einzelne auch mit Schwert, Bogen und Dolch bewaffnet. Faelivrin hob knapp die Hand und die Soldaten reckten kurz ihre Waffen in die Höhe, ein vereintes: „Tarinya!“ ertönte. Ein Gruß an ihre Königin. Seine Tochter nickte ihnen zu und drehte sich stolz zu ihm. „Dies ist meine persönliche Garde. Die Erste Nernehta, sie sind in allen Waffenarten geübt. Dort, wo andere den Tod sehen, sehen sie Ehre. Niemals würden sie ihren Posten verlassen, keinen Befehl verweigern und bis auf den letzten Speer kämpfen.“ Ein kaltblütiges Lächeln umspielte ihre Lippen. „Lasst die Orks mit Blut bezahlen.“
Mathan musterte die Truppe genauer und kam zu demselben Schluss. Niemand schien den Tod zu fürchten, sie alle warteten vollkommen regungslos auf ihre Befehle. „Und du bist dir sicher, dass du sie nicht hier brauchst?“
Faelivrin verneinte und erklärte, dass ihre königliche Garde mehr als nur diese einhundert Elben umfasste. Schließlich gab Mathan sich geschlagen, da er seine Tochter zu gut kannte. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte er sie nur nach einer stundenlangen Diskussion davon abbringen. Und diesmal hatte er keine Zeit dazu. Ein Schmunzeln um ihre Lippen verriet ihm, dass Faelivrin genau darauf abgezielt hatte. Er schüttelte unmerklich den Kopf, während sie ihrer Garde befahl, an der westlichen Torburg auf den Befehl zum Ausrücken zu warten. Die Elben bestätigten mit einem einmaligen Aufstampfen mit einem Bein, dann machten sie auf dem Absatz kehrt und zogen in geordneten Reihen vom Platz. Seine Tochter sagte, dass die restliche Truppen bei Nacheinbruch gemustert dort auf ihn warten würden, doch er beobachtete weiterhin die marschierenden Elben, deren seidenen Umhänge im Wind flatterten. Die Hellebarden funkelten in der beginnenden Dämmerung und das regelmäßige Stampfen des marschierenden Trupps weckte Erinnerungen an die Kriege, die er bisher erlebt hatte. Mathan atmete tief durch, dann folgte er seiner Tochter, die ihm zu einer Mahlzeit einlud. Geistesabwesend stimmte er zu. Mit dem Gedanken war er jedoch auf den Schlachtfeldern längst vergangenen Zeiten. Er merkte nicht, dass seine Tochter ebenfalls tief im Gedanken war und so düster wie noch nie dreinschaute.

Mathan mit der Elbenstreitmacht zum Tal des Sirannon

Fine:
Kerry hatte bei ihrer Rückkehr zu Farelyës Unterkunf feststellen müssen, dass sowohl Elea als auch Finjas verschwunden waren. Anscheinend unternahmen sie einen gemeinsamen Streifzug durch die Stadt. Kerry konnte das gut verstehen, denn sie selbst hatte eine gewisse Neugierde in sich erwachen gespürt, als sie Ost-in-Edhil wieder betreten hatte. Als sie zum ersten Mal hier gewesen war, war die Stadt nichts als eine Ruine gewesen. Jetzt pulsierte sie wieder vor Leben, und überall schossen neue Bauten in die Höhe. Sie nahm sich vor, das Gespräch mit Elea ein wenig zu verschieben und begann, sich eine kleine Mahlzeit an der Kochnische zuzubereiten.

Es dauerte keine zehn Minuten, da hatte der Geruch von Essen bereits jemanden angelockt. Leise, kaum hörbare Schritte in ledernen Schuhen näherten sich, und eine Stimme sagte: "Das riecht ja vorzüglich. Du solltest öfters deine Kochkünste vorführen, Morilyë."
Es war Farelyë, die den Kopf durch die Tür gesteckt hatte. Hatte sie am vergangenen Tag noch eine schwere Rüstung nach Art der Manarîn getragen, so schien sie sich heute entschlossen zu haben, etwas traditioneller aufzutreten. Sie trug ein langes, meerblaues Kleid, dessen Ärmel in langen, weiten Spitzen ausliefen, die ihr beinahe bis zu den Knien hingen. Um Hals und Brust lag locker ein langer, weißer Schal, und die spitzen Ohren waren mit zwei großen, kristallenen Ohrringen versehen. Auf jede Wange war eine Elbenrune mit schwarzer Farbe gemalt worden, was ihr würdevolles Aussehen in Kerrys Augen ein klein wenig schmälerte. Doch sie hatte schon vor langer Zeit aufgegebn, Farelyës Tun und Lassen zu hinterfragen. Die Cuventai-Elbin war ein Fall für sich, selbst unter den vielfältigen Manarîn und Avari aus dem Osten gab es niemand, der ihr auch nur in irgend einer Weise ähnlich war - abgesehen von der weisen Ivyn, die nach wie vor als Farelyës Mentorin fungierte.
"Möchtest du probieren? Es ist nicht viel, aber es ist warm," sagte Kerry und reichte Farelyë eine Schüssel mit dem Eintopf, den sie gerade gemacht hatte.
"Probieren? Ich hätte gerne eine vollständige Portion," korrigierte die Erste sie mit einem frechen Lächeln. "Diese Stadt macht mich hungrig. Es sind hier so viele Leute auf einem Haufen, da fühle ich manchmal... ein wenig unwohl." Ihr Lächeln verblasste für einen Augenblick, doch nachdem sie von dem Eintopf gekostet hatte, kehrte es auf Farelyës Lippen zurück.
Kerry bediente sich ebenfalls und zusammen setzten sie sich an einen der flachen Tische im Raum. "Ich verstehe," begann sie mitfühlend, "Und... auch wieder nicht. Du hast dich so sehr verändert, in so schneller Zeit, und... warst zuvor so lange allein gewesen... es ist eine Umstellung, die ich kaum erahnen kann."
Farelyë wog nachdenklich den Kopf hin und her. "Das ist nicht... das eigentliche Problem," sagte sie. "Es sind die Elben. Sie sind mir selbst nach all den Monaten, die ich nun unter ihnen weile, ein Rätsel. Sie haben ein gemeinsames Ziel, und einen gemeinsamen Feind, und sie stecken alle in derselben Gefahr. Warum also streiten sie so viel, und sind uneins? Es... bereitet mir Kopfschmerzen. Diese Konflikte an jeder Straßenecke zu sehen... es setzt mir zu, Morilyë."
Kerry dachte einen langen Augenblick über die Problematik nach, ehe sie zu einer Antwort kam. "Ich kann nicht gerade behaupten, mich in der... Politik der Elben auszukennen," begann sie etwas unsicher. "Aber ich weiß, dass hier in Eregion nicht nur die Manarîn siedeln, sondern auch die unterschiedlichsten Stämme aus dem Osten. Und sie wollen nicht einfach so eine Königin akzeptieren, die sie nicht kennen. Würdest du Befehle von jemandem entgegennehmen, dem du nicht vertraust?"
"Es braucht nicht viel um zu sehen, dass Faelivrin eine gute Anführerin ist," sagte Farelyë. "Man braucht nur Augen und Ohren, um zu sehen und zu hören. Ich würde ihr folgen, selbst wenn ich sie nicht so gut kennen würde. Wieso können sie das nicht erkennen? Sind sie so sehr von ihrem Stolz geblendet, dass sie lieber alleine gegen die drohende Dunkelheit ziehen, anstatt geeint zu kämpfen?"
"Ich... ich weiß es nicht," gab Kerry etwas verzagt zu. Farelyës Worte setzten ihr zu. Sie hatte nicht gedacht, dass die Uneinigkeit der Elben Eregions so schlimm geworden war, dass selbst eine so große Gefahr sie nicht dazu brachte, zusammenzuarbeiten.
"Nein. Natürlich weißt du es nicht," sagte Farelyë überraschend sanft. "Aber du hörst mir wenigstens zu. Die meisten am Hofe halten mich noch immer für eine Absonderlichkeit... mich stört das nicht, ich weiß wer und was ich bin, und selbst die größten Skeptiker können nicht verleugnen, dass ich das Licht der Ersten in mir trage. Doch leider ist der Respekt davor nicht bei allen Avari so groß, wie er... sein sollte."
"Wie meinst du das?" wollte Kerry wissen.
"Sie dulden mich bei Hofe, aber mein Wort wiegt nicht schwer," erklärte die Erste. "Sie halten mich für nützlich, aber nicht vertrauenswürdig. Ich sehe es in ihren Blicken und in ihrem Gebaren. Die Kinn-Lai sind die Schlimmsten. Ich glaube, bis auf Ivyn gibt es niemanden, der wirklich versteht, was... mit mir geschieht."
"Was mit dir geschieht?" hakte Kerry besorgt nach.
"Es ist kein Jahr vergangen, seitdem Sarumans Schergen mich aus dem Eis holten," antwortete Farelyë leise, und sie klang sonderbar verletzlich dabei. "Ein... Teil von meinem Geist ist noch immer dort gefangen, fürchte ich. Es wird dauern, bis... ich vollständig bin. Je mehr von meinem Sein zu mir zurückkehrt, desto mehr passt mein Körper sich an."
"Bist du deswegen so schnell gewachsen?"
Farelyë nickte. "Ich sah etwas zwischen den Sternen," kurz bevor du hier her kamst. Ich sah Eis, das gebrochen wurde, ein lange verschlossenes Siegel, das geöffnet wurde. Ein Stück meines Selbsts kehrte zu mir zurück in jenem Moment, aber... noch etwas anderes wurde in jenem Augenblick befreit. Etwas, das älter ist als Ivyn oder ich. Älter, als diese Welt. Etwas, das niemals hätte befreit werden dürfen."
Kerry erschrak. "Wovon sprichst du?"
Farelyë legte eine Hand an ihre Schläfe. "Ich... versuche seit Tagen, mich darauf zu konzentrieren, aber... es ist mir nicht gelungen, noch einmal einen Blick auf dieses Wesen zu erhaschen. Die Sternsicht ist... sehr komplex, und sie ist nicht Ivyns Fachgebiet, weswegen sie mir nur wenig dabei helfen kann. Ich brauche Konzentration und Ruhe, aber in dieser Stadt ist so viel Konflikt und Streit, dass ich seit Tagen gegen eine unsichtbare Wand ankämpfe..."
"Dann musst du fort von hier," sagte Kerry, mit einem Mal ganz ruhig. "Und dir einen ruhigen Ort suchen, wo du dich konzentrieren kannst."
Farelyë sah sie an, die Augen ein wenig geweitet und seit langer Zeit wirkte sie so, als wäre sie tatsächlich überrascht. "Aber... ich kann nicht fort. Was, wenn ich hier gebraucht werde?"
"Ich habe das Gefühl, dass... das, was du gesehen hast, wirklich wichtig ist," sagte Kerry langsam. "Vielleicht... sollten wir gemeinsam gehen?"
Die Cuventai-Elbin sagte für einen langen Augenblick nichts. Dann lächelte sie, und war wieder sie selbst - gelassen und eine Spur amüsiert wirkend. "Nichts überstürzen," sagte sie ruhig. "Ich akzeptiere deinen Ratschlag, Schwester Morilyë, aber eines nach dem Anderen. Du hast noch etwas zu erledigen, hier in der Stadt der Elben. So lange werde ich noch ausharren. Danach können wir die Abgeschiedenheit dort draußen suchen und... Antworten finden."

Darauf hatte Kerry keine Antwort, denn sie wusste, dass Farelyë nicht absichtlich in Rätsel sprach. Sie wusste es für gewöhnlich nicht besser. So aßen sie gemeinsam den Eintopf leer, ehe Farelyë sich wieder verabschiedete. Sie hatte beschlossen, Ivyn ihre Entscheidung mitzuteilen, und bot Kerry an, sie in den Palast zu begleiten. Doch Kerry lehnte ab. Sie kam sich fehl am Hofe der Königin vor, obwohl sie einen Großteil dort gut kannte. Nach Rang und Namen wäre sie dort vermutlich recht angesehen, doch als sie am Tag zuvor bei Faelivrin gewesen war, waren ihr so manche Blicke nicht entgangen, die vor allem von den Avari gestammt hatten. Sie wusste, dass ihre Familie sie niemals gering schätzen würde, und ihr die meisten Fehltritte verzeihen würde, aber die Zeit in der Wildnis, die sie gerade erst hinter sich hatte, hatte Kerry geprägt. Sie wollte keine schwer zu merkenden Etikette einhalten oder ruhig dastehen, während die Edlen über das Vorgehen im Krieg stritten. Sie nahm sich vor, die Mitglieder ihrer Familie privat zu besuchen, noch ehe sie mit Farelyë die Stadt verließ. Und außerdem gingen ihr die Worte der Cuventai-Elbin nicht aus dem Sinne, dass sie in Ost-in-Edhil noch etwas zu erledigen hatte. Schon während der Unterhaltung mit ihrer Freundin hatte sie darüber nachgegrübelt, was Farelyë damit wohl gemeint haben konnte.

Ein Klopfen riss Kerry aus ihren Gedanken, und sie schreckte hoch, als die Tür zum Esszimmer sich ohne Vorwarnung öffnete...

Curanthor:
Aus Anastorias' Sicht

Es hatte wieder angefangen zu schneien und der kühle Nordwind trieb die Schneeflocken unermüdlich in die Gesichter der Arbeiter. Ihr Atem stand in kleinen Wölkchen vor ihren Mündern. Anastorias hatte alle Hände voll zu tun, die Anordnungen der Königin weiterzugeben. Er selbst half einigen Elbenfrauen die Banner der Manarîn auf den Türmen der Mauer zu hissen. Es brauchte seine starken Arme, um die Seile festzuzurren, damit der Stoff nicht wegflog. Zufrieden betrachtete er sein Werk. Auf einer schmalen Holzkonstruktion wurde  einer Stange hochgezogen, an der das Banner selbst befestigt war. Kurz warf er einen Blick auf die kleinen Türme, die hier und da aus der Stadt herausragte. Sie waren eigentlich als Kornlager eingerichtet, auf der Spitze hatte man aber eine Plattform gebaut, sodass man dort Bogenschützen postieren konnten. Wenn ein Teil der Mauer eingenommen werden würde, schossen die Schützen einen Brandpfeil, um das Banner zu verbrennen. Damit wusste jeder sofort wo der Feind genau war und von wo er in die Stadt eindringen konnte. Der junge Elb klopfte sich zufrieden den Baustaub von der Kleidung und hüpfte von dem Podest herunter. Eine der jungen Elbendamen, die ihm zuvor das aufgerollte Banner gereicht hatte, gab ihm einen warmen Mantel, den er dankend annahm. Sie warf ihm ein kokettes Lächeln zu, eilte aber dann scheu davon. Die übrigen zwei, die wohl etwas älter waren, schmunzelten nur und verabschiedeten sich. Die Sonne stand bereits tief und warf lange Schatten. Er wusste, dass seine Großmutter um die Zeit gern eine Mahlzeit zu sich nahm, aber er hatte wichtigeres zu tun. Ihm war zudem die Stimmung im Palast zu bedrückt, aber das würde er ihr nicht ins Gesicht sagen. Geistesabwesend ging er in die wuchtige westliche Torburg. Im Inneren umrundete er das hochgezogene Fallgatter und nahm eine der versteckten Treppen hinunter. Auf der breiten Straße in die Stadt hinein, hatte sich eine schwer gerüsteter Trupp Elben versammelt. Anhand der Ausrüstung erkannte er die königliche Garde, die in geordneten Viererreihen sechs Mann tief standen. Er zählte zehn Trupps mit rotorangen Mänteln. Schweigsame Krieger, die stumm auf den Befehl zum Ausrücken warteten. In den anliegenden Straßen saßen und standen hingegen etwas leichter gerüstete Elbenkrieger mit himmelblauen Mänteln in kleinen Gruppen, doch auch sie wirkten ziemlich still. Anastorias hörte aus den leisen Gesprächen der regulären Armee, dass sie noch heute Nacht gen Osten zogen, um die Prinzessin zu beschützen. Immer wieder hörte er, dass ein neuer Befehlshaber zurückgekehrt war und dieser sie zum Sieg führen würde. Offenbar herrschte vorsichtiger Optimismus. Ein erleichtertes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. So wie sie von dem Befehlshaber sprachen, bedeutete das wohl, dass Mathan wieder da war und nun selbst in den Kampf zog. Anastorias hatte mit ihm Seite an Seite gekämpft und war sich sicher, dass er seine Mutter wohlbehalten wieder zurückbrachte. Damit war eine seiner dringendsten Sorgen von ihm beruhigt. Ermuntert davon, ging er durch das westliche Tor hinaus und sprang in einer der Gräben, die sie unerlässlich aushoben. Der steinige Untergrund machte das Vorhaben beinahe unmöglich, aber dank der Kraft der Elben ging die Arbeit gut voran, auch wenn die Gräben für ihre Feinde nur eine lästige Unbequemlichkeit waren, als ein echtes Hindernis. Anastorias ging durch den Graben, an der nord-östlichen Ecke der Stadtmauer und kontrollierte dessen Tiefe. Meistens war er nur bis zu seinem Knie, oder seiner Hüfte ausgehoben. Der Elb schüttelte den Kopf und legte selbst Hand an. Er griff nach einer der herumliegenden Werkzeuge und begann mit der Arbeit. Mit jedem Schwung der Spitzhacke löste er mehr und mehr festen Erdboden, der von größeren Gesteinsbrocken durchsetzt war. Die gelösten Steine warf er auf einem Haufen, die Erde schaufelte er zu einem kleinen Wall. Ab und zu kam ein Elb mit einem kleinen Wagen, lud die Steine auf und schaffte sie in die Stadt. Es war keine sonderlich fordernde Arbeit und Anastorias hing seinen eigenen Gedanken nach. Immer wieder fragte er sich, ob Alassindowen hier in der neuen Heimat wohl glücklich geworden wäre. Ihm kam es so vor wie gestern, als sie einfach aus seinem Leben gerissen wurde. Unwillkürlich musste er plötzlich an Adrienne denken, die auch einfach so aus der Stadt verschwunden war. Das Menschenmädchen hatte einen verwirrten Eindruck gemacht und bei Hof rätselte man, ob sie vielleicht aus Angst vor dem Krieg davongelaufen war. Einige böse Zungen zweifelten ihre Loyalität an, doch seine Familie war sich sicher, dass sie einfach nur verängstigt war.

„Junger Herr?“, ertönte eine weibliche Stimme freundlich und Anastorias blickte überrascht auf.
Vor ihm stand eine der Leibgardisten der königin, anders als sonst trug sie keine schwere Rüstung, sondern ein graues Kleid mit hohem Kragen, weit ausgestellten Armen, an dessen Enden seidene Stoffbahnen hingen, die sie sich elegant die Arme hochgewickelt hatte. Er blinzelte verwundert und erkannte erst auf dem zweiten Blick Asea. Die abgehärtete Gardistin lächelte etwas unsicher und verneigte sich knapp. Es war das erste Mal, dass er sie ohne Rüstung traf und ohne Helm. Anastorias versuchte nicht auf die offenen Haare zu starren, die stahlschwarz in ganz leichten Wellen ihr bis auf die Brust reichten – er hatte bisher noch nie auch nur eine Haarsträhne von ihr gesehen. Er räusperte sich nach einem unsicheren Blick von ihr und riss sich von ihrem Anblick los.
„Verzeihung“, murmelte er etwas verlegen und klopfte sich den Staub von seinem warmen Mantel, „Ich war ziemlich im Gedanken.“
Er konnte sehen, wie sie aus Höflichkeit nickte, ihm aber trotzdem aus dem Graben half. Die letzten Sonnenstrahlen verabschiedeten sich, als er mit der Elbe an der Mauer zum Tor entlangschlenderte. Keiner von beiden brachte ein Wort heraus. Anastorias war immer noch damit beschäftigt sie nicht anzustarren und Asea schien generell unwohl zu sein. Gleichmäßiges Marschieren ließ sie beide den Kopf heben. Geordneten Reihen von Elbenkriegern strömten aus dem östlichen Tor. Es waren Hunderte, ihre polierte Gleven und Rundschilde blitzen in den letzten Sonnenstrahlen. An der Spitze konnte er einen roten Mantel mit goldener Schmuckborte erkennen. Sie waren zu weit weg, um ihnen etwas zuzurufen, doch er vermutete, dass Mathan nicht länger warten wollte. Anastorias schlug die Hacken zusammen und richtete sich zu voller Größe auf. Dann legte er sich die linke Hand aufs Herz und die Rechte hoch an die linke Schulter. Es war ein Gruß, den ihnen Ivyn gezeigt hatte. Eine Form von höchstem Respekt unter den Avari. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, dass Asea es ihm sofort gleichtat. Die umstehenden Elben in den Gräben unterbrachen ihre Arbeiten und auch sie zollten den ausziehenden Heer Respekt. Selbst die Hwenti, die die Arbeiten sonst mit einer Spur Argwohn beobachtet hatten, erkannten die Geste und taten es ihnen nach. Ein seltsamer Moment der Verbundenheit erfasste ihn.
„Sowas brauchen wir öfters...“, murmelte Asea ergriffen, ansonsten war es still.
Als das Elbenheer fast aus der Sichtweite war, hielt es zur allgemeinen Überraschung kurz an. Ein deutlich hörbares Donnern von Schwertern auf Schilden folgte, dann setzte es sich wieder in Bewegung. Ein letzter Abschied. Und ein Versprechen zahlreich zurückzukehren.
„Ich dachte, dass du es vielleicht sehen wolltest“, ergriff die Elbe wieder das Wort und warf ihm einen mitfühlenden Blick zu, „Immerhin ziehen sie aus um deine Mutter retten, unsere Kronprinzessin.“
Anastorias sah, dass ihre Hand leicht zitterte, doch sie versteckte sie schnell in einem ihrer weiten Ärmel. Er bemerkte, dass sie ihn nicht so förmlich wie sonst ansprach. Eigentlich legte er auch darauf keinen Wert, allerdings hatte er das nicht bei der sonst so respektvoll distanzierten Gardistin erwartet. Auf ihrer langen Reise durch den Norden Eriadors hatten sie auch kaum ein Wort gewechselt. Er vermutete, dass irgendjemand in diesem Heer marschierte, der ihr viel bedeutete, denn sie starrte noch immer auf den Horizont, der von dem gewaltigen Nebelgebirge dominiert wurde. Anastorias beschloss ihr noch ein wenig Gesellschaft zu leisten und legte Asea beruhigend eine Hand auf die Schulter. Die Elbe zuckte überrascht von der Berührung zusammen, lächelte aber dann dankbar und starrte wieder in die Landschaft hinaus.
Es vergingen lange, schweigsame Momente, in denen jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Die Sonnenstrahlen waren nun verschwunden und Dunkelheit überkam das Land. Etwas unwohl nahm Anastorias die Hand von Aseas Schulter, da sie sich die ganze Zeit nicht beklagt hatte. Eine sanfte Berührung am Arm hielt ihn aber davon ab. Sie blickte weiter nach vorn und sagte leise: „Bitte… erlaubt mit diesen selbstsüchtigen Moment. Nur dieses eine Mal.“
Überrascht ließ er seine Hand wieder auf ihre Schulter sinken.  Er spürte, wie ihre Körper ein wenig bebte und schwieg respektvoll. Anastorias kannte Asea so gut wie gar nicht. Er erinnerte sich aber, dass seiner Mutter einst erwähnte, dass ihre Eltern bei der Sturmflut, die den König tötete ebenfalls umkamen, seitdem war ihr nur ihr Bruder als Familie geblieben. Ihre Hand tastete nach seiner und drückte sie sanft. Asea murmelte einen Dank, dann löste sie sich von ihm und wandte sich nach Norden. Anastorias wurde klar, dass ihnen bestimmt drei Dutzende Augenpaare folgten. Das Gerede konnte er sich schon denken. Er fluchte leise und folgte ihr, den Blick auf den Boden gerichtet. Die Arbeiter im Graben tuschelten leise und er dachte, dass sie ihn meinten, bis er gegen Asea stieß, die plötzlich stehen geblieben war. Sein Blick folgte ihren ausgestreckten Arm, der auf etwas im Schnee deutete. Das Gemurmel der Elben in den Gräben wurde lauter und auf der Mauer wurde lauthals nach Bogenschützen und einem Heiler gerufen. Anastorias kniff die Augen zusammen. Eine rote Spur zog sich durch den Schnee, bis zu einem bleichen Körper.
„Ein Späher“, rief Asea alarmiert und reffte ihr Kleid um loszurennen, doch Anastorias hielt sie zurück sprintete seinerseits los. 

Die weiche Schneedecke zerbrach unter seinem Schritt und je näher er der Gestalt kam, umso vertrauter wurde sie ihm. Sein Herz krampfte sich zusammen. Die kühle Luft in seinen Lungen brannte. Dutzende Befürchtungen gingen ihm durch den Kopf, die er alle panisch von sich schlug. Schließlich kam er abrupt zum Halt. Die langen, kastanienbraunen Haare lagen zerzaust über den entblößten, blutigen Rücken. Die Arme von sich gestreckt, bedeckt von grausamen Wunden, die ein eigensinniges Muster ergaben. Anastorias schluckte hart. Er wusste wer es war. Ein schwarzer Pfeil stecke in ihrem rechten Bein. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen.
„Einen Heiler!“, schrie er und ging vor der Verletzten in die Knie. Anastorias nahm all seinen Mut zusammen und packte sie an der Schulter. Dann drehte er sie um. Die Hälfte ihres Gesichts war eine einzige blutende Wunde. Ein tiefer Schnitt zog sich über Stirn, Augenbraue, Auge und Wange. Ihr Oberkörper war ebenfalls bedeckt von tiefen, blutigen Schnitten, die ein archaisches Muster ergaben. Sofort zog er sich seinen Mantel aus und bedeckte sie. Atemlos hielt er ihr einen Finger an die Nase. Ein banger Moment folgte… Komm schon Adrienne, atme. Rasch befeuchtete er einen seiner Finger im Schnee und hielt ihn erneut unter ihre Nase. Endlich spürte er einen Luftzug. Schwach und kaum vernehmbar.
„Holt mir einen Heiler verdammt!“, brüllte er noch einmal, sodass seine Stimme von den Stadtmauern zurückgeworfen wurde. Er hörte, wie auf den Mauern der Ruf nach einem Heiler drängender weitergegeben wurde.
Asea eilte an seine Seite und blieb ebenfalls stehen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die gestählte Gardistin mit Fassungslosigkeit auf ihre ehemalige Gefährtin starrte. Folter war nicht alltäglich und auch nicht in diesem Ausmaß. Dann überwand sie sich und kniete ebenfalls neben der Verletzten. Anastorias schob sein Arm unter die schlaffen Beine, Asea hob den Oberköper leicht an und platzierte ihn so, dass der Kopf auf seiner Schulter lag. Er erhob sich vorsichtig und begann loszulaufen, zum Osttor. Er mied es der Verletzten ins Gesicht zu blicken. Zu sehr erinnerte es ihn an Alassindowen. Asea deutete auf das Tor, wo eine Traube von Leuten bereits auf sie wartete. Zwei Elben mit einer Trage eilten ihnen entgegen – wahrscheinlich die Heiler. Nach einigen atemlosen Momenten erreichten sie sie.
„Bringt sie sofort in das Haus der Ruhe“, fuhr er die beiden Elben harsch an und platzierte Adrienne auf der Trage. Ein Wimmern ertönte. Anastorias tauschte mit Asea einen Blick aus Erleichterung und Sorge. Immerhin war noch etwas Leben in ihr. Unterdessen hatte die Stadtwache alle Mühe die Schaulustigen zu vertreiben. Kurzentschlossen trat er an den Hauptmann der Wache.
„Ihr da, schickt euren schnellsten Boten zu Herrin Ivyn. Sofort!“
Ein ersticktes Kreischen ließ ihn herumfahren. Adrienne begann auf der Liege zu zappeln und um sich zu schlagen. „Bindet sie fest!“, befahl er ohne groß nachzudenken, „Sonst verliert sie zu viel Blut.“
„Sie erkennt uns nicht“, rief einer der beiden Träger, der seine Mühe hatte die Verletzte zu fixieren, „Wenn sie so weiterzappelt…“
Anastorias fluchte, dann blickte er zu Asea. „Du verständigst die Königin, ich hole ein bekanntes Gesicht. Jemand ohne spitze Ohren. Weißt du, wo sie ist?“
Die Gardistin verstand und beschrieb ihm den Weg zum Haus von Farelyë. Anastorias machte auf den Absatz kehrt und rannte die Hauptstraße entlang. Er bog in eine der vielen, verwinkelten Nebengassen und fand nach einer Weile schließlich das Haus der Ersten der Cuventai. Atemlos sprintete er die Anhöhe hinauf und durch die offenstehende Tür.

Kurz verharrte er, verwirrt durch einen ungewöhnlichen Eindruck, den er erst nicht einordnen konnte. Es roch nach Eintopf. Anastorias eilte an die Tür zum Esszimmer und klopfte, riss sie dann aber ohne große Rücksicht auf. Kerry saß auf einer Bank vor dem Esstisch, eine geleerte Schüssel vor sich. Sie sah aus, als ob sie einen Geist gesehen hatte. Mit geweiteten Augen starrte sie ihn an.
Ehe sie etwas sagen konnte, griff er nach ihren Arm, „Du musst mitkommen. Sofort!“ Doch Kerry schreckte zurück und starrte auf seine Hände. Sie waren blutverschmiert, genauso wie seine restliche Kleidung. Doch in ihrem Blick sah er neben Schrecken auch Sorge.
„Das ist nicht meins. Es ist Adrienne. Sie braucht dich. Jetzt sofort.“
Kerry schien was sagen zu wollen und öffnete den Mund, schloss ihn jedoch. Ihr Blick wirkte wieder gefasst und sie erhob sich sogleich. Anastorias stutzte kurz, da er nicht damit gerechnet hatte, dass sie so ruhig bleiben kann. Er schüttelte die Verwunderung ab und winkte sie hinter sich her.
„Keine Zeit zu erklären. Je länger wir brauchen, umso schlimmer wird es.“
Mit den Worten hastete er aus dem Raum. Hinter sich hörte er Kerrys Schritte und hielt ihr die Tür nach draußen offen. Als sie ihn passierte, warf sie ihm einen beunruhigten, sorgenvollen Blick zu. Er konnte sehen, dass ihr hunderte Fragen durch den Kopf gingen. Im Gehen zog sie sich ihren Mantel enger. Anastorias überholte sie und verfiel in leichten Trab. Kerry beschleunigte ebenfalls und hielt Schritt. Langsam aber stetig wurde er schneller und bog um eine scharfe Ecke. Eine Elbendame machte ihnen erschrocken Platz. Sie passierten die große Hauptstraße im Osten und bogen in eines der älteren Viertel ein. Plötzlich meinte er Hufe auf Stein zu hören. In einer der Parallelstraßen erblickte er an vorbeiziehenden Häusern Ivyn auf einem weißem Pferd in halsbrecherischen Geschwindigkeit durch die Straßen jagen. Zwei weitere, vermummte Reiter folgten ihr. Dann bogen die Reiter vor ihnen auf die gleiche Straße ein, auf der er und Kerry liefen. Hinter sich hörte er die junge Frau langsam schwerer atmen, doch hielt sie tapfer das hohe Tempo, das für Menschen wohl alles abverlangte. Er konnte die Sorge um ihre Freundin verstehen, auch er selbst hatte sie ins Herz geschlossen. Ein dritter Reiter auf einem schwarzen Pferd preschte plötzlich an ihnen vorbei. Die Straße ging in leicht bergab und in einer Senke lag vor ihnen das Haus der Ruhe. Es war das vor kurzem fertig gestellte, dreistöckige Haus, in dem die Räume für Kranke waren, auch wenn Elben nie erkrankten. Jeder Raum verfügte über einen eigenen Balkon. Bei einem auf der zweiten Etage war die Tür geöffnet. Da man aber mit Gästen und auch mit Verletzten rechnen musste, hatte man keine Mühen gescheut um einen Ort der Erholung und der Heilung zu schaffen. Anastorias verlangsamte und merkte, dass Kerry erleichtert aufatmete, aber deutlich unruhiger wurde. Eine Elbenfrau erschien in dem Eingang, der von Rundsäulen flankiert wurde. Sie warf blutige Bandagen in einen Weidenkorb und eilte wieder ins Innere. Dabei warf sie ihnen einen wissenden Blick zu und nickte knapp. Aus dem Augenwinkel bemerkt er die vier Pferde, die ihnen aufmerksam die Köpfe zuwandten.
Anastorias und Kerry folgte der Heilerin schließlich und traten ins Innere. Sie befanden sich in einer großen Eingangshalle, die von allerlei Blumen, Sitzgelegenheiten und zwei großen Bücherregalen an der Wand dominiert wurde. Alles machte einen recht friedlichen Eindruck, der wurde allerdings von einem gedämpften Schrei unterbrochen. Die Heilerin stieg eine Treppe hinter dem Bücherregal hinauf und führte sie durch den zweiten Stock an das Ende des Flurs. Ohne zu klopfen stieß sie die Tür auf. Anastorias verharrte kurz und legte Kerry eine Hand auf die Schulter.
„Ich kann dich nicht darauf vorbereiten, was du darin siehst. Ich weiß aber, dass du dem gewachsen bist. Wenn es trotzdem zu viel wird… sagst du Bescheid.“
„Habt ihr etwa gezögert, als ihr damals in die Verliese unter Carn Dûm stiegt, um mich zu retten?“ sagte Kerry mit leiser, aber fester Stimme. „Adri war damals mit dabei, und es ist das mindeste, was ich jetzt für sie tun kann, indem ich meinen Mut für sie finde. Und ich habe ihn gefunden. Lass uns hinein gehen.“
Anastorias nickte erleichtert – und auch eine Spur Stolz auf seine ‚Tante‘ und ging vor. Der Geruch von Blut stieg ihm in die Nase. Auf einem erhöhten Tisch mit weicher Polsterung erblickte er eine gefesselte Adrienne, die sich nach Kräften wehrte. Sie wurde umring von drei Heilern, Ivyn selbst war ebenfalls schon da und betupfte gerade den langen Schnitt im Gesicht mit unglaublicher Präzision, trotz des Gezappels der Verletzten. Adriennes Gesicht war blass wie Marmor, tiefe, dunkelblaue Ringe lag unter ihrem gesunden Auge, das halb verdreht an die Decke starrte, während sie gerade nach einer der helfenden Hände biss. Weiter hinten im Raum standen zu seiner Überraschung Faelivrin, Amarin und sogar Amante mit düsteren oder sorgenvollen Gesichtern. Ihm erschloss es sich nicht, warum letztere hier war, aber das war auch nicht so wichtig. Die Königin bemerkte sie sofort und umrundete den Tisch. Wortlos nahm sie Kerry in die Arme und jegliche Autorität war in dem Moment an ihr verblasst. Dann löste sie sich von ihr und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Es war ein kurzer Moment der Anerkennung. Anastorias wollte den Raum verlassen, doch sie hielt in fest an der Schulter.
„Schwester“, sagte Faelivrin schließlich sanft, „Ich bitte dich ungern darum, aber niemand kann zu ihr durchdringen. Sie ist im Fieberwahn, leidet Schmerzen und erkennt uns nicht mehr. Vielleicht kannst du sie erreichen. Erst dann können wir ihr etwas ohne Gefahren verabreichen. Und endlich diese Wunden nähen.“
„Sie hat sehr viel Blut verloren“, befand Ivyn emotionslos und tauschte ihr blutiges Tuch mit einem Frischen aus, „Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebt. Wahrscheinlich hat die Kälte sie gerettet.“ Ihr silberner Blick wanderte kurz zu Kerry. „Wenn du sie beruhigen willst, solltest du es jetzt tun, sonst… wird es unschön.“

„Adrienne“, sagte Kerry mit fester Stimme, auch wenn die Elben sehen konnten, dass die Hände des blonden Mädchens ein wenig zitterten, was wohl dem Anblick ihrer Freundin geschuldet war. „Ich weiß, dass du mich hören kannst. Ich bin hier, und ich lasse dich nicht im Stich.“ Ihre Hand berührte die Verletzte sanft an der unverletzten Wange und das Zittern in den Fingern ließ nach. „Egal wer du zu sein glaubst, oder was dir die Schatten einreden wollen... du bist meine Freundin, und mein Vorbild. Du bist stärker als diese Dunkelheit. Du hast sie dein Leben lang bekämpft, willst du jetzt etwa aufgeben? Wir haben noch nicht einmal über... den Kuss geredet.“ Sie wurde rot, und lächelte sanft. „Mindestens das bist du mir schuldig.“ Eine Träne stahl sie ihre Wange herab, als sie etwas lauter sagte: „Ich möchte dich nicht verlieren, Adri. Wir haben einander erst so kurz wiedergesehen, und... du bist mir sehr wichtig. Komm zurück zu mir, hörst du? Komm zurück!“
Man konnte hören, wie jeder im Raum die Luft anhielt. Anastorias wunderte sich ein wenig über den Kuss, doch seine Aufmerksamkeit galt wieder der Verletzten, die in ihrem Wahn innehielt. Es war nicht klar, ob es die Worte, oder die Hand an der Wange der Grund dafür war war. Zwei, drei, vier Herzschläge vergingen, in der Adriennes gesundes Auge ziellos den Raum absuchte, dann wanderte es über die versammelten Gesichter und erfasste die Hand, die an ihrer Wange lag. Bis sie Kerry direkt anblickte. Tränen stiegen ihr in die Augen. Adrienne schien etwas sagen zu wollen, doch plötzlich bäumte sich ihr Körper auf. Kerry versuchte ihre Freundin trotzdem nahe zu sein und so gut es geht ihr Gesicht zu halten – obwohl ihr der Schreck deutlich anzusehen war. Ivyn schickte derweil die drei Heiler mit einem bellenden Befehl hinaus und schrie dabei fast, sodass er selbst zusammenzuckte. Die Verletzte spannte gegen ihre Fesseln und ein tiefes Knurren war zu hören. Die Tür schloss sich. Adriennes verletztes Auge öffnete sich. Und leuchtete glühend rot. Es war so, als ob jegliches Licht aus dem Raum gesogen und der Ton gedämpft wurde. Die Kerzen in den Laternen flackerten, einige erloschen. Amante und Ivyn tauschten einen Blick und beide Frauen hoben ihre Hände. Gleißendes, weißes Licht durchflutete den Raum, sodass er die Augen zusammenkneifen musste. Anastorias bedeckte hastig Kerrys Gesicht. Ein hoher, unmenschlicher Schrei war zu hören, der ihm schmerzhaft in den Ohren klingelte, dass er erneut zusammenzuckte. Dann war es vorbei. Ivyn und Amante stützten sich auf den Tisch, sichtlich besorgt - wenn auch nur für einen winzigen Augenblick. Anastorias nahm seine Hand fort und stellte erstaunt fest, dass Adrienne anfing zu blinzeln, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Keine Spur von Rot in ihren Augen.

„Ein letztes Aufbäumen der Dunkelheit“, beantwortete Amarin die große Frage, die im Raum schwebte, „Die andere Frage bleibt, ob wir Adrienne wiederhaben oder nicht.“
„Mein Leben…“, krächzte diese kaum hörbar und ihre bandagierte Hand tastete nach Kerry welche sie sofort vorsichtig in beide Hände nahm und streichelte, „es gab… so viele. Ich… es… tut mir leid.“ Sie rang sichtlich nach Worten, „Kann nicht… Erinnere mich…“
Ivyn zog eine Tasche hervor und entkorkte ein Fläschchen. Ohne viel Rücksicht flößte sie es ihr ein.
„Ein Trank zur Beruhigung und um klarer zu denken. Ich habe einen Verdacht, aber ich möchte ihn vor dir hören“, befand die Erste und blickte jeden einzelnen im Raum an, „Und das was hier besprochen wird, verlässt niemals diese vier Wände.“
Einige Herzschläge vergingen, in dem auf die Wirkung des Tranks gewartet wurde. Adriennes rastloser Blick verlangsamte sich und auch ihr schneller Atem. Ihr Blick sucht wieder Kerry, die noch immer ihre Hand hielt: „Ich bin hier bei dir, und ich werde auch nicht wieder gehen, bis es dir nicht besser geht. Du brauchst dir nicht die Schuld daran zu geben. Erinnerst du dich an Fornost? Ich habe schon zuvor gesehen, wie eine böse Präsenz Besitz von einem Freund ergreift. Das was da vorhin gewütet hat, das warst nicht du. Du, Adrienne, bist meine Freundin, und ich lasse nicht zu, dass irgendetwas - oder irgendjemand - dich mir wegnimmt.“
„Das was da gewütet hat… war ein Teil von mir“, antwortete Adrienne leise und schien die Blicke zu meiden, „Gezwungenermaßen. Jetzt, da ich wieder klarer denken kann…“ Sie rang mit sich selbst vor einen Augenblick und sprach weiter: „Es fällt mir schwer die Kontrolle zu behalten. Selbst jetzt. Ich höre Stimmen in meinem Kopf. Stimmen von der, die ihr Adrienne nennt, aber auch andere.“ 
„Mir ist gerade nur deine Stimme wichtig“, sagte Kerry bewegt. „Denn das heißt, dass du am Leben und bei verstand bist... und das ist alles was für mich jetzt zählt.“ Sie umarmte ihre Freundin äußerst vorsichtig. Anastorias wechselte einen Blick mit Amarin und bemerkte, dass die Elben ihre Vermutung bestätigt sahen.
„Adrienne, ja, sie ist die lauteste“, antwortete die Verletzte schließlich mit einem gequälten Lächeln, „Aber im Moment bin ich nicht sie – wenn auch nur für eine kurze Zeit, dann verschwinde ich wieder ins Dunkel. Ich weiß selbst nicht, wie ich hier gelandet bin…“
Kerry wirkte etwas verwirrt, lächelte aber und bat um eine genauere Erklärung.
„Es gibt ältere und gemeinere Geschöpfe als Orks in dieser Welt“, sagte Adrienne und prüfte ihre Fesseln, „Und eines dieser Wesen… lebt in mir. Es ist wie eine Spinne in meinem Bewusstsein, spinnt und trennt Fäden zu Erinnerungen. Ich weiß nicht was es ist und... keine Zeit es zu erklären. Nach einer gewissen Zeit werde ich von ihnen gefangen und sie führen eine Art... Ritual durch“, sie blickte auf ihre Arme, „Um es zu wecken. Dann trennt es alle Erinnerungen und alles wird schwarz. Manchmal mit Folter, manchmal ohne.“
„Eine andere Art von Gehirnwäsche“, murmelte Faelivrin nachdenklich, aber laut genug, dass man es hören könnte, „Wie grausam.“
Adrienne nickte knapp. Kerry wirkte noch immer verwirrt, fragte aber sanft, wie man ihr helfen konnte, doch ihr antwortete nur ratloses Schweigen. Die Verletzte hatte inzwischen die Augen geschlossen und schien zu schlafen – oder bewusstlos zu sein. Ivyn war es schließlich, die alle Anwesenden bat den Raum zu verlassen, damit sie sich ungestört um die Verletzte kümmern konnte. Dabei schaute sie vor allem Kerry und Anastorias an, der sie daraufhin an den Schultern nahm und zur Tür führte. Er spürte ihren Widerstand und konnte sie gut verstehen, aber mit Ivyn war die beste Heilerin Eregions an Adriennes Seite, es gab keinen Grund für Sorgen. Oder nicht?

Thorondor the Eagle:
Helluin aus Dunland

Aus der Sicht von Arwen:

Als Arwen an diesem frühlingshaften Morgen die Augen öffnete, fiel ihr Blick durch das Fenster auf den blauen Himmel der von einzelnen weißen Wolken besprenkelt war. Die Vögel zwitscherten schon ihre ersten Lieder, sie hörte es deutlich obwohl diese neue Stadt mit ihrem geschäftigen Treiben sehr laut war. Es blieb ihr nicht unbemerkt, dass die Bewohner der Stadt diese kleinen Geschenke die die Welt ihnen bot, nicht immer wahrnahmen.

Sie versuchte sich an den Traum den sie während des Ruhens hatte zu erinnern, doch er war in weite Ferne gerückt. Feine Falten legten sich auf ihre sonst makellose Stirn. Je verbissener sie hinter des Rätels Lösung kommen wollte, umso mehr befiel sie die Sorgen, dass sie sich niemals mehr daran erinnern würde. Plötzlich bemerkte sie, wie sich die Wolken am Himmel verdichteten. Es wurde finsterer in ihrem Zimmer, hier in Farelyë’s Unterkunft. Irritiert stütze sie sich auf ihren Unterarm und hob ihren Oberkörper aus der Waagrechten. Die Wolkendecke wurde grau und dann zunehmend schwarz und am Horizont blitzten unheilvolle Lichter auf.

Nein, Arwen! sagte sie sich selbst Nein! Lange genug hast du in der Dämmerung verbracht und dich vom Unheil einschüchtern lassen. Du hast die Zeichen empfangen, ja selbst dein Vater hat sie dir bestätigt, wenn auch nur widerwillig. Es gibt Hoffnung, Arwen Undomiel Sie schloss ihre Augen und dachte an die schöne Zeit, die sie mit Aragorn in Imladris verbracht hatte. Sie fühlte die Vollkommenheit, die Liebe und die Unbekümmertheit in ihrer Erinnerung und in ihrem Herzen. Die Angst wich aus ihrem Körper und die Schultern ließen von ihrer unnatürlichen Anspannung ab. Als sie die Augen erneut öffnete, offenbarte sich ihr wieder der blaue Himmel und die weißen Wolkenfetzen.

Neuen Mutes strich sie sich kaltes Wasser über das Gesicht und schlüpfte in ein hellblaues Kleid mit goldenem Saum. Es war die Farbe der Manarîn und auch wenn sie keine von ihnen war, so zeugte es doch von Respekt. Lautlos ging sie nach unten. Es war ihr noch nicht gelungen mit Elea und Finjas über den weiteren Reiseverlauf zu sprechen, aber das beunruhigte sie kaum. Etwas schien sie noch in dieser Stadt zu halten, auch wenn Elea wie auch die Elbe selbst unverzüglich weiterziehen wollten.
 
Im Erdgeschoss angekommen fand sie jemanden vor, den sie nicht erwartet hatte:
„Magor!“, begrüßte Arwen einen blonden, großgewachsenen Elben. Er hatte grün-braune Augen und ein spitzes Kinn.
„Herrin“, antwortet er und neigte den Kopf.
„Wie ergeht es dir hier in Eregion seit mein Vater dich hierher entsandt hat?“
„Nun, ich habe mich eingerichtet. Viele der einheimischen Elben lernte ich bereits kennen und sie schätzen mich. Leider sind die Differenzen dieser Völker sehr tief verwurzelt und sie scheinen kaum überwindbar zu sein. Vielleicht vermag euer Vater mehr dazu beitragen, um eine Annäherung der Avari herbeizuführen.“
„Seine Fähigkeiten diesbezüglich stehen außer Frage bei den Völkern die er kennt, die Avari des Ostens sind uns aber vollkommen fremd und wir ihnen ebenfalls. Ich denke es wird noch eine Weile dauern, bis sich unsere Völker anfreunden.“
„Das mag wohl sein, doch dies ist nicht der Grund warum ich hergekommen bin.“
Interessiert sah Arwen den Gesandten von Imladris an.
„Vor wenigen Tagen kam ein Trupp der Manarîn aus dem Süden zurück. Sie waren in Dunland um mit dem Wolfskönig zu verhandeln. Sie brachten einen Gefangenen mit, den die Dunländer bereits seit mehreren Tagen mit sich mitführten.“
„Ein Gefangener?“, frage Arwen noch interessierter „Wer ist es?“
„Es ist Helluin von den Dunedain.“
Die Elbe konnte nicht glauben, was sie da hörte: „Helluin?“, wiederholte sie ungläubig „Elea’s Sohn?“
Magor nickte: „Wärt ihr nicht hier, ich hätte ihn zweifelsohne nach Imladris bringen lassen, wo Herr Elrond weise über seinen Verbleib entscheiden hätte können. Doch nun, da ihr hier seid und seine Mutter mit euch gereist ist, erschien es mir richtig euch Bescheid zu geben.“
„Es war die richtige Entscheidung“, bestätigte sie ihn „Wo ist er jetzt?“
„Die Kerker von Eregion sind noch nicht fertiggestellt. Er ist unter Arrest in der Kaserne, nahe dem südlichen Tor.“
Soll ich es Elea gleich mitteilen? Sie wäre überglücklich und gleichzeitig würde sie sich Sorgen, denn sie weiß nicht, was oder wer sie dort erwartet. Helluin ihr Sohn, Helluin der Verräter…
„Es ist wohl am besten, wenn ich ihm selbst einen Besuch abstatte, ehe ich es Elea sage. Kannst du mich dorthin bringen?“
Magor nickte.
Unverzüglich verließen die beiden Elben das Haus auf der Anhöhe und folgten den engen Nebengassen in Richtung Süden. Je weiter sie sich vom Palastviertel entfernten umso einfacher wurden die Gebäude der Stadt. Sie waren weit ärmer an Verziehrungen, teilweise waren sie sogar nur aus Holz errichtet. Es war wohl doch eine zu kurze Zeit um all dies hier zu schaffen. Schließlich erreichten sie ein größeres Steingebäude, dass genauso wie das Tor nur teilweise fertiggestellt war. Magor durfte wie auch schon zuvor passieren und zeigte Arwen unmittelbar den Weg zu Helluin. Ehe die Wachsoldaten die Tür öffneten nahm sie einen tiefen Atemzug.


Aus der Sicht von Helluin:

Ruckartig öffnete sich die Tür seiner neuen Behausung, wie er Gefängnisse jeglicher Art mittlerweile empfand. Ein Elb in vollausgestatteter Rüstung trat herein, doch seltsamerweise hatte Helluin diesesmal keine Angst oder Sorge, ein angenehmes Gefühl von Vertrautheit erfüllte ihn. Dann wurde es ihm klar, als er in die nur allzu bekannten Augen von Elronds Tochter schaute. Der Raum füllte sich mit einem sanften Licht.
„Arwen“, flüsterte er leise und stand augenblicklich auf. Es entging ihm nicht, dass die Wache seine Bewegungen achtsam verfolgte, mit der Hand das Schwertheft fest im Griff. Am liebsten wäre er der Elbe in die Arme gefallen, aber er zuckte aus Selbstschutz und Unsicherheit zurück. Sie wird denken ich möchte ihr etwas antun. Arwen kennt mich als den Verräter des Nordens.
„Helluin“, entgegnete sie ruhig und bestimmt, aber das schnelle Heben und Senken ihrer Brust verriet, dass sie aufgeregt war.
„Dich hier zu treffen ist ein Segen.“
„Ein Segen?“, fragte sie skeptisch.
„Ich wollte schleunigst nach Bruchtal kommen.“
„Hoffst du auf Zuflucht in Bruchtal, dass wir dich dort vor den Dunedain verbergen? Oder um deine Familie, deine Mutter, wiederzusehen?“
„Meine Mutter?“, ließ sich Helluin ablenken. Der Gedanke, Elea wieder gegenüberzutreten, ließ ihn nach wie vor erstarren.
„Ja genau, deine Mutter. Nun es wird dich freuen zu hören, dass sie auch hier in Ost-in-Edhil ist.“
Der Waldläufer verkrampfte sich noch mehr: „Ist sie auch hier?“
„Nein, ich habe ihr noch nichts von deinem Arrest hier erzählt.“
Er seufzte erleichtert auf.
„Sag es ihr nicht“, bat er sie flehentlich „Ich kann ihr nicht unter die Augen treten. Noch nicht.“
„Ich denke nicht, dass du in der Lage bist diese Entscheidung zu treffen.“
„Bitte“, flehte er nochmal „Sage es ihr nicht.“
„Sie ist die Einzige die dich gut genug kennt, um zu sagen, ob du von Sarumans Fluch befreit bist oder nicht. Ihrem Urteil vertraue ich.“
Enttäuscht von sich selbst setzt er sich wieder auf sein Bett: „Wenn ich mich nicht kenne, wie soll mich irgendjemand anderer kennen.“


Aus der Sicht von Arwen:

Die Elbe hatte Mitleid mit dem jungen Waldläufer, blieb aber auf Distanz. Sie hatte beschlossen dem Bittgesuch Helluin’s erstmal nachzukommen und über die Situation abzuwägen.
„Ich werde versuchen zu veranlassen, dass sie dich hier gut behandeln. Lass nach mir schicken, wenn du deine Meinung änderst oder wenn du mit jemandem reden möchtest.“
Er nickte zaghaft.
„Arwen?“, stieß er noch heraus ehe sie ging „der Wolfskönig überreichte mir diesen Brief und meinte ich soll ihn einer gewissen Halarîn übergeben. Ich vertraue dir, du wirst ihn mit Sicherheit an die richtige Person übergeben. Er übergab ihr ein zusammengefalltetes Pergamentstück. Es wirkte schon etwas zerfleddert, aber es waren deutliche Letter darauf zu lesen: Ténawen Morilië Nénharma. Überrascht schaute sie den Waldläufer an, der kaum Notiz davon nahm.
„Werde ich“, versicherte die Elbe und verließ die Arrestzelle.

Fine:
Kerry stolperte sehr nachdenklich durch die Straßen von Ost-in-Edhil. Anastorias hatte sich angeboten, sie noch zurück zu Farelyës Haus zu begleiten, doch als sie eine Straßenkreuzung überquert hatten, waren sie mitten in eine Patrouille der Stadtwache geraten und hatten einander aus den Augen verloren. Der hochgewachsene Manarîn hatte ohnehin ein Tempo vorgelegt, bei dem die erschöpfte Kerry nicht mehr Schritt halten konnte. Ihre Gedanken waren erfüllt von der Sorge um Adrienne und von der Angst über das, was sie gerade miterlebt hatte. Dass ein uraltes Wesen Besitz von ihrer Freundin ergriffen haben sollte, war schwer vorstellbar für Kerry, aber laut den Elben bestand an dieser These kein Zweifel. Kerry fürchtete sich. Was wenn sie die Nächste war, die von einer solchen Kreatur verschlungen wurde? Konnte man sich gegen so etwas wehren? Oder war man derlei Dingen hilflos ausgesetzt? Sie wusste es nicht, und das frustrierte sie.

Als sie nach einiger Zeit vor Farelyës Häuschen angekommen war, fielen ihr die seltsamen Dinge ein, die die Cuventai-Elbin zuvor gesagt hatte. Farelyë hatte von einem Wesen gesprochen, das älter war als die Welt selbst. Ob sie damit dieses Ding gemeint hatte, das von Adrienne Besitz ergriffen hatte? Kerry beschloss, Farelyë direkt darauf anzusprechen. Vielleicht würde sie einen Weg finden, um Adrienne zu helfen.
Im Haus angekommen fand sie jedoch anstelle von Farelyë nur Arwen vor, die so aussah, als wäre sie ebenfalls gerade eben erst dort angekommen.
"Ah, Kerry," begrüßte Elronds Tochter sie mit einem Lächeln. "Dich suche ich. Dies bat man mich, dir zu bringen." Sie zog einen versiegelten Brief hervor und reichte ihn an die überraschte Kerry weiter.
"Ein Brief für mich? Von wem stammt er?" fragt sie nach, und setzte sich an den Tisch, der im Raum stand.
Arwen trat neben sie. "In den Verliesen befindet sich ein junger Dúnadan namens Helluin. Er hatte den Brief von einem gewissen Wolfskönig bei sich und gab ihn mir. Eigentlich wollte er, dass ich ihn Halarîn gebe, aber der Name auf dem Umschlag spricht für sich, nicht wahr?"
Kerry ließ den Umschlag wie vom Donner gerührt sinken. "Helluin ... ist hier?" entfuhr es ihr und sie starrte Arwen mit offenem Mund an.
"Es scheint mir, dass du ihm bereits begegnet bist," sagte Arwen und hob die Augenbrauen. "Ich weiß nicht, ob die Wachen dich zu ihm lassen würden. Doch dieser Brief schien ihm wichtig zu sein. Vielleicht solltest du ihn erst einmal lesen. Doch eines noch: Helluin bat darum, dass seine Mutter nicht erfährt, dass er hier in der Stadt ist."
Kerry spürte ihr Hände zittern, Arwens Worte drangen kaum noch zu ihr durch. Ein Brief von Helluin an mich, dachte sie und spürte, wie ihre Wangen sich erwärmten. Und er ist hier, in Ost-in-Edhil! Sie brach das Siegel und zog das Pergament im Inneren mit etwas Mühe hervor, dann entfaltete sie es auf dem Tisch vor sich und begann zu lesen.

Kerry,

Ich befinde mich auf dem Weg zurück ins Herz von Dunland, um mit den Stammesführern über das Bündnisangebot der Manarîn zu beraten. Wenn alles glatt läuft, werde ich in einer knappen Woche selbst nach Ost-in-Edhil kommen, um mit der Königin - deiner Schwester - zu verhandeln. Ich weiß von einer gewissen Isanasca, dass du ebenfalls dort bist. Es ist einige Zeit vergangen, seitdem wir uns im Dorf des Schildstammes getrennt hatten und du mit Oronêl in Richtung Norden aufgebrochen bist. Ich hatte viel Zeit um nachzudenken und ich habe mit deinem Freund Rilmir gesprochen. Es ist nicht fair dir gegenüber, dir meine Entscheidung auf diesem Wege mitzuteilen, weshalb ich dich eindringlich bitten möchte, in Ost-in-Edhil auf meine Ankunft zu warten. Du bist mir zu wichtig um dir nicht Auge in Auge zu sagen, wozu ich mich entschlossen habe.

~ Aéd
Kerry stützte ihr Gesicht mit beiden Händen ab, die Ellbogen auf den Tisch gestemmt. Das Chaos in ihrem Kopf war nun endgültig vollkommen, so sehr, dass sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Helluin war hier, in Ost-in-Edhil, und auch Aéd war nun hierher unterwegs. Dazu kam das Chaos rings um Adrienne, und die unausgesprochenen Dinge, die zwischen ihr und Kerry noch offen waren. Sie bleib eine lange Zeit regunglos so sitzen, während sie Arwen auf und abgehen hörte. Die Elbin schien ihr glücklicherweise Raum zu geben, um über die Nachricht in Ruhe nachzudenken. Schließlich verschwand Arwen, und Kerry stellte erschrocken fest, dass es Nacht geworden war. Von draußen fiel etwas Mondlicht herein. Wie lange hab' ich hier gesessen? fragte sie sich und schüttelte den Kopf, dann las sie Aéds Brief noch einmal durch.

In diesem Augenblick kehrten Elea und Finjas zurück. Wo sie gewesen waren wusste Kerry nicht, aber beide sahen so aus, als hätte ihnen die Auszeit gut getan. "Hier riecht es gut," stellte Elea mit einem kleinen Lächeln fest, als sie in das Esszimmer trat und Kerry entdeckt hatte.
"Ähm, das ist Eintopf," erklärte Kerry. "Es ist noch ungefähr die Hälfte übrig, bedient euch doch."
Finjas schien sich das nicht zweimal sagen zu lassen, und er marschierte direkt in die Küche hinüber, um für sich und Elea je eine große Schüssel zu füllen. Die Dúnadan hingegen setzte sich Kerry gegenüber an den Tisch und musterte sie nachdenklich. "Was liest du da, Kerry?" fragte sie schließlich.
"Ein Brief von... einem guten Freund," sagte Kerry. "Arwen hat ihn mir gebracht, sie bekam ihn von Hellu...." Hastig schlug sie die Hände vor den Mund und starrte Elea an. Arwen hatte ihr doch noch eingeschärft, dass Helluin seine Anwesenheit hatte geheimhalten wollen, insbesondere vor seiner Mutter. Ob sie...? dachte Kerry, doch ihre Gedanken kamen nicht weit.
"Helluin?" fragte Elea mit leiser Stimme. "Er hat dir diesen Brief gebracht?"
Kerry konnte Elea nicht anlügen. Sie wurde rot, und sagte schuldbewusst: "Ich ... bin gebeten worden, es dir nicht zu verraten, aber... wieder einmal habe ich meinen Mund nicht halten können..." gab sie kleinlaut zu. "Helluin ist hier, in Ost-in-Edhil. Sie halten ihn in den Verliesen gefangen, die Elben. Arwen ist bei ihm gewesen..."
"Dann ist der Brief von ihm? Darf ich ihn sehen?"
"Nein, er ist nicht von Helluin, aber... du darfst ihn trotzdem sehen," sagte Kerry leise und schob Elea das Pergament hinüber.
Die Dúnadan überflog den Text und blickte dann nachdenklich zu Kerry auf. "Das scheint eine recht private Angelegenheit zu sein," sagte sie.
"Oh, ich, ähm... n-naja, eigentlich suche ich schon länger jemanden, mit dem ich darüber reden kann..." gab Kerry zu.
"Wenn du dich mir anvertrauen möchtest, dann bin ich für dich da, meine Liebe," sagte Elea sanft, doch Kerry konnte eine gewisse Unruhe in ihren Augen sehen. "Doch zuerst muss ich Helluin sehen. Du verstehst das bestimmt."
Kerry nickte, doch sie war hin- und hergerissen. Beinahe hätte sie es gewagt, Elea zu bitten, sie mitzunehmen. Doch etwas hielt sie davon ab. Du bist nur eine Außenstehende. Dich zwischen Mutter und Sohn zu drängen... das wäre nicht angebracht.
„Würdest du gerne mitkommen?“ fragte Elea die verdutzte Kerry.
„Ähm, also wenn ich darf, dann sehr gerne!“ beantwortete sie die Frage hastig und versuchte sich ihre Erleichterung nicht allzu sehr anmerken zu lassen.
„Ich habe da so meine Zweifel, dass man euch zwei in die Verliese lassen wird,“ merkte Finjas an, der mittlerweile seinen Eintopf leer gegessen hatte. „Diese Elben sind nicht unbedingt von der vertrauensseligen Sorte.“
Elea dachte einen Augenblick nach. „Wir sollten nach der Dame suchen, die uns hierher gebracht hat. Ihr Wort scheint bei den Elben hier einiges an Gewicht zu haben. Sicherlich wird sie uns helfen.“
Kerry wusste gleich, wen die Dúnadan damit meinte. „Das ist eine gute Idee! Fangen wir doch gleich am Tor mit der Suche nach Farelyë an!“

Sie warfen sich ihre Umhänge über und zogen los. Unterwegs sprachen sie nur wenig, denn Kerry war viel zu aufgeregt um einen klaren Gedanken zu fassen. Glücklicherweise brauchten sie nicht allzu lange, bis sie Farelyë gefunden hatten - sie stöberten die Elbin in der nähe der Stallungen am Nordtor auf. Als Farelyë gehört hatte, worum es Elea und Kerry ging, erklärte sie sich sofort zur Hilfe bereit.
„Ich denke, ich kann die Wachen überzeugen, euch in die Verliese zu lassen,“ sagte sie und lief voran. „Solange ich für euch bürge, dürfte es keine Probleme geben.“
Diese Annahme stellte sich als korrekt heraus. Die Wachen sprachen mit Farelyë in einem ziemlich komplexen Dialekt, den Kerry kaum verstand, doch schließlich durften sie die Verliese betreten. Elea ging sofort hinein, doch als Kerry ihr folgen wollte, hielt Farelyë sie mit dem Arm auf.
„Was soll denn das?“ wollte Kerry verwundert wissen.
„Dies ist eine Sache zwischen Helluin und seiner Mutter,“ sagte Farelyë und klang wie so oft so, als wüsste sie über alle möglichen Dinge Bescheid, die sie eigentlich überhaupt nicht wissen konnte. „Warte hier.“
Verdutzt und etwas verloren blieb Kerry stehen und kam sich etwas nutzlos vor. Sie fror, weshalb sie über die Schwelle der Verliese trat, aber weiter hinab zu gehen wagte sie nicht. Als sie die Ohren spitzte, hörte sie leise und undeutlich die Stimme von Elea zu ihr herauf dringen... und dann eine zweite, ihr ebenfalls vertraute Stimme.

Helluin. Er war also wirklich hier...

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