Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Eregion
Ost-in-Edhil
Curanthor:
Als Mathan durch das große Thor des Thronsaals schritt, sah er Faelivrin am Fuße des Podests am Ende des Saales, umringt von ein Dutzend Elben. Er bemerkte, dass sich einige Köpfe unmerklich kurz zu ihm drehten, doch scheinbar waren sie sehr in einer Diskussion vertieft. Die Stimmung wirkte angespannt. Seine Tochter hatte einen harten Gesichtsausdruck, die Augen leicht verengt und die Stirn in leichten Falten liegend. Sie nickte hin und wieder und antwortete in einem Dialekt, den Mathan schon öfters bei den Manarîn gehört hatte. Dann winkte sie eine ihrer Zofen, die im Hintergrund warteten heran, wisperte ihr etwas zu und sprach dann weiter mit den Manarîn. Mathan nahm es ihr nicht übel. Er hatte schon damit gerechnet, dass sie beschäftigt war und wollte auch wegen so einer relativ unwichtigen Sache, wie den Aufenthaltsortes ihres Vaters nicht ihre Zeit rauben. Die junge Elbenzofe näherte sich ihm eilig, hielt respektvollen Abstand und verneigte höfisch. Er nickte ihr knapp zu und bedeutete näher zu treten. Sie zögerte, kam dann aber der Aufforderung nach und richtete ihm in knappen Worten Faelivrins Botschaft aus. Sie sprach in einem etwas seltsamen Akzent und betonte einige Wörter der Allgemeinspsrache merkwürdig unpassend an den Satzanfängen. Es war eigentlich nur die Information, dass sein Vater gerade an einer äußerst wichtigen Sache arbeitete und nicht daran gedacht hatte, als er ihm die Botschaft überbracht hatte. In das makellose Gesicht der Zofe flackerte für einen winzigen Moment Unwillen auf, doch hatte sie sich rasch wieder im Griff. „Die Königin empfiehlt, dass Ihr Euch um Eure Schülerin erkundigt. Sie liegt im Haus der Ruhe.“ Sie verneigte sich und kehrte wieder an die Seite Faelivrins zurück. Mathan warf seiner Tochter noch einen Blick zu, machte dann aber kehrt und verließ den Palast. Während er die Treppen zum großen Platz hinabstieg, fragte er sich, woran sein Vater wohl gerade arbeitete. Dann fiel ihm wieder ein, wie Hofmeisterin Istime gezögert hatte, als sie über Adrienne sprechen wollte und auch jetzt wieder hatte die Zofe gezögert. Seine Schritte beschleunigten sich. Irgendwas Schlimmes musste geschehen sein, aber sein Gefühl sagte ihm, dass es noch nicht vorbei war. Eilig folgte er der Hauptstraße, die von Wägen voller Baumaterial gut gefüllt war und leeren KAaren, die die Stadt wieder verließen. Hin und wieder entdeckte er auch einige der ehemaligen Gefangenen in einem Hauseingang sitzen, manche trugen einen Elbenmantel über den schäbigen Kleidern. Sie hatten die Blicke meist gesenkt, oder sehnsüchtig auf die scharf bewachte Torburg gerichtet. Mathan zog hin und wieder ihre Blicke auf sich, da sein roter, mit Goldgarn bestickter Mantel in den trüben Farben des späten Winters ziemlich hervor stach. Er vermied es jedoch angesprochen zu werden und bog in die engen Gassen ein.
Am Haus der Ruhe angekommen, bemerkte Mathan erst bei seiner Ankunft, dass er gar nicht nach dem Weg gefragt hatte. Das musste er auch nicht, er hatte einfach den Weg aus seiner Erinnerung eingeschlagen. Und die Manarîn hatten das alte Haus der Heiler wieder aufgebaut, zwar in ihrem eigenen Stil und etwas kleiner, aber es stand auch in der kleinen Senke, in der ein kleiner Teich und ein Garten lag, in dem sich die Kranken erholen konnten. Ein Pferd, das am Eingang geduldig wartete, verriet ihm, dass er nicht alleine war – abgesehen von den Heilern. Die Besitzerin kam auch just in dem Augenblick aus dem Eingang, als er eintreten wollte. Es war Ivyn, die Erste der Hwenti. Ihre silbrigen Augen huschten kurz über seine Rüstung, dann das Schwert Halarîns an seinem Gürtel. Sie nickte mit einem Stirnrunzeln, offenbar nicht ganz zufrieden bei dem was sie sah und wandte den Kopf, den Blick dabei in die obere Etage. „Sie ist wach. Ich habe sie gerade behandelt. Morgen kann sie wieder vorsichtig das Bett verlassen, aber heute noch nicht.“
„Habt Dank für Eure Mühen“, bedankte sich Mathan mit einer knappen Verneigung. Er hatte schon von der meisterhaften Heilkunst der Ersten gehört, aber noch nie selber zu sehen bekommen.
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Gebt Euch keine Schuld an dem was geschehen ist, oder was noch kommt.“
Er nickte und wollte schon hineingehen, doch sie hielt ihn mit einem starken Griff am Arm fest. „Der Brief. Gebt ihn mir.“
Mathan blinzelte überrascht. Es war so viel geschehen, dass er erstmal verwirrt blinzelte. Ihm war vollkommen entgangen, dass er einen dabei hatte, oder von wem er überhaupt war. Er war sich gar nicht sicher, dass er überhaupt einen Brief dabei hatte.
Sie bemerkte seine Verwirrung und ließ seinen Arm los. „Verzeih, mein Fehler“, entschuldigte sie sich rasch und neigte sich mit ernstem Gesicht zu ihm herunter: „Halarîn soll noch nicht von ihren Geschwistern erfahren. Es ist noch zu früh.“
Mathan schnaubte leise, da er den Schmerz in den Augen seiner Geliebte deutlich vor sich sah und murmelte: „Sind fünftausend Jahre plagende Ungewissheit nicht genug?“
Die Erste richtete plötzlich auf, die Lippen zusammengekniffen und das Silber in ihren Augen nahm an Intensität zu. „Vorsicht“, sagte sie plötzlich leise und klang ganz anders, als die sonst so weise und ausgeglichene Ivyn. Gefährlicher. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinab, während sie weitersprach: „Manchmal sollte der Schleier des Ungewissen nicht zerrissen werden…“
Mathan erinnerte sich, dass Halarîn im erzählt hatte, dass ihre Mutter und Ivyn sich nicht gut verstanden hatten. Jetzt konnte er sich auf vorstellen warum. Die Erste konnte sehr unerbittlich sein. Und dennoch konnte er Halarîn einfach nicht damit alleine lassen. Mathan straffte sich und hielt dem bohrenden Blick stand.
„Hm“, machte die Erste nach einigen langen Momenten zufrieden, „Ich bin froh, dass Halarîn so einen willensstarken Mann gefunden hat“, gab sie plötzlich zu und wirkte auf einmal wieder zu ruhig und gelassen wie zuvor. „Mein Gefährte war wild, ungezügelt und ein großer Krieger – doch sein Herz war … düster. Meine Tochter Telperiel hat viel von ihm. Und auch ihre Kinder… bis auf Halarîn.“ Ivyn blickte einen kurzen Moment in weite Ferne, bis sie fragte: „ Du weißt, was ihr Name bedeutet?“
Mathan, der erst überrascht von den persönlichen Worten interessiert zugehört hatte, nickte knapp. „Vom Schatten gekrönte Maid.“
Ivyn schwieg als Antwort und trat zu ihrem Pferd. Während sie die Zügel entknotete, sprach sie weiter: „In andere Sprachen übersetzt, ja.“ Sie machte eine kurze Pause. „Sie hat den Schatten in sich überwunden und trägt ihn seither als Krone, das bedeutet ihr Name. Etwas, dass ich nicht von ihren Geschwistern behaupten kann.“ Die Erste schwang sich elegant auf das Ross und strich der Stute sacht über den Hals. Plötzlich hörte er ihre Stimme in seinen Gedanken. „Mehr werde ich nicht darüber sagen, bis auf dies: Hüte dich vor Haldaría oder Cúndil und halte Halarîn unter allen Umständen von ihnen fern.“ Ivyn lenkte das Pferd an ihn heran und senkte ernst den Kopf: „Selbst, wenn du zum Schwert greifen musst, hörst du? Lasse keinen der beiden an sie heran - niemals.“ Ihre eindringliche Stimme halte in seinem Kopf wider, sodass er nur knapp nickte, noch immer überrascht und besorgt von der Warnung.
Ivyn wirkte nun zufriedener als zuvor und sagte nun wieder mit ruhiger Stimme: „Ich beglückwünsche dich für deinen Sieg am Sirannon.“ Sie blickte kurz hoch in die erste Etage des Heilerhauses. „Deine Schülerin erwartet dich.“
Mathan lächelte gequält und erwiderte, dass sie die Schlacht um Rómen Tirion verloren hatten, was Ivyn mit einem Kopfschütteln quittierte. „Jedes Leben, das gerettet wurde ist ein Sieg, auch wenn wir diese Schlacht verloren haben, so waren es doch viele Siege. Vergiss das niemals.“
Mathan verstand die Weisheit in den Worten und verneigte sich knapp. Ivyn nickte sacht zum Abschied und ließ das Pferd davontraben. Einen Moment blickte er ihr nach, bis sie hinter der Kuppe verschwunden war. Oben meinte er ein Fensterlade klappern zu hören und schmunzelte, offenbar hatte da jemand das Bett verlassen, entgegen dem Rat der Heiler.
Curanthor:
Eine der Heilerinnen begleitete Mathan die Treppe hinauf und brachte ihm zum Ende des Flurs, der in einer schlichten braunen Tür endete. Kleine Elbenlampen hingen in regelmäßigen Abständen den Wänden und spendeten ein warmes Licht. Die rothaarige Elbe nickte ihm zu und zog sich diskret zurück. Mathan atmete einen Moment durch und legte eine Hand auf den Knauf. Er hatte keine Ahnung was ihn hinter der Tür erwartete, auch wenn er durch das Geflüster und Gemurmel der Maanrîn mitbekommen hatte, dass Adrienne offenbar überstürzt die Stadt verlassen hatte, nur um einen Tag später übel zugerichtet wiederzukehren. Einige Arbeiter am Palast hatten sich erzählt, dass sie nur durch die Kälte des Schnees überlebt hatte. Er klopfte sacht und eine matte Stimme antwortete. Mathan verstand sie nicht, trat aber vorsichtig ein. Vor ihm öffnete sich ein warmes und gemütlich eingerichtetes Zimmer. Zwei kleine Elbenlampen spendeten ein klein wenig Licht in der aufkommenden Dämmerung. Das große Fenster stand offen und eine kalte Brise wehte herein, doch man konnte schon spüren, dass der Winter sich bald wieder verzog. Link von ihm prasselte ein warmes Feuer in einem kleinen Kamin; dem gegenüber stand ein großes, weiches Bett aus hellem Holz, wahrscheinlich aus einem Hulstbaum. Ein flauschiges Fell lag auf dem Boden, von der Machart ein Geschenk aus Dunland. In den weichen Kissen und unter einer weiteren Lage Felle blinzelte ihm ein müdes, blasses Gesicht eines jungen Menschenmädchen entgegen. Ein feuerroter, verkrusteter Schnitt zerteilte ihre Augenbraue, das Augenlied schien aber schon fast verheilt, aber das rechte Auge selber hatte sämtliche Farbe verloren und blickte ihm schwarz entgegen. Zwei unterschiedliche Augenfarben, abgrundtiefes schwarz und ein warmes Braun musterten ihn mit einer Mischung aus Erkennen und Scham. Der Schnitt setzte sich noch bis über die Wange fort und endete knapp über ihren Mundwinkel. Sie verzog das Gesicht und schob die Decke etwas höher. Dabei sog sie kurz scharf die Luft ein, als ob das viel zu viel Bewegung auf einmal war.
„Willst du nichts sagen“, brummte sie anstelle einer Begrüßung unwirsch.
Mathan war erst ein wenig überrascht von dem abweisenden Ton, hob aber dann die Mundwinkel zu einem beruhigendem, verständnisvolles Lächeln. „Ich bin froh, dass es dir gut geht.“
Adrienne hatte die ganze Zeit auf das erlösende Klopfen gewartet. Als es endlich ertönte, deckte sie sich noch einmal sorgfältig zu, um es so erscheinen zu lassen, dass sie nie das Bett verlassen hatte. Sobald sie das Gesicht des Schwertmeisters sah, kniff sie leicht geblendet die Augen zusammen. Das Wispern in ihren Ohren verklang, je näher ihr Lehrer an das Bett trat, doch er schwieg und musterte sie lange. Adrienne musste den Impuls unterdrücken eine Hand auf ihre Wunde zu legen, um sie zu verbergen. Trotz der wundersamen Heilkunst der Elben fühlte sie sich elend. Und der schweigende Elb, machte es auch nicht besser. Mürrisch forderte sie ihn schließlich zum Sprechen auf, doch er sagte nur, dass er froh war, dass ihr gut ging. Sie schnaubte leise und fragte, ob sie vielleicht so aussah, als ob es ihr gut ging. Mathan wirkte einen Moment weniger freundlich und zog stattdessen den gemütlichen Sessel von der Ecke bei dem Bücherregal zu ihr an das Bett. Er nahm das Schwert von seinem Gürtel, dass ihr entfernt bekannt vorkam und ließ sich in dem Sessel nieder.
„Also“, begann er mit ernstem Ton und faltete die Hände zusammen, „Du weißt, ich bin nicht gut in sowas.“ Er musterte ihre Wunden noch einmal, abschätzend, kalkulierend, „Das sieht mir nicht wie eine normale Schwertwunde aus. Was ist geschehen?“
Adrienne schob ihre verkrusteten Hände über die Deckenkante und krallte sich daran, auch wenn es ein scharfes Pochen auslöste. Diese Frage hatte sie schon dutzendfach gehört. Von sämtlichen Spitzohren in der Stadt, selbst von Leuten, deren Gesichter sie nicht zuordnen konnte. Dunkel erinnerte sie sich an eine blonde, junge Frau neben ihrem Bett. Sie hatte ihr etwas bedeutet. Das Wispern wurde lauter. Es war wie ein Flüstern, das der Wind auslöste, wenn er durch ein verlassenes Gemäuer pfiff. Es trug einen Namen heran. „Kerry“, murmelte sie leise und das Stimmgewirr in ihrem Kopf wurde zu einem undeutlichen Rauschen.
Mathan runzelte die Stirn und schien etwas sagen zu wollen, blickte sie aber weiterhin fragend an. Adrienne fühlte sich seltsam entrückt. Alles war seltsam fern von ihr, so als ob sie träumte. Ihr verletztes Auge begann zu pochen, woraufhin sie leise stöhnte. Der Elb wirkte nun besorgt und holte ein feuchtes Tuch asu der Schüssel von der kleinen Kommode neben dem Bücherregal. Ohne zu fragen betupfte er ihre Stirn und vorsichtig um die Wundränder herum. Das kühle Wasser, das ihre Haut benetzte verschaffte etwas Abkühlung und dämpfte den heiß pochenden Scherz. Sie hob dankbar die Mundwinkel, wenn auch nur minimal. Sie hatte das Gefühl, dass sie nie wieder klar denken konnte, ständig entglitten ihre Gedanken oder ganze Sätze. Gerade hatte sie sich bedanken wollen, doch nichts kam über ihre Lippen. Frustriert räusperte sie sich und wandte ihm den Kopf zu: „Ich bin froh, dass du da bist“, sagte sie schließlich etwas behäbiger als sie wollte.
Der Elb nickte und legte sein Schwert quer über seinen Schoß, „Leider zu spät um…“ Er verstummte und schüttelte nur den Kopf.
Adrienne wusste, was er sagen wollte und schüttelte ebenfalls den Kopf. „Es wäre so oder so geschehen, ganz gleich wo ich bin und wer bei mir ist…“ Sie bemerkte seinen fragenden Blick, „Es sind jene, die in den Schatten wandeln“, sagte sie und schloss kurz die Augen, „Herolde der Dunkelheit.“ Es hatte Mühe gekostet, das hervor zu würgen und sie atmete mehrmals durch um wieder zu Kräften zu kommen. Die Stimmen flüsterten wieder lauter. Manche waren klar und deutlich wahrzunehmen. Frustriert zischte sie, dass sie endlich die Klappe halten sollten und wollte wütend mit der Faust auf die Matratze schlagen, beherrschte sich aber noch. „Das macht mich noch wahnsinnig“, murmelte sie und schaute zu Mathan hinauf, „Die anderen.“ Sein skeptischer Blick verriet ihr alles und sie lachte bitter, „Ja, so würde ich wohl auch schauen, wenn jemand von Stimmen im Kopf erzählt.“
„Was für Stimmen“, hakte er rasch nach und schien wieder ernst.
Sie blinzelte und antwortete zögerlich: „Atanatáriel. Sie ist eine der lautesten… und jemand anderes, über die ich nicht sprechen möchte. Etwas Böses…“
Mathan erkundigte sich, ob sie davon Ivyin erzählt hatte, was sie entsetzt verneinte. Schließlich hielt man sie jetzt schon für verrückt, oder für eine Gefahr.
„Eine Gefahr?“ Mathan runzelte empört die Stirn, „Welcher Narr erzählt denn sowas?“
Adrienne erzählte, wie sie im Fieberwahn um sich geschlagen hatte, bis sie Kerry erkannt hatte. Dann sei etwas in ihr erwacht. „Ivyns Worte, nicht meine“, sagte sie hastig und schauderte bei dem vagen Gefühl, dass sie kurz überkam. Eine innere Leere, die sämtliches Glück und jedes warmes Gefühl aus ihr heraussog. Die Stimmen wurden jedoch erträglich leise. Sie schüttelte sich unmerklich und die Wärme des Kamins kehrte wieder auf ihr Gesicht zurück. Mit ihm kam auch das leise Wispern der Stimmen im Wind. Die Leere war fort. Mathan musterte sie scharf und schien zu überlegen, was er davon halten sollte. Adrienne stellte überrascht fest, dass sie sich gar nicht groß darum kümmerte, was er von ihr halten würde. Er, Halarîn oder Kerry, keiner von ihnen erschien ihr wichtig. Wenn sie sie nicht akzeptierten, brauchte sie sie nicht. Gleich einer plötzlichen Eingebung zuckte sie bei dem Gedanken erschrocken zusammen und krallte sie fester in die Decke. Mach‘, das es aufhört und haltet die Klappe, schnauzte sie im Gedanken das, was sie liebend gern sagen wollte, doch sie beherrschte sich.
Mathan musterte die verkrusteten Handrücken seiner Schülerin. Akkurate Linien waren in die weiche Haut geritzt und bildeten ein merkwürdiges Muster, das seine Warninstinkte klingeln ließ. Sie schien sichtlich unwohl, mürrisch und deutlich kühler. Ihre Haut war fahl und kühl. Er seufzte besorgt, als sie kurz zuckte und trat zu einem Wandregal und suchte nach einem kleinen Fläschchen, das er von Halarîn kannte. Er fand das leichte Beruhigungsmittel aus einem Kräutersud, geriebenen Wurzeln und etwas Honig. Seine Schülerin schien es zu kennen, denn sie wirkte erleichtert und richtete sich ein wenig in ihrem Bett auf. Mathan trat ans Bett und drückte sie sanft zurück in die Laken. Seine Hand berührte dabei etwas Weiches und seine Schülerin zuckte kurz. „Verzeihung, murmelte er hastig, doch sie winkte ab und sagte, dass er eine Wunde berührt hatte, was er mit einem knappen Nicken zur Kenntnis nahm. Er wusste, dass es nur die halbe Wahrheit war, doch sie lächelte verständnisvoll, offenbar wusste sie, dass er nur sehr wenig als Heiler verstand. Es war das erste Mal, dass sie eine positive Regung zeigte. Erleichtert half er ihr einen Schluck der Medizin zu nehmen und verkorkte wieder das Fläschchen. Adrienne leckte sich die Reste von den fast verheilten Lippen und schloss kurz die Augen, während sie tief durchatmete. Sie schwiegen einen Moment und warteten, bis die Medizin ihre Wirkung entfalten konnte. Mathan fühlte sich dabei unwohl, da er es hasste an Krankenbetten zu stehen. Er verband es immer mit der Anwesenheit des Todes im Feldlazarett, auch wenn dieses Krankenzimmer sehr gemütlich eingerichtet war und zum Entspannen einlud. Er lauschte ihrem Atem, der etwas leichter ging und Adrienne bekam etwas mehr Farbe im Gesicht. Nach einigen langen Momenten, in denen Mathan darüber nachdachte, sich eines der Bücher zu nehmen, räusperte sich Adrienne leise und murmelte einen Dank. Anfangs etwas zögerlich begann sie davon zu erzählen, wie sie schon lange bevor sie nach Anor gegangen war, stets eine innere Unruhe gefühlt hatte. Sie stockte, als sie von der Fehde erzählte, in der sie lag. „Meine Eltern erzählten mir, dass bereits vor der Besetzung sie Probleme hatten, aber sie waren nie genauer geworden.“ Adrienne verstummte für einen Moment und schien ziemlich unglücklich, erzählte dann, das sie während der Besatzung ihre Unschuld verloren hatte und auch ihre Mutter. Auf Mathans vorsichtige Nachfrage, warum ihnen das widerfahren war, hielt sie sich kurz die Schläfen und atmete scharf ein. Ein finsterer Gesichtsausdruck huschte über ihr verkrustetes Antlitz. „Es findet schon lange ein Krieg im Schatten statt. Ich weiß nicht, ob meine Eltern damit zu tun hatten, oder irgendwas an mir…“ Sie schaute sich rasch im Raum um und murmelte, dass sie auch nicht wusste, woher sie das wusste. Mathan merkte, dass sie Schwierigkeiten hatte den richtigen Faden zu finden und half ihr, indem er fragte, wie es denn angefangen hatte, was auch immer da geschehen war.
Adrienne wirkte ein wenig unschlüssig. „Mal hier, mal dort“, murmelte sie und überlegte kurz, „Seit Fornost.“ Ihre Stimme wurde wieder fester, „Seit der ersten Verwundung durch… Dôlguthôr.“ Sie spie den Namen aus wie ein Stück fauliges Brot und erzählte nun mit einer Mischung aus Hass und Unbehagen, dass sie seitdem ständig grässliche Albträume gehabt hatte und immer das Gefühl hatte, dass man sie beobachtete. „Dieser Attentäter aus Tharbad?“, wiederholte Mathan und runzelte die Stirn. Er wünschte sich inständig in den Kampf eingegriffen zu haben. Es war ein Fehler es nicht getan zu haben, wie er verbittert feststellte. In Adriennes Augen las er denselben stummen Vorwurf, doch sie ging nicht weiter darauf ein: „Von da an wurde es immer schlimmer. Je weiter wir uns Carn Dûm näherten, umso mehr hörte ich das Rauschen des Windes. Und der Wind brachte Geflüster.“ Sie wirkte frustriert. „Mein Bruder hatte immer eine beruhigende Wirkung auf mich gehabt.“ Adrienne verstummte und blickte an die Decke, „Doch das Geflüster erstarb seitdem nie wieder.“
Mathan wusste, dass der damals verwundete junge Bursche beim Sternenbund war, aber eigentlich sollte er irgendwann mit einer Delegation nach Eregion kommen. Dass er noch immer nicht aufgetaucht war, war in den aufkommenden Kriegswirren vollkommen untergegangen. Seine Schülerin fuhr mit ihrer Erzählung fort und ihren immer schlimmer werdenden Zustand. Sie übersprang Teile der Geschichte und sagte beschämt, dass sie die Nähe von Elben seit Mithlond als sehr anstrengend empfunden hatte und schließlich in Eregion war es dann ganz schlimm. Sie wirkte unwillig und murmelte, dass es in ihren Augen blendete. Sie hatte sich ausgegrenzt gefühlt. Alleine und ungewollt. Ihre Eltern waren getötet worden und ihr Bruder weit weg. Wie ein Vogel im Käfig. Als sie schließlich zur Königin bestellt wurde, war ihr alles zu viel. Die kriechende Dunkelheit im ihren Herzen hatte dann irgendwann die Oberhand gewonnen und Adrienne nur noch mit Instinkt handeln lassen.
Mathan besorgte die Aussage mit dem geblendet sein durch die Elben, da sie Geschöpfe des Lichts waren, behielt das aber tunlichst für sich. Sie warf ihm einen abwartend Blick zu und erzählte tonlos, dass sie Kerry ihre lächerlichen Gefühle gestanden habe und sich dann davon gemacht hatte. Adrienne verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ihr ständiges heile-Welt-Getue und ihre vollkommene… Unfähigkeit Gefahren oder Gefühle von anderen zu erkennen.“ Sie biss knirschend die Zähne zusammen und atmete tief aus und löste ihre Kiefer mühsam, „Manchmal überkam mich der Drang ihr ein Schwert in die Hand zu drücken und zu sagen, was ich für sie empfinde, und dass ich eine Gefahr für sie bin.“ Sie verstummte verbittert und schnaubte leise, „Aber sie ist zu weich. Schwach. Und vor allem leichtgläubig. Alles, was ich nicht sein will.“
Mathan kratzte sich unauffällig an der Schläfe und legte sich die nächsten Worte besonders sorgfältig zurecht: „Faelivrin hatte dich nicht brüskieren wollen. Sie wollte eine Freundin außerhalb von Gefahr wissen. Deshalb bot sie dir an die Stadt zu verlassen, nicht weil du unerwünscht bist.“
Adrienne blinzelte einen Moment, dann noch einen. Mathan konnte förmlich spüren, wie Licht und Schatten in ihre rangen. Ihre Zähne mahlten. „Sie ist deine Tochter, du verstehst sie besser als ich“, gab sie sie etwas widerwillig zu, „Sicherlich würdest du sie in Schutz nehmen… aber... was du sagst… es klingt logisch…“
Er erlaubte sich erleichtert zu lächeln und nickte. „Und Kerry ist … speziell.“
„Das weiß ich doch selbst, aber warum fühlt sich das so scheiße an?!“, fauchte Adrienne ungehalten.
Erstaunt von der heftigen Aussprache blinzelte Mathan überrascht, räusperte sich leise und sagte äußerst bedacht: „Nun, Liebe und Hass liegen sehr nahe beieinander. Und bei dir verschwimmen gewisse Grenzen sehr leicht. Vielleicht siehst du etwas in ihr… das dir im Moment nicht ganz klar ist – und damit meine ich nicht das, was du eben aufgezählt hast.“
Seine Schülerin grummelte ungehalten, wirkte aber nachdenklich, zischte hin und wieder vor sich hin und wirkte, als ob sie gerade einen stummen, inneren Kampf führte. Grimmig winkte sie das Thema schließlich ab und erzählte, wie sie außerhalb der Stadt an den Wanderer geraten war. Den Kampf umriss sie nur grob und erwähnte das Schwert nur verdächtig kurz. Mathan erkannte es trotzdem sofort. Blutklingen. Geschmiedet durch schwarze und bösartige Zauberkünsten, einst erfunden von verdorbenen Elben – Ekel erfüllte ihn und er schob das Thema weit von sich. Abscheu zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, das Adrienne in ihrer Erzählung stocken ließ. Er bedeutete ihr weiter zu erzählen, doch sie wusste nicht mehr viel. „Sie wollten irgendwas wecken… wahrscheinlich dieses Ding , das angeblich in mir schläft. Zumindest wurde das so behauptet. Oder es war eine List um mich in den Wahnsinn zu treiben. Das würde aber nicht die Stimmen erklären.“
Mathan strich sich über das Kinn. „Nun, es gibt auch Geister und Flüche in dieser Welt, aber davon verstehe ich zu wenig“, sagte er nachdenklich.
Adrienne hob skeptisch eine Braue. Es war die verletzte rechte Seite, woraufhin sie schmerzerfüllt zischte. „Ach verdammt“, fluchte sie und zappelte hilflos umher, „Ich will diese Schweine erwischen. Zerhacken, abschlachten, abstechen und ihre Gedärme an die Stadtmauern nageln!“
„Ich denke, dass Faelivrin etwas dagegen hat, wäre schade um die schöne neue Mauer“, wandte er schmunzelnd ein, woraufhin ihre Mundwinkel nach oben zuckten. Etwas Humor war doch noch da, stellte er erleichtert fest.
„Aglarûthiel“, sagte Adrienne plötzlich und die aufkommende lockere Stimmung schwand augenblicklich, „Das ein Name von ihnen. Alcarúsa in Quenya.“
Mathan erstarrte. Den Namen Aglarûthiel hatte er schon einmal gehört, in seiner Zeit in Lórien von einem der seltenen Wanderer der Windan, der ihm einmal bei seiner Rüstung geholfen hatte. Es war ein reisender Schmied gewesen, der seine Handwerkskunst und Geschichten aus dem Osten verkaufte. Gegen ein kleines Fässchen Wein hatte der Elb von einer alten Geschichte erzählt. Einst hatte es in Dervesalend ein kleines Wäldchen gegeben, in der angeblich ein rachsüchtiger Geist gehaust hatte. Wenn die Eingeborenen Opfergaben für den Schwarzen Gott darbrachten und ein Kleidungsstück eines unliebsamen Widersachers, so war der Besitzer des Kleidungsstück innerhalb von einer Woche spurlos verschwunden, ganz gleich ob Mensch, Elb oder Zwerg. Dies war das Werk von Aglarûthiel, einer rachsüchtigen Elbenkriegerin, die von Morgoth gefangen und in den Wahnsinn gefoltert wurde – das war die gleiche Geschichte, nur unter der Elben des Ostens verbreitet.
„Bist du dir sicher?“ hakte Mathan nach und biss sich auf die Lippe.
Adrienne wirkte erst so, als ob er sie für verrückt halte, doch schließlich nickte sie. „Und Númendacil.“
Mathan stöhnte leise bei dem Namen. „Ich hoffe, dass du dich irrst.“
Seine Schülerin wirkte etwas mürrisch, blieb aber dabei. Er seufzte und erklärte ihr, dass mit diesem Titel immer der tödlichste Krieger Saurons geehrt wurde - manche munkelten, dass er das von seinem Meister übernommen hatte. „Der Schlächter des Westens“, murmelte Mathan, „Und du bist sicher, beide sind hier?“
Adrienne nickte knapp, biss die Zähne zusammen und presste hervor: „Wenn es nichts ausmacht, würde ich meine Folterknechte für eine Weile ausblenden.“
Mathan nickte entschuldigend und griff nach der Glaskaraffe auf dem Nachttisch. Schweigend goss er ihnen beide jeweils ein Glas ein. Das, was seine Schülerin ihm gerade berichtet hatte, war denkbar schlecht. Zwei Namen, die er nur aus Legenden und alten Geschichten kannte. Er musterte sie aus dem Augenwinkel, während sie aus den Gläsern tranken. Wo war sie nur da hineingeraten? Und vor allem: Wie? Er wusste darauf keine Antwort.
„Das ist das Ende“, sagte Adrienne plötzlich, als sie das leere Glas absetzte und blickte ihn mit ihren verschiedenen Augenfarben an, „Oh, nicht dieser Stadt oder der Manarîn. Ich meinte mich. So wie ich jetzt bin. Durcheinander, verwirrt, durcheinander und verworrene Erinnerungen. Sagte ich schon durcheinander?“
„Hier wird dich keiner verletzen“, hielt Mathan scharf dagegen, „Es wird ihr Ende sein.“
Adrienne schmunzelte verbittert und wirkte um Jahre älter. Fast schon zeitlos. Ihr Blick ging ins Leere. Der Augenblick hielt jedoch nur sehr kurz. „Wenn alles nur so einfach wäre…“ Sie hob den Blick, „Danke, dass du hergekommen bist.“
Mathan hatte irgendwie das Gefühl, dass dies ein Abschied war. Jetzt verstand er auch, was er zuvor alles gehört hatte. Es klang endgültig. Er schluckte. Ihre gemeinsame Zeit war kurz, gemessen an seinen Lebensjahren. Dennoch war sehr viel in sehr kurzer Zeit geschehen. Er bereute es, ihr nicht mehr beigebracht zu haben.
Ihr zerschundenes Gesicht wurde weich und sie lächelte, „Sag‘ bloß, dass ich dir was bedeute. Na, ganz so schnell geht es nicht… was immer es auch ist.“
„Wovon redest du, Adrienne?“
Ihr Blick ging wieder ins Leere. „‘enne… Zweck… dem Ende des Zwecks – vielleicht kommst du irgendwann drauf. Alles muss irgendwann enden, aber keine Sorge, „Sie klopfte sich vorsichtig auf die Brust, „Hier ist eine Kriegerin drinnen und ich werde ihnen ein Ende lehren, das sie niemals vergessen werden.“ Ihre Zähne blitzen auf, als sie kriegerisch lächelte, „ Du wirst es schon sehen. Der Kreist schließt sich. Denke daran, alles ist ein Kreis.“
Mathan runzelte verwirrt die Stirn. Kurz ging ihm durch den Kopf, dass die Wirkung des Tranks wohl gerade nachgelassen hatte. Er wollte gerade Klarheit schaffen, was diese merkwürdigen Aussagen am Ende des Gesprächs bedeuten sollten, doch seine Schülerin hatte die Augen geschlossen und schlief in tiefen, regelmäßigen Zügen. Ihre matte Stimme hallte noch immer in seinen Ohren nach. Mathan war sich sicher, dass irgendwas mit ihrem Geist nicht stimmte, beschloss das aber erstmal für sich zu behalten. Sein Blick ging zum Fenster und der tiefroten Dämmerung. Es war Zeit für das Abendessen. Leise zog er sich aus dem Raum zurück und ließ die Schlafende sich in Ruhe erholen.
Fine:
Der ausgedehnte Spaziergang zog sich hin, bis der Sonnenuntergang längst hinter ihnen lag. Pippin war es auf unvergleichliche Hobbit-Art gelungen, inmitten des Durcheinanders nahe des westlichen Tores der Stadt tatsächlich ein Gasthaus zu finden, das bereits eröffnet worden war. Zu Kerrys Erstaunen fühlte sie sich dort sogleich an die Städte der Menschen erinnert, die sie in ihrem Leben bereist hatte. Ein warmes Licht drang durch die verglasten Fenster, und drinnen herrschte eine angenehme Temperatur, die von zwei brennenden Holzöfen herrührte. Ein breiter Tresen dominierte den großen Schankraum, der jenseits einer einladenden Eingangshalle lag, und der ungefähr zur Hälfte mit Gästen gefüllt war. Die meisten der Anwesenden schienen zu den vielen Gruppierungen von Wächtern zu gehören, die die Mauern und wichtigen Gebäude der Stadt schützten, doch es waren auch andere Elben da. Sogar zwei Zwerge entdeckte Kerry in einer der dunkleren Ecken. Es duftete anregend nach Kräutern und warmem Essen, und Kerry spürte, wie sie hungrig wurde. Leiser Gesang und die Klänge einer gezupften Laute drangen ihr ans Ohr; im hinteren Teil des Raumes, nahe bei den Öfen gab eine Bardin ihre Kunst zum Besten.
Pippin verlor keine Zeit. Der Schankwirt, ein dunkelhaariger Hwenti-Elb mit auffallend muskulösen Oberarmen, schien den Hobbit bereits zu kennen. Kaum hatte Pippin den Tresen erreicht, wurde er sogleich begrüßt.
"Meister Peregrin! Was für eine Freude, dich so bald wiederzusehen. Das Übliche, nehme ich an?"
Pippin nickte zufrieden. "Morlas, du weißt wirklich, wie du es einem Hobbit in einer Stadt voller Elben gemütlich machen kannst. Wir suchen uns einen Tisch."
"Wir?" wiederholte Morlas, der Wirt, und sah Kerry an. Einen Augenblick später erkannte er sie. "Oh-ho, wenn das nicht die kleine Schwester unserer guten Königin ist," sagte er zwar etwas spöttelnd, aber dennoch freundlich. Sein belustigtes Lächeln wirkte auf Kerry nicht beleidigend, auch wenn sie nicht genau verstand, weshalb. Sie fühlte sich wohl hier. Sie ahmte eine Geste nach, die sie bei Halarîn öfter gesehen hatte: ein freundliches Nicken, kombiniert mit einer angedeuteten Beugung der Knie und einem Absenken der Schultern. Der Wirt antwortete mit einem fröhlichen Lachen, das Aufblitzen seiner Augen verriet, dass er den Gruß erkannt hatte. "Vorzüglich!" lobte Morlas und schlug die Fäuste gegeneinander. "Willkommen im Lorbeerblatt. Wären deine Öhrchen nur etwas spitzer, dann könntest du glatt ein Hwenti-Mädchen sein."
Pippin winkte Kerry zu sich hinüber. Er war einige Schritte vom Tresen in den Schankraum hineingegangen, und hielt Ausschau nach einem freien Tisch. Zum Unglück des Hobbits war zwar der Schankraum erst ungefähr zur Hälfte gefüllt, aber an jedem Tisch saß bereits mindestens eine Person. Kerry hielt die Augen offen, und ihr fiel eine bekannte Gestalt auf, die in einer der Sitznischen an der zur Straße gewandten Seite des Raumes saß.
"Komm, dort drüben können wir uns hinsetzen," raunte sie Pippin zu.
Der Hobbit folgte ihr, und sie setzten sich zu der dunkelhaarigen Frau in die Nische, in der vier Personen ohne Probleme Platz finden und durch das etwas trübe Fenster auf die Straße hinaus schauen konnten. Draußen war erstaunlich viel Licht, denn eine dichte Reihe von Elbenlampen erhellte den Platz auf der Innenseite des Stadttores und die Hauptstraße, die ins Stadtzentrum führte. Ein leichter Regen hatte eingesetzt und dünne Wasserlinien schlängelten sich an der Fensterscheibe hinab.
"Oh, hallo Kerry," sagte Haleth - denn sie war es, die Kerry in jener Nische entdeckt hatte. Die Waldläuferin sah müde, aber dennoch deutlich besser als bei ihrer letzten Begegung außerhalb von Helluins Arrestzelle aus. Haleth musterte Pippin interessiert, dann nickte sie. "Es ist ein weiter Weg vom schönen Auenland, Meister Tuk."
Pippin hob belustigt die Brauen. "Ebensoweit entfernt liegen doch auch die Mauern von Fornost, nicht wahr?" Er legte den Kopf ein wenig schief. "Peregrin Tuk, zu Diensten," stellte er sich dann vor.
"Das ist Pippin," erklärte Kerry sogleich. "Ich hab' ihn bei der Befreiung des Auenlandes kennengelernt."
"Haleth," erwiderte Haleth die Vorstellung und nickte dem Hobbit anerkennend zu. "Du scheinst besser Bescheid zu wissen als die meisten Hobbits."
"Man muss nur die richtigen Leute kennen," sagte Pippin mit einem zufriedenen Nicken. "Und seine Ohren offen hat, der hört so manches - nicht nur über die Waldläufer des Nordens, versteht sich."
"Was bringt dich hierher?" fragte Kerry, an Haleth gewandt.
Die Waldläuferin machte eine auslandende Bewegung, die wohl den ganzen Schankraum miteinschließen sollte. "Das hier," erklärte sie. "Etwas... Ablenkung. Es ist viel passiert, und ich habe dir noch nicht einmal die Hälfte von dem erzählt, was... Oronêl und ich hinter uns haben. Außerdem mache ich mir Sorgen um Rilmir. Er ist schon zu lange verschwunden."
Ehe sie weitersprechen konnte, kam der Wirt, Morlas, mit drei Krügen und einem so großen Tablett voller Speisen, dass Kerry sich nicht mehr wunderte, weshalb seine Oberarme so ausgeprägt aussahen. Elegent stellte Morlas seine Lasten auf den Tisch, machte eine - noch immer etwas spöttische - Verbeugung und verschwand wieder, beinahe so schnell wie er gekommen war, denn weitere Gäste erforderten seine Aufmerksamkeit. Der Schankraum füllte sich.
Kerry schnupperte vorsichtig an ihrem Getränk. Es sah nach klarem, kühlem Wasser aus, nur hier und da stiegen winzige Reihen von Blasen an die Oberfläche, wo sie lautlos zerplatzten. Pippin, der neben ihr saß, grinste. "Es ist das beste, was man anstelle von einem richtigen Bier hier bekommen kann. Morlas behauptet, es stammt aus einer verwunschenen Quelle hier mitten in der Stadt, aber das ist höchstwahrscheinlich Unsinn."
Kerry sah sich um, als erwartete sie, dass der Wirt jeden Moment wieder auftauchen und Pippin für seinen fehlenden Respekt zur Rechenschaft ziehen würde. Haleth hingegen schaute amüsiert drein. "Nun, ich habe vorhin bereits davon kosten können. Es wärmt einem die Knochen und hilft, die Trübsal zu überwinden, aber ich denke nicht, dass es berauschend wirkt."
"Es wärmt...?" wunderte sich Kerry. Der Krug fühlte sich in ihrer Hand relativ kalt an, und auch von seinem Inhalt ging keine spürbare Wärme aus.
"Probiere es, dann wirst du es sehen," sagte Pippin und setzte seinen eigenen Krug an die Lippen, der in seinen Händen gleich eine Spur größer wirkte.
Als Haleth ebenfalls einen Schluck nahm, tat es Kerry ihr gleich, wenn auch etwas zögerlich. Als sich die Flüssigkeit ihren Weg in ihren Rachen bahnte, stellte sie überrascht fest, dass es sich tatsächlich um Wasser zu handeln schien. Sie trank einen Herzschlag lang weiter, dann setzte sie das Gefäß ab. Erst jetzt begann sie zu spüren, wie sich eine Wärme in ihrer Brust auszubreiten begann. "Erstaunlich," murmelte sie und erntete belustigte Blicke von Pippin und Haleth.
Sie machten sich über das reichliche Mahl her und sprachen dabei darüber, was ihnen seit der Ankunft in Eregion widerfahren war. Kerry erfuhr in allen Details, was Oronêl und Haleth in den Minen von Moria zugestoßen war, doch sie wunderte sich dabei über sich selbst. Obwohl die Geschichte nicht gerade beruhigend klang, verspürte Kerry kaum Angst oder Sorgen. Sie dachte sich: Soll dieses Ding doch hervorkommen. Óntaro und die Elben werden es besiegen.
Pippin erzählte von einigen Gerüchten, die er auf der Straße aufgeschnappt hatte. Eines darunter war für Kerry besonders interessant. Die Torwächter erwarteten die Ankunft des Königs der Dunländer, bereits am kommenden Tag. Sie nahm sich vor, sich das Ganze mit eigenen Augen anzusehen. Vielleicht würde sie die Gelegenheit bekommen, mit Aéd zu sprechen und zu erfahren, wie es ihm ging. Eine Menge war zwischen ihnen noch ungesagt geblieben, und seitdem sie sich zuletzt gesehen hatten, war viel geschehen.
Als Haleth von Kerrys Plänen erfuhr, beschloss sie, Kerry zu begleiten. Sie bezahlten den Wirt (aus Kerrys Tasche, sie hatte darauf bestanden) und verabschiedeten sich, allerdings musste Kerry versprechen, das Lorbeerblatt bald wieder zu beehren. Sie willigte nur allzu gerne ein. Zwar waren ihr im Laufe des Abends hier und da einige Blicke der Gäste zugeworfen worden, da sie als Mensch natürlich etwas auffiel, aber sie hatte sich daran nicht groß gestört. Sie vermutete, dass manche Elben sich einfach darüber wunderten, warum eine junge Frau Kleidung nach Art der Manarîn trug, die unverkennbar von der Hand der Meisterschneiderin Nivim stammten.
In Farelyës Haus angekommen gingen alle drei rasch zu Bett. Haleth hatte Kerry versprochen, sie am folgenden Morgen früh genug zu wecken, und die Dúnadan hielt Wort. Bei einem knappen Frühstück leistete ihnen Elea Gesellschaft, die jedoch an diesem Morgen recht wortkarg war. Kerry bekam aus ihr nur heraus, dass sie sich Sorgen um Helluin und Finjas machte, die mit Oronêl nach Norden gegangen waren.
Von Pippin war keine Spur zu entdecken. Vermutlich hatte der Hobbit sich sogar noch früher als Kerry und Haleth aus dem Haus gestohlen. Sie zogen sich an und machten sich dann auf den Weg zum Westtor der Stadt. Kerry trug an diesem Tag änhliche Kleidung wie Haleth - einfache Reisekleidung aus Stoff und Leder, und feste, hohe Stiefel. Nur der Umhang den sie dazu wählte, war von eindeutig elbischer Machhart; auf ihrem Rücken war nun das Wappen von Haus Nénharma zu sehen.
Die Straßen waren relativ leer. Kerry fragte sich, ob es unter den Manarîn viele Langschläfer gab, während sie Haleth durch Ost-in-Edhil folgte. Je näher sie dem Tor kamen, desto mehr Elbenwächtern begegneten sie. Sie waren keinen Augenblick zu spät aufgebrochen, denn kaum hatten sie das Tor erreicht, trafen schon die ersten Dunländer ein, auf kräftigen Pferden reitend. Kerry erkannte viele von ihnen - es waren Aéds engeste Vertraute, sein Wolfsrudel. Der Wolfskönig selbst preschte auf einem beeindruckenden Streitwagen, gezogen von zwei weißen Rössern, durchs Tor und brachte das Gefährt mit geübter Hand zum Stehen, nachdem er die Stadtmauer passiert hatte.
Haleth gab ein für sie untypisches Aufseufzen von sich, als weitere Reiter durch das Tor kamen, unter ihnen eine dunkelhaarige Gestalt mit grauem, zurückgeschlagenen Kapuzenumhang. Es war Rilmir. Die scharfen Augen des Dúnadan hatten die beiden Frauen sogleich erspäht, und er lenkte sein Pferd zu ihnen an den Straßenrand, dann stieg er ab.
"Was für eine angenehme Überraschung," sagte Rilmir, drückte Kerry kurz an sich, und schloss dann Haleth in eine liebevolle Umarmung, die in einem Kuss endete. Kerry wandte sich errötend ab, doch Rilmir lachte. "Man hört ja so Einiges darüber, was Oronêl und du beim Küstenvolk so getrieben haben, aber du musst mir unbedingt alles im Detail erzählen. Zuerst solltest du aber vielleicht..." er deutete mit dem Daumen über die Schulter zur Straße, wo Aéd gerade, umringt von seinem Wolfsrudel, vom Streitwagen stieg. "Wir sprechen später, in Ruhe."
Kerry ließ Haleth und Rilmir stehen, und bekam noch mit, wie sich die beiden von der Straße entfernten. Ihr Herz pochte ihr mit einem Mal bis zum Hals. Ihr Kehle fühlte sich trocken an, und nach mehreren Schritten auf Aéds Gruppe zu blieb sie stehen. Sie wusste nicht einmal, was sie ihm sagen wollte. Mit einem Mal hoffte sie, er würde sie gar nicht bemerken.
Eine Minute verging, dann nahm ohne Vorwarnung jemand Kerrys Hand und zog sie mit sich, auf Aéd zu. Eine starke Hand teilte die Menge der Dunländer und ehe Kerry es sich versah, stand sie vor dem Wolfskönig. Einer der Wolfskrieger hatte sie erkannt und angenommen, sie habe nicht zu Aéd durchdringen können - und hatte kurzerhand eingegriffen und Kerry nach vorne befördert.
"Kerry! Da bist du ja," sagte Aéd und lächelte ihr zu. "Ich bin froh, dass es dir gut geht. Wir haben gehört, dass Gefahr in Eregion droht."
Kerry fasste sich ein Herz und umarmte ihn. Sie hoffte, dass sie wieder ihre einstigen Gefühle für ihn verspüren würde, und für einen Augenblick fühlte es sich auch so an. Doch Aéd löste sich von ihr, schneller als erwartet. "Was, ähm... was bringt dich nach Ost-in-Edhil?" fragte Kerry holprig.
Aéd legte stolz eine Hand auf eines der großen Räder des Streitwagens. "Wir sind hier um der Königin ein Geschenk zu machen, und ihr im kommenden Krieg beizustehen." Er nickte bekräftigend. "Die Kämpfe innerhalb Dunlands sind abgeflaut. Es kehrt Ruhe ein. Aber unser Volk braucht einen starken Anführer, und ein Krieg jenseits unserer Grenzen könnte eine gute Gelegenheit sein, Erfahrung und etwas Ruhm zu sammeln."
Kerry wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, und entschied, erst einmal froh darüber zu sein, dass die Manarîn Verstärkung erhielten. Sie nickte und ließ sich von Aéd einige der Eigenschaften des Streitwagens beschreiben, auf den er besonders stolz zu sein schien.
"Es ist schön, dich wiederzusehen," sagte der Wolfskönig. "Aber jetzt sollte ich mit der Elbenkönigin sprechen und ihr die Gabe überbringen, die ich ausgesonnen habe." Er deutete auf eine Gruppe von Palastwächtern, die entlang der Straße zum Palast aufgereiht standen, angeführt von einem Kommandanten mit blauem Helmbusch. "Sieht aus als würde sie mich bereits erwarten," kommentierte Aéd. Er drückte Kerry für einen Moment an sich, viel zu kurz für ihren Geschmack, und verabschiedete sich dann von ihr. Kerry blieb stehen und sah ihm nachdenklich hinterher. Sie war kein bisschen schlauer geworden, was ihre Beziehung zu Aéd anging.
Immerhin ist er jetzt hier, und wird wohl so schnell nicht wieder abreisen, dachte sie sich, als schließlich alle Dunländer in Richtung des Palastes Faelivrins abgezogen waren. Kerry beschloss, die Mauern zu ersteigen. Sie glaubte, dass sie den Rückweg zu Farelyës Haus zurücklegen konnte, indem sie entlang der Wehrgänge und Brüstungen ging. Die Stadtwächter wollten sie zuerst abweisen, doch als sie sich auf Mathan berief, erkannte man sie und gewährte ihr, auf den Mauern spazieren zu gehen. Den Blick auf das Land jenseits der Stadtmauer gerichtet machte sie sich auf den Weg vom West- zum Nordtor, das nur einen Steinwurf von ihrer derzeitigen Unterkunft entfernt gelegen war. Die Lande kamen ihr kalt und karg vor, denn der Winter hatte Eregion noch immer fest im Griff. Nebelschwaden hingen über den grauen Hügeln im Norden und selbst die Bäume sahen aus, als wären sie innerlich zu Eis erstarrt. Kerry glaube für einen Moment, wieder in Fornost zu sein; eine Stadt voller Schutzbedürftiger, die auf den Krieg wartet. Sie schüttelte sich, dann wandte sie den Blick hastig ab. Zu viel ging in ihrem Kopf vor; Platz für noch mehr Sorgen war darin nicht mehr. Sie beschloss, noch am selben Abend wieder im Lorbeerblatt einzukehren...
Curanthor:
Auf der Hauptstraße angekommen, schaute er sich suchend nach den Zwergen aus dem Osten um. Es war bereits dunkel und finstere Wolken schluckten die aufkommenden Strahlen des Mondes. Mathan sah kurz ein paar Elben der Stadtwache dabei zu, wie sie kleine Lämpchen entzündeten, die an den Häuserwänden hingen. Mit weiten Schritten lief er schließlich zu dem großen Marktplatz im Zentrum der Stadt, in der Hoffnung einer der Zwerge dort zu finden. Als er durch das weit geöffnete Tor trat, musste er sogleich schmunzeln. Auf dem großen Sockel in der Mitte des Platzes erkannten seine Elbenaugen einen Zwerg, der es sich mit einem großem Laib Brot und einem ebenso großen Stück Käse gemütlich gemacht hatte. Mathan wich einem Bautrupp aus, der mit vier Mann einen besonders langen Baumstamm über den Markt in Richtung des Palastvorplatzes trugen und trat an den Zwerg heran. Sie erkannten einander. Es war Lorim, das erkannte Mathan an dem schwarzen Haar und dem relativ kurzen Vollbart, der aber dennoch mehr als die Hälfte des Gesichts verbarg. Der Zwerg nahm einen kräftigen Zug aus einer dampfenden Pfeife, biss etwas von einem Stück Trockenfleisch ab und winkte ihn näher. Mathan überwand die paar Schritte zu dem Sockel rasch und nickte knapp zum Gruß.
„Meister Elb!“, begrüßte ihn Lorim kauend und wedelte mit seinem Trockenfleisch umher, „Ich hätte nicht gedacht, dass ihr hier so etwas in den Lagern habt.“ Er grinste feixend unter seinem struppigen Bart. „Auch wenn es nicht ganz so würzig ist, wie ich es gewohnt bin – aber besser als bei den Mensch‘n.“
„Lorim“, erwiderte Mathan den Gruß und sagte mit einem leichten Grinsen: „Nun, dass Elben kein Fleisch verzehren ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Allerdings gibt es viele, die darauf verzichten, aber das kenne ich eher von den Hochelben. Die Avari können sich das nicht leisten…“ Er verstummte, als er den gelangweilten Blick des Zwerges sah.
Lorim winkte ab (noch immer mit dem Trockenfleisch in der Hand) und sagte, dass er wusste, dass die Elben im Osten kaum Ackerbau betreiben konnten und eher die Gaben des Waldes verzehrten, dazu gehörten auch Wildtiere. „Aber deswegen sitze ich hier nicht. Grám sagte, dass er und Andak in einem Gasthaus am westlichen Torplatz auf Euch wartet. Im Lorbeerblatt.“
Mathan hatte schon davon gehört, als einige Soldaten auf dem Heimweg davon gesprochen hatten, sich dort einen Winterwein zu gönnen. „Und Ihr kommt nicht mit?“
Der Zwerg schüttelte den Kopf und biss ein großes Stück von seinem Laib Brot ab. Einige Krümel prasselten in seinen Bart, während er mit vollem Mund sagte: „Zu viele Spitzohren. Ich habe zwar nichts gegen euch, aber ich mag es nicht, mich anglotzen zu lassen. Da bleibe ich lieber alleine.“
„Verständlich“, antwortete Mathan und wandte sich halb ab, blieb aber stehen, als er ein paar Tropfen in seinem Gesicht spürte, „Vielleicht solltet Ihr aber dennoch irgendwo einkehren, Lorim, es regnet gleich.“
Er hörte den Zwerg fluchen und wie er seine Sachen zusammenpackte. Mathan verabschiedete sich und wandte sich gen Westen, auf einer der kleinen Nebenstraßen. Nach einem kurzen Blick fand er eine Stadtwache und trat zu ihr. Es waren zwei gerüstete Elben, die die Lampen entzündeten. Mit knappen Worten bat er sie, einen Boten in den Palast zu schicken, um Valena zum Lorbeerblatt zu bringen. Die beiden – ein Mann und eine Frau, blickten sich kurz an, verneigten sich knapp und sagten aber dabei, dass sie noch die Straße fertig beleuchteten und sich dann um die Bitte kümmerten. Mathan bedankte sich verständnisvoll und ging weiter die Straße nach Westen entlang. Je weiter er sich vom Zentrum entfernte, umso karger wurde die Bebauung. Die großen, filigranen Steinhäuser wichen eher einfachen Holzhäusern, vereinzelt erblickte er noch Zelte, die sonst karge Flächen einnahmen. Der Weg zog sich in die Länge und die Nacht brach endgültig herein. Ein leichter Regen benetzte seine Haare und sein Gesicht. Man merkte, dass es noch Winter war, denn die Tage waren kurz, die Nächte lang. Ihm fiel ein, dass er nicht genau wusste, wann der Fürstenrat tagte, doch Mathan beruhigte sich mit dem Gedanken, dass man wohl nach ihm schicken würde, wenn es soweit war. Die Hauptstraßen machte eine leichte Biegung und endete auf einem gut ausgeleuchteten Platz. An dessen Ende erhob sich die wuchtige Torburg, dessen Türme nur hölzerne Gerippe waren. Man konnte sehen, dass hier noch immer kräftig gearbeitet wurde, denn auch die Stadtmauer war noch nicht auf voller Höhe aufgebaut – von den Arbeitern war aber nichts zu sehen. Der Platz war hingegen schon von einem Dutzend Holzhäusern umringt. Eines davon fiel besonders ins Auge, da oberhalb des Eingangs ein großes, gut lesbares Schild mit der Aufschrift „Zum Lorbeerblatt“ hing, die kunstvoll verschnörkelten Lettern in der Gemeinsprache verfasst. Das Gasthaus war das größte Gebäude am Westplatz und konnte sich schon fast mit der Torburg messen. Es war drei Stockwerke hoch, vier, wenn man das Dachgeschoss mitzählte, fünf mit dem hölzernen Spitztürmen, die jeweils rechts und links aus dem Dach hervorstachen. Es war deutlich, dass hier wahre Baumeister am Werk gewesen waren. Mathan riss sich von dem Anblick los und hielt auf den gut besuchten Eingang zu, von wo ihm schon der Duft von Kräutern, warmen Wein und auch Lautenschläge entgegenwehten, wann immer sich die Türe öffnete. Zwei Elben der Palastgarde, die an ihren schwarzen Mänteln zu erkennen waren, kamen ihm durch die Tür entgegen. Sie hatten ihre Mundtücher wie gewohnt im Gesicht, sodass nur ihre Augen zu sehen waren und in einem Gespräch vertieft. Sie nickten ihn knapp zum Gruß und hielten ihm die Türe offen. Der Duft von warmen Brot, gebratenem Fleisch und Wein stieg ihm in die Nase. Er bedankte sich und bahnte sich einen Weg durch den gut besuchten Schankraum. Dutzende Köpfe drehten sich flüchtig nach ihm um. Kurz blickte er an sich herab und beschloss das nächste Mal seinen auffällig rot-goldenen Mantel abzulegen. Das durchgehende Gemurmel nahm aber keine Notiz von ihm und auch die Bardin an den Öfen spielte unablässig ihr Lied und sang eine Ballade über die Seefahrt der Manarîn in der Gemeinsprache.
Am Tresen blickte ihm ein dunkelhaariger Hwenti-Elb mit einer Mischung aus Neugierde und Erkennen in den Augen entgegen. Ein wissendes Grinsen umspielte seine Lippen.
„Na, wenn das nicht der Feldherr der Manarîn ist“, begrüßte ihn der Schankwirt freundlich und mit gebotener Diskretion – doch mit einem leichten feixen in der Stimme, als Mathan an den Tresen trat. „Willkommen im Lorbeerblatt, es ist uns eine Ehre Euch hier zu begrüßen. Ich bin Morlas –“ Eine Elbenfrau mit fast schwarzen Haaren eilte durch die Küchentür und balancierte sieben voll beladene Teller auf den Armen, „Und das ist Nityel, meine bessere Hälfte.“ Die Elbe hörte ihren Namen, sah sich rasch um ihre hellblauen Augen musterten ihn flüchtig und sie nickte knapp ehe sie im Schankraum verschwand.
„Danke Morlas. Ich bin Mathan“, erwiderte er die Floskel und schaute Nityel hinterher, „Eine Kinn-Lai?“, hakte er nach, als er ihren Namen sich noch einmal durch den Kopf gehen ließ.
Der Schankwirt grinste nun breiter. „In der Tat, wir fanden uns durch Zufall.“ Er lachte volltönend, „Der beste Tag in meinem Leben. Sie hat mich verdroschen, weil ich bei der Jagd ihre Beute zuerst erwischt hatte. Und seitdem sind wir zusammen.“ Morlas wartete, bis seine Frau wieder in die Küche verschwunden war und neigte sich leicht über den Tresen und flüsterte ihm verschwörerisch zu: „Es war trotzdem meine Beute gewesen, ich hab es zuerst geschossen, aber erklär‘ das mal einer Kinn-Lai.“
Mathan musste ebenfalls grinsen. „Eine Liebesgeschichte voller Poesie und Romantik.“
Morlas lachte noch einmal bellend und stieß die Fäuste zusammen, „Genug davon, was kann ich für Euch tun, Heermeister Mathan?“
Er überlegte einen Moment, während Nityel wieder durch den Schankraum rauschte und ihrem Gatten einen giftigen Blick zuwarf – offenbar hatte sie sehr scharfe Ohren. Mathan musste schmunzeln und fragte, was er empfehlen könnte – für ihn und zwei Zwerge.
„Hmm“, machte der Wirt und strich sich über sein makelloses Kinn, „Zwerge… ja, die habe ich schon mit Met versorgt. Ihr gehört zusammen ja?“ Auf sein Nicken hin schein er auf eine Idee gekommen zu sein. „In Ordnung, dann habe ich ein gutes Abendessen für euch, es sei denn, Ihr wollt kein Fleisch?“
Mathan zögerte. Es war schon lange her, dass er das letzte Mal etwas Tierisches gegessen hatte. Er zuckte mit den Schultern und entschied sich dazu, das zu essen, was er den Zwergen vorsetzen würde.
Morlas‘ Augen blitzen auf und er versicherte ihm, dass er nur das Beste zubereiten würde. „Eine Vorspeise nach Art des Hauses – eine wahre Überraschung. Danach ein sanft angebratenes Hähnchen in Honigsoße und einen großen Teller voll allerlei Gemüse und Kräutern mit einem leckeren Salatdressing. Zum Schluss eine kleine Torte, die meine Tochter erst heute gebacken hat. Na, klingt das nicht verlockend?“ Mathan zögerte. Hühner hatte er nicht allzu oft verspeist, da er die vielen kleinen Knochen nicht mochte. Morlas schien sein Gedanken zu erraten und versicherte ihm, dass er Mathans Portion entbeinen wird. „Ihr werdet gar nichts merken, darauf gebe ich mein Wort, als Koch und als Besitzer dieser Gaststätte.“
„Nun, wenn das so ist“, gab Mathan schließlich nach und blickte sich rasch nach den Zwergen um, „Ich denke aber, dass Ihr Euch diese Mühe bei den Portionen der Zwerge sparen könnte.“
Der Schankwirt lachte laut auf und antwortete schelmisch, dass er für Elben sämtliche Speisen immer entbeinte. „Eigentlich stehe ich nicht oft in der Küche“, gab er mit einem verschwörerischen Zwinkern zu, „Aber für Euch und Eure Freunde kümmere ich mich persönlich um Eure Speisen. Sie sitzen dort hinten in der Ecke.“ Morlas deutete mit seinem Daumen in eine dunkle Sitzecke, hinter der sich eine Treppe nach oben wandte.
Mathan bedankte sich und bahnte sich durch den vollen Schankraum einen Weg in die ruhigere Ecke. Ihm fiel auf, dass viele Elben der Stadtwache, den Wächtern der Mauern und der Palastgarde hier waren. Auch eine große Gruppe Holzarbeiter, die noch immer vereinzelt mit Sägespänen bedeckt war tummelte sich um einen der großen Tische, auf dem ein geöffnetes, kleines Fass Wein stand. Mathan wich einem Becher aus, der übermutig geschwenkt wurde und duckte sich unter einem geworfenen Tablett, das unter allgemeinem Gelächter und Beifall von Nityel gefangen wurde. Eilig machte er sich davon, als die Kinn-Lai lautstark zu schimpfen begann und ließ den lebhaften Teil des Schankraum hinter sich.
Hier hinten waren die Viererplätze mit einem Tisch in der Mitte, wo hauptsächlich Pärchen oder kleine Familien saßen und zu Abend aßen. Grám Feuerhammer, der genau in der Ecke saß, empfing ihm mit einem breiten Grinsen, als er sich zu ihnen auf die weich gepolsterte Eckbank fallen ließ. „Ich muss sagen, diese Elben gefallen mir immer besser, je länger ich hier bin.“
„Sie sind weniger verklemmt als gedacht“, stimmte Andak mit einem amüsierten Schmunzeln zu, das von seinem mächtigen weißen Bart verdeckt wurde.
Mathan, der die Feierlaune der Elben und vor allem der Avari durch Halarîn kannte, grinste wissend und versicherte, dass dies noch harmlos war. Die Zwerge wechselten einen Blick und schienen so, als ob sie hier übernachten wollten, nur um das zu erleben. „Aber das kann einige Tage dauern“, beschwichtige Mathan rasch und fügte hinzu, dass er aber nicht genau wüsste, wie es die Manarîn hielten.
„Die Manarîn also“, begann Andak ernst, seine tiefe, sanfte Stimme klang nachdenklich, „Sie sind ein relativ junges Volk, oder?“
Mathan wandte ein, dass fast zweitausend Jahre seit ihrer „Gründung“ vergangen sind. Woraufhin Grám einwandte, dass es für Elben eine relativ kurze Zeit war.
„Wir empfinden Zeit etwas anders als ihr“, begann Mathan und versuchte so gut es geht zu erklären: „Es gibt Jahre und sogar Jahrzehnte, die fliegen an einem vorbei. Dann gibt es Tage und Wochen, die kommen einem wie eine Ewigkeit vor. Einige von uns bemessen die Zeit sogar nach den Erlebnissen, die sie haben.“
Grám griff nach seinem Metbecher, nahm einen kräftigen Schluck und sagte, als er ihn lautstark absetzte: „Klingt mir zu kompliziert“, Der Zwerg rülpste laut, „Uns geht es darum, herauszufinden, ob sie unser Wissen klug gebrauchen und nicht womöglich gegen andere meines Volkes wenden.“
Mathan nahm dankbar einen Krug entgegen, den Nityel mit einem flüchtigen Lächeln vor ihm auf dem Tisch stellte. „Als Ahnherr des Königshauses kann ich dafür garantieren, dass niemand Euer Wissen falsch gebraucht“, versprach er ihnen, als die Kinn-Lai wieder gegangen war.
Andak strich sich durch seinen mächtigen Bart, nahm einen Schluck Met und lehnte sich etwas über den Tisch zu ihm. „Könnt Ihr das garantieren?“
Mathan runzelte verärgert die Stirn. „Vorsicht, Meister Andak. Wir reden von meiner Familie.“
Grám stieß den alten Zwerg mit dem Ellenbogen an und zischte ihm zu, dass er nicht so misstrauisch sein sollte. Der Greis entschuldigte sich rasch. „Das, was wir vorschlagen wollen ist sowieso nichts Besonderes…“, sagte Grám und schaute sich rasch um, „Und ist eher ungewöhnlich, selbst bei unserem Volk.“
Andak bedeutete zu schweigen und Mathan folgte seinem Blick. Morlas trat mit einem großen Tablett zu ihnen. Der Elb stellte drei dampfende Schüsseln vor ihnen auf den Tisch. „Es ist nicht mehr so heiß, ihr könnt es trinken. Ein Appetitanreger.“
„Brauchen wir nicht, sind schon hungrig genug“, brummte einer der beiden Zwerge leise. Sie lachten, griffen aber dennoch nach den Schüsseln.
Der Schankwirt grinste und versicherte, dass es den Hauptgang bekömmlicher machen würde. Eine Spezialität des Hauses, wie er stolz verkündete und dann wieder verschwand. Die drei blickten sich kurz an, eher sie aus den Schüsseln tranken, auch wenn Mathan sich gern einen Löffel gewünscht hatte. Als er den ersten Schluck genommen hatte, stellte er fest, dass es nur eine gefilterte Brühe aus Waldkräutern, Wurzeln und etwas anderes war, dass er nicht genau einordnen konnte. Sie schmeckte köstlich und wärmte von innen heraus. Der Abgang war von verschiedenen Kräutern geprägt, die schon lange nicht mehr gekostet hatte. Nostalgie überkam ihn, die aber von einem lauten Rülpsen unterbrochen wurde, als die Zwerge ihre Schüsseln bereits geleert hatten.
„Gar nicht so schlecht“, befand Andak und betupfte sich den Bart.
„Mhh“, macht Grám zustimmend, der noch den letzten Tropfen mit einem Finger herausfischte und zufrieden die Schüssel abstellte. „Für Elbenfutter, vorzüglich.“
Mathan nahm sich etwas mehr Zeit, fragte aber zwischenzeitlich, ob sie bereits andere Elbenkost probiert hatten. Die Zwei sahen sich einen kurzen Moment an, bis einer von ihnen nickte. Abwechselnd erzählten sie, dass sie in Eyriks Rast schon einmal mit einer Gruppe Kindi zusammen gespeist hatten. Und dass es alles andere als genießbar war. „Und nur Grünzeug“, beschwerte sich Grám.
„Da hat mir dieses weiße Getreidezeug in Nishiro besser gefallen“, stimmte Andak zu, „Die hatten da auch interessante Gerichte vom Schwein und Rind.“
Die Zwerge fuhren fort und erzählten ein paar Ausschnitte ihrer Reise, wobei sie nie genau sagten, in welcher Stadt oder welchem Land sie dies und jenes gegessen hatten. Meist waren es Gerichte, die Mathan in einer Art schon kannte, aus seinen eigenen Reisen in den fernen Osten, doch er hörte trotzdem zu, bis Morlas mit dem Hauptgang erschien. Die Zwerge waren plötzlich ganz begeistert von den elbischen Kochkünsten. Die knusprig gebratenen Hähnchen übertrafen alle ihre Erwartungen. Mathan wartete, bis der Schankwirt mit seinem neugierigen Blick wieder hinter den Tresen verschwand, der zum Glück in die entgegengesetzte Richtung – zum Eingang und den Schankraum – ausgerichtet war. Erst dann begann er zu essen. Es war merkwürdig, aber köstlich. Wobei die Honigsoße förmlich in seinem Mund zerfloss. Das Fleisch war unglaublich zart und angenehm subtil, mit den Kräutern zusammen – wobei einige wohl gekocht, oder gedämpft waren – merkte man es kaum. Morlas hatte nicht gelogen, es war vorzüglich – und komplett ohne Knochen. Mathan blickte kauend auf die Zwerge, wo Andak mit einem Stück Knochen sich gerade zwischen den Zähnen herumpulte. Grám trank aus seinem Metkrug und verteilte einen guten Schluck in seinem feurigen Bart. Mathan unterdrückte ein Schmunzeln, da er die zwergischen Tischmanieren schon kannte.
Nachdem alles soweit verspeist war – und Grám sogar etwas Grünzeug von Mathans Teller probierte, das der Zwerg gar nicht so scheußlich fand – schoben sie die Teller von sich und widmeten sich den ernsten Themen.
Andak räusperte sich und eröffnete das Gespräch „Wir haben uns ein wenig umgehört, nachdem wir hier angekommen sind...“
„Die Stadt ist nicht schlecht, befand zumindest Lorim – er ist unser Steinmetz. Die Mauern hoch und stark, die Tore gut gesichert und von dem was wir sehen konnten, ziemlich widerstandsfähig. Allerdings… „ Grám senkte etwas die Stimme und rückte näher an den Tisch, was Mathan und Andak ihm gleichtaten, „Es fehlt sonst an allem. Die Straßen sind nicht existent, ihr habt keine Handelsbeziehungen und nicht genug Arbeiter für Felder, Tierzucht oder andere Dinge, die nicht mit dem Krieg oder der Verteidigung zu tun haben.“
Mathan wollte etwas daraufhin erwidern. Dass sie schon mitten in einem Krieg steckten und einen Großangriff erwarteten, doch Andak hob beschwichtigend seinen Krug, „Wartet ab, Meister Elb.“
„Als wir Saurons Gäste waren – und das für ein paar Monate, haben wir einige Dinge gesehen und gehört, die vielleicht nützlich sein könnten“, eröffnete ihm Grám mit geheimnisvoller Stimme.
„Das heißt, dass ihr über Saurons Kriegspläne Bescheid wisst?“, flüsterte Mathan rasch und blickte sich um, „Ist das wahr?“
Die Zwerge tauschten einen Blick und Grám kratzte sich verlegen an seinem Bart. „Nun, ganz so tiefe Einblicke hatten wir nicht“, gestand Andak etwas kleinlaut und schaute in seinen Krug, der fast leer war.
„Wir wissen über eine Ressource, von der Sauron ziemlich besitzt und die ihm auch ziemlich wichtig ist“, sagte Grám mit fester Stimme und tippte mit seinem dicken Finger auf die Tischplatte, „Und dieses Land braucht es dringend.“
Mathan wusste nicht so recht, was der Zwerg damit sagen wollte, bis Andak knapp einwarf: „Muskelkraft.“
Rasch dämmerte es ihm. „Nein!“, platzte es Mathan sofort heraus und er senkte hastig wieder die Stimme, „Sklaven? Seid ihr des Wahnsinns?!“
Grám schüttelte den Kopf und zog die buschigen Augenbrauen zusammen. „Nein, so hört mir doch bis zu Ende zu.“
Mathan verschränkte die Arme. Faelivrin würde das niemals zulassen, genauso wenig ihre Tochter oder einer der Fürsten. Die Zwerge wirkten aber so, als ob ihnen das wichtig war. Er atmete tief ein und nickte - so knapp, dass es kaum wahrnehmbar war. „Also gut. Ich höre es mir an, mehr nicht.“
Andak wirkte erleichtert und erklärte, dass sie wochenlang von Gefangenenlager zu Gefangenenlager weitergereicht wurden. Die meisten platzten aus allen Nähten. Sauron wollte herrschen, nicht alles Leben vernichten, das - so betonte Grám, hatten die Wächter immer wieder in den Lagern von ihren Kommandanten eingebläut bekommen. Sicherlich war die Behandlung der Gefangenen schlecht bis katastrophal, aber es wurde nicht einfach wahllos getötet. Wenn gerade kein offener Widerstand geleistet wurde, hatte man die Gefangenen als Arbeitssklaven genutzt und sie nach Belieben zwischen die Lager hin- und hergeschickt.
Mathan hatte genug gehört und unterbrach sie: „Und was erwartet ihr von uns? Sollen wir diese Lager angreifen? Ihr wisst doch selbst, dass diese Stadt bald angegriffen wird. Wir können keine Krieger über unsere Grenzen hinaus entsenden.“
„Nicht ganz und das sollt ihr auch nicht“, antwortete Andak kopfschüttelnd und leerte seinen Metkrug, „Wir kenne ihre Wege. Wir wissen, wo sie die Gefangenen transportieren. Und der dunkle Herrscher hat nicht genug Leute, um alle Sklaven von seinen eigenen Getreuen verwalten zu lassen.“
Mathan dämmerte es, worauf die beiden hinaus wollten. „Ihr schlagt vor, dass wir die Sklavenhändler überfallen?“
Grám wirkte nun aufgeregter und setzt sich aufrechter hin. „Nicht nur das. Die Nachricht, dass Sarumans Halt über diese Lande gebrochen sind, hat sich noch nicht weit verbreitet. Wir könnten in seinen Namen eine große Bestellung aufgeben. Oder von Saurons Heerführern. Dann würden sie sie uns sogar bis hier her liefern.“
„Moment, nicht so schnell“, hielt Mathan den Zwerg zurück, „Es sind schon mehrere Wochen vergangen, Gerüchte verbreiten sich schnell.“
„Dann ködern wir sie mit Reichtümern, viele von den Händlern sind gierig. Ihr haltet doch Lond Daer?“ wandte Andak ein.
Mathan nickte knapp, woraufhin der alte Zwerg weitersprach und vorschlug, es so aussehen zu lassen, als ob Lond Daer wieder, oder immer noch unter Sarumans Kontrolle steht – oder kürzlich von Sauron heimlich erobert wurde. „Damit ködern wir die Sklavenhändler, die über das Meer Handel treiben und lassen sie dort mit ihren Gefangenen anlanden. Sollten sie Probleme machen… ich nehme an, die Flotte, von der ich gehört habe ist noch immer kampbereit…“
An sich klang das gar nicht so schlecht, aber es gab noch zwei Dinge, die Mathan störten, die er auch gleich ansprach: Was sollten sie mit so vielen Sklaven anstellen und vor allem, wie sollten sie sie in ihre Dienste treten lassen, ohne damit alle anderen Reiche oder möglichen Verbündeten zu brüskieren und abzuschrecken.
Aber auch darauf hatte Grám eine Antwort: „Schließt Verträge, garantiert ihnen Siedlungsplätze, vorübergehenden Schutz, plumpe Bezahlung oder eine irgendeine andere Art von Gegenleistung. Viele Menschen werden erst nach dem Krieg die Möglichkeit haben in ihre angestammte Heimat zurückzukehren. Ich denke, dass viele von ihnen darauf eingehen würden, mit der Aussicht irgendwann nach Hause zurückzukehren – oder direkt ein neues Leben unter den Schutz von Elben zu beginnen.“
Mathan leerte seinen Met mit einem großen Zug und stellte den Becher auf den Tisch. Tatsächlich war die Überlegung gar nicht so dumm, aber ihn bereitete es immer noch Kopfschmerzen. „Wir würden uns dabei auf sehr dünnem Eis bewegen. Ich weiß nicht, ob die Idee Anklang finden würde, zumal wir kurz vor Kriegshandlungen stehen. Wann sollen wir das bewerkstelligen? Und vor allem, von wie vielen ehemaligen Gefangenen reden wir hier, die was genau machen sollen?“
Andak war es, der schließlich mit der Sprache herausrückte: „Wir arbeiten Pläne für dieses Königreich aus. Entwicklungspläne. Meine Wenigkeit war eine lange Zeit Oberster Baumeister bei meinem Volk. Wir reden hier von Flussbefestigungen, Brücken und einem neuen Handelsweg. Na, klingelt es?“
„Ihr… ihr wollt den Glanduin wieder mit Schiffen befahrbar machen? Vom Gwathló, bis hier her hinauf?“, sprach Mathan ungläubig aus und blinzelte erstmal, während die beiden Zwerge sich angrinsten, „Wie soll das geschehen?“
Grám strich sich durch seinen feuerroten Bart und wirkte etwas weniger motiviert und brachte schließlich hervor: „Nun, wir bräuchten mindestens zweitausend Arbeiter, besser dreitausend.“ Auf Mathans entsetzten Blick hin, fuhr er hastig und beschwörend fort: „Eine direkte Handelsverbindung mit Gondor und womöglich sogar auch mit Minzhu und den Mondlanden. Wisst Ihr denn nicht, was das bedeutet? Ihr habt die Flotte und die Möglichkeit die Seewege zu sichern und…“ Er verstummte und murmelte nun leiser, dass sie erst die drohende Gefahr abwehren mussten. „Aber dennoch“, sagte er wieder lauter, „Die Händler werden Zeit brauchen, um auf die Anfrage zu reagieren. Jetzt wäre ein passender Zeitpunkt und – “
Grám verstummte, als Andak ihm am Arm packte. Der alte Zwerg schüttelte nur kurz den Kopf, da Mathan seinen skeptischen Gesichtsausdruck nicht mehr verbergen konnte. Das Lärmen der Gaststätte schwoll noch ein Stück weiter an. Mathan wiegelte ab. Tatsächlich konnten die Elben Eregion nicht alleine in so kurzer Zeit wieder aufrichten. Sie waren maximal zehntausend und über das gesamte Land verstreut und der kommende Konflikt würde tiefe Spuren hinterlassen. Eigentlich war dies sogar ein Ausweg, ein sehr kontroverser, aber es war eine Möglichkeit. Nun ging es darum, sie in Betracht zu ziehen. Zwischenzeitlich erschien Nityel und stellte ihnen jeweils einen Handteller großen, goldbraunen Kuchen vor die Nase. Er duftete wunderbar und schien sogar noch leicht warm zu sein. Ungefragt füllte sie ihre Becher wieder auf.
Als sie an Mathans Seite trat, neigte sie sich leicht zu ihm herab und flüsterte in sein Ohr: „Ein Bote Ihrer Majestät wartet auf Euch, doch er lässt Euch ausrichten, erst das Mahl zu beenden.“
Er nickte ihr zu, dass er verstanden hatte und bedankte sich. Dabei drehte er den Kopf, um den Boten zu erblicken. Ein leichtes Schmunzeln huschte über sein Gesicht. Nammanor stand am Tresen, in voller Rüstung, eine Hand lässig auf dem Schwertknauf, einen Krug in der anderen Hand und ihm zuprostend. Nityel eilte wieder zurück in die Küche und Mathan wandte wieder den Kopf zu den Zwergen.
Andak räusperte sich und versuchte es diesmal etwas bedachter: „Ihr braucht zusätzliche Manneskraft, daran besteht kein Zweifel. Und diesen armen Seelen wird es bei euch besser ergehen, da sie freiwillig bleiben können, oder es versuchen sich in ihre Heimat durchzuschlagen. Sollten sie hier siedeln wollen… nun, ich denke, dass wir den Vorschlag der Königin unterbreiten sollten.“
„Davon abgesehen könnten zusätzliche Hände die Verteidigungsanlagen schneller fertig stellen“, warf Grám ein, auch wenn er offenbar selber wusste, dass das ein eher schwaches Argument war.
Mathan wollte erst den Kopf schütteln, stach dann aber lieber mit seiner Gabel in den weichen Kuchen, aus dem eine weißliche Creme quoll. Er war wunderbar, bestand wohl aus Mehl, Milch, Eier, Honig und anderen Dingen, die er mal von Bäckern gehört hatte. Die Creme war hingegen sehr süß und hatte einen zarten Hauch von Minze. Den Zwergen, die inzwischen verstummten waren, schmeckte er wohl nicht ganz so sehr, denn sie beschwerten sich, dass es zu süß war. Mathan ließ sich mit seinem Nachtisch Zeit, so konnte er über den verrückten Vorschlag der beiden nachdenken. Als er die Gabel aus der Hand legte, blickten sie ihn erwartungsvoll an.
„Also gut. Ich werde die Königin von diesem Gespräch unterrichten. Wie sie entscheidet, liegt aber nicht bei mir“, sagte er schließlich, „Wahrscheinlich werden auch die Fürsten darüber entscheiden.“
„Nun, das sollte uns genügen“, befand Andak und machte Anstalten sich zu erheben, „Wir ziehen uns dann mal zurück. Hier sollen die Zimmer ganz gut sein.“
Mathan nickte knapp und erhob sich. Grám kletterte aus seiner Ecke und fluchte leise über die Unfähigkeit der Elben kleine Möbel zu bauen. Die beiden lachten und verschwanden feixend auf der Treppe nach oben. Er selbst ging zum Tresen, wo Morlas und Nammanor auf ihn bereits warteten.
„Ich hoffe, es hat gemundet“, erkundigte sich der Wirt und putzte gerade einen Becher. Auf ein freundliches Nicken hin, strahlte er und flötete: „Beehrt uns bald wieder, Heermeister.“
Mathan wollte nach seinem Münzbeutel greifen, doch Nammanor hielt ihn zurück und schüttelte kaum merklich den Kopf. „Keine Zeit, der Rat tritt gleich zusammen.“
Morlas schien bereits Bescheid zu wissen, denn er winkte zum Abschied. Nityel tauchte zwischen den Gästen im Schankraum auf und geleitete sie zur Tür. Sie hakte sich rasch bei ihm ein. Die Kinn-Lai lächelte ihn freundlich an und neigte sich ein wenig zu ihm, während sie zur Tür gingen. Leise wisperte sie ihm zu, dass sie hoffte, dass Mathan seine Zeit im Lorbeerblatt als Zeichen ihrer Dankbarkeit wertete, für seine Leistung bei der Schlacht um Rómen Tirion. Er wollte erwidern, dass er das nicht annehmen konnte, doch sie schob ihn ohne viel Federlesens aus der Tür und Nammanor drängte sogleich zum Aufbruch. Etwas unwohl ließ der das große Gasthaus hinter sich und folgte dem Ritter in Mitten der Nacht zum Palast. Auf dem Weg erzählte ihm der Krieger, dass morgen früh wohl der Wolfskönig in die Stadt kommen würde und einige Elben gespannt waren, wie ein König der Menschen aussah. Mathan antwortete jedoch nicht und dachte noch immer über das Gespräch mit den Zwergen nach.
Curanthor:
Nammanor geleitete Mathan durch die nächtlichen Straßen Ost-In-Edhils zurück zu dem Palast. Auf dem Weg begegneten ihnen kaum anderen Elben, nur Patrouillen der Stadtwache, die knapp grüßten und wachsam in die engen Gassen blickten. Auf dem Weg fragte sich Mathan, warum Valena nicht zu dem Gasthaus gekommen war, beruhigte sich aber mit dem Gedanken, dass sie wohl schlief – wie die meisten Menschen um diese Zeit. Eine Tatsache, die ihm manchmal entglitt, wenn er nicht lange Zeit unter Menschen weilte, so wie seine Zeit in Arnor. Er fühlte sich ausgeruht, die paar Stunden im Gasthaus waren ausreichend gewesen, um neue Kraft zu tanken. Trotzdem sehnte sich ein Teil von ihm, in einem Garten zu sitzen und sich zu entspannen. Weit weg von allen Auseinandersetzungen, Streitigkeiten und anderen Konflikten. Sein Blick fiel auf die Banner der Avari in der Vorhalle, als er durch die hohen Tore des Palastes trat. Innerlich straffte er sich, während Nammanor zielstrebig zum Thronsaal marschierte, die Flügel standen ein Stück offen. Der Ritter öffnete die rechte Seite ein Stück. Mathan folgte ihm, seine Stiefel glitten lautlos über den polierten Steinboden. Im Saal erblickte er bekannte Gesichter: Faelivrin, Isanasca und Ivyn unterhielten sich am Fuße des Podests zum Thron. Am Kartentisch, der in der Mitte des Saals stand, warteten die übrigen Fürsten, die Mathan nur flüchtig getroffen hatte. Die Zwillinge Taniel und Túniel musterten ihn nur kurz und blickten wieder auf die Karte – sie kannte er gar nicht. Artana – Istime, wie sie vermehrt genannt wurde, blickte jedoch auf und machte einen Schritt auf ihn zu.
„Heermeister“, begrüßte die Hofmeisterin ihn mit gebotenem Respekt, ganz anders als zuvor in der Vorhalle, „Danke für Euer kommen.“
Kurz meinte er ein Feixen in ihrer Stimme zu hören, doch wurde der Gedanke von Faelivrins Räuspern unterbrochen.
„Danke, dass ihr um diese nächtliche Stunde hergekommen seid. Es gibt einige wichtige Fragen zu klären“, begann seine Tochter leise und schritt zu ihnen an den Tisch, ihr Blick glitt kurz zu Isanasca, dann fuhr sie fort, „Und grundlegende Dinge festzulegen, die unser künftiges Reich definieren werden.“
Istime warf rasch ein, dass auch Vorschläge, Anregungen und Ideen willkommen seien. Mathan bemerkte die flüchtigen Blicke, die ihn dabei zugeworfen wurden. Er hasste Politik, auch wenn es in so kleinem Kreis stattfand. Gerade dann, wenn er die meisten der Anwesenden kannte. Isanasca hatte wohl schon Vorbereitungen getroffen, dass er die Vorschläge der Zwerge weitergeben konnte. Wie überaus scharfsinnig, dachte er sich und nickte unmerklich. Ivyn ergriff das Wort und gab zu bedenken, dass diese Form des Rates ein Überbleibsel aus dem alten Königreich war. „Nun, da wir mehr als nur Manarîn in diesem Königreich haben, sollten wir darüber nachdenken, auch jene eine Stimme zu geben, die bisher nicht hier vertreten sind.“
Túniel gab das erste Mal eine Regung von sich und schüttelte den Kopf. „Und diese Streithähne da draußen in diese Hallen einladen?“, warf der alte Elb ein, „Sie würden doch den ganzen Tag nur da sitzen und diskutieren. Vor allem die Kinn-Lai und die Kindi würden sich an die Kehlen gehen.“
„Dann müssen wir Regeln aufstellen“, hielt Isanasca dagegen und erntete einen missbilligen Blick von den Zwillingen „Oder das Regierungssystem in seinen Grundfesten neu ordnen.“
„Solche Änderung müssen aber gut durchdacht sein“, mahnte Istime, die wohl irgendwo zwischen ‚neu ordnen‘ und ‚Regeln aufstellen‘ schwankte, „Oder was meint Ihr, Majestät?“
Seine Tochter hatte nachdenklich die Arme verschränkt und strich sich über das Kinn. Sie blickte ihn kurz fragend an, doch Mathan schüttelte unmerklich für die anderen Anwesenden nur den Kopf. Kurz meinte er Ivyns Stimme in seinen Gedanken zu hören, sie sagte, dass es noch zu früh dafür war. Rasch blickte er zu ihr, doch sie fragte gerade die Hofmeisterin Istime über den Baufortschritt aus. So erfuhr Mathan, dass die feindgewandten Seiten der Stadt, also der Osten und wohl auch der Norden soweit gesichert waren. „Der Westen macht mir noch Sorgen, die Mauern sind breit, aber nicht hoch genug, die Torburg halb-fertig – und Lissailin…“, schloss Istime ihren Bericht und blickte halb fragend zu Faelivrin.
Seine Tochter seufzte leise und sagte: „Lissailin liegt verborgen… allerdings wäre es einen Angriff schutzlos ausgeliefert.“ Sie wandte sich an ihn, „Vater, Ihr wisst von den verborgenen Tal. Das Nebeltal, von dem Ihr mir in meiner Kindheit erzählt habt.“
Mathan wusste sofort wovon sie sprach. Sein Vater hatte ihm den Ort gezeigt, da er als jünger war. Es war ein beliebter Rückzugsort der Noldor gewesen. Ähnlich wie Imladris geschützt, aber nicht in einer Schlucht, sondern in einem Tal gelegen, umgeben von einigen Bergen und einem kleinen See. Er nickte und vergewisserte sich, ob sie den verborgenen Pfad unter den Bergen gefunden hatten. Seine Tochter nickte knapp. „Nun, dann würde es Saruman schwer fallen die Stadt zu finden. Außerdem müsste er dafür durch die Talath Neldor von Norden oder Nord-Westen anrücken – und wäre meilenweit zu erkennen.“
„Warum nicht vom Westen her?“, erkundigte sich Taniel rasch.
„Weil zwischen den Bergen um Lissailin und den Bruinen nur eine felsige Einöde gibt. Die alten Verteidigungsgräben erschweren ein Durchkommen, da sich durch die Jahrhunderte Regen, Wind und Wetter sie sich tief sich ins Land gegraben haben, dass es unmöglich ist sie mit einer Armee zu durchqueren“, erklärte Mathan und deutete dabei auf die Karte. Sein Finger wanderte weiter nach Süden, „Und die Schwanenfleet würde nur ein Wahnsinniger durchqueren – keine Heere.“ Mathan tippte auf die Mitte von Nunta Hollinor, in dessen Mitte die Ebene der Birken lag. „Talath Neldor. Hier reichen ein paar Wachposten mit schnellen Reitern und jeder Überraschungsangriff kann abgefangen werden. Wenn wir sie früh genug entdecken, kann man sogar aus der Hauptstadt schnell genug eingreifen.“
„Vorausgesetzt“, hob Faelivrin an und legte ihre Hand flach auf den Kartentisch, „Die Lage der Stadt wäre dem Feind bekannt – was nicht der Fall ist.“
„Es würde nicht schaden, trotzdem vorsichtig zu sein“, mahnte Ivyn leise und wandte sich wieder ab. Seine Tochter schien unzufrieden mit dem Einwurf. „Ich bin Beraterin“, sagte die Erste ohne hinzusehen, als ob sie Faelivrins Unmut gespürt hatte, „Also berate ich. Nicht mehr, nicht weniger. Es liegt an der Königin Entscheidungen zu treffen.“
„Gut“, seufzte seine Tochter und bat einen der Zwillinge darum die Wachposten einzuteilen, wenn auch mit geringer Stückzahl. „Da das geklärt ist, würde ich nun gerne von dem Vorschlag unserer zwergischen Gäste hören“, wandte sie sich nun an Mathan.
Er hatte sich schon überlegt, wie man das Thema so schonend wie möglich ansprechen konnte, doch seine Tochter hatte ihm mit ihrer Aufforderung den Boden unter den Füßen weggezogen. Mathan räusperte sich und gab in knappen Worten wieder, was Grám und Andak vorgeschlagen hatten. Niemand unterbrach ihn und bis auf gelegentlich skeptische Blicke erhob sich kein Protest, als er endete.
„Also sollen wir die Sklavenhändler über das Ohr hauen und die Gefangenen befreien – mit dem Ziel so viele wie möglich zum Bleiben zu bewegen“, fasste Istime zusammen und grinste auf einmal, „Die Idee gefällt mir!“
„Und das mit unserer Flotte, die wir dann wieder bemannen müssten“, wandte Isanasca ein und biss sich nachdenklich auf den Lippen, „Würde nicht alleine die Tatsache, dass wir Sklavenhändler einladen für Anstoß erregen?“
„Für eine List? Sicherlich nicht. Wir haben doch nicht vor mit ihnen zu handeln, sondern sie auszurauben“, stellte Istime klar und klopfte auf den Tisch, „Doch dafür müssten die Zwerge auch liefern.“
„Entwicklungspläne“, sagte Ivyn nun nachdenklich, „Für eine Wasserstraße von der Mündung des Gwathló bis zur Hauptstadt. Ich hab von einigen Cuind erfahren, dass sich viele für eine Siedlung in den Schwanefleet interessieren… wenn sie sich dort niederlassen wäre das gar nicht so abwegig.“
Alle anwesenden Elben starrten die Erste mehr oder weniger verblüfft an. Faelivrin hakte nach, ob sie tatsächlich das in Erwägung ziehen sollten. Ivyn nickte bekräftigend und sagte, dass Handelswege unglaublich wertvoll sind. „Tharbad würde wieder zu einem wichtigen Umschlagsplatz werden – falls wir Lond Daer nicht dafür heranziehen. Davon würden auch die Dunländer profitieren. Und falls Amarin keinen Unsinn erzählt hat, fuhr man in den alten Tagen mit den kleinen Schiffen auch bis in die Schwanenfleet.“
Mathan nickte, fühlte sich aber ein wenig überflüssig, während die Fürsten diskutierten und überlegten, ob solche ambitionierten Pläne überhaupt möglich waren. Dazu kam immer wieder die Frage auf, ob sie überhaupt den Platz für so viele Menschen hätten – und Bedenken, ob sich einige Elben nicht eingeschränkt fühlten. Sie alle wussten, dass manche Avari nicht gut auf Menschen zu sprechen waren, sie im eigenen Land siedeln zu lassen, würde bei einigen sicherlich auf Abneigung stoßen.
Nach mehreren Stunden kündigte sich der Tag mit blassen Sonnenstrahlen an. Faelivrin löste den Rat schließlich auf und vertagte die Angelegenheit auf später. Sie waren zu keinem klaren Ergebnis gekommen, dafür hatten die Zwerge zu wenig preisgegeben, was Mathan mehr als einmal betonen musste. Die Zwillinge verließen den Saal als Erste, dann Isanasca, die einen Trupp Soldaten trainieren ging. Ivyn wollte nach Halarîn sehen und dann zu Adrienne ins Haus der Ruhe gehen. Die Erste schritt bedächtig von dannen und hielt kurz inne, nur um zu verkünden, dass bald Besuch in der Stadt eintreffen würde. Faelivrin seufzte und murmelte einen Dank. Auf seinen Blick hin, sagte seine Tochter: „König Aéd wird bald eintreffen. Willst du bei den Besprechungen dabei sein?““
Mathan gähnte zur Antwort und grinste: „Eine Besprechung reicht mir, aber ich werde warten, bis er eintrifft.“ Er klopfte ihr auf die Schultern und massierte ihren Nacken, „Erst dann lasse ich dich mit den ungewaschenen, wilden Dunländern alleine.“
Faelivrin lachte leise, „Nenn sie nicht so“, ermahnte sie ihn amüsiert, „Und alleine werde ich nicht mit ihnen sein. Zuvor muss ich mich aber erfrischen.“
Mathan nickte und sagte, dass er ebenfalls endlich aus seiner Rüstung raus wollte, die er seit der Schlacht trug, auch wenn er das Blut darauf schon längst entfernt hatte. Seine Tochter nickte und nickte ihm dankbar für die kurze Massage zu. Sie wandte sich an eine Elbe der Palastgarde – das erkannte er an der Antwort der Gardistin und gab Befehl für eine Ehrenformation mitsamt Spalier. Die Elbe verneigte sich und eilte mit wehendem schwarzem Mantel davon. Er blieb alleine im Thronsaal zurück, während seine Tochter in ihre eigenen Gemächer ging. Sein Blick wanderte noch einmal über die Karte, dann über die Skizzen von Bauwerken. Es waren Planungen für einen zweiten Verteidigungsring der Stadt. Einige Notizen waren an den Rändern der Zeichnungen gekritzelt, die er kaum entziffern konnte. Mathan seufzte und fasste sie zu einem geordneten Stapel zusammen. Es würde Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern Ost-In-Edhil zu befestigen. Und selbst dann, wäre es kein Bollwerk, das lange Belagerungen standhalten konnte – zumindest war es sein bisheriger Eindruck, ihm war klar, dass er sich auch täuschen konnte.
Aus der Vorhalle hörte er geschäftiges Treiben, offensichtlich die Palastgarde, die sich auf dem Platz und auf der Halle hinauf zum Tor postierte.
„Ah, Heermeister“, begrüßte ihn die Stimme Nammanors, woraufhin Mathan von den Planungen aufblickte. Der Ritter trat in den Thronsaal ein. Er trug eine polierte, Rüstung, die mit allerlei Goldätzungen verziert war. Sie bildeten verschlungene Muster an den Rändern. Ein wallender, dunkelblauer Mantel hing von seinen Schultern und endete knapp über den Boden. Eine, mit kleinen Edelsteinen verzierte Schwertscheide hing an seiner Seite. Sein Gesicht war wie gewohnt von seinem Helm verdeckt, diesmal trug er jedoch einen Flügelhelm, dessen Wangenklappen und übrige Fertigung an Sonnenstrahlen erinnerte. Der blaue Rosshaarbusch war mit roten Strähnen ergänzt. Nammanor bemerkte seinen ausführlichen Blick und zuckte leicht mit den Schultern, während er sich darüber beschwerte, dass er es hasste sich so herauszuputzen. Mathan antwortete mit einem Schmunzeln, dass es ihm ganz gut stand. Der Ritter gab eine Mischung aus einem amüsierten Glucksen und einem abwertenden Grunzen von sich. „Ich mag es auch nicht sonderlich“, fügte Mathan hinzu und schaute Nammanor dabei zu, wie er die Karte zusammenrollte und die beschriebenen Pergamente sich unter die Arme klemmte.
„Nun, wir haben auch nicht oft besuch, also ist es nicht allzu schlimm“, lenkte der Ritter ein und nickte ihm noch einmal zu, ehe er in den Ostflügel ging. Offensichtlich brachte er die Pergamente zu Istime. Kurz fragte Mathan sich, ob sie bereits schon Hofschreiber hatten, doch das war unwahrscheinlich. Er blieb im Thronsaal und beschloss zu warten, bis Faelivrin zurückkehrte. Seine Rüstung ablegen konnte er auch später. Mathan beobachtete, wie einige Elben den Thronsaal für die Ankunft Aéds herrichteten. Der Kartentisch wurde an eine Seite geschoben, ein niedrigerer Tisch hereingetragen, dazu einige gepolsterte Stühle, die ziemlich neu aussahen. Man brachte leichte Speisen auf dem Tisch auf – Waldfrüchte, die im Winter ziemlich schwer zu finden waren, etwas Käse, helles Brot und Trockenfleisch. Zum Schluss wurde ein kleines Fass unter den Tisch gestellt. Eine Ehrengarde bestehend aus der Palastgarde und Faelivrins persönlicher Leibwache – erkennbar an den roten Haarbüschen auf den Helmen strömte in den Palast. Sie trugen eher zeremonielle Waffen, altmodische Gleven, gebogene Schwerter und einen Bronzeschild mit dem Wappen der Manarîn bespannt– der untergehenden Sonne des Westmeeres. Die Garde postierte sich am Eingang, an jeder Säule der Vorhalle und verteilte sich im Saal. Die Spitze ihrer Gleven waren auf den Boden gerichtet. Mathan schmunzelte und strich seinen roten Mantel gerade. Faelivrin hatte offenbar seinen Erzählungen sehr aufmerksam zugehört, denn die Waffen gen Boden zu richten, war ein Zeichen für Vertrauen, aber auch ein Zeugnis an den Gast, dass man ihn in jedem Falle beschützen kann – oder sich selbst.
Nach einer Weile, hörte man lauter werdendes Gemurmel von den offenen Toren. Auf dem Vorplatz hatten sich ein paar hundert neugierige Elben versammelt. Faelivrins Garde hatte eine breite Gasse gebildet, geradewegs hinauf zu den Stufen des Palasts führend. Mathan war unbewusst aus dem Thronsaal hinausgegangen, um besser auf den großen Platz zu blicken. Von links von ertönten Schritte und er hörte Nammanors Stimme, der sich mit Istime unterhaltend aus dem Ostflügel näherte. Die beiden verstummten, als sie neben ihm an einer Säule zum Stehen kamen. Er warf ihnen einen raschen Blick zu, doch sie wirkten ziemlich steif – vielleicht auch ein wenig angespannt. Mathans scharfe Augen erblickten Bewegung auf der gepflasterten Straße, die vom großen Marktplatz zum Palastvorplatz führte. Die Schulter seiner Tochter schob sich plötzlich in seinen rechten Augenwinkel. Faelivrin war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Sie warf ihm einen raschen Blick zu und hob kaum merklich die Mundwinkel. Sie trug ein weißes, weit ausstaffiertes Kleid mit hohen Kragen und weiten Ärmeln. Ein goldenes Diadem, in dem ein tropfenförmiger Rubin in der Mitte einer stilisierten Sonne eingelassen war, ruhte auf ihrem Haupt. Mathan machte Platz und trat hinter seiner Tochter aus dem großen Tor, hinaus vor die Stufen. Er machte einen Schritt zur Seite, sodass Isanasca neben ihrer Mutter stehen konnte, sie trug noch immer ihre volle Rüstung und zwei ihrer Schwerter, darunter auch Fâncrist. Ein silberner Haarreif hielt ihre langen, blonden Haare aus dem Gesicht. Er spürte Ivyns Anwesenheit, konnte sie aber nicht sehen. Selbst Luscora stand im Schatten einer der Säulen des Vorbaus – hinter einem Palastgardisten versteckt. Mathan unterdrückte ein stolzes Schmunzeln und blickte wieder nach vorn. Seine Familie war hier. Gerade als er an seine Geliebte denken wollte, schob sich eine warme, schmale Hand in die Seine. Er musste sofort lächeln. Mathan drückte sie sanft und Halarîn legte ihren Kopf an seine Schulter. Ein rascher Seitenblick verriet ihm, dass seine Frau mit der Hilfe einer Zofe gekommen war, die sich gerade knapp verneigte. Er schenkte ihr ein dankbares Lächeln und strich seiner Frau über das blasse Gesicht.
Halarîn lächelte flüchtig und nickte nach vorn. „Da kommt er.“
Faelivrins Palastgarde begleitete den Tross Dunländer im Laufschritt. König Aéd saß auf einem großen Fuhrwerk – einem massiven Streitwagen, der von wahrhaft großen Pferden gezogen wurde. Mannshoch waren sie und sorgten für aufgeregtes Getuschel unter den Elben. Der Wolfskönig blickte sich neugierig um, grüßte hier und da einige Elben, die eine Begrüßung riefen. Es kam zwar selten vor, aber einige Avari, meist Manarîn, hießen ihn willkommen. Als er auf dem Palastvorplatz einfuhr, heftete sich sein Blick sofort auf die breite Treppe und dem Ehrenspalier davor.
„Das ist neu“, murmelte Halarîn beeindruckt und richtete sich zu voller Größe auf. Ihre Hand blieb fest in seiner, offenbar um das Gleichgewicht zu behalten. Er packte fest zu.
Der Wolfskönig saß selber auf dem Kutschbock und fuhr langsam, sodass seine Wolfskrieger hinter ihm Schritt hielten konnten. Rechts und links von ihnen liefen etwa fünfzig Palastgardisten, die auf dem langen Weg quer durch die Stadt postiert waren und sich dem Tross angeschlossen hatten, wenn er sie passierte, um Aéd die Ehre einer Eskorte zu erweisen. Mathan konnte sehen, dass der Wolfskönig ein klein wenig nervös wirkte und ein wenig nachdenklich. Der Eindruck verflog aber, als er gekonnt das Gespannt zum Stehen brachte. Seine Krieger, von denen acht auf den massigen Pferden ritten, kamen ebenfalls geordnet zum Stehen, oder sprangen von den Pferden. König Aéd stieg als letzter ab und richtete sich zu voller Größe auf. Er trug einen neuen Helm aus Stahl, auf dem ein weißer Wolfskopf aufgesetzt war. Auf seinen Schultern ruhte ein ebenfalls weißer Wolfspelz. Sein Gesicht hatte einen ernsten Zug angenommen, als er das Spalier entlangschritt. Seine Augen glitten über die Stangenwaffen, die mit der Spitze zum Boden zeigten. Hinter ihm folgten seine Wolfskrieger. Dutzende Elbenaugen lagen auf ihnen, sodass einige von ihnen ziemlich nervös wirkten. Wahrscheinlich hatten sie noch nie so viele aus seinem Volk gesehen, dachte sich Mathan und blickte wieder zu Aéd, der vollkommen Ruhe und Autorität ausstrahlte. Der Wolfskönig stoppte an der Treppe zum Palast. Eine gebannte Stille lag auf dem Platz. Faelivrin blickte nur einen Wimpernschlag auf ihre Gäste hinab, dann setzte sie ihren Fuß zuerst auf die Stufe. Getuschel machte sie breit. Mathan hörte, wie man sich weiter hinten auf dem Platz erzählte, dass die Königin der Manarîn den ersten Schritt gemacht hatte. König Aéd reagierte sofort trat ebenfalls auf die Treppe. Das Tuscheln verstummte augenblicklich. Die beiden Herrscher nahmen nun jeweils gleichzeitig eine Stufe, wobei Faelivrin etwas nach links schwenkte. Aéd wusste, was sie vorhatte spiegelte die Bewegung. Beide schritten betont langsam jede einzelne Stufe, sodass man schon fast mitfieberte, dass sie sich in der Mitte traten. Mathan merkte, dass Halarîn seine Hand fester griff. Schließlich war es soweit, als beide ihren Fuß auf die mittlere Stufe der Treppe setzten. Es war so unterschiedlich wie es nur sein kann. Aéds schwerer Stiefel aus Wildleder und Pelzen, gegen Faelivrins leichten Schuh aus fein gewebten Elbenstoff und einer vierfachen Lage weichen Leders als Sohle. Mathan musste ein Schmunzeln unterdrücken, als die beiden sich einfach nur anblickten. Er wusste, dass seine Tochter ein sehr gutes Gespür für Situationen hatte, aber Aéd hätte er es nicht zugetraut.
„Willkommen in Ost-In-Edhil, Wolfskönig Aéd Forathson, Herrscher des Dunlands und Häuptling vom Stamm des Schildes“, begrüßte ihn Faelivrin ihn schließlich mit sanfter Stimme. Sie hatte leise gesprochen, doch war ihre Stimme weithin zu hören. Unter leisem Gemurmel der Umstehenden streckte sie ihm eine Hand entgegen, „Ich, Königin Faelivrin Nénharma, danke Euch, dass Ihr unsere Anfrage angenommen, und die Reise nach Eregion auf Euch genommen habt.“
Aéd ergriff ihre Hand und sprach laut und deutlich: „Es ist eine Ehre, dass Ihr Euch an uns gewendet habt. Ich hoffe, dass dies ein neues Kapitel in der Freundschaft zwischen unseren Völkern aufschlägt und unsere Beziehungen als gute Nachbarn festigt.“
Das Gemurmel verstummte, als Aéd endete und Mathan spürte, dass die anfängliche Abneigung vieler Elben abnahm.
Faelivrin schenkte ihm ein warmes, aber dennoch charismatisches Lächeln, „So wie wir auf einer Stufe stehen, so sehe ich, dass Eure Worte vom Herzen kommen und ich verspreche, dass wir auch künftig als Freunde auf einer Stufe stehen, König Aéd. Denn nur Freunde kommen zu einem in das Haus, wenn ein dunkler Sturm droht – so seit mir als Freund in meinem Hause willkommen.“
Faelivrins Garden nahm augenblicklich Haltung an und stieß ihre Waffen einmal gegen die Schilde. Das Donnern hallte einmal laut über den Platz. Das Spalier wandte sich mit dem Gesicht zum Palast. Faelivrin hielt Aéds Hand noch immer, während Isansca ihm bedeutete den Palast zu betreten. Gemeinsam schritten die beiden Herrscher die Treppe hoch, Hand in Hand als Zeichen der Freundschaft. Als sie an ihm vorüberkamen, nickte Mathan Aéd zum Gruß, als sein Blick ihn und Halarîn kurz streifte. Der Wolfskönig zwinkerte ihm rasch zu, dann war an ihm vorbei. Die schaulustigen Elben auf den Platz hatten sich inzwischen so weit verstreut, während die restliche Garde in geordneten Reihen die Treppe hinaufströmte. Ein Dutzend Elben machten sich daran die Pferde abzusatteln und zu versorgen.
Halarîn seufzte neben ihm erleichtert auf. „Endlich ist es vorbei. Ich verstehe dieses zeremonielle Gehabe nicht, aber es war auf eine merkwürdige Weise schön – wenn auch etwas spannungsgeladen.“
Mathan geleitete seine Frau zurück in die Vorhalle. Er schaute auf ein Dutzend Rücken, die in den großen Thronsaal gingen, dann sah er Halarîn an, auf deren Gesicht kleine Schweißperlen standen.
„Du solltest dich schonen“, sagte er etwas leise und überging ihren aufkommenden Protest, „Ich weiß, du bist nicht krank, aber du siehst auch nicht gesund aus.“
Halarîn schmollte ein wenig, winkte aber dann die Zofe heran, die sie sogleich stütze. „Dafür werde ich mir was einfallen“, versprach sie ihm mit einem verheißungsvollen Schmunzeln und ließ sich zurück in ihr Zimmer führen. Mathan unterdrückte ein Grinsen, da er ihre Art sich für herumkommandieren zu rächen schon kannte. Sie wusste aber, dass er es nur gut meinte – und vielleicht etwas übervorsichtig war. Mit langen Schritten folgte er ihr und der Zofe, die überrascht zurückblickte und Halarîn etwas ins Ohr flüsterte.
„Oh, dann kann er draußen schlafen“, sagte sie laut – auch wenn man hören konnte dass sie ein Lachen unterdrückte. Mathan grinste und stellte rasch einen Fuß in die Tür ihres Gemachs, bevor sie zufallen konnte.
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