Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Eregion

Ost-in-Edhil

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Fine:
Es war das zweite Mal innerhalb weniger Tage, dass Kerry von jemandem auf den Mund geküsst wurde, und genau wie bei Adrienne vor Kurzem wandte sich nun auch Helluin rasch ab, ohne auf Kerrys Reaktion zu warten. Der Dúnadan trat zu Oronêls Gruppe, und die von Anastorias angeführten Manarîn setzten sich in Bewegung, durch das Nordtor der Stadt auf die Ebenen hinaus. Schon bald waren sie nur noch als kleine Punkte am Horizont zu sehen. Da endlich regte sich Kerry, als sie Eleas Hand sanft auf ihrer Schulter spürte. Helluins Mutter sprach kein Wort, doch Kerry wusste genau, weshalb Elea sie berührte. Sie drehte sich mit hochrotem Kopf um und nahm die Dúnadan in den Arm, legte ihren Kopf auf Eleas Schulter und hielt sie einfach eine Weile fest. Es war ein schönes Gefühl.

Schließlich war es Finjas, der sich räusperte. Elea ließ Kerry los und nahm stattdessen ihre Hände. Ihr Gesichtsausdruck war für Kerry schwer zu deuten. Sie sah dort dieselbe Sorge um Helluin, die Kerry selbst ebenfalls empfand, nur um ein Vielfaches gesteigert. Doch sie sah auch Freude und eine Art wissendes Lächeln, das für einen Augenblick über Eleas Gesicht huschte. Noch immer sagte die Dúnadan nichts, sondern hielt einfach nur Kerrys Hände. In diesem Augenblick fühlte Kerry sich ihr so sehr verbunden wie noch nie zuvor.
"Er wird zurückkehren," kam es dann endlich, wenn auch leise, von Elea.
"Natürlich wird er das," bekräftigte Kerry. "Oronêl wird auf ihn Acht geben."
Finjas brummte etwas vor sich hin, was Kerry erst im zweiten Moment verstand. Sie sah, wie der Waldläufer auf Arwen deutete, die ganz in ihrer Nähe stand und noch immer den Gegenstand in den Händen hielt, den Helluin ihr gegeben hatte, wie Kerry beobachtet hatte. Sie kam vorsichtig näher, gefolgt von Elea.
"Ist dies..." begann Elea staunend.
"Der Elendilmir des Nordens," sagte Arwen ehrfürchtig. "Und zwar der ursprüngliche Stein, der einst Isildurs Haupt zierte, ehe er verloren ging." Sie hielt eine Art dünnen, silbernen Reif hoch, sodass Kerry ihn genauer betrachten konnte. An der Stirnseite war ein weißer, leuchtender Edelstein eingefasst worden, der von kunstvollen Elbenrunen umgegen war.
"Ich habe so etwas schon einmal gesehen," sagte Kerry nachdenklich. "In Fornost. Der Anführer des Sternenbundes trug einen ähnlichen Reif..."
"Das war Valandils Reif," sagte Elea. "Er war von den Schmieden Bruchtals angefertigt worden, nachdem er ursprüngliche Reif, ein Erbstück aus Westernis, verloren ging. Wie ist nur dieser Stein wiedergefunden worden?"
Finjas rührte sich. "Der Zauberer steckt dahinter," sagte er knapp. "Er gab ihn deinem Sohn, nachdem er ihn zu unserem Anführer gemacht hatte."
"Dann war es also Saruman, der den Reif aus den Schwertelfeldern bergen ließ," meinte Arwen nachdenklich. "Und nun bringt ihn das Schicksal zu mir... mit dem Wind der Hoffnung. Dass Aragorn noch am Leben sein würde... ich hatte es all die Jahre nicht ausgeschlossen, aber... es war nur der Funke der Hoffnung."
"Nun ist daraus ein Leuchtfeuer geworden," sagte Elea gerührt.
Arwen nickte und auch sie schien den Tränen nahe zu sein, was Kerry von ihr kaum erwartet hätte. "Ja, so kann man es sagen," murmelte sie und erklärte Kerry: "Helluin hat ihn getroffen, in Rohan... und er ließ mir den Elendil-Stein bringen, als Zeichen der Hoffnung. Er ist in Dol Amroth, in Gondor..."

Elea und Arwen schienen noch mehr darüber sprechen zu wollen, doch sie wurden von dem lauten Geräusch marschierender Schritte unterbrochen, das immer näher kam. Auf der Straße außerhalb der Stadt erschien eine lange Reihe von Soldaten, die in Reih und Glied durch das Tor in die Stadt strömten. Rufe wurden unter den zusehenden Elben laut.
"Die Kronprinzessin ist zurück!"
"Feldherr Mathans Vorstoß zur Rettung von Rómen Tirion war ein Erfolg!"
Und tatsächlich konnte Kerry unter den vielen Soldaten Faelivrins Tochter Isanasca entdecken. So kehrten die Krieger, die zur belagerten Festung an der Ostgrenze ausgesandt worden waren, nach einer siegreichen, wenn auch verlustreichen Schlacht zur Hauptstadt zurück.
Ganz am Ende des Zuges kam Mathan selbst, inmitten einer Gruppe von Zwergen und Menschen. Inmitten der Gruppe fiel Kerry eine rothaarige Frau in ihrem Alter auf auf, die sich nahe bei Mathan zu halten schien. Als dieser Kerry sah, blieb er stehen und lächelte, auch wenn er dabei etwas müde wirkte. Es war das erste richtige Wiedersehen der beiden seit ihrer Trennung inmitten des Düsterwaldes. Die Frau folgte ihm einen Schritt, dann blieb sie zurück und schloss sich wieder dem Rest der Menschen inmitten des Heerzugs an. Kerry löste sich von Elea und ging zu Mathan hinüber,
"Du bist zurück," stellte sie unnötigerweise fest, dabei bemerkte sie, dass ihre Stimme ein wenig zitterte. "Wie... wie ist es dir ergangen?"
Mathan sagte erst einmal nichts. Er nahm sie fest in den Arm. Und obwohl er sich Zeit für die Begrüßung zu nehmen schien, spürte Kerry doch, dass ein Teil ihres Adoptivvaters unter Zeitdruck zu stehen schien. "Es ist... viel geschehen. Sowohl Gutes wie auch Böses. Ich erzähle es dir unterwegs, Ténawen," sagte Mathan leise. "Wir sollten uns auf den Weg zum Palast machen."

So geschah es. Kerry verabschiedete sich von Arwen und Elea und ging mit Mathan durch die Straßen von Ost-in-Edhil. Sie nahmen eine Abkürzung durch die kleineren Gassen, die für die heimkehrende Streitmacht zu groß waren und kamen so gleichzeitig mit Isanasca am Palast an. Unterwegs fasste Mathan für Kerry so gut es ging zunächst seine erstaunliche Reise zur Festung seiner Mutter im Hohen Norden und anschließend die Ereignisse rings um Rómen Tirion zusammen. Kerry konnte es kaum glauben, als ihr Adoptivvater davon berichtete, was er alles erlebt hatte, sowohl im Norden als auch nach seiner Rückkehr nach Eregion. Doch hauptsächlich war sie froh, dass es sowohl Mathan als auch Isanasca gut ging und dass die Rettungsmission, zu der Faelivrin ihren Vater ausgesandt hatte, ein Erfolg gewesen war.
Im Thronsaal angekommen gab es ein Wiedersehen mit der Königin, die ihre Tochter sichtlich erleichtert umarmte, dann aber einen vollständigen Bericht der Ereignisse einforderte. Kerry blieb an Mathans Seite, während unterschiedliche Kommandanten der Elben von den Geschehnissen und der Schlacht um Rómen Tirion berichteten. Als inoffizielles Mitglied der königlichen Familie war es Kerry gestattet, dabei anwesend zu sein, aber das meiste, was sie hörte, nahm sie nur am Rande wahr. Sie war in Gedanken bereits wieder bei Helluin und dem Kuss angelangt und überlegte hin und her, ob sie es Mathan erzählen sollte. Sie konnte nicht einschätzen, wie er darauf reagieren würde. Letzten Endes entschied sie sich, auf einen besseren Augenblick zu warten, immerhin kam Mathan gerade aus einer anstrengenden Schlacht heim und würde sicherlich erst einmal seine hochschwangere Frau sehen wollen.

Kerrys Vermutung erwies sich als richtig. Nachdem die Berichterstattung abgeschlossen worden war, entschuldigte sich Mathan, um zu Halarîns Unterkunft aufzubrechen. Auch die meisten anderen Elben verließen den Thronsaal wieder, bis nur noch Faelivrin, Isanasca und Kerry dort waren.
"Wären die Avari der übrigen Stämme an unserer Seite gewesen, wärest du gar nicht erst so in Bedrängnis geraten," sagte Faelivrin leise zu ihrer Tochter und Erbin. "Es ist frustrierend, immer nur Ablehnung von ihnen zu spüren zu bekommen."
Kerry näherte sich den beiden vorsichtig. "Haben die Elben nicht alle ein gemeinsames Ziel hier in Eregion? Dieses Land wieder aufzubauen und zu einer sicheren Heimat zu machen?" fragt sie.
"Man sollte es meinen," sagte Isanasca. "Das ist jedenfalls der Grund, weshalb wir alle hier sind."
"Wäre es vielleicht hilfreich, dieses gemeinsame Ziel irgendwie... sichtlicher hervorzuheben? In einer Art Proklamation, oder einem Schwur?" fragte Kerry. "In meiner Heimat Rohan gibt es die Geschichte über König Eorl, der die Rohirrim in die Riddermark führte. Er schloss ein Bündnis mit dem Truchsess von Gondor und schwor Eorls Eid, zur Besiegelung dieses Bundes. Seitdem sind Gondor und Rohan enge Verbündete und haben einander zahllose Male im Krieg unterstützt. Vielleicht... wäre ein ähnlicher Schwur für die verstreuten Stämme genau das Richtige, um sie zu vereinen?"
"Eide sind sehr mächtig und bindend," sagte Faelivrin nachdenklich. "Sie dürfen niemals leichthin geschworen werden. Ein Eidbrecher ist verflucht auf ewig."
"Und auf wen oder was sollten die Avari schwören?" fragte Isanasca. "Sie haben keinen gemeinsamen Anführer, und sie wollen Mutter nicht folgen."
Darauf wusste Kerry keine direkte Antwort. "Der Krieg bedroht uns alle," sagte sie daher. "Vielleicht ist das das Argument, das sie dazu bringen wird, sich gegen die Orks zu vereinen..."
"Wir werden es sehen. Der Vorschlag, sie einen Eid schwören zu lassen... ist nicht ganz abwegig. Ich werde es mir gut überlegen," sagte Faelivrin. "Schwester, ich hätte noch eine andere Frage an dich. Erinnerst du dich an meine Gardistin, Asea?"
"Ja," bestätigte Kerry etwas überrascht. "Ich sah sie erst vor Kurzem, sie war gemeinsam mit Anastorias unterwegs."
Mutter und Tochter blickten sie erstaunt an. "Ach, ist das so?" fragte Isanasca und lächelte versonnen.
"Dann hat sich meine Frage erledigt," meinte Faelivrin geheimnisvoll. "Vermutlich wird sie mit dem Stoßtrupp nach Norden gegangen sein."
Kerry fiel etwas anderes ein, als sie an Anastorias denken musste. "Er hat... mir in Mithlond erzählt, dass... ich ihn an jemand erinnere. An..."
"Alasindowen," sagte Isanasca leise. "Ja. Es ist uns allen gleich aufgefallen, als wir dich zum ersten Mal sahen. Für einige ist es noch immer nicht leicht, nicht sofort an jene, die verloren ging zu denken, wenn sie dich erblicken."
"Erzählt ihr mir, was damals wirklich geschehen ist?" wollte Kerry zaghaft wissen.
Faelivrin schaute ihre Tochter an. "Nur zu," sagte sie dann und trat ein paar Schritte weg. "Ich gebe euch den Freiraum, ich wollte ohnehin nach meiner Schreiberin sehen."
Isanasca führte Kerry dann aus dem Thronsaal heraus, in ein kleineres Nebenzimmer, das ein breites Fenster als Rückwand besaß. Man konnte die friedlich wirkenden Straßen Ost-in-Edhils hindurch sehen. Die Prinzessin der Manarîn nahm in einem der hölzernen Stühle Platz, die nahe des Fensters standen und bot Kerry an, es ihr gleichzutun und sich ihr gegenüber zu setzen. Dann begann sie zu erzählen...

Fine:
Kerry erfuhr nun in aller Ausführlichkeit von der Flutkatastrophe, die das Seereich der Manarîn zerstört hatte. Wie bereits Jahrzehnte zuvor die ersten Vorzeichen bemerkt und interpretiert worden waren. Wie die Königin mithilfe ihres Gemahls Finuor einen Versuch nach dem anderen unternommen hatte, das drohende Verderben noch aufzuhalten. Wie schließlich die größte Elbenflotte die die Welt seit Jahrhunderten gesehen hatte, gerüstet worden war, als es keinen Ausweg als die Flucht nach Mittelerde mehr gab. Wie die Verwüstung dann schneller als erwartet eingetreten und viele mit sich gerissen hatte... darunter auch Alasindowen, eine Elbenmaid von edler Abstammung, die die Geliebte des Anastorias gewesen war.
"Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten," sagte Isanasca und schaute Kerry in die Augen. "Eure Persönlichkeiten könnten allerdings kaum unterschiedlicher sein. Wo du oft etwas hastig oder gar stürmisch sein kannst, war Alasindowen besonnen und ließ nichts überstürzen. Dennoch umgibt dich eine ähnliche Aura wie sie, ihr seid beide in der Lage, für eine wohltuende Stimmung im Raum zu sorgen, wenn ich das so sagen darf."
Kerry wusste nicht recht, ob Isanasca ihr damit ein Kompliment machen wollte, weshalb sie erst einmal nur nickte, ohne zu antworten. Sie war tief betrübt von der Geschichte der Manarîn und dem Leid, das die Elben erlitten hatten. Es war schlimm genug, die eigene Heimat verlassen zu müssen, so wie es Oronêl ergangen war. Doch im Gegensatz zu den Inseln der Manarîn existierte der Goldene Wald noch, und die Elben Lothlóriens hatten zum Großteil nach Lindon übersiedeln können. Eine Rückkehr war für sie also nicht ausgeschlossen, wenn auch im Augenblick ziemlich unwahrscheinlich. Das Seereich von Königin Faelivrin hingegen war fort, getilgt vom Antlitz der Welt.
"Wir wissen nicht, ob wir den Zorn des Herrn der Wasser auf uns gezogen haben, oder ob Úlanno - so nennen wir ihn - nichts damit zu tun hatte,"  erzählte Isanasca gerade weiter. "Doch viele der Manarîn sind seinetwegen verbittert und sein Name wird unter unserem Volk nicht mehr in den hohen Ehren gehalten, die ihm einst zuteil kamen, als wir noch auf unseren Inseln lebten. Manche fühlen sich im Stich gelassen. Sind nicht alle Wasser und alle Meere seinem Willen untertan? So lehrten es uns unsere Vorväter, und so haben wir es unseren Kindern beigebracht."
"Du meinst..." sagte Kerry etwas angestrengt, sie hatte Mühe, Isanascas Ausführungen zu folgen. "...dass dieser Herr des Wassers die Katastrophe hätte verhindern müssen, wenn er, ähm.... wenn er doch die Meere beherrschen kann?"
Isanasca nickte. "So sehen es viele unter den Manarîn. Und es ist auch einer der Gründe, warum es bislang keine Pläne gibt, hier in Eregion einen Schrein für Úlanno zu errichten."

Kerry sah Isanasca an, als diese die Schultern hob. Sie wirkte, als trüge sie eine innere Anstrengung in sich. Die Unterhaltung der beiden kam für einige Minuten zum Erliegen, ehe Kerry Isanasca schließlich bat, ihr von den Ereignissen an der Ostgrenze zu erzählen. So hörte sie mit großer Sorge von den Angriffen aus dem Gebirge und der Tatsache, dass Eregion nun tatsächlich angegriffen wurde. Das Reich der Manarîn befand sich im Krieg, und die Hauptstadt wurde auf eine Schlacht vorbereitet.
"Und du bist wirklich auf einem Löwen geritten?" fragte Kerry, als sie diesen Teil der Geschichte gehört hatte. "Es sind heute schon eine Menge seltsamer Dinge passiert, aber das übertrifft einfach alles."
Isanasca brachte ein verschmitztes Lächeln zustande. "Ich hätte nicht gedacht, dass jemand aus dem Land der Pferde überhaupt weiß, was ein Löwe ist," neckte sie Kerry und stupste ihr mit dem Zeigefinger gegen die Nase.
Kerry packte zu und hielt den Finger fest. "Ich bin nicht so unwissend wie ich vielleicht aussehe," sagte sie und ihre Augen blitzten für einen Moment auf. "Mein Onkel hat mir viele Geschichten erzählt, er kannte sich mit allerlei fremdartigen Dingen aus. Löwen sind wunderschöne, mächtige Tiere, die den Körper einer Katze haben, aber groß wie ein Pferd sind. Und das Erkennungszeichen eines Löwens ist seine goldene Mähne."
Isanasca zog ihren Finger zurück und nickte anerkennend. "Löwen sind in diesem Teil Mittelerdes nicht heimisch, sie leben weit im Süden. Es muss unseren Feind viele Mühen gekostet haben, sie bis an die Grenzen Eregions zu schaffen."
Kerry nickte und versuchte sich vorzustellen, wie es wohl dazu gekommen sein könnte. Aber ihr fiel keine klare Antwort ein. Ehe sie noch länger darüber nachdenken konnte, sprach Isanasca weiter.
"Du hast angedeutet, dass heute bereits einige andere seltsame Dinge geschehen sind," sagte sie und beugte sich leicht vor. "Was habe ich verpasst?"
"Oh, ähm, das..." stammelte Kerry, überrascht und verlegen. Sie wurde rot. "Das... das war so..." Zuerst zaghaft, dann etwas beschwingter, erzählte sie Isanasca davon, was ihr mit Adrienne und Helluin geschehen war.
"Bei den Sternen," sagte Isanasca und musste leise lachen. "Jetzt wird mir einiges klar. Ich hatte schon von Beginn unserer Unterhaltung geespürt, dass dich etwas umtreibt, tief im Herzen. Nun weiß ich, was ich bei dir wahrgenommen habe. Gräme dich nicht - dass du davon überfordert bist, ist nicht deine Schuld. Vielen anderen wäre es ganz genauso ergangen. Dies sind ohnehin seltsame Zeiten..."
"Und was rätst du mir nun?" wollte Kerry prompt wissen.
Isancasca hielt einen Augenblick inne. "Ich denke... du solltest auf dein Herz hören."
Das war nicht das, was Kerry sich erhofft hatte. Sie hatte sich gewünscht, dass Isanasca ihr die Entscheidung abnahm oder ihr zumindest einen klaren Hinweis gab, wie sie nun mit der Situation umzugehen hatte. Die Enttäuschung war ihr gut anzusehen, denn Isanasca stand auf und legte die Arme um sie.
"Ich weiß nicht, wie das geht," sagte Kerry undeutlich. "Auf mein Herz zu hören, meine ich. Zumindest jetzt weiß ich es nicht. Es ist... alles so undeutlich, so widersprüchlich... dort drinnen."
"Es wird mit der Zeit alles deutlicher werden," sagte Isanasca tröstlich. "Der junge Dúnadan, der es dir angetan hat... er ist gegangen, nicht wahr? Und deine Freundin, die Schülerin Mathans, wird nun einige - oder viele - Tage der Ruhe benötigen. Du hast etwas Zeit, um deine Gedanken zu ordnen. Denn dies war die Bedeutung meines Rates: Höre auf dein Herz, aber gib ihm Zeit, die Geschehnisse einzuordnen, verstehst du? Und noch eines möchte ich dir raten. Du hast deine Familie, die dir mit Rat und Tat zur Seite stehen wird, und du bist von Freunden umgeben. Lass sie teilhaben an den Dingen, die dich beschäftigen, so wie du mich teilhaben ließest. Ich denke... du wirst deinen Weg gehen, Ténawen. Ganz egal wie schwer er werden wird. Du hast schon viel durchgestanden, und bist weit gereist. Und immer hattest du gute Freunde an deiner Seite, nicht wahr? Sie werden dich nicht im Stich lassen."
Kerry sagte nichts, doch sie verspürte große Dankbarkeit. Sie hatte das Gefühl, dass Isanasca gar nicht unbedingt eine Antwort von ihr hören wollte. Sie nahm war, oder glaubte zu spüren, dass die Elbin ihr die Gedanken im Gesicht lesen konnte.

Sie sprachen noch eine Weile miteinander, über unbeschwertere Themen. Schließlich wurde es Zeit für Kerry, sich zu verabschieden. Sie umarmte Isanasca und machte sich dann auf den Weg zum Ausgang des Palastes. Es war Abend geworden, und die orangene Sonne tauchte die Elbenstadt in ein melancholisches Licht, als Kerry die Stufen des Palastes hinabging. Die Gardisten nickten ihr freundlich zu, als sie an ihnen vorbeikam. Unten auf dem Vorplatz blieb sie einen Augenblick stehen, um sich zu orientieren. Da sprach sie mit einem Mal eine Stimme von links an.
"He, Kerry, hier drüben!"
Kerry wandte sich um und entdeckte Pippin, der auf einem Mäuerchen saß und ihr zuwinkte. Sie eilte zu ihm hinüber.
"Was machst du denn da?" wollte Kerry verwundert wissen. Ihr war nicht entgangen, dass der Hobbit einige interessierte Blicke der Elben auf sich zog, andere ihn aber auch mit einem gewissen Stirnrunzeln betrachteten.
"Nun, um ehrlich zu sein, wollte ich eigentlich längst auf dem Weg nach Rohan sein," sagte Pippin. "Aber die Elben sagen, dass der Weg nach Süden nicht sicher ist, solange Krieg droht. Das Ganze erinnert mich an eine ähnliche Situation, in der ich schon einmal war. Gandalf und ich saßen in einer Stadt fest, die mir fremd war - und deren Einwohner noch nie einen Hobbit gesehen hatten - und mussten darauf warten, bis der Krieg uns einholt. Nicht gerade angenehm, wenn du mich fragst."
Kerry bekam ein schlechtes Gewissen. Immerhin war es mehr oder weniger ihre Schuld, dass Pippin hier war. "Tut mir Leid," sagte sie und schaute zu Boden.
"Ach, du brauchst dich nicht zu entschuldigen," sagte Pippin leichthin. "Ich habe das Gefühl, dass diese Elben hier mit allem fertig werden können, was da kommen mag. Ich habe den Gardisten eine Weile bei ihren Übungen zugesehen. So etwas sieht man nicht alle Tage, das kannst du mir glauben!" Er nickte bekräftigend. "Zwar ist Gandalf nicht hier - wer weiß wo er sich diesmal herumtreibt - aber ich glaube, du wirst als sein Ersatz schon ausreichen."
"W-wie meinst du das?" stammelte Kerry, die nun befürchtete, sie müsste Pippin mit irgendwelchen Zaubertricks bei Laune halten.
Der Hobbit lachte. "Du solltest dein Gesicht sehen! Da fühle ich mich schon mindestens zur Hälfte dafür entschädigt, dass du mich hierher geschleppt und dann einfach vergessen hast. Aber keine Sorge. Alles was du tun musst, ist mir ein wenig davon zu erzählen, was hier so vor sich geht. Und mir Gesellschaft leisten, von Zeit zu Zeit. Komm, ich habe auf meinen Streifzügen durch die Stadt herausgefunden, wo die Elbenbrote gebacken werden, die die Gardisten als Wegzehrung bekommen, wenn sie die Stadttore nach draußen passieren. Hast du schon einmal davon probiert? Diese Elben scheinen ja irgendwie recht viel von dir zu halten, sicherlich kannst du dafür sorgen, dass dieser Hobbit hier heute Abend ein nettes Nachtmahl bekommt? Und falls nicht, benutzen wir dich eben als Ablenkung, während ich... nun, einige der Brote an... einen besseren Ort bringe. Komm, gehen wir!"
Kerry war von Pippins Gerede ziemlich überrumpelt worden, und ehe sie es sich versah, befand sie sich auch schon auf einem langen Spaziergang mit dem Hobbit, der sie quer durch Ost-in-Edhil führen sollte...

Curanthor:
Es war still in dem Palast, offenbar gönnten sich die Elben gerade eine Pause. Mathans Schritte verlangsamten sich, als er in den langen Korridor einbog, wo Halarîns und sein Zimmer lag. Sein Blick hing an der hohen Decke und ein Anflug von Melancholie überkam ihn. Er fühlte sich in der Zeit zurückversetzt, als er noch ein Heranwachsender gewesen war. Damals war er auch immer durch die langen Korridore in dem Palast gelaufen, um zu den Gemächern zu gelangen, in denen seinen Eltern und er gewohnt hatten. Sein Herz wurde schwer. Hätte er damals gewusst, was seine Mutter für eine Last trug, hätte er sich mehr dafür eingesetzt, dass sie zusammen blieben, sie alle drei. Er seufzte und vertrieb die Geister der Vergangenheit mit einem leichten Kopfschütteln. Seine Hand legte sich auf den kühlen Griff der Tür zu ihren Gemächern. Vorsichtig öffnete er. Im Inneren des Raumes strahlte in Halarîn geradezu entgegen. Sie saß mit einigen Kissen gestützt halbwegs aufrecht im Bett und hatte wieder etwas mehr Farbe im Gesicht.
"Ich wusste, dass du zu mir zurückkommst", begrüßte sie ihn mit einem Lächeln, „Das tust du immer."
Sie mussten keine Wörter wechseln. Sie wusste, dass er Erfolg gehabt hatte. Er erwiderte ihr Lächeln, trat zur ihr ans Bett und umfasste ihre dargebotene Hand. Er küsste sanft ihren Handrücken, dann legte sie seine Hand auf ihren runden Bauch. Mathan spürte die Wärme, die von ihr ausging, dann ein kleines Stupsen. Sein Lächeln wurde breiter. Es war ein kräftiger Tritt gewesen, ein Zweiter folge. Sie verweilten so einige Momente.

"Es ist unruhig", stellte er nach einer Weile fest und küsste Halarîn auf die Lippen, "Du hältst dich gut."
Sie lächelte schelmisch. "Ich bin ja auch nicht krank."
"Ich weiß... nur..." Er druckste etwas herum und sagte schließlich etwas leiser: "Du warst deutlich schwächer, als ich fortging."
Halarîns Gesicht verfinsterte sich für einen Augenblick. Mathan nahm seine Hand von ihrem Bauch und setzte sich neben ihr auf die Bettkante. Er spürte, dass ihr etwas auf dem Herzen lag. Er gab ihr Zeit, die richtigen Worte zu finden.
"Es ist das Böse, das sich im Schatten bewegt", sagte Halarîn schließlich und ihr bisher leuchtendes Gesicht wurde endgültig finster, "Ich spüre, wie es an mir nagt und zieht. Als du fort warst, war es besonders schlimm." Eine kurze, schwer lastende Pause folgten. "Es war, als ob sich eine dunkle Woge über das Land ergoss…" Ihre Stimme war fast nur ein Flüstern, "Ich kann es sehen, wenn ich die Augen schließe... Hier und da brandeten Felsen in der Dunkelheit auf. Leuchtende Fackeln, die dem Sturm trotzen." Ihre Pupillen nahmen einen silbernen Schein an, "Sterne im Schatten, die ihr trübes Licht auf das Land werfen. Bereit, ihr ganze Macht zu entfalten, warten sie..." Sie atmete tief ein, ihr Atem stockte. "Warten auf-"
Er ergriff vorsichtig ihre Hand. "Amandis", sagte er dabei sanft.
Der Glanz in ihren Augen erlosch. Sie schloss die Lider und atmete noch einmal tief ein und aus. "Nein, Marillindo, das ist noch nicht genug." Ein entschlossener Ausdruck trat auf ihrem Gesicht, ihre Lippen verkniffen sich. Sie öffnete die Augenlider erneut, das Silber nahm nun das Weiße in ihre Augen komplett ein. "Dort ist ein Leuchten, jenseits der Schatten im Osten. Es kommt näher. Und ein paar andere Lichter. Sie kommen hier her." Erneut stockte ihr Atem, diesmal blieb ihr für einige Herzschläge die Luft weg.
Mathan hatte genug und packte Halarîn an den Schultern. Sie blinzelte mehrmals und der Silberglanz erlosch. "Ich möchte nicht, dass du das noch einmal tust", sagte er vorwurfsvoll, "Nicht, solange du ein Kind unter dem Herzen trägst."
Halarîn sagte nichts, ihre Augenbrauen zog sie jedoch verärgert zusammen und senkte schuldbewusst den Kopf. "Es fing erst vor ein paar Tagen an...", sagte sie mit einer Mischung aus Ärger und Rechtfertigung, "Ich dachte, dass es uns helfen kann."
Mathan verstand ihre Beweggründe, fühlte sich aber nicht dabei wohl. Die Gabe zu Sehen war nichts, was man in ihrem Zustand leichtfertig nutzen sollte. Dies sagte er ihr auch und verwies auf Ivyn, die wohl bestimmt auch davor gewarnt hatte. Halarîn nickte zerknirscht und ließ sich tiefer ins Bett rutschen. Dabei murmelte, dass sie nicht so hilf- und nutzlos herumliegen wollte, die ganze Zeit beschützt zu werden passte nicht zu ihr. Mathan musste wieder lächeln und legte ihr eine Hand auf den Kopf.
"So wie es aussieht, dauert es nicht mehr lang", sagte er beruhigend.
"Ja...", stimmte sie in einem nachdenklichen Tonfall leise zu, "Ich... möchte noch etwas schlafen... Vielleicht solltest du nach Adrienne sehen."
Ein ungutes Gefühl beschlich Mathan, doch Halarîn hatte bereits die Augen geschlossen und atmete in tiefen Zügen. Vorsichtig erhob er sich und verließ ihr gemeinsames Zimmer. Ein letzter Blick auf die friedlich schlafende Elbe, dann schloss er leise die Tür.

Auf dem Korridor wollte er sich an den Kopf fassen, weil er noch so viele Dinge zu erledigen hatte, doch ein gerüsteter Gardist der Manarîn wartete dort auf ihn. Der Elb begrüßte ihn mit einer raschen Verneigung, die Mathan mit einem knappen Nicken erwiderte. Er informierte ihn, dass sein Vater ihn gerne sprechen würde, sobald es möglich war, außerdem sprach er eine Einladung der Königin aus, bei dem anstehenden Fürstenrat am Abend teilzunehmen. Der Elb verneigte sich noch einmal knapp und eilte davon, blieb aber dann noch einmal stehen und sagte: "Ach und... eine gewisse Valena wartet auf Euch in der Eingangshalle, zusammen mit einigen Zwergen aus den Roten Bergen."
Mathan zögerte, brummte dann aber zustimmend. Das Gespräch mit seinem Vater hatte er schon länger im Kopf, vor allem nachdem, was er bei seiner Mutter erlebt hatte. Im Gedanken versunken hörte er, wie sich die Schritte des Boten entfernten. Mathan selbst ging nur langsam in Richtung Eingangshalle. Das ungute Gefühl bei Adrienne wollte nicht weichen und er beschloss, so bald es ging sich nach ihr zu erkundigen. Sein Gefühl sagte ihm, dass irgendwas nicht stimmte. Er atmete durch und beschloss alles der Reihe nach anzugehen. Das Gespräch mit seinem Vater musste noch ein klein wenig warten. Zuerst sollte er sich um Valena kümmern - und um die drei Zwerge. Danach wollte er mit seiner Tochter sprechen und sich über das, was in seiner Abwesenheit geschehen war zu informieren. Grübelnd, was das wohl sein könnte, trat er in die große Eingangshalle.

Valena wartete nahe einer Wand an einer Bank und ging rastlos auf und ab. Sie trug einen elbischen Mantel über ihren eher schäbigen Kleid und schien sich unwohl zu fühlen, was er an ihren hochgezogenen Schultern bemerkte. Die drei Zwerge saßen hingegen auf der Bank und diskutierten mit dem schwer gerüsteten Elben, dessen spitz zulaufender Helm mit einem dunkelblauen Schweif Rosshaar geschmückt war. Der wallende, schwarze Mantel war mit dem königlichen Siegel in goldenen Garn bestickt: Ein Adler mit gespreizten Schwingen, der eine große Krone in den Krallen hielt, die von einem kunstvoll gearbeiteten Speer durchstoßen wurde. Mathan hatte schon von ihm gehört, der erste und bisher einzige Ritter des Hauses Manarîn. Es hieß, seine Kampfkunst könnte sich mit der seinen messen.
"Nammanor", sprach er ihn direkt an, "Wie ich sehe, habt Ihr bereits unsere Gäste kennengelernt."
Valena stoppte in ihren rastlosen umher Gelaufe und auch die rege Diskussion erstarb. Der Angesprochene richtete sich zu voller Größe auf und wandte sich um. Nammanor war genauso groß wie Mathan und trug eine kunstvoll gefertigte Rüstung, die mit einigen Rubinen verziert war. Selbst an seinem Schulterpanzer waren zwei Saphire eingelassen. Das Gesicht wurde von den nach vorn gebogenen Wangenklappen des Helms verborgen. Ein Paar bernsteinfarbene Augen blickten jedoch ihn mit einer Mischung aus Neugierde und... Herausforderung an.
"Feldherr", kam es äußerst knapp als Begrüßung, "Wie ich sehe, hattet Ihr Erfolg. Ich hatte gerade meine Mühe diesen ... Zwergen klarzumachen, dass hier keine Pfeifen oder Waffen geduldet sind. Und dieses Menschenmädchen davon abzuhalten nach Euch zu suchen."
Mathan antwortete nicht, sondern schwieg. Seine Hand wanderte zu seinem Gürtel. Nammanor tat es ihm gleich. Die Art wie sich der Ritter bewegte und auch wie er ihn nicht aus den Augen ließ... Ein flüchtiges Grinsen huschte Mathan über das Gesicht und er unterdrückte es, konnte aber nicht verhindern, dass seine Mundwinkel zuckten. Nammanor entging es natürlich nicht, eines seiner Augen zuckte. Mathans Hand umspielte den kühlen Griff von Halarîns Schwert. Ohne große Worte war eine gewaltige Spannung in der Halle, dass niemand es wagte laut zu atmen.
"Es heißt, Euer Können mit dem Schwert sei unerreicht", brach Nammanor die Stille und nickte zu Mathans Gürtel.
"Und von Euch hört man auch Beeindruckendes, dass ihr alle anderen der Palastgarde und der Leibgarde der Königin geschlagen habt. Der beste Schwertkämpfer der Manarîn",erwiderte Mathan und nickte dabei ebenfalls zu dem Langschwert an der Seite des Ritters.
Nammanor antwortete nicht, sondern machte einen Schritt nach rechts, Mathan spiegelte die Bewegung und schritt nach links. Langsam umkreisten sie sich. Die Füße der beiden Elben glitten über den Boden, jede Bewegung war so fließend, dass es so aussah, als ob sie über Eis schritten.
"Ich habe gehört", begann Nammanor dumpf durch den Helm und spreizte seine Finger über seinem Schwertknauf, "Dass Ihr es schon als Heranwachsender mit einem Troll aufgenommen habt."
Mathan runzelte die Stirn. Dies war schon sehr lange her und eher eine Geschichte, die er im alten Eregion erwartet hätte. Wahrscheinlich hatte sein Vater zu viel geplaudert. Er ging nicht darauf ein, sondern griff auf die Erzählungen der Manarîn zurück, mit denen er vor kurzem gekämpft hatte: "Und ich habe gehört, dass Ihr Euch mit der Prinzessin duelliert habt."
Der Ritter antwortete nicht, erst nach vier Umrundungen sagte er langsam: "Möglich."
Mathans Antwort bestand aus einem Heben eines Mundwinkels. Die ganze Zeit hatten sie sich nicht aus den Augen gelassen. Ein Geräusch aus dem Thronsaal durchbrach die Stille. Nammanor und Mathan zogen blitzschnell ihre Klingen, Stahl prallte auf Stahl. Keiner von ihnen zu spät oder zu früh. Die beiden Schwerter bildeten ein perfektes X, keiner von ihnen zitterte oder schob die Klinge hin oder her. Die Augen des Ritters verengte sich, als er offenbar grinste. Mathan musste ebenfalls grinsen.
"Es ist selten jemanden zu begegnen, der den Klingentanz so gut beherrscht", sagte Nammanor anerkennend und nickte knapp.
"Genau das wollte ich auch sagen", antwortete Mathan und erwiderte die Geste.
Der Ritter senkte sein Schwert und stieß es in die Scheide. "Wenn Ihr mich nun entschuldigt, Schwertmeister."
Mathan kam nicht umhin kurz das Gesicht zu verziehen. "Natürlich."
Während der Ritter sich mit wallendem Mantel und Rosshaarbusch entfernte, schob er ebenfalls Halarîns Schwert wieder langsam in die Scheide.
"Wenn das kein Hahnenkampf war, weiß ich auch nicht", sagte Grám amüsiert, konnte aber ein wenig Anerkennung in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken, "Dabei ist Frau Valena bereits vergeben."
Die drei Zwerge lachten dröhnend, während Valena schnell sagte: "Unsinn, er folgt mir nur ständig."
Ihre Verteidigung kam etwas zu schnell, denn Lorim lachte feixend und hielt dagegen: "Ach, und deswegen habt Ihr Euch mit der Palastgarde angelegt, weil er nicht eingelassen wurde."
Valena wurde tatsächlich eine Spur rot, starrte die Zwerge einfach nur wütend an und wandte sich nach einem kurzen Moment mit einem Schnauben von ihnen ab. Mathan ahnte, dass es um den Jungen aus Minzhu handelte. Er ging aber nicht darauf ein, auch wenn er sich insgeheim fragte, was zwischen den beiden vorgefallen war. Stattdessen fragte er an die Zwerge gewandt: "Habt man euch bereits eine Unterkunft zugewiesen?"
Grám, der noch immer der Anführer des Trios war, nickte knapp, sagte aber, dass er bei dem Standard der Elben mehr erwartet hätte. Andak hielt kopfschüttelnd dagegen, dass die Elben hier gerade erst ihre Heimat gefunden haben.
"Gut, es ist nicht schlecht, zufrieden?" ,schnauzte Grám den Alten an und schüttelte nur den Kopf mit einem „Alter Besserwisser“ auf den Lippen. Dann wandte er sich an Mathan: "Nun, wir können nicht ständig hier bei den Spitzohren herumhängen, also würde ich gern darüber reden, wie wir diese Lebensschuld begleichen können. Und da haben wir schon ein paar Ideen... ich weiß aber nicht, ob das hier den feinen Elben in den Kram passt. Wir regeln im Osten manche Dinge etwas anders."
Erneut warf Andak ein, dass dies hier Avari waren und sie sich von den übrigen Elben unterschieden, woraufhin Grám ein entnervtes Knurren von sich gab.
Hastig ergriff Mathan endlich das Wort, ehe wieder was dazwischen kam: "Nun, ich würde mir gerne diese Ideen anhören. Vielleicht heute beim Abendessen, was haltet Ihr davon?"
Die drei Zwerge tauschten ein paar Blicke und sprachen in ihrem eigenen Dialekt, bis sie sich offenbar auf etwas rasch einigten. Grám nickte und sagte: "Dann beim Abendessen. Hoffentlich gibt es etwas anderes, als nur Grünzeug."
Mathan nickte vielsagend auf Valena und sagte, dass sie schon einige Gäste beherbergen, die einen anderen Geschmackssinn haben als Elben. "Wenn es recht ist, würde ich kurz mit ihr alleine sprechen, danach habe ich noch etwas Wichtiges zu erledigen."
"In Ordnung", stimmte Grám rasch zu, "Wir wollten so oder so uns mal nach diesem Elbenbrot erkundigen, wovon die Soldaten beim Weg hier her ständig gesprochen haben."
Damit verabschiedeten die drei Zwerge sich und ließen Mathan alleine mit Valena.

Curanthor:
Gemeinsam blickten sie den Zwergen hinterher, die im Gehen sich aufmerksam den Baustil der Manarîn ansahen. Sie sprachen dabei in ihrer eigenen Sprache, die Mathan trotz seiner grundlegenden Kenntnisse nicht verstand. Als sich langsam die großen Flügel des Haupttores schlossen, wandte er sich an Valena, die bereits mehr oder weniger ungeduldig zu ihm aufblickte.
„Also…“, begann Mathan etwas unsicher das Gespräch, „was erhoffst du dir von mir? Warum der Treueschwur?“
Die direkte Frage warf die junge Kriegerin etwas aus der Bahn und sie blinzelte, um die Gedanken zu ordnen. Ihre Hände suchten etwas an der Hüfte, offen bar trug sie dort immer einen Gürtel mit Waffen. Doch sie griffen ins Leere, was ihr sichtliches Unbehagen bereitete.
„Das war bei mir im Dorf so üblich“, antwortete sie schließlich erstaunlich leise, reckte aber dann rasch das Kinn und setzte lauter nach: „Und ich habe keinen Platz wo ich sonst hingehen könnte… wieder zurück in den Süden… das hat mir schon einmal kein Glück gebracht. Ich möchte bei Euch bleiben und kämpfen! Wir haben einen gemeinsamen Feind.“
„Das haben wir. Sauron bedroht uns alle, leider haben das noch immer nicht alle begriffen“, bekräftigte er und nickte zu den Banner der Avari, „Du solltest dir darüber klar sein, dass diese Elben hier wilder sind, als jene, die beispielsweise Herrn Elrond folgen. Sie sind misstrauischer, unbeherrschter und … manche würden meinen eher den Menschen ähnlich. Emotionaler.“
Valena lächelte das erste Mal, wenn auch eher schwach und antwortete, dass ihr noch nie im ihrem Leben zuvor Elben begegnet waren. Für sie war Mathans Volk stets ein Teil von Geschichten, die in kalten Nächten an Lagerfeuern erzählt wurden. Geschichten, um kleine Kinder zu beruhigen, wenn die Orks des Gebirges sie des Nachts heimsuchten, während die Erwachsenen draußen kämpfen.
„Ach, und was erzählte man sich da so?“, hakte Mathan neugierig mit einem Schmunzeln nach.
Valenas Züge wurden weicher und sie erzählte, dass die Elben auf weißen Pferden durch das Unterholz jagten und die Orks niedermachten. Blass wie der Schnee stiegen sie von ihren Rössern und vertrieben die Kreaturen der Nacht mit dem dröhnenden Klang eines Horns. Das Horn des Jägers, geschmiedet aus den Stahl und Knochen der erschlagenen Finsterlinge. Ihr Blick ging ins Leere.
„Früher habe ich mir immer gewünscht, dieses Horn zu hören. Der Klang des Verderbendes für die Verdorbenen.“ Sie schüttelte sacht den Kopf, „… aber das waren nur Geschichten. Die Wirklichkeit ist hässlicher als man es sich ausmalt.“
Mathan, der interessiert zugehört hatte, setzte sich auf die freie Bank, Valena tat es ihm gleich. Nach kurzem Zögern legte er ihr sacht eine Hand auf die Schulter. Sie zuckte kurz zusammen, ballte die Fäuste. Rasch nahm er sie fort und sagte stattdessen: „Das mag sein, aber Geschichten haben immer einen wahren Kern.“
„Hmm“, machte sie nachdenklich und blickte dann auf, „Und gibt es dieses Horn vielleicht wirklich?“ Die Frage kam unerwartet, eine Spur kindliche Neugierde schwang in ihrer Stimme mit. 
Mathan runzelte unmerklich die Stirn, als er nachdachte, doch er konnte sich nicht entsinnen davon gehört zu haben. Er schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid.“
Sie atmete durch und nickte, „Hatte auch nicht daran geglaubt.“ Anhand ihrer Tonlage hörte er heraus, dass sie ihre Enttäuschung überspielte, als sie rasch das Thema wechselte: „Ich möchte nicht undankbar erscheinen, wenn ich nach einer… passenderen Kleidung frage – und bei den Sternen bitte kein Kleid.“
„Das tust du nicht“, beruhigte er sie und musterte sie kurz eindringlich. Ihm war klar, dass sie das Kleid verachtete, so wie sie sich darin bewegte. „Und was schwebt dir so vor – außer Kleider?“
Sie grinste und schob die Ärmel ihrer Kleidung hoch. Ein gutes Dutzend breiter Narben kam zum Vorschein. „Etwas, dass so etwas verhindern kann, immerhin ist der Feind nicht weit.“
Mathan nickte mit einem sachten Schmunzeln und erklärte, dass er da schon jemanden wüsste, der ihr weiterhelfen könnte. Im Kopf beschloss er sie zu dem Gespräch mit seinem Vater mitzunehmen, der inzwischen wieder sämtliche Schmiedearbeiten in der Stadt beaufsichtigte. Er wüsste sicherlich, wo man Rüstung und Waffen für die junge Kriegerin auftreiben könnte. Sie nickte dankbar und verfiel in kurzes Schweigen. Ein Flügel des großen Tores öffnete sich und eine Delegation Avari betrat die Eingangshalle. Sie warfen ihnen Blicke aus den Augenwinkeln zu. Valena musterte die Elben, die in leichte Rüstungen gehüllt waren, einige trugen breite Stoffgürtel aus braun- und Grüntönen. Sie sprachen leise in ihrem eigenen Dialekt und warteten. Mathan bedeutete der jungen Kriegerin sitzen zu bleiben, als ein hochgewachsener Elb sich aus der Gruppe löste und sich scheinbar in ihre Richtung begab. Mathan hatte die Schritte aus dem Korridor links von ihnen bereits vernommen und wandte nur halb den Kopf. Aus dem Ostflügel des Palastes kam eine Elbe, die er schon öfters in Faelivrins Gefolge gesehen hatte. Sie hatte lange, kastanienbraune Haare, die sich über ihren Rücken ergossen  und von einem dünnen, silbernen Haarreif aus ihrem Gesicht gehalten wurden. Ihr scharfer Blick aus grünen Augen huschte kurz zu Mathan und Valena auf der Bank. Sie nickte unmerklich zum Gruß, wandte sich aber dann an den hervorgetretenen Avari in der Gemeinsprache: „Seid gegrüßt.“ Es war eine recht frostige Begrüßung, die der Avar nicht weniger kühl erwiderte. „Ich bin Istime, die Hofmeisterin und Verwalterin des Reiches. Die Königin erwartet demnächst zehn Pferde samt Gespann aus Tharbad. Ich hörte, dass Ihr in den Stallungen am Südtor noch freie Plätze habt, ja?“
Etwas unwillige nickte der Avar und schien eher den Kopf schütteln zu wollen, was Istime nicht entging. Sie lächelte und setzte nach: „Gut, dann wisst Ihr nun Bescheid.“
Mathan musste sich beherrschen, um nicht zu Glucksen, selbst Valena hielt sich rasch eine Hand vor dem Mund, um ihr Grinsen zu verbergen.
Der Avar – offenbar ein Cuind – wollte protestieren, doch Istime hob mit gespielter Überraschung die Brauen. „Habt Ihr doch kein Platz? Nun, das wäre natürlich ein Problem. Und Probleme nimmt man in diesem Palast sehr ernst. Und ernste Angelegenheiten nimmt sich die Kronprinzessin zurzeit hilfsbereiter Weise persönlich vor, um mich ein wenig zu entlasten.“ Das Lächeln wurde eine Spur schärfer. „Also, haben wir ein Problem?“
Der Cuind lächelte nun ebenfalls und verneigte sich knapp: „Aber nein, es ist nichts womit ich Anarálîn – die ehrenwerte Isanasca belasten würde.“
Die Hofmeisterin lächelte nun strahlend und klatschte leise in die Hände: „Ausgezeichnet. Ich bedanke mich im Namen ihrer Majestät für Eure Dienste.“
Der Avar verneigte sich noch einmal äußerst knapp und wandte sich abrupt um. Valena neigte sich indessen leicht zu Mathan hinüber und fragte flüsternd: „Als was hat er da gerade die Prinzessin bezeichnet?“
„Sonnengekrönte Löwin“, antwortete er ebenfalls flüsternd, während sich die Cuind um ihren Sprecher versammelten, „Es ist ein Titel und ein Name in Einem. Den hat sie sich im letzten Kampf verdient. Ein Zeichen des Respektes unter den Avari, um herausragende Taten zu verewigen.“
„Ach, deswegen…“, Valena verstummte, als die Gruppe Cuind geschlossen den Palast verließen und dabei zuvorkommend und mit einem Lächeln der Hofmeisterin hinausgeleitet wurden. Der Torflügel wurde von der Palastgarde wieder geschlossen. Istimes Lächeln wurde etwas spitzbübisch, als sie sich zu Mathan umwandte und auf die Bank zuging.
„Nun, der tapfere Feldherr gönnt sich seine wohlverdiente Ruhe?“, begrüßte sie ihn mit einem Augenzwinkern, „Und wen haben wir hier?“, fragte sie mit Blick auf Valena, „Ein neuer Schützling?“
„Dies ist Valena, eine junge Kriegerin aus … dem Norden“, antwortete er etwas unschlüssig und räusperte sich, „ Nicht direkt, sie verweilt bei uns für eine unbestimmte Zeit.“
Istime blickte aufmerksam zwischen ihnen hin und her und nahm unerwartet Valenas Hand, „Und hast du schon eine Unterkunft?“
Die junge Frau schüttelte den Kopf und blickte fragend zu Mathan, doch die Hofmeisterin seufzte nur. „Nun, das geht natürlich nicht. Ich werde hier schon eine Kammer für dich finden, du müsstest sie aber mit der anderen Schülerin des Schwertmeisters teilen, wenn sie wieder…“ Sie brach ab und blinzelte rasch, lächelte dann freundlich, „Wir bekommen das schon hin. Komm, wir suchen euch ein schönes Zimmer im Ostflügel, da dürften heute drei fertig geworden sein.“ Mit den Worten zog sie die etwas verdutze Valena von der Bank, die Mathan einen hilfesuchenden Blick zuwarf. „Ich leihe sie mir für den Abend aus, eine helfende Hand hat mir gerade gefehlt.“
Mathan, der ein wenig von der direkten und vor allem tatkräftigen Art der Elbe überrascht war, nickte nur, doch Istime hatte Valena bereits zum Ostflügel geschoben und erklärte ihr, dass sie als Schülerin eines Meisters auch in dessen Nähe bleiben musste. Den Protest, dass sie nicht in einem Palast wohnen könnte und sie keine Ahnung von höfischer Etikette hatte, ignorierte die Elben geflissentlich. Ein paar Momente hörte er noch die Stimmen der beiden im Korridor diskutieren, bis sie wohl in einen anderen Raum gingen. Mathan erhob sich und blickte zu den Lichteinlässen knapp unterhalb der Decke, wo orangene Strahlen die Eingangshalle in ein warmes Licht tauchten. Es war bereits später Nachmittag. Er beschloss sich einen Moment der Ruhe zu gönnen und machte sich auf dem Weg aus dem Palast zu seinem kleinen Rückzugsort.

Curanthor:
Der Nachmittag war relativ kühl und grau-weiße Wolken türmten sich im Norden. Mathan hielt die Nase in den Westwind, der sich wohl bald drehen würde. Er schloss kurz die Augen und dachte an den salzigen Geruch des Meeres. Die Zeit auf der Avalosse ging ihm wieder durch den Kopf. Und das Auftauchen des Ringes. Es war erst weniger als ein paar Monate her, und doch war es eine sehr einprägsame Reise gewesen. Das Portal des Palastes riss ihn aus dem Gedanken. Ohne hinzusehen eilte er zwischen die Säulen hindurch zur Ostseite an der breiten Front des Baus entlang. Ihm stand jetzt nicht der Sinn nach mehr kleinlichen Auseinandersetzungen zwischen Manarîn und übrigen Avari. Vor der Ecke des Palastes, dort wo der Ostflügel begann, befand sich ein unfertiger Baugrund. Der Größe nach, war es ein Rundturm für Gemächer. Wenn er fertig war, verdeckte er die Sicht auf den schmalen Korridor, der den großen Ostflügel mit dem massiven Hauptgebäude verband. Mathan verstand nicht viel von der Kunst des Bauens und konnte sich kein genaues Bild machen, wie der fertige Turm wohl aussehen würde. Achtzehn Elben bearbeiteten lange, halb durchgeschnittene Holzstämme neben dem Baugrund und schliffen die Rinde ab. Niemand nahm von ihm Notiz.Nachdenklich betrachtete er die Materialien, die ein Dutzend Elben unablässig über eine breite Rampe von dem Platz heraufschafften. Es waren helle Steine, die aus dem nordwestlichen Teil Eregions stammten. Mathan kannte den alten Steinbruch noch von früher, den er bei einem seiner Streifzüge entdeckt hatte. Die meisten Steine waren bereits in Form gebracht und sorgfältig auf Pferdewagen aufgereiht. Zehn Elben entluden die Wagen unablässig und gaben sie sofort weiter, wobei die größten Steine zu viert getragen werden mussten. Sie landeten in den Fundamenten. Mathan machte einen großen Bogen um die Arbeiteten und wich einem großen Trog aus, den ein Elb gerade abgestellt hatte. Eine gräulich-braune Masse wabbelte darin zähflüssig. Der junge Elb blickte kurz auf und murmelte eine Entschuldigung, dann trug er den Trog zu einer weitere Gruppe Elben, die begannen die zähe Masse in die Fundamente zu arbeiten.
Auf der Ostseite angekommen schlängelte sich Mathan durch das übrige Materiallager. Fein gearbeitete Holzbalken reihten sich aneinander, ebenso fast perfekt geschliffen Steinquader stapelten sich. Er duckte sich unter eine Reihe von Flaschenzügen, einige nur für das Lager, andere waren so hoch, dass sie in die obere Etage des Ostflügels reichten. Drei davon arbeiteten unablässig und hoben Stein und Holz hinauf. Einige der Elben nickten ihm knapp zu, wenn sie ihn im Augenwinkel bemerkten, doch Mathan wollte sie nicht weiter stören und steuerte auf die unfertige Nordseite des Ostflügels zu. Das arbeitsreiche Lärmen wurde etwas leiser, nur das stetige Hämmern der Meisel auf Stein hallte herüber.

Hier am nördlichen Teil des Palastes konnte man sehen, wie unfertig alles war. Der Westflügel endete in einem großen, pragmatisch wirkenden Gerippe aus Holzstützen, das sich über das gesamte Dach fortführte. Die Rückseite des Thronsaals bestand aus einem halboffenen Korridor, der eigentlich in einem großen Garten münden sollte, doch von dem war noch nichts zu sehen. Der Grund war zwar planiert, doch steinig und keine Spur von Grün. Mathan schloss die Augen und stellte sich vor, wie der Palast wohl aussehen würde. Von vorne dominierte der runde, säulengetragene Vorbau mit dem Balkon und Faelivrins Gemächern. Dahinter erhob sich die große Rundkuppel des Thronsaals. Rechts und links wurde das Bauwerk von den Palastflügeln flankiert, wobei große Rundtürme das Bild abrundeten. Hinter dem Thronsaal, zwischen den beiden Flügeln entstand in seinem Geist ein grüner, mit kleinen Teichen gestalteter Garten. Dieser führte schließlich zum eigentlichen Hauptgebäude, von dessen Ausmaße nur der planierte Grund Aufschlüsse gab. Mathan öffnete die Augen. Es würde gewaltig werden, würdig eines Herrschersitzes und in keinem Maße geringer als der alte Palast der Noldor.
„Und gefällt es dir?“, ertönte eine bekannte Stimme plötzlich hinter ihm.
Mathan blinzelte überrascht und drehte sich zu seiner Enkelin um. Sie trug noch immer eine Rüstung, einen kurzen, roten Mantel, der ihr bis zur Hüfte reichte und ihre Schwerter, wobei an ihrem Gürtel nur noch eines hing. Das Schwert an ihrem unteren Rücken zog  jedoch wieder seine Aufmerksamkeit an. Es war ein Griff, der mit roter Seide umwickelt war. Isanasca schien zu lächeln sagte entschuldigend: „Wie es scheint, habe ich deinen Fluss der Gedanken unterbrochen.“
Rasch blickte Mathan auf. Er bemerkte die blaue-violette Winterblume, die sie sich in das blonde Haar hinter das Ohr gesteckt hatte und schmunzelte unmerklich. „Wie ein Fluss, so kann man seine Gedanken nicht festhalten“, entgegnete er und blickte sich um, „Es wundert mich, dich hier zu treffen. Wo du doch deiner Mutter so eine große Hilfe bist.“
Sie nickte sacht. „Hin und wieder muss auch ich etwas Abstand nehmen. Wenn ich meine Mutter beobachte, so scheint mir das umso wichtiger.“
Er verstand worauf sie hinauswollte, sprach es aber nicht aus. Das musste er auch nicht. Die andauernden Spannungen der Elben lagen seit seiner Ankunft in der Luft.
„Dies ist mein kleiner Garten zum entspannen“, sagte Isanasca und lachte unvermittelt leise, „Nun, es ist noch kein Garten. Und eigentlich noch nicht einmal ein Ort… nur eine freigeräumte Fläche.“
„Eine leere Fläche, ja, aber es geht um die Bedeutung, die wir ihr beimessen“, Er scharrte mit dem Stiefel einige Steinchen unter seiner Sohle beiseite, „Für mich war dies der nördliche Teil der Stadt. Hier standen eine Kaserne und einer der großen Türme von Eregion. Wir durften uns ihnen nie nähern. Sie waren nur den Herrscher und seinen Vertrauten bestimmt.“ Mathan verstummte und beschloss das Thema ruhen zu lassen. Viele Erinnerungen kamen erst jetzt wieder, wenn er so dastand und nicht gerade etwas zu tun hatte. Die meisten riefen wieder die dunkelsten Stunden seines Lebens wach. Seine Enkelin schien zu spüren, dass er nicht darüber weitersprechen wollte und schwieg taktvoll.

Sie lauschten dem Klopfen, Hämmern, Sägen und Rufen von der großen Baustelle für eine längere Zeit. Hin und wieder konnten sie einige Elben in den Holzkonstruktionen herumklettern sehen. Als sie sahen, wie einige von ihnen mit Seil und Muskelkraft Balken in die Höhe hievten, begann Isanasca zu schmunzeln. Mathan wandte ihr halb den Kopf zu und hob fragend eine Braue. Sie lachte leise und sagte, dass sie nun wisse, von dem ihre Mutter diesen Gesichtsausdruck hatte. „Ich habe mich gerade an das Gespräch erinnert, das ich vorhin mit einigen der ehemaligen Gefangenen geführt hatte, die ihr befreit habt“, sagte sie schließlich und wandte sich von den Bauarbeiten ab, „Einige haben sich über die Kraft der Elben gewundert und über die Baugeschwindigkeit.“
Mathan wandte sich ihr ebenfalls zu und atmete unmerklich aus. Ein weitere Thema, dass sie lösen mussten, die Gefangenen. „So? Ich denke, dass die meisten noch nie Elben getroffen haben. Dazu kommt, dass die Manarîn erfahrene Baumeister und in Eile sind.“
Seine Enkelin nickte, noch immer amüsiert, „In der Tat haben einige ständig auf meine Ohren gestarrt. Manche haben auch unsere Sprache nicht verstanden. Ich vermute, dass sie aus anderen Winkeln Mittelerdes kommen.“
Er antwortete, dass er sich sogar ziemlich sicher ist, dass dies der Fall war. Nach einer kurzen Pause fragte er schließlich ernster: „Und was machen wir mit ihnen?“
Isanasca blickte ihn überrascht an. Es war das erste Mal, dass sie ihn so anblickte und gleichzeitig so sehr an Faelivrin erinnerte. Eine Mischung aus Unerbittlichkeit und Sanftmut lag in ihren Augen. Sie fing sich rasch und strich sich über das Kinn. Nachdenklich murmelte sie, dass sie das eigentlich in dem Fürstenrat ansprechen wollte. Auf Mathans Frage hin, warum es im Rat ansprechen, schien sie zu zögern. Dann seufzte sie und schien ihre entspannte Laune zu verlieren. „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Und damit meine ich alle in diesem Land.“ Sie legte ihre Hand um ihren Schwertgriff, „Die tagelange Schlacht um Rómen Tirion war gar nichts, verglichen mit dem, was uns erwartet.“ Ihre Hand packte fest zu, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten. „Wir werden jedes Schwert, jeden Pfeil, jede Hand die sich gegen den Feind wendet brauchen, wenn sich die Flut aus dem Gebirge über uns ergießt. Dann müssen wir bereit sein. Ich bin es.“
Mathan legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter - er wusste, dass sie sich um Sanas sorgte. Ihre Hand löste sich von ihrem Schwertgriff und sie atmete schwer aus.
„Isansca“, begann Mathan, doch sie korrigierte ihn rasch mit einem flüchtigen Lächeln: „Isa. Ja?“
Er erwiderte das Lächeln, nickte und blickte zu ihrem Schwert, das sie sich hinterm Rücken festgebunden hatte, „Was hat es mit der Klinge auf sich, Isa?“, fragte er mit einem leichten Grinsen.
„Oh, das?“, sie tippte mit einem Finger auf den Griff, „Das ist Fâncrist.“
„Hmm Sindarin… Nebelspalter?“, murmelte er und musterte den mit roter Seide umwickelten Stahlgriff, an dessen Knauf ein matter Bernstein funkelte.
Isa nickte und sagte, dass dies ein Geschenk von einem sehr alten Freund für Amarin gewesen war, zur altvorderen Zeit. Woher die Waffe kam, wusste er aber selber nicht, nur, dass sie sehr alt war und niemals stumpf wurde.
Mathan grinste und sagte mit gespieltem Ernst, dass sein Vater sicherlich das Schwert selbst geschmiedet hatte, um besser dazustehen und geheimnisvoll zu wirken. Diese Art von Humor hatte er schon früher an sich gehabt, erinnerte er sich mit leichtem Wehmut. Isa gab indessen einen amüsierten Laut von sich und wurde rasch wieder ernst: „Fâncrist werde ich nur bei jenen Feinden ziehen, bei denen ich mir geschworen habe sie zu vernichten, ganz gleich was es kostet.“ Sie strich sich eine lange Haarsträhne aus dem Auge. „Seine Klinge ist das, was den Nebel des Ungewissen zerteilt, hatte dein Vater mir gesagt als er mitr die Waffe bei unserer Ankunft überreichte, also benetze ich es nicht unnötig mit schmutzigen Blut.“
Etwas in Mathans Erinnerung klingelte bei den Worten, doch wollte es ihm nicht in den Sinn kommen. Ein Teil von ihm war sich immer noch sicher, dass sein Vater sich wieder darüber amüsierte, eines seiner Werke einem mysteriösen Hintergrund anzudichten zu haben. Seine Enkelin machte auch keine Anstalten ihm das Schwert zu zeigen, weshalb er auch nicht danach fragte.
„Zu deiner Frage: Die Gefangenen sind für eine Weile unsere Gäste“, sagte Isa unvermittelt und kniff die Lippen zusammen, offenbar unwohl bei dem Gedanken, „Wir können es uns nicht leisten, dem Feind Einzelheiten über den Aufbau unserer Stadt, unsere Truppenstärke oder Verteidigungsanlagen zukommen zu lassen. Niemand von ihnen verlässt Ost-In-Edhil.“

Mathan nickte ernst, auch wenn er unter normalen Umständen sicherlich Einwände gehabt hatte, aber in der momentanen Lage war es das Klügste, den Fluss an möglichen Spionen und Informationen so gering wie möglich zu halten. Ein unerklärlicher Schauer lief ihm den Rücken hinab. Ein Zeichen von drohender Gefahr. Besorgt blickte er sich um, doch abgesehen von seiner Enkelin war er alleine auf dem großen Baugrund. Isa spürte seine Unruhe und fragte, ob etwas nicht stimmte. Mathan kniff anstatt einer Antwort die Augen zusammen und suchte die Umgebung ab. Hinter ihnen war ein großer Stapel mit Steinen und Holz. Er nickte in die Richtung. Noch weiter hinten konnte man die Mauerkrone der dicken Stadtmauer erkennen. Gemeinsam eilten sie auf leichten Elbensohlen zu dem Stapel, beide mit einer Hand am Schwert. Mathan war sich sicher, dass sie alleine waren, doch man konnte nie vorsichtig genug sein. Als er die Steinquader umrundete, wartete Isanasca bereits auf ihn auf der Rückseite, die Arme verschränkt.
„Es hätte mich auch sehr gewundert, wenn wir jemanden gefunden hätten. Dafür müsste man die Stadtmauer und die Gräben unentdeckt überwinden“,  befand sie und nickte zu den funkelnden Elbenhelmen von der Wache auf der Mauer, wo sich die senkende Nachmittagssonne reflektierte, „Und ohne Kletterhaken wäre das ziemlich schwer.“
„Hmm“, machte Mathan nachdenklich und entspannte sich, „Trotzdem, man kann nie vorsichtig genug sein.“
Seine Enkelin nickte düster. „Nachdem, was an der Ostwacht passiert ist…“ Sie schüttelte den Kopf, „Du hast Recht.“ Langsam wandte sie sich zum Palast und ging gemächlichen Schrittes vor, er holte rasch auf, als sie weitersprach: „Ich kann nur hoffen, dass Lissailin und die andere verborgene Stadt unentdeckt bleibt.“
Mathan verschränkte die Arme hinter den Rücken und sah sich rasch um. „Selbst ich weiß nicht wo sie liegt. Und von der zweiten Stadt höre ich gerade das erste Mal, vielleicht sollten wir das in einem privateren Ort besprechen.“
Isanasca schaute sich ebenfalls um, doch sie befanden sich auf der großen, planierten Fläche des zukünftigen Gartens, wo es keine Möglichkeit gab sie zu belauschen. Sie rückte etwas näher an ihn heran, sodass sich ihre Schultern bei jedem Schritt berührten. Mit gesenkte Stimme sagte sie: „Lissailin liegt jenseits von Talath Neldor. Ich denke, du kannst damit etwas anfangen. Die zweite Stadt … das bespricht du besser mit der Königin – ich meinte, mit Mutter.“ Sie lächelte flüchtig. Er legte ihr dankbar eine Hand kurz auf die Schulter und wollte sich schon verabschieden, da er das Gespräch mit seinem Vater angehen wollte.
Isa spürte es, hielt ihn jedoch kurz zurück. „Was glaubst du, was Oronêl da unten getroffen hat? Wird es hier zu uns kommen?“
Er zögerte, sie warf ihm daraufhin einen äußerst besorgten Blick zu, woraufhin Mathan tief ausatmete: „Ich weiß es nicht, aber so wie er es beschrieben hat… ist es uralt und durch und durch böse.“ Sein Blick senkte sich unwillkürlich auf seine Hände, „Und ich hoffe es bleibt dort, aber ich befürchte, dass es nicht so einfach wird.“
Isanasca nickte und wechselte taktvoll das Thema: „Immerhin ist dein Freund diesem Ding entschlüpft. Er wirkte zwar erschöpft, als ich ihn traf, aber ihm fehlte nichts.“
Er nickte erleichtert und lächelte: „Ja, er ist ziemlich unverwüstlich, der gute Oronêl. Wenn er wiederkehrt, werde ich uns ein Fässchen Wein anstechen, immerhin sind wir beide wohlbehalten zurückgekehrt.“
Seine Enkelin lachte und bot an, eines aus dem Lager ihrer Mutter zu besorgen, was er auch nicht ablehnte. „Und Kerry“, sagte sie plötzlich mit einem amüsierten Funkeln in den Augen, „Sie ist auch wohlbehalten zurückgekehrt.“
Mathan grinste und sagte, dass er sie schon getroffen habe und sie wahrscheinlich den Wein nicht so gut vertragen würde. Isa nickte und schien kurz nachzudenken, dann erzählte sie ihm von dem Gespräch mit seiner Adoptivtochter, während sie in den Westflügel eintraten. Sie wichen einigen Elben aus, die geschliffene Holzstämme hoch in die oberen Etagen hievten. In dem fertig gestellten Bereich, wo auch seins und Halarîns Zimmer lag, endete sie mit der Erzählung über den Schwur von Eorl. „Der Gedanke daran lässt mich nicht los. Die Kleine hat in meinen Gedanken da etwas angestoßen, das ich ehrlich nicht erwartet hätte – etwas Gutes. Und das, obwohl ihr so viele andere Dinge durch den Kopf gehen.“ Isa schien höchst nachdenklich und blickte in die Ferne.
Mathan nahm den letzten Satz mit besonderer Notiz zur Kenntnis und achtete darauf das nicht zu vertiefen. Wenn Kerry mit ihm darüber reden wollte, würde sie selbst zu ihm kommen. Stattdessen sagte er, dass er von dem Schwur weiß, aber nichts Genaueres. Isa nickte und schien wieder im Gedanken zu sein. Unvermittelt murmelte sie, dass es noch zu früh war, es im Rat zu sagen. Mathan stimmte ihr zu und blinzelte rasch, als ihm etwas einfiel, das er fast vergessen hatte: „Die drei Zwerge hätten einige Ideen uns zu helfen“, sagte er rasch und bog mit Isa um die Ecke, die große Eingangshalle lag am Ende des Korridors, „Allerdings befürchten sie, dass einige feine Elben nicht damit einverstanden wären. Wir treffen uns zum Abendessen.“
Isanasca warf ihm einen überraschten Seitenblick zu. „Tatsächlich? Ich habe gehört, dass es nicht üblich ist, dass Zwerge ihr Wissen oder gar Ideen mit anderen teilen. Also sollten uns es sicherlich anhören – ganz gleich was es ist. Wir sind auch nicht so hochwohlgeboren, wie sie denken.“
Mathan stimmte ihr nur mit einem knappen Nicken zu, da er den letzten Satz nicht bekräftigen wollte. Er fand, dass die Manarîn sich ziemlich hervortaten es den Hochelben nachzutun. Das behielt er jedoch für sich und verabschiedete sich von seiner Enkelin, die auch wieder ihren Pflichten nachgehen musste. Seine Schritte führten ihn zum Thronsaal, wo Faelivrin Hof hielt. Sie würde sicherlich wissen, wo sein Vater war, da er keine Lust hatte in der ganzen Stadt und in den Schmieden nach ihn zu suchen.

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