Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Rhun
Draganhrod
Curanthor:
Markgraf Drazan Blutfinger war einer der einflussreichsten Männer des Fürstentums, vielleicht sogar des Königreichs. Vielleicht besaß er nicht die vielen verschiedenen Kontakte, Beziehungen und Druckmittel wie ein Haus Castav, aber das musste er auch nicht. Der Streiter der Ostmark war ungeschlagen im Kampf, seit fast einem Jahrhundert verteidigte er die östlichen Grenzgebiete und hatte mehr Attentate überstanden, als sonst irgendjemand. Jene, die ihn kannten, erzählten aber nicht von seiner Erscheinung, Kampfkraft oder Grausamkeit, das war der Pöbel. Dragan wusste von den wenigen Erzählungen seines Vaters, dass Drazan einer der seltenen ‚goldenen Mischungen‘ war. Ein Krieger sowohl im Geiste, als auch im Körper. Beides zusammen machte ihm zu einem der gefährlichsten Männer des Königreiches. Dragan stellte sich neben Hoheprister Mórval, rechts von Drazan, der gerade eigenhändig den Rednerstand von der Bühne warf. Von den vierhundert Zuschauern war noch etwa die Hälfte übrig, die Krieger Remedàs ausgenommen. Dragan blickte zum Fürstensitz, ob Vakrims Castav herauskommen würde, um Drazan zu begrüßen, doch die Tore blieben verschlossen. Auf der leicht erhöhten Terrasse konnte man allerdings ein Dutzend Würdenträger sehen, die das Spektakel verfolgten. Sein Großvater beugte sich zu einem seiner Krieger herunter, der ihm einige lange Augenblicke etwas ins Ohr flüsterte. Dragan vermutete, dass Drazan gerade der bisherige Verlauf der Verhandlung erzählt wurde. Der Markgraf nickte nur knapp und wedelte kurz mit der Hand. Der Krieger – ein kräftiger, vollbärtiger Kerl mit einer geschulterten Axt stieg die Treppe der Bühne hinab und verschwand vom Platz. Gemurmel wurde laut. Das Publikum war ungeduldig. Nach der bisherigen Unruhe wollten sie endlich ihre Sensationsgier befriedigt haben. Der Markgraf war kein Mann großer Worte, wie Dragan feststellte. Sein Großvater übernahm mit knappen Worten die Verhandlung und ließ die beiden Verhüllten – die ihn als Oleg und Danica mimten, auf die Knie gehen. Dragan fragte sich, welcher Narr solch eine Aufgabe übernehmen würde. Seine Gedanken wanderten kurz in der Zeit zurück. Zu gern hätte er den Namen der Elbe erfahren, die ihn aus diesem Turm befreit hatte. Und was die Weißen Streiter mit ihm, Danica und den Schlüsseln planten. Im Moment blieb ihm aber keine große Wahl. Unmerklich ballte Dragan die Fäuste. Erneut war ihm die Kontrolle über seine Entscheidungen entglitten. Der winzige Moment, als er die Lederfesseln losgeworden war, und endlich frei seine eigenen Entscheidungen treffen konnte. Er war so süß gewesen. Freiheit. Etwas, dass er in seinem Leben zu lieben und schätzen gelernt hatte. Sein Blick ging wieder zu den beiden Verhüllten. Entweder würde sie ihre Freiheit, oder gar ihr Leben verlieren. Der Gedanke war ihm unwohl.
„Ástrebor“, erklang Mórvals Stimme leise neben ihm. „Ich muss Euch tatsächlich in Fürst Vakrims Nähe postieren, meinen Vorbgehalten zum Trotz.“ Der Markgraf wiederholte indessen noch einmal zusammenfassend den bisherigen Ablauf und die Für- und Gegensprache. Mórval bedeutete ihm an den Rand der Holztribüne zu treten, wo man sie nicht belauschen konnte. „Ástrebor“, sagte er noch einmal eindringlich, „Beobachtet ganz genau, was der Fürst tut und mit wem er spricht. Wir sind nicht die einzigen, die Einfluss auf ihn nehmen wollen. Schreibt alles nieder und platziert es in dem Versteck.“ Seine Stimme senkte sich, sodass Dragan Probleme hatte, ihn zu verstehen. „Neben unseren Tempel gibt es einige wenige, die ebenfalls den Fürst beeinflussen, oder gar ersetzen wollen.“ Mórval schwenkte kurz vielsagend den Kopf zu Markgraf Drazan, der gerade Bognas Art zu Verhandeln lächerlich mahcte. „Dann die Söldner aus der Weite, mit dieser spitzohrigen Dämonin an der Spitze. Findet heraus, was sie im Schilde führen. Behaltet Blutfinger im Auge, er hat sich bis vor ein paar Jahren aus der Politik zurückgezogen. Außerdem flammen immer wieder Gerüchte über die Kinder Ivailos auf, geht dem nach. Wir können uns es nicht leisten, wenn die Erben über die Blutlinie rechtmäßigen Anspruch erheben.“
Dragan wollte schon überrascht Fragen, welche Kinder gemeint sind, legte aber dann aber nur überrascht den Kopf schief. Mórval wirkte etwas erstaunt. Dragan biss sich auf die Lippen. War das eine ungewöhnliche Regung? Wie hatte sich Ástrebor normalerweise verhalten? Der Hohepriester durfte auf keinen Fall misstrauisch werden. Dragans Hand wanderte etwas tiefer, zur seinem Schwertgurt.
„Ihr wisst doch von den vielen Bastarden des Wolfes“, tadelte Mórval und schnaubte, „Es ist hauptsächlich wertloses Geschwätz des Pöbels, aber es stimmt, dass Ivailo nicht nur eine Frau hatte. Wir müssen einen Erbfolgekrieg in Govedalend verhindern.“ Der Hohepriester drehte sich leicht zu Drazan, der jetzt seine mächtige Stimme erhoben hatte und verkündete, den wahren Ablauf herauszufinden. Dragan unterdrückte nur mit größter Willenskraft die Welle aus Hass auf seinen Vater, die in ihm aufwallte. „Seht ihn Euch an, wie er sich aufplustert. Und Hauptmann Marek neben ihm. Unsere Spione haben mir zugeflüstert, dass der Kapitan auf der Seite einer der wahren Erben steht – wir wissen aber nicht wen. Euch muss ich nicht sagen, wie prekär das wäre. Ein echtes Bündnis zwischen den beiden Fraktionen muss verhindern werden… aber das ist meine Aufgabe, Ihr kümmert Euch um den Fürst, wie besprochen. Habt auch ein Auge auf Marek.“
Dragan verneigte sich knapp, behielt aber im Kopf, dass der Tempel nicht für Vakrim Castavs volle Sicherheit garantierte – noch nicht, und vielleicht nie, wenn er seine Rolle gut genug spielte. Mórval streckte indessen zufrieden die Brust heraus und sagte in einem selbstgefälligen Tonfall, dass sie gerade erst angefangen hatten.
Markgraf Drazan lenkte Dragans volle Aufmerksamkeit auf sich, als er mit einer herrischen Geste für Ruhe sorgte. Die wild aussehenden Wachen, sein Ruf und Charisma sorgten dafür, dass das durchgehende Geflüster auf dem Brunnenplatz sofort verstummte – ganz anders als bei Vogt Bogna. Alle Blicke lagen auf ihn. Selbst Dragan konnte sich nicht davor wehren, Respekt für seinen Großvater zu empfinden.
„Die falsche Schlange Bogna hat euch alle belogen!“, rief Drazan laut und spuckte in die Feuerschale. „Ein Kriecher der Priester, die ständig Gift in seine Ohren träufelten. Und durch seinen Mund hat er dieses Gift ausgespien.“ Die Menschen murrten unzufrieden. Niemand hörte es gerne, dass man belogen wurde. Mórvals Hand an seinem Stab zuckte kurz „Er behauptete, dass Bojar Brankos Wachen nicht das Zimmer der Verhüllten betreten hatten.“ Marek zückte unmerklich einen schwarzen Dolch und versteckte ihn hinter seinen Rücken. Dragan fuhr sich unbewusst mit der Zunge über den Schnitt in seiner Wange. Er war sich sicher, dass die Klingenspitze abgebrochen war. Drazan wandte rasch den Kopf, als ein mutiger Mann der Stadtwache rief, dass Verhüllte keine Rechte hatten. Der Markgraf grinste kurz. „Wie gut, dass ich dieses schwachsinnige Gesetz bei mir nie einführt habe.“ Drazan stieß die Fäuste wütend aneinander und brüllte: „Was ist ein Land wert, das seine Bewohner nicht ernähren kann?“
„Nichts“, antworteten seine Krieger wie aus einem Munde. Die rauen Stimmen donnerten geradezu über den Platz.
„Und was ist ein Gesetz wert, das seine Untertanen nicht schützt?“, fragte Drazan sanfter, doch seine Männer schwiegen. Die Menschen konnten sich die Frage selber beantworten. Dragan grinste hinter seiner silbernen Maske. Sein Großvater war in der Tat gerissen. Nicht jeder konnte den Fürsten bloßstellen, ohne Namen zu nennen. Die Menge murmelte unablässig, doch niemand wagte es dem zu widersprechen. Bestechende Logik war meist die größere Waffe als rohe Gewalt, wenn es um Überzeugungen und Argumente ging. Drazan winkte indessen einen seiner Männer auf das Podest. Lautes Gerede brandete unter den Bewohnern der Stadt auf. Dragan blickte sich rasch um und konnte dutzende Schaulustige in den Fenstern der angrenzenden Häuser entdecken. Selbst in den Gassen und Straßen tummelten sich Menschen. Offenbar hatte sich die Ankunft des Markgrafen herumgesprochen. Der Krieger Remedàs nahm die letzte Stufe. Jetzt sah Dragan den Grund für die Aufregung der Menge. Es war die Schleicherin, die der bärtige Mann auf seinen Armen trug. Sie war noch immer in ihrer schwarzen Kleidung gehüllt. Man hatte ihr Hände und Füße gefesselt, einen Knebel in den Mund gesteckt. Ihre dunkelbraunen Augen verschossen Dolche. Drazan nickte seinem Untergebenen knapp zu. Der Krieger ließ die Gefangene einfach auf die Holzplanken fallen. Sie fing sich gerade noch mit ihrer Schulter ab. Der Aufprall war trotzdem hörbar hart. Marek trat vor und zückte endlich den schwarzen Dolch. Tatsächlich fehlte etwa eine daumenbreite der Klingenspitze.
„Diese Waffe wurde in ihrem Zimmer gefunden“, rief der Hauptmann und wickelte das schwarze Leder um den Griff langsam ab. „Was beweist, dass die Wachen hineingegangen waren. Es gibt dazu eine Zeugin, die auf ihr Leben schwört, dass eine der Mägde der Küche irgendwas in das Bier der beiden geschüttet hatte.“ Die Menschen riefen daraufhin wild durcheinander. Viele forderten die Zeugin zu sehen, andere vertraten vehement den Punkt, das Verhüllte keine Rechte hatten.
„Ruhe!“, donnerte Markgraf Drazan und deutete auf eine kleine, recht stämmige Gestalt, die hinter einer der Krieger Remedàs hervortrat. Dragan erkannte sie als die Köchin im Fürstenhof, womit Drazan sie ebenfalls vorstellte. Der Tumult verstummte, während die Köchin mit fester Stimme bestätigte, dass eine ihrer beiden Mägde eine unbekannte Phiole in das Bier der beiden geleert hatte. „Das schwöre ich, bei meinem Leben.“
Daraufhin wurde es erst einmal wieder ziemlich still. Drazan beugte sich zu der gefangenen Schleicherin hinab und schien etwas zu sagen. Was auch immer es war, blanke Angst stand in ihren Augen. Dann richtete Marek sie auf und rupfte ihr die Kapuze vom Kopf. An ihrer rechten Schläfe prangte eine hässlich angeschwollene, rot-blaue Platzwunde. Drei Soldaten Rhûns drängten sich durch die remedànischen Krieger. Sie sprachen kurz mit Marek, dann stellten sie sich neben Dragan. Er warf ihnen einen flüchtigen Blick zu. Sie alle trugen wie üblich Helme und einen Mundschutz. Nur die Augen waren zu erkennen, doch die Soldaten verfolgten gebannt, wie Drazan die enttarnte Schleicherin an den langen braunen Haare packte und mit einer Hand in die Höhe zog. Eine simple, aber eindrucksvolle Machtdemonstration. Die Füße der Frau verließen die Planken und traten hilflos nach Halt suchen umher. Tränen rannen ihr die Wangen hinab.
Marek hielt erneut gut sichtbar den Dolch in die Höhe und entfernte die lederne Umwicklung des Griffs nun ganz. Die Gefangene bat winselnd um Gnade, doch der Markgraf schlug ihr prompt mit der freien Faust ins Gesicht. Ihre Nase knackte leise. Sie heulte laut auf, während ihr Blut über das Gesicht strömte. Marek warf das nutzlose Leder ins Feuer und zeigte den Griff. Darin war ein verschlungenes Symbol geschnitzt, das jeder in Govedalend kannte und hasste. Eine Axt, um deren Griff sich eine Schlange windete. Die Menge begann zu brodeln. „Verräter!“, schrien die Ersten, doch es war gar nichts, gegen das, was folgte, als Marek zu der Schleicherin trat und mit der zerbrochenen Klinge den Rücken aufschlitzte. Die Gefangene schrie vor Schmerz laut auf. Marek schob die blutigen Kleider auseinander und drehte sie baumelnd um. Eine große Axt wurde ihr unter die Haut auf den Rücken gestochen. Eine Schlange wand sich um den Griff. Ein wahrer Sturm der Wut fegte über den Brunnenplatz. Dragan musste an sich halten, um nicht sein Schwert zu ziehen und die Frau sofort zu töten. Ihre Nachbarn im Norden standen eigentlich neutral zu ihnen, aber in der Vergangenheit hatte es schon mehrere Versuche gegeben, Govedalend zu erobern und umgekehrt – meist erfolglos. Es war über die Jahre in einem gemeinsamen Königreich in eine tief verwurzelte Rivalität übergegangen, die auf gegenseitigen Respekt beruhte. Nicht alle waren der Meinung, dass es so bleiben sollte. Die Schlangenaxt stand für eine Gruppe von Adligen, Kriegerfamilien, Händler und Kaufleute beider Länder, die nach einem vereinten Land strebten und dafür über Leichen gingen. Schon oft hatten sie versucht, beide Länder zu destabilisieren, um es nach ihren Vorstellungen zu vereinen.
Inzwischen sorgten die Krieger von Remedà wieder für Ordnung, auch wenn die Wut der Bewohner nur schwer zu zügeln war. Schon oft waren Waren- und Kornlieferung überfallen, oder einfach ausgesetzt worden mit absurden Forderungen, wie die Absetzung des Fürstens oder einer Vereinigung der Fürstentümer. Es war immer das einfache Volk, das darunter gelitten hatte. Doch die echten Drahtzieher der Schlangenaxt waren nie zu fassen und es war verdammt schwer ihre Handlanger zu fangen, da sie meist auf der Stelle getötet wurden. Oder sich selbst töteten, wenn man sie erwischte, wie Dragan schon mehrfach in seiner Jugend frustriert feststellen musste. Mórval zischte neben Dragan unzufrieden. Marek verkündete indessen, dass Bojar Branko wohl ebenfalls zu den Verschwörern gehörte, da er die beiden Schlangen bei sich aufgenommen hatte. Markgraf Drazan hob eine Hand und es kehrte wieder Ruhe ein. Sein Großvater wandte nur kurz den Kopf zu Hohepriester Mórval und ihn. In seinem Blick lag etwas, dass ihm ein Schauer den Rücken hinabjagte. „Nun, das ging daneben“, murmelte Mórval nur leise.
„Kraft meine Amtes ordne ich die Ergreifung des Bojaren Branko an – möge der Fürst über ihn urteilen“, donnerte Drazan unvermittelt und hob die Gefangene hoch in die Höhe, wie sein muskelbepackter Arm es zuließ, „Doch diese feige Giftmischerin soll der Tod ereilen. Für Hochverrat an der Fürstenkrone, versuchte Flucht, versuchte Täuschung des Volkes und Teilnahme an einem Komplett gegen Govedalend.“ Mit einem angewiderten Gesichtsausdruck warf er sie wie einen nassen Sack auf die Holzplanken. Sie krümmte sich vor Schmerzen. Drazan wandte sich an die vier Soldaten, obwohl sich Tár nicht rührte. „Ihr seid doch die Beschützer des Reiches. Es hat die Integrität des gesamten Reiches gefährdet. Führt diesem Insekt seine gerechte Strafe zu, sonst tue ich es.“
„Mein Herr, “, begann einer der drei Männer respektvoll, „Wir sind nur hier, um für das Königreich zu kämpfen, nicht innere Angelegenheiten der Fürstentümer zu regeln.“ Bevor einer reagieren konnte, war der kleinere der drei Soldaten vorgetreten und hatte sein Schwert gezogen. Der Sprecher wollte seinen Kameraden zurückhalten, doch der dritte Soldat hielt ihn davon ab. „Was tut ihr da?“, verlangte er zu wissen, doch er antwortete nicht. Dragan blickte hastig zwischen den Soldaten her. Der Kleinere mit dem Schwert näherte sich der Schleicherin und schien kurz etwas zu sagen. Man konnte sehen, wie sie erstaunt die verquollenen Augen aufriss. „Ihr?!“ keuchte sie. Dann zuckte das Schwert vor und stach ihr in die Kehle. Sie röchelte und spuckte sofort Blut.
Markgraf Drazan fluchte und packte sich eine schwere Axt seiner Männer. Der Soldat neben der Sterbenden hechtete sofort zur Seite. Das schwere Blatt der Axt fuhr hinab und verfehlte ihn nur haarscharf. Holz splitterte. Der Kopf der Verurteilten rollte kurz danach über den Holzboden der Tribüne. Auf dem Platz herrschte Totenstille. Dragan vermied es die Tote anzublicken. Drazan gab die blutige Axt dem Krieger zurück. „Nur Weichlinge lassen jemanden elend verbluten“, grunzte der Markgraf und wischte seine blutigen Hände an seiner Fellhose ab, „Und es dauert zu lange.“
Oder jemand, die eine Rechnung zu begleichen und sie leiden sehen wollte, dachte sich Dragan und fing den Blick des Soldaten mit dem blutigen Schwert auf. Die blauen Augen, die ihn einen befriedigten Blick zuwarfen, bestätigten seinen Verdacht. Ausgestreckte Finger und lautes Geredete lenkten ihn jedoch ab. Dragans Kopf flog herum, dass er sich fast den Nacken verspannte und er blickte zum Fürstensitz. Die hölzernen Eichentore standen offen. Fürst Vakrim Castav persönlich war erschienen. Er wurde von einer dreißig Mann starken Leibgarde begleitet, zwei Dutzend Beratern und eine Hand voll Speichelleckern. Dragan konnte auch einige Bojaren erkennen. Zwei alte Freunde seines Vaters waren darunter, doch mehr als die Hälfte war ihm unbekannt.
„Ástrebor“, sagte Mórval unvermittelt. Dragan musste sich ein Zucken verkneifen, da er die kalte Stimme des Hohepriesters eine Weile lang nicht gehört hatte. Und sie unangenehme Erinnerungen weckte. Bilder von kalten, grauen Steinwänden und Folterwerkzeugen schwirrten durch seinen Geist. „Bleibt konzentriert. Ich weiß, Ihr mögt keine Menschenmengen.“
Dragan atmete innerlich aus und verneigte sich knapp, als Zeichen von (geheuchelter) dankbarer Ergebenheit.
„Gut. Diese Verhandlung scheint beendet zu sein. Der Fürst wird nicht mehr viel zu tun haben, als den Bojaren seinem Titel zu entziehen und die Verhüllten zu entlasten – die dann verschwinden werden.“
Er legte fragend den Kopf schief. Nur ganz leicht, dass Mórval nicht misstrauisch wurde.
Und es klappte, denn der Hohepriester schien amüsiert. „Ja, Ástrebor, die Frau wird in einem unserer ganz besonderen Badehäuser untergebracht, wenn das alles vorbei ist. Mit dem anderen Gefangenen haben wir allerdings noch ganz besondere Pläne, falls er wirklich der ist, für den ich ihn halte.“
Dragan rann ein Schauer über den Rücken, als der Hohepriester ein kaltes, kratziges Lachen von sich gab, das ganz untypisch für einen der Hunde vom Tempel war. Offenbar hatte Mórval ihn tatsächlich erkannt oder von Anfang an gewusst, wer er war. Dragans Blick huschte zu Vakrim. Hatte auch er gewusst, wer er war? Und warum war Danica immer bei ihm gewesen? Er erinnerte sich an Társ Worte, vor der kurzen Unterbrechung und dem Kleiderwechsel. Der Jadethron. Was war das? Wie passte all das zusammen? Er war schon vorher misstrauisch gewesen, dass Dragan in den Kerker wanderte und als Oleg wieder herauskam und niemand wusste, wer er vorher war. Vielleicht war das alles ein Trick gewesen. Dragan blickte zu seinem Großvater Drazan, der keine Anstalten machte Fürst Vakrim in irgendeine Art Respekt zu zollen. Er stand ruhig mit seinen massigen, verschränkten Armen da und blickte dem Tross des Fürsten entgegen. Marek hatte wohl dafür gesorgt, dass der Markgraf einen Tag früher aus Velgorod anreiste und damit erst die Ablenkung erschaffen, mit denen Dragan entkommen war. Wenn auch nur kurz. Er unterdrückte den Impuls sich an den Kopf zu fassen. Er war sich aber sehr sicher, dass (fast) alles nach Drazans Eintreffen nicht mehr Vakrims oder Mórvals Plänen entsprach. Dafür war sein Großvater einfach zu unberechenbar – von den Weißen Streitern gar nicht angefangen. Dragan blickte kurz verstohlen zu Tár, der kaum merklich nickte und dann zu den übrigen drei Soldaten Rhûns trat. Offenbar trennten sie sich hier voneinander.
„Erfülle deine Aufgabe“, sagte Mórval erneut unvermittelt und tippte ihm mit dem goldenen Stab auf Stirnhöhe gegen die Maske, „Möge der Segen des allsehenden Auges mit dir sein.“
Behalte deinen Fluch, du widerwärtige, schwarzherzige Bestie in Menschengestalt, dachte sich Dragan, verneigte sich aber ergeben und folgte dem Hohepriester, der vorausgegangen war, um dem Fürsten die Ehre zu erweisen. Sein Gefühl sagte ihm, dass er ab diesem Zeitpunkt mehr herausfinden würde, was hier vor sich ging als bisher.
Curanthor:
Dragan ermahnte sich stumm, seine Rolle als Ástrebor weiter zu spielen, als Vakrim Castav mit langen Schritten die gezimmerte Tribüne erstieg. Der Fürst trug einen wallenden roten Mantel, teure Kleidung aus farbenfroher Seide, die seine erstaunlich kräftige Statur kaschierte. Auf seinem Haupt ruhte die silberne Fürstenkrone. Es war Sitte, für jeden Fürsten eine neue Krone zu schmieden und sie mit persönlichen Zeichen zu verzieren, sein Vater hatte einst nur einen simplen Haarreif gehabt. Vakrim trug eine recht schmale Krone, in die perlgroße Edelsteine eingelassen waren. Der Fürst blieb in gewissen Abstand vor Markgraf Drazan stehen. Die Fürstengarde rückte nach, die Krieger Remedàs postierten sich ihnen gegenüber. Die beiden Männer maßen sich mit Blicken. Auf dem Platz war es still. Es war bekannt, dass Drazan nicht viel von dem Fürsten hielt. Das beruhte aber auf Gegenseitigkeit. Für Vakrim war der Streiter der Ostmark ein politischer Gegner, den er nicht ohne große Verluste in die Ecke drängen konnte. Dragan spürte, wie die jeweiligen Leibwachen unruhig wurden. Es wurde kein Wort gesagt. Dann verneigte sich Drazan so knapp, dass es schon fast beleidigend war – aber nur fast. Fürst Vakrim nickte, ein kaum sichtbares triumphierendes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, dann wandte er sich nach rechts und Hohepriester Mórval zu. Sie begrüßten sich mit gebotenem Respekt, Dragan kniff die Lippen zusammen, als er sich ebenfalls verneigen musste.
„Ist dies Euer Vertrauter?“, fragte Vakrim beiläufig, als er Dragan bemerkte. Der Fürst musterte ihn abschätzig, kurz blieb der Blick an den schmalen Sehschlitzen hängen. Mórval bestätigte die Vermutung, konnte aber nicht mehr sagen, da Vakrim jene Verhüllten gewahr wurde, die Dragans und Danicas Platz eingenommen hatten.
Er lachte laut auf. „Nun, selbst Ihr könnt Eurem Schicksal nicht entkommen… Oleg, ja?“ Der Verhüllte, der Dragans drahtiger Körperstatur sogar ähnelte, nickte widerwillig. Er spielte ihn erstaunlich gut, befand der echte Dragan. Unbeeindruckt schloss er zu Mórval auf, der sich neugierig neben Vakrim stellte, der indessen die falsche Danica verhöhnte. Der Hohepriester beugte sich zu dem Verhüllten hinab. Dragan umrundete ihn und stellte sich in dessen Rücken, dabei schob er einen Remedàner zur Seite und eine Leibwache Castavs. Eigentlich tat er das nur, damit er besser lauschen konnte, doch Mórval bedankte sich knapp. Offenbar hätte der echte Ástrebor ebenso gehandelt, stellte Dragan erleichtert fest. Vakrim machte sich weiter über die kämpfende Frau lustig, während Drazan gelangweilt die Augen verdrehte und die blutige Steitaxt seines Untergebenen zu säubern begann.
„Nun, Sohn des Wolfes“, wisperte Mórval kühl. Dragans Blick raste zu ihm, doch der Hohepriester hatte sich zum Ohr des Verhüllten gebeugt. Er unterdrückte ein erleichtertes Ausatmen und spitzte die Ohren, während Mórval weitersprach: „Ihr dachtet wohl, dass ich nicht herausbekomme, wenn ihr Hauptstadt verlasst. Nun, Ihr habt Euch dort Feinde gemacht. Oder besser gesagt: sie wiedergetroffen.“ Der Verhüllte hob den Kopf nur ein Stück, jedoch nicht weit genug, dass man ihm in die Augen sehen konnte. „Feinde, die Euch noch aus Eurer Zeit im Turm kennen“, wisperte Mórval weiter und lachte leise. Ein Schauer rann Dragan den Rücken hinab. „Ja, ganz recht. Ich weiß von dem Turm des Wahnsinns und was es mit ihm auf sich hat. Wisst Ihr, dass Ihr der Einzige seid, der jemals aus ihm entkam? Das hat dem Hohen Ankläger ganz und gar nicht gefallen.“ Der Hohepriester machte einen tadelnden Laut, „Aber ich muss Euch danken, nun kann ich mich mit Eurem Tod rühmen. Wenigstens seid Ihr so seinen Ketten entkommen und als Zeichen meines Dankes, wird es schnell gehen.“
„Mórval!“, rief Vakrim plötzlich gut gelaunt und unterbrach die Unterredung. Der Fürst klopfte dem Hohepriester kameradschaftlich auf die Schulter und zog ihn zur Seite, „Welchen Eurer Recken stellt Ihr mir zur Seite? Ich habe schon viel von den Schwertern des Tempels gehört...“
Dragan erlaubte sich tief auszuatmen, während die beiden etwas Abstand nahmen. Er blickte auf seine zitternden Hände und steckte sie rasch in die weiten Ärmel seiner Robe. Der schwarze Ankläger – oft einfach nur Schwarz genannt, oder Ankläger. Dragan schüttelte sich unmerklich. Eine bösartige Kreatur, die keinen Zug Menschlichkeit an sich hatte. Ein Jäger, Vollstrecker und Foltermeister, der nur einem geheimnisvollen Vertrauten Saurons persönlich Rechenschaft ablegte. Er war darauf aus, den Geist und die Persönlichkeit seiner Opfer zu zerstören. Es brauchte fast all seine Willenskraft die aufkommenden Erinnerungen zurückzudrängen. Die kurzen Bildfetzen von kargen, kalten Wänden, dem Rasseln von Ketten und lebendig gewordenen Schatten bestärkten Dragan aber, auf den Plan der Weißen Streiter zu vertrauen. Nur dank ihnen hatte er dem endlosen Albtraum entkommen können.
Ein bekanntes Gesicht in Dragans Augenwinkel holte ihn wieder zurück in die Wirklichkeit. Es war der feuerrote Bart eines alten Freundes, den er sofort erkannte. Er trug teure Gewänder, doch der lächerliche Schlapphut aus abgewetztem Hirschleder war unverändert und Dragan war sich sicher. Es war tatsächlich der Graf von den Sonnenhügeln, einer Grafschaft, die normalerweise direkt dem Fürsten untergeordnet war. Und es war sein Kindheitsfreund Ulf Gunnarson, der das Wappen der drei grünen Hügel auf gelben Grund auf der Brust aufgestickt trug. Das kantige Gesicht seines alten Freundes nahm kurz Notiz von ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, dann drängten die übrigen Edelleute nach und er verlor ihn in der Menge. Das Holz der provisorischen Empore knarrte bedenklich.
Vakrim tauchte plötzlich neben Dragan auf und klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter – dennoch etwas zurückhaltender als bei Mórval zuvor, „Nun, ich vermute, dass wir eine Zeit lang auskommen werden.“ Dragan wandte ihm kurz den Kopf zu, hob wortlos die Hand und zog mit zwei Fingern das dicke Handgelenk des Fürsten von seiner Schulter. „Ah, ja ich sehe, wir verstehen uns gut“, überging Vakrim seine eisige – um nicht zu sagen, respektlose Reaktion. Offenbar war Ástrebor tatsächlich so taktlos wie alle diese Fanatiker. „Keine Sorge, Ihr müsst Euer Gelübde nicht brechen.“ Der Fürst klang nun verständnisvoll und nickte zu den beiden Verhüllten, die man durch ein paar Dutzend Beine hindurch erkennen kann. „Ich bin froh, dass sie gefunden wurden“, sagte er leise und schüttelte den Kopf. „Sonst wären meine Pläne in Gefahr. Ihr helft mir doch, meine Ziele zu erreichen?“
Dragan wollte den Kopf schütteln, ließ sich aber dann doch mit der Antwort Zeit. Kurz wandte er den Kopf zu Mórval, der gerade mit einigen Edelmännern sprach. Dann blickte er wieder zu Vakrim, der offenbar verstand und ihm versicherte, dass das eine Abmachung mit dem Hohepriester war. Schließlich nickte Dragan so knapp, dass es kaum vernehmbar war. Fürst Vakrim strahlte kurz erleichtert, wurde dann aber wieder ernst, als er mit einem Finger schnippte. Ein Verhüllter eilte herbei und ging auf alle viere. Eine Zofe trat vor und ergriff eine Hand des Fürstens, der auf den Rücken des Verhüllten stieg. Wortreich übernahm Fürst Vakrim Castav die restliche Verhandlung und balancierte weiterhin auf dem Rücken des Verhüllten. Das durchdringende Gemurmel auf dem Brunnenplatz verstummte sofort. Dragan hörte nur mit einem Ohr zu. Es war nur das, was er bereits erwartet hatte. Die beiden Verhüllten, die er und Danica darstellten wurden freigesprochen, Bojar Branko seine Titel und Ländereien entzogen und ein Gesandter in die Hvalamark geschickt. Letzteres kam überraschend. Er sollte herausfinden, was die Schlangenaxt geplant hatte und die Spuren der Angreiferin und ihre Mitverschwörer aufdecken. Dragans Blick huschte zu Mórval, dessen Worte in seinen Ohren lagen. Offenbar wusste Vakrim nicht, dass die Schlangenaxt mit dem Hohepriester zusammenarbeitete. Als die Schleicherin enttarnt wurde hatte dieser kommentiert, dass ‚dies in die Hose ging‘. Offenbar hatte Mórval den Angriff eingefädelt, um Dragan aus der Reserve zu locken. Also hatte er von Anfang an gewusst, wer Oleg wirklich gewesen war. Dragan dankte noch einmal den Weißen Streitern im Gedanken. Jetzt war es ziemlich sicher, dass die Tarnung als Ástrebor undurchschaubar war, wenn er es nicht vermasselte. Sein Blick ging zu seinem Doppelgänger, der gerade auf die Beine gezogen wurde. Die beiden Verhüllten wurden von ein paar Männern der Stadtwache zurück in den Fürstensitz gebracht.
„Und da geht er hin, der Sohn des Wolfes“, ertönte Mórvals Stimme plötzlich neben ihm selbstzufrieden, „Es ist immer schön, wenn seine Pläne aufgehen.“ Der Hohepriester wirkte schon fast glücklich und strich sich über seinen Daumen. „Wenn sich die Pforten schließen, werden die beiden für immer verschwinden.“
Eine große Hand packte den Hohepriester und riss ihn grob herum. Waffen wurden gezogen. Ein Schatten fiel auf sie. Ein vernarbtes Gesicht schob sich in ihr Blickfeld, die Augen sprühten vor Zorn, die Zähne gefletscht. Drazan von Remedà ragte wie ein steigendes Pferd vor ihnen auf. Dragans Großvater war kurz davor den Priester mit bloßen Händen in zwei blutige Hälften zu reißen. „Was sagtet Ihr da?!“
„Aber, aber“, ging Vakrim Castav sofort dazwischen, der gerade an einem Becher Wein nippte, „Ich bin mir sicher, dass das ein Missverständnis war.“
„Es gibt nur einen Wolf in Govedalend!“, bellte Drazan und wollte die andere Hand an die freie Schulter Mórvals legen, „Und ich bin mir sicher, dass dieser Kerl sagte, dass dieser Verhüllte“ Er spuckte das Wort aus, „Der Wolf sei und nun verschwinden würde.“
„Ihr solltet besser zuhören, wenn ihr schon Gespräche belauscht“, entgegnete Mórval ruhig und störte sich nicht an der tiefroten Ader, die gefährlich heftig an der Schläfe des Markgrafen pulsierte, „Ich sagte, dass es nur ein wertloser Bastard des Wolfes war. Und dass es nicht schaden würde, wenn er verschwinden würde.“ Er schien kurz zu grinsen, denn er klang amüsiert, als er nachsetzte, dass der Wolf für seine vielen Bastarde berüchtigt war.
Dragan war von der Silberzunge Mórvals beeindruckt, doch Drazan war nicht leicht zu täuschen. Seine Krieger hielten indessen die Stadtwache in Schach, als er sich herabbeugte und gefährlich leise ihm damit drohte, dass, wenn es kein wertloser Bastard war, er ihn persönlich alle Gliedmaße brechen und ihn auf ein Rad flechten würde. Die beiden Männer funkelten sich gegenseitig feindselig an, bis Vakrim Castav einschritt: „Genug mit diesem Unfug! Es war nur ein Bastard, nichts was diese Farce rechtfertigt. Schluss jetzt.“ Seine Stimme hatte einen gefährlichen, eisigen Unterton angenommen. Er würde keine weiteren Auseinandersetzungen dulden. Das spürten auch die beiden Streithähne und Drazan ließ von dem Hohepriester ab. „Wir sollten wie ehrenvoller Männer drinnen weitersprechen. Einen internen Konflikt kann sich keiner von uns jetzt leisten.“
„Wir Ihr wünscht“, lenkte Mórval mit einer knappen Verneigung ein und winkte Dragan zu sich. Drazan Blutfinger gab nur ein Grunzen von sich, dann bellte er Befehle. Seine Männer zogen sich zurück und verließen in einem ungeordneten Haufen den Brunnenplatz. Offenbar war die Verhandlung nun beendet. Die Standartenträger hoben die Banner auf und folgten ihren Herren zum Fürstensitz. Dragan musterte die Menschenmengen auf dem Platz, auf den Straßen und in den Gassen. Es waren hunderte, weit mehr als zu Beginn der Verhandlung, vielleicht sogar schon um die eintausend. Er spürte viele hasserfüllte Blicke auf sich, als sich die Menge vor ihnen teilte. Kurz fragte er sich, was Ástrebor eigentlich bisher so verbrochen hatte. Er schloss kurz die Augen und vertrieb den Gedanken. Er sollte sich besser darauf konzentrieren an die Schlüssel zu gelangen und nahe bei Vakrim Castav zu bleiben. Nicht nur weil Mórval es von ihm verlangte, sondern auch aus eigenem Interesse. Auch ohne die Mission des Hohepriesters hätte er jeden Schritt des Fürsten beschattet und mit wem er sprach oder verhandelte. Dann die Menschen im Umfeld, die Fürst Vakrim beeinflussen wollten, wie Drazan Blutfinger, diese Schattenelbe und selbstverständlich Mórval. Es gab nach Dragans Verständnis bisher drei große Fraktionen, die um die Kontrolle um Govedalend rangen: einmal der Tempel des Flammenden Auges zu dem Mórval zählte, der überall seine Ränkenspielchen und Verschwörungsnetze schmiedete und spann; dann die opportunistischen Adligen, mit Drazan Blutfinger ganz vorne dabei, die eher simpler vorgingen, aber zumindest durch Marek indirekt von den Weißen Streiter gelenkt wurden; natürlich steuerte Vakrim Castav mit aller Macht dagegen, teilweise gestützt vom Tempel, aber hauptsächlich mit dem Einfluss seines Hauses und dem Fakt, dass er von Khamûl selbst eingesetzt wurde.
Dragan wollte sich aber noch nicht festlegen, da er Marek noch nicht voll vertraute. Die spitzohrige Dämonin war hingegen eine unbekannte Gefahr, die eher Danica einschätzen könnte, doch sie war nicht bei ihm. Er biss sich auf die Lippen. Der Gedanke an sie löste in ihm wieder eine innere Unruhe aus. Es war ein zerreißendes Gefühl zwischen gefährlicher Sympathie und einem Teil seines Instinkst, der ihn eindringlich vor sie warnte.
„Ástrebor“, erklang die kühle Stimme Mórvals schneidend und Dragan zuckte kurz zusammen, als es bei ihm durchsickerte, wer gemeint war. Erblickte sich um. Sie standen in einem Flur in einem der westlichen Flügel. Sie waren nur zu zweit. Er hatte gar nicht realisiert, dass sie in den Fürstensitz gegangen waren, oder wie sie sich von dem übrigen Tross getrennt hatten. Eine Tatsache, die Mórval offensichtlich nicht entgangen war. „Ich weiß, dass du Menschenmengen verabscheust“, begann er erstaunlich verständnisvoll und legte ihm sogar seine behandschuhte rechte Hand auf die Schulter, „Bisher hat es immer geklappt… bekomme das wieder in den Griff, noch einmal werde ich es nicht dulden, selbst bei dir nicht.“
Dragan senkte ganz kurz den Kopf, dann nickte er. Der Hohepriester klopfte ihm auf die Schulter und nahm seine Hand fort. Seine Linke trug seinen Priesterstab, mit dem er die Tür aufstieß, vor der sie gestanden hatten. Mórval erklärte ihm mit knappen Worten, dass dies sein (Ástrebors) Gemach und er absolut ungestört war. Dragan verstand, dass er dort seine Maske ablegen konnte. „Mein Zimmer liegt diesen Gang hinab“, sagte Mórval und deutete mit seinem Stab in einen Korridor nach Norden, „Morgen früh beginnst du deinen Auftrag an Castavs Seite. Er ist manchmal ein Narr, aber unterschätze ihn niemals. Da ist ein Yalçın Tevet ein noch größerer, gierigerer Trottel...“ Der Hohepriester wandte sich ab und sagte, dass ihn noch ein wichtiges Gespräch erwartete. „In deinem Zimmer hängt ein Seil von der Decke am Bett, damit kannst du einen Diener rufen.“ Mórval war fast um die Ecke gebogen, dann drehte er sich noch einmal mit blitzender, goldener Maske um: „Oh, und achte darauf, was für ein Bier du trinkst. Ich werde hier nur Wein genießen.“ Mit einem kalten, bellenden Lachen bog der Hohepriester mit wallender Robe um die Ecke. Dragan schob zähneknirschend sein gezogenes Schwert wieder in die reich verzierte Scheide. Fast hätte er es geworfen. So rasch wie die Wut gekommen war, schwand sie auch. Er hatte Glück gehabt, dass Mórval nicht umgekehrt war. Er atmete tief aus und betrat sein Gemacht. Mit dem Fuß ließ er die Tür ins Schloss fallen. Erschöpft ließ er sich auf sein Bett fallen.
Fine:
Aus der Sicht des Fuches Neras Vanaras
Vanara hatte drei Tage damit verbracht, sich einen Grund dafür auszudenken, weshalb ihr Herr sie mit in den Palast nehmen sollte. Mittlerweile ging der Bojar dort ein und aus, um Fürst Vakrims Speichel zu lecken und seinen Stand am Hofe zu erhöhen. Und obwohl der Bojar in Vanaras Augen ein einfältiger Narr war, schienen dessen Intrigen aufzugehen. Er war zum Mundschenk ernannt worden - ein effektiv wirkungsloser Titel, da der Fürst von Govedalend seine Mahlzeiten von entbehrlichen Sklaven vorkosten ließ. Dennoch bedeutete die Ernennung, dass Vanaras Meister einen festen Platz bei Hofe erhielt - sowie ein eigenes Gemach. Vanara erkannte, dass sie sich ihre Mühen hätte sparen können. Früher oder später würde der Bojar sie in den Palast mitnehmen. Sie glaubte, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde. Sie wurde mittlerweile beinahe jeden Abend zu ihrem Herrn gerufen. Wenn sie so weitermachte, würde sie bald unentbehrlich für ihn sein. Eines Tages würde er gar nicht mehr ohne ihre... Hilfe einschlafen können. Spätestens dann stünde ihr der Weg in den Palast offen... der Weg zu Tiana.
Tiana! Vanara konnte noch immer nicht glauben, dass die Frau, zu der sie aufblickte, sie verraten hatte. Der Zirkel war ihr dabei sogar recht egal, Vanara empfand den Verrat hauptsächlich als Affront gegen sich selbst und gegen die Beziehungen, die sie zu Tiana gepflegt hatte. War alles nur eine Lüge gewesen? Die Befreiung aus den Sklavenpferchen? Die gemeinsame Zeit beim Zirkel? Der Fakt, dass es Tiana gewesen war, die ihr die Augen geöffnet und sie von den Lügen der Messergilde befreit hatte?
Vanara hatte viele Fragen und kaum Antworten. Sie wusste, dass sie bald mit Tiana sprechen... oder sie zur Rede stellen musste. Sie konnte so nicht lange weitermachen. Vanara befürchtete, dass man ihr eines Tages die innerliche Zerissenheit ansehen würde, dass selbst der langsam arbeitende Verstand des Bojaren Verdacht schöpfen würde. Noch konnte sie recht mühelos die gehorsame Konkubine spielen, oder die vielen Rollen einnehmen, die ihr Herr zu seiner Unterhaltung und Erregung von ihr verlangte. In dieser Hinsicht war er erstaunlich einfallsreich. Mal gab sie die würdevolle Hochelbin aus dem fernen Westen, mal war sie eine wilde Sklavin aus den Gruben. Vanara musste zugeben, dass ein Teil von ihr froh darüber war, dass ihr - zumindest in dieser Hinsicht - nicht langweilig wurde.
Es gab allerdings eine Gefahr, die Vanara mehr und mehr bewusst wurde. Der Bojar war verheiratet - wie die meisten niederen Adeligen bereits seit jungen Jahren. Seine Gemahlin hatte sich klugerweise einen Landsitz errichten lassen und hatte Draganrhod seit Jahren nicht mehr betreten. Das Paar war kinderlos, und Vanaras Meister hatte die besten Jahre hinter sich. Er kam mittlerweile in ein Alter, in dem über seine Nachfolge getuschelt wurde, wenn das Gesinde sich unbeobachtet fühlte. Natürlich kam der Bojar aus einer weit verzweigten Familie und irgend ein entfernter Vetter oder Onkel würde vermutlich das Erbe antreten, aber solche Erbfolgen boten immer die Möglichkeit für Streitigkeiten und Konflikt, wenn sich jemand übergangen fühlte. Solche Konflikte wurden oft auf dem Rücken der Dienerschaft ausgetragen. So kam es, dass viele unter den Bediensteten des Bojaren hofften, dass es ihrem Herrn doch noch gelingen würde, einen Erben in die Welt zu setzen.
Das Problem daran war jedoch die Abwesenheit der Gemahlin. Die Ehe war politischer Natur gewesen und es herrschte keinerlei Liebe zwischen dem Bojaren und seiner Gattin. Und hier kam Vanara ins Spiel. Vielen Dienern waren die engen Bande aufgefallen, die sie mit dem Herrn verbanden. Sollte Vanara schwanger werden, wäre die Erbfolge von viel weniger Risiken geprägt. Selbst ein Bastard konnte legitimiert werden, das Recht dazu besaßen die fünf Fürsten Rhûns bereits seit Jahrzehnten. Vanara war allerdings auch zu Ohren gekommen, dass einige der Höflinge des Bojaren sogar noch einen Schritt weiter zu gehen planten. Schon hatten sie damit begonnen, ihrem Meister ihre Idee schmackhaft zu machen: Er sollte seine Ehefrau verstoßen, sich scheiden lassen und seine Lieblingskonkubine zu ihrem Ersatz machen. Damit würde er sich von dem Stigma befreien, bei offiziellen Auftritten ohne eine Frau an seiner Seite erscheinen zu müssen. Eine attraktive und kooperative Ehefrau präsentieren zu können, würde eine enormen Zuwachs an Prestige für den Bojaren bedeuten.
Vanara wollte natürlich weder schwanger noch Bojarenfrau werden. Beides würde sie viel zu sehr an diesen Ort binden, dem sie am liebsten schon vor Wochen entflohen wäre. Ihr wurde klar, dass die Zeit gegen sie arbeite. Schon bald würden die Höflinge ihren Willen bekommen und der Bojar würde Vanara zwingen, ihn zu heiraten. Dann wären ihr endgültig die Hände gebunden. Natürlich könnte sie sich seiner entledigen, aber der Mordverdacht würde automatisch sofort auf Vanara fallen - eine Sklavin, die sich den Reichtum ihres Herrn und dessen Einfluss sichern wollte, so musste es ohne Zweifel nach außen hin aussehen. Und falls sie wirklich schwanger werden würde... wäre sie in keinerlei Verfassung, lange Reisen zu unternehmen, das wusste sie. Nein - sie konnte es sich nicht erlauben, es so weit kommen zu lassen. Vanara musste Tiana zur Rede stellen und dann aus Draganhrod verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Sie besaß mittlerweile ein eigenes kleines Zimmer, unweit der Räumlichkeiten ihres Meisters. Dort saß Vanara, kämmte sich die zerzausten Haare glatt und starrte nachdenklich auf die Dächer der Stadt hinaus, die sich außerhalb ihres Fensters im fahlen Sonnenlicht spiegelten. Auf den Straßen war viel los, dem Getöse nach. Bald schon fand Vanara den Grund dafür heraus, als einer der Anwesenswächter - wie immer unangekündigt - in ihr Gemach platzte.
"Der Herr erwartet dich," stellte der Krieger barsch klar.
Vanara wusste genau, dass sie den Bojaren nicht warten lassen durfte. Seine Wutanfälle waren ihr nur allzu gut bekannt. Sie ließ die Bürste beinahe fallen und warf sich einen purpurnen Umhang um, den ihr Meister ihr geschenkt hatte. Einige kurze Augenblicke später stand sie vor der Türschwelle des Hausherren, der ungeduldig auf dem Gang auf und ab ging, wie ein fettleibiger Tiger, der auf die nächste Mahlzeit wartet.
"Da bist du ja," herrschte er sie an. "Wo hast du so lange gesteckt?"
"Verzeiht, Herr," sagte sie mit gespielter Unterwürfigkeit. Sie war klug genug, keine Ausrede vorzubringen, er würde ohnehin keine gelten lassen. "Wäre der Wachmann schneller zu mir gekommen, hätte ich früher hier sein können," fügte sie hinzu.
Der Bojar knurrte, dann ließ er den Atem rasselnd aus der Lunge ziehen. "Wir müssen los," sagte er und packte Vanara am Oberarm. "Ich darf die Verhandlung nicht verpassen!"
Wenige Moment später saßen sie zu zweit in der großen Sänfte des Bojaren, getragen von zwölf kräftigen Sklaven und eskortiert von einem bis an die Zähne bewaffneten Trupp Soldaten, die ihnen den Weg durch die vollgestopften Straßen frei machten. Die dicken Vorhänge der Sänfte sorgten dafür, dass es warm in dem schaukelnden Gefährt war, hinderten Vanara allerdings auch daran, viel von den Vorgängen draußen beobachten zu können. Der Bojar erklärte ihr beiläufig, dass Fürst Vakrim Recht über zwei Sklaven sprechen würde, die einen anderen Bojaren angegriffen und verletzt hatten - eine Angelegenheit, die der eitle Adel Govedalends natürlich nicht hinnehmen konnte. Die Angelegenheit würde in ermüdender Genauigkeit bis ins kleinste Detail ausgeschlachtet werden und alle möglichen Würdenträger würden vor Ort sein, um ihre Wichtigkeit zu unterstreichen - das galt natürlich ins Besondere für den frisch ernannten fürstlichen Mundschenk, der einen Platz in der Nähe seines Fürsten erhalten würde.
Vanara verstand allerdings nicht, weshalb der Bojar darauf bestand, sie mitzunehmen. Dies war kein Bankett und auch kein Ball, ebensowenig eine andere höfische Festlichkeit, bei der man seine Ehefrau vorzeigen konnte. Rechtsprechung war eine Angelegenheit der Männer. Frauen nahmen dort nur selten teil - meistens in der Rolle der Angeklagten. Umso mehr wunderte Vanara sich, dass sie nun hier war. Nachfragen konnte sie nicht - das würde nur einen Wutanfall provozieren. Ihr blieb nichts anderes übrig als abzuwarten.
"Du bleibst hier," sagte der Bojar, als sie ihr Ziel erreicht hatten. Die Sänfte hielt an und Vanaras Meister stieg mühsam aus. Ehe er davon ging, blieb er noch einmal stehen. "Ich erwarte dass der Fürst die Verurteilung mit einem Gelage feiern wird," schärfte der Bojar ihr ein. "Alle wichtigen Würdenträger werden dort sein. Ich erwarte, dass du mich offiziell begleitest." Damit drehte er sich um und verschwand inmitten der Soldaten, die ihn zu seinem Platz an Fürst Vakrims Seite eskortierten.
Vanara ließ sich in die weichen Kissen sinken. Die gute Nachricht war, dass sie nun endlich in den Palast gelangen würde. Die schlechte? Sie tat es ganz offensichtlich als designierte Ehefrau des Bojaren...
Vanara seufzte und fragte sich nicht zum letzten Mal, was Tiana wohl an ihrer Stelle getan hätte.
Curanthor:
Die Ruhepause tat gut, auch wenn Dragan sich noch nicht traute die Maske abzunehmen. Wirklich entspannen konnte er sich auf dem weichen Bett aber nicht. Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Ihn besorgte der große Einfluss des Tempels und Mórvals. Der Hohepriester war ohne Zweifel einer seiner gefährlichsten Widersacher, doch auch Dragans Großvater war nicht harmlos. Mórvals Pläne und Handlungen waren aber bedenklicher und hatten Dragan und Danica fast das Leben gekostet. Er war sich sicher, dass die beiden Doppelgänger von ihnen – wie vom Hohepriester angekündigt, getötet oder verschwinden würden. Dragan fragte sich kurz, ob die Weißen Streiter das zulassen würden, beruhigte sich aber mit dem Gedanken, dass das sicherlich zu ihren Plänen gehörte, was auch immer sie vorhatten. Würden sie aber auch Unschuldige für ihre Pläne opfern? Dragan setzte sich auf. Wahrscheinlich nicht, aber er konnte nicht einfach still herumsitzen und darauf warten, dass etwas geschah. Mórval hatte vorhin etwas von einer Besprechung gesagt, rief er sich wieder ins Gedächtnis. Dragan erhob sich vom Bett und durchquerte das geräumige Zimmer. Er kannte jeden Winkel in dem Fürstensitz. Das große Anwesen war in vier Bereiche unterteilt. Im südlichen Teil befand sich das alte Herrenhaus mit der vorgelagerten, großen Eingangshalle und Empfangsraum, in dem der Fürst für das gemeine Volk Hof hielt. Hier waren die meisten bessergestellten Bediensteten und Gästezimmer untergebracht, aber auch ein paar Besprechungsräume. Dragan wusste aber, dass man vertrauliche Gespräche lieber in dem Ostflügel führte, wo auch eine große Festhalle angesiedelt war und nur sehr wenige Gästezimmer, dafür mehr Lagerräume. Hier war auch ein spezieller Raum, der normalerweise stets verschlossen war. Zumindest für die meisten. Er grinste in sich hinein.
Dragan durchsuchte die vier Schränke an der Wand gegenüber dem Bett, die bis auf zwei leer waren. In einem lag eine schmucklose Maske des Tempels. Sie war aus Eisen gefertigt und hatte keine besonderen Merkmale, das Metall war durch das Alter schon stumpf. Wenn er sich richtig erinnerte, trugen die einfachsten Initianten, also die einfachen Fußsoldaten des Tempels solche Masken. Rasch nahm er sie aus dem Schrank und warf sie auf sein Bett. Im letzten Schrank fand er ein Dutzend Kleidungsstücke. Tuniken, Überwürfe, zwei Wamse, eine Lederweste und mehrere Hosen aus verschiedenen Stoffen, sowie verschiedene Stiefel und Schuhe. Ein weiter Kapuzenmantel fiel ihm beim Wühlen vor die Füße. Dragan hob ihn auf und entdecke eine Tempelrobe darin eingewickelt. Sie war etwas abgewetzt und aus billigeren Leder gefertigt als jene, die er gerade trug, auch die typisch rote Seide als Innenstoff war nur rot gefärbtes Leinen. Ihm kam eine Idee. Dragan hob sie auf und schloss die Schränke. Rasch wechselte er die Robe und die Maske. Jetzt war er einfach ein namenloses Mitglied des Tempels. Er rümpfte kurz die Nase, da die Robe schon wohl länger im Schrank versteckt gewesen war. Sie roch nach muffigen Leder, getrocknetem Schweiß und zu lange getragener Kleidung. Wenigstens war die Maske sauberer, auch wenn die Sehschlitze noch mickriger waren als bei der von Ástrebor. Er würde sie nur anziehen, wenn es nötig war.
Dragan schlüpfte aus seinem Zimmer und blickte sich um, doch der Flur war leer. Dann wollen wir mal sehen, was du so zu besprechen hast, Menschenschinder, dachte er sich und machte sich auf den Weg in den Westflügel. Dabei vermied er es gesehen zu werden, drückte sich in Schatten, schlich einmal über ein kurzes Vordach, um ein paar Wachen auszuweichen und durchquerte den großen Innenhof, in dem er früher als Kind oft gespielt hatte. Hier konnte er nicht auffallen, also ging er ganz gemütlich an den Brunnen und dem Teich vorbei, der den Hof dominierte. Einige Hofdamen saßen auf dem Rande des Brunnens und unterhielten sich aufgeregt. Einige Diener brachten ihnen hin und wieder Erfrischungen. Sie mieden es Dragan anzublicken. Sobald er unter den Vorbau des Westflügels trat, beschleunigte er seine Schritte. Doch Dragan ging nicht nach links zum großen Eingang des Flügels, sondern nach rechts, zu den Lagerräumen. Die übrigen Bewohner mieden diesen Teil des Westflügels. Hier war nur das arbeitssame Volk. Man räumte die Vorräte ein, die ständig über eine große Rampe aus der Stadt über einen Hintereingang gebracht wurden. Hier befanden sich auch die einfachen Werkstätten in einer großen Scheune, die gegenüber dem Westflügel gebaut worden war. Hier befand sich alles, was ein kleines Dorf benötigte, neben Stallungen mitsamt Hufschmied ein Schuhmacher, Rädermacher, Bäcker, Schneider und alles weitere für den täglichen Bedarf. Einige der Arbeiter warfen ihn verwunderte Blicke zu, die meisten ignorierten ihn aber und gingen ihren Aufgaben nach. Dragan konnte einige Wortfetzen verstehen. Die meisten beschwerten sich, dass Vakrim wieder einmal ein Fest gab und sie dadurch noch mehr schuften mussten. Ein Dutzend Träger, die Weinfässer in die Lagerräume rollten drängten sich an ihn vorbei. Dragan folgte ihnen. Wenn es ein Fest gab, konnte er sich unbemerkt umsehen. Die Lagerräume im Westflügel weckten Erinnerungen. Sie lagen etwas tiefer als der übrige Flügel, der Boden bestand aus massivem Stein, sodass man auch mit Karren hineinfahren konnte. Die doppelfügeligen Tore zu den einzelnen Räumen standen meist offen. Er schmunzelte hinter seiner Maske, als er sich erinnerte, dass er sich hier gern vor seiner Mutter versteckt hatte. Oft auf den alten Heuböden, die nur durch eine Leiter zu erreichen war. Sein Tutor hatte ihn damals immer ermahn, da es gefährlich war, doch seine Mutter hatte seine Kletterkunst stets bewundert und ihn heimlich ermuntern – nicht ohne zu betonten, vorsichtig zu sein.
Dragan stolperte gegen die Treppen, die weg von den Lagerräumen, in den übrigen Westflügel führten. Das Tor oben an der Treppe war unverschlossen und stand weit offen. Ein Wachmann drehte sich um, alarmiert von dem Geräusch des Stolperns. Dragan fluchte leise, doch durch die Maske war es nur ein Zischen. Der Wächter musterte ihn scharf. Er trug keine Hellebarde, sondern nur ein Schwert am Gürtel. Dragan war unbewaffnet. Langsam erstieg er die Stufen, doch der Wächter wandte ihn wieder den Rücken zu. Offenbar konnte der Tempel tatsächlich hier ein- und ausgehen wie ihm beliebte. Der Wächter informierte ihn im Vorbeigehen, dass Mórval in der Festhalle bei den anderen Gästen war. Dragan nickte knapp zu dank. Er spürte den Blick des Mannes in seinem Rücken. Ihm war klar, dass der er ihn anhalten würde, wenn er jetzt einen anderen Weg nehmen würde, also bog Dragan nach links auf den breiten Korridor, der zu der Festhalle führte. Hier waren keine Wachen, doch am Ende des Ganges stand eine kleine Gruppe von gut gekleideten Menschen. Offenbar Gäste Castavs. Sie blickten den Gang hinab, erblickten ihn und gingen nach links. Dragan hörte ihre Stimmen, auch wenn er sie nicht verstand, gaben sie sich keine Mühe leise zu sein. Die Festhalle lag an der Kreuzung vor ihm ebenfalls links den Gang hinab. Dragan hatte aber kein Interesse, von noch mehr Menschen gesehen zu werden. Er wurde langsamer und lauschte auf das Stimmgewirr der kleinen Gruppe, die nur aus seinem Blickfeld verschwunden war und an der Ecke offenbar weitersprach. Unterschwellig war auch das Lärmen und Murmeln aus der Festhalle zu hören, begleitet vom Klang von Lautenschlägen. Dragan zählte die unscheinbaren Türen, die Fackelhalter hingen unverändert an der Wand. Bis auf zwei waren alle der zwölf Fackeln erleuchtet. Er blieb an der siebten Fackel stehen und wartete kurz. Die Holztäfelung wirkte unscheinbar für das ungeübte Auge, doch er wusste, was sich dahinter befand. Rasch drehte der den Fackelhalter und drückte auf eine gesplitterte Leiste in der Vertäfelung. Es klickte leise. Dragan grinste breit. Selbst durch Zufall konnte man diesen Eingang nicht finden. Nur er und der aktuelle Hofmeister wussten davon. Früher wurden diese Gänge genutzt, um ungesehen an die tragende Struktur, wie die dicken Eichenstämme, die Stützwände und die Fundamente zu gelangen. Die Spinnenweben im inneren des engen Ganges zeigten aber, dass schon lange niemand hier war. Er erinnerte sich, dass der Hofmeister jene, die hier Reparaturen betrieben danach verschwinden ließ, damit das Geheimnis auch eines blieb. Dragan hatte nur so viel Platz, wie seine Schultern breit waren. Also ging er seitlich. Licht gab es kaum welches, hin und wieder fielen breite Strahlen von den Seiten oder es fiel wie Lichtspeere von oben herab. Niemand kannte die Doppelwände und wusste wo die Gänge verliefen. Von außen war das Anwesen ziemlich verwinkelt. Dragan kannte sich aber im Herzen des Fürstensitzes besser aus als sonst jemand, da er sich hier oft vor seinem Vater versteckt hatte. Er schlängelte sich durch die Gänge, quetschte sich an einen durchgebogenen Stützstamm vorbei und kletterte an der Verstrebung der großen Wandvertäfelung zur Festhalle empor. Dumpf drang das Lachen, unablässiges Gemurmel und der Klang von Lautenschlagen an sein Ohr. Endlich fand er sein altes Versteck. Drei Bretter quer über die Verstrebung gelegt, eine morsche Decke darauf. Er grinste. Früher hatte er hier hoch oben gesessen und das Treiben in der Festhalle beobachtet, wenn ihm sein Vater verboten hatte dabei zu sein. Was er alles hier gesehen hatte, würde er nie vergessen. Lustige Dinge, wie den Hofnarren, der sich lächerlich machte; Spannendes, wie das Duell von Gunnar Jornson, dem Vater seines Freundes Ulf von den Sonnenhügeln gegen einen Kerl, der dessen Ehre beleidigt hatte. Leider konnte sich Dragan nicht mehr an den Namen erinnern, doch Ulfs Vater hatte gewonnen. Damals war er neun gewesen und hatte das erste Mal Blut gesehen. Dragan schüttelte den Kopf, um nicht noch weiter in Erinnerungen zu schwelgen. Er packte das Rundholz, das Teil von der Dachkonstruktion war und zog sich auf die Bretter. Sie knirschten leise, doch waren sie zum Glück nicht morsch. Er zog die zwei hölzernen Stifte heraus und hielt dabei das Brett der Vertäfelung fest. Es ging schwerer als früher. Mit einem kleinem Rück löste sich der Letzte und Dragan zog vorsichtig das Brett nach oben. Es klappte. Ein Schwall von warmer Luft, getränkt von Bratenduft, Pfeifenrauch und Alkohol stieg ihm entgegen. Er schnaubte kurz und zog seine Maske ab. Endlich konnte er genauer hinabblicken. Die Festgesellschaft hatte sich gut in der Halle verteilt. Dragan erkannte Vakrim sofort an einer pompösen, roten Kopfbedeckung und einem schwer gerüsteten Mann in seiner Nähe. Der Anführer der Leibwache, ein ehemaliger General der Armee Rhûns – wie er bei den Lagerarbeitern aufgeschnappt hatte. Dragan sah sich die Gäste genauer an. Ulf Gunnarson stand in der Nähe der Festtafel, ein Glas Wein in der Hand und sprach mit einer Frau mit langen blonden Haaren, die einen Schleier vor dem Gesicht trug. Er wirkte so, als ob er nicht dort sein wollte und nur duch die Verpflichtung als Vasall anwesend war. Dragan schmunzelte und wünschte sich, mit seinem alten Freund noch einmal sprechen zu können. Sein Blick wanderte stattdessen wie der eines Raubvogels umher. Die Hälfte der Gäste waren Speichellecker Vakrims, die unablässig in seine Richtung wanderten, um sich mit ihm gut zu stellen. Sein Großvater Drazan stach wie ein Berg aus der Masse hervor. Er hatte einen großen Becher in der Hand und lachte hin und wieder schallend. In seiner anderen Hand befand sich eine große Hähnchenkeule. Drazan biss davon hin und wieder herzlich ab, während er sich mit einem grobschlächtigen Mann unterhielt, zweifelsohne ein Vertrauter aus Remedà. Niemand traute sich in die Nähe der beiden, doch nicht nur bei ihnen war das so. Zwei einsame Gestalten am Rand des Geschehens erregten Dragans Aufmerksamkeit. Hohepriester Mórval, war sofort an der goldenen Maske zu erkennen. Er lungerte am Rand des Banketts herum, während seine Finger ungeduldig um seinen goldenen Priesterstab trommelten. Die zweite Gestalt an der anderen Seite der Halle ließ Dragan etwas weiter zurück in sein Versteck rutschen. Es war die hochgewachsene Schwertfuchtlerin mit silberweißem Haar. Zwei spitze Ohren stachen durch die lange, seidenglatte Haarpracht hindurch. Sie schien den Festsaal unablässig abzusuchen. Auch jetzt war sie voll bewaffnet und in ihrem fein gearbeiteten Brustpanzer gehüllt. Ein mitternachtsblauer Mantel aus kostbarstem Stoff wallte von ihren Schultern hinab und endete ganz knapp über dem Boden. Offenbar war sie die Erklärung, warum Vakrim Castav mit so wenigen Leibwachen am Bankett erschienen war. Dragan seufzte und bereute es, dass er keine Wurfmesser dabei hatte. Er schätzte die Entfernung auf vielleicht dreißig Schritt. Selbst die ‚spitzohrige Dämonin‘ würde Vakrim nicht rechtzeitig zur Hilfe eilen können. Er beschränkte sich darauf zu beobachten.
Es war langweilig. Dragan blendete alles soweit aus, doch nicht Wichtiges tat sich. Hin und wieder lief Tiana in der Halle umher. Und ‚Fürst‘ Castav hatte einen neuen Mundschenk. Ein fetter Kerl, offenbar ein Bojar, der von den hochrangingen Adligen etwas belächelt wurde. Er war in der Begleitung einer sehr hübschen Frau gekommen, die offenbar Tiana nicht leiden konnte. Immer wenn sie Vakrim etwas zu essen, oder trinken brachte, das dann an den Mundschenk weitergegeben wurde, wandte sie sich ab oder tat so, als ob sie nicht im Raum wäre. Dragan seufzte leise. Genau deswegen hatte er sich nie für solche Feste interessiert. Kleinliche Fehden und belangloses Geschwätz. Dann wurde es plötzlich interessant. Ulf Gunnarson geriet mit dem fetten Mundschenk aneinander. Sein Kindheitsfreund war unverkennbar mit seinem feuerroten Bart. Dragan konnte nicht verstehen worum es ging, doch Ulf baute sich vor dem Bojar bedrohlich auf und ließ die Muskeln spielen. Ulf war offenbar Veteran der Feldzüge im Westen, denn er trug ein zwergisches Schwert am Gürtel, zog es jedoch nicht. Es gab einige Gäste, die Waffen trugen, doch waren blanke Klingen streng verboten, sie dienten nur als Statussymbol. Dragan wünschte sich für einen kurzen Moment dort hinunter zugehen, doch der Anführer der Leibwache ging dazwischen. Er blinzelte. Vakrim war verschwunden. Rasch schaute er nach Mórval, doch der Hohepriester lehnte nicht mehr an der dicken Holzsäule. Und auch Drazan Blutfinger war nicht im Saal, ebenso wenig wie die silberhaarige Schattenelbe. Dragan fluchte und verschloss eilig sein Guckloch. Er griff sich die Maske, band sie an seinen Gürtel und kletterte hinab. Zweimal rutschte er von der Verstrebung, da ihn die Robe behinderte, doch seine Klettererfahrung bewahrte ihn vor einem Absturz. Mit schmerzenden Fingern landete er wieder in dem engen Gang. Er wusste ganz genau, wo er hin musste.
Curanthor:
Auf dem Boden der geheimen Gänge angekommen blies Dragan sich kurz über die schmerzenden Fingerkuppen. Zum Glück hatte er ein gutes Gedächtnis und hatte sich aus seiner Kindheit erinnert, wo die ganzen Nägel aus Brettern der Verstrebung hervorstachen. Seine Robe schien aber zweimal gerissen zu sein, zumindest hatte er das Reißen des Stoffs vernommen. Es war aber zu dunkel, um das nachzuprüfen. Und er hatte keine Zeit. Seine Gedanken flossen kurz zurück zu dem Saal, den er beobachtet hatte. Wann warren sie verschwunden? War er zu nachlässig geworden? Er vermutete, dass Castav, Drazan, Mórval und die Schattenelbe die Festhalle verlassen hatten, als Ulf an den Bojar geraten war. Dragan quetschte sich an einer Stütze vorbei, die von einem Metallband stabilisiert wurde und offenbar dazu diente, die zweite Etage zu tragen. Kurz verharrte er an dem alten Holz und schloss die Augen. Die Begleitung des Bojaren schwirrte ihm durch die Gedanken. Er hatte zuvor versucht nicht darauf zu achten, denn um Tiana wollte er sich nicht den Kopf zerbrechen, die ständig in der Nähe gewesen war. Je mehr er sie sich in Erinnerung rief, umso bekannter erschien sie ihm. Die nachtschwarzen Haare, die zu einer kunstvollen Frisur hochsteckt waren, sah man nicht oft in Govedalend, doch auch die Art, wie sie sich bewegte passte zu ihr. Dragan öffnete die Augen und schüttelte die aufkommende Verwunderung ab. Er kannte sie nur wenige Wochen und auch nur dadurch, dass sie die Seiten gewechselt hatte. Mit einem leisen Schnauben verschob er weiteres Grübeln und hastete durch die engen Gänge. Er hatte wichtigeres zu tun! Dragan erinnerte sich an den verbotenen Raum, den sein Vater vor langer Zeit hatte bauen lassen. Es war einst nur ein mickriger Hinterhof gewesen, doch sein Vater hatte durch seine paranoiden Tendenzen dort einen Besprechungsraum gebaut, in dem nichts und niemand lauschen konnten. Es war ein Haus in einem Haus. Wahrscheinlich war der Besprechungsraum fast genauso gesichert wie die geheimen Gewölbe, für die er und Danica die Schlüssel besorgen wollten. Sobald einmal die Türen geschlossen waren, war es fast unmöglich von außen einzudringen. Dragan grinste in sich hinein. Natürlich nicht, wenn man um die geheimen Gänge wusste. Er bog um eine besonders enge Ecke. Hier befanden sich Gästezimmer, das wusste er ohne sich zu orientieren. Früher hatte er oft seinen Vater in dem verbotenen Zimmer belauscht, wie sonst hätte er den einfachen Bauern helfen können? Er versuchte die Zimmerwände nicht unnötig zu berühren. Ein regelmäßiges Pochen ließ ihn kurz innehalten. Rasch tastete er nach der Maske an seinem Gürtel. Sie war es nicht gewesen. Dragan spitzte die Ohren und grinste kurz danach anzüglich in sich hinein. Offenbar ging es in dem Gästezimmer heiß her – wie zu erwarten, nach einem großen Fest. Mit vorsichtiger Eile ließ er die Gästezimmer hinter sich und gelangte an die Stelle, die er am meisten hasste. Und die ihm auch am meisten Kopfschmerzen bereitete: der zwei Fuß breite Gang endete in einem kleinen Kriechkeller, der unter einem kleinen Lagerraum lag. Dahinter befand sich der verbotene Besprechungsraum. Als er noch Jugendlicher war, hatte er keine Probleme gehabt. Dragan überlegte kurz, beließ die schäbige Robe aber an. Es war keine Zeit. Er ging auf die Knie und streckte die Arme in den zwei Fuß hohen Eingang. Spinnenweben begrüßten ihn. Kurz wedelte er sie fort, dann schob er sich hinein. Es war stockfinster. Angestrengt versuchte er sich zu erinnern und hoffte dabei, dass niemand hier unten etwas verändert hatte. Zehn Fuß nach vorn robben, vier Fuß nach links. Dragan verschnaufte beklemmt. Sein Atem hallte von der niedrigen Decke unnatürlich wieder. Es roch nach Staub und trockener Erde. Etwas krabbelte über seine Hand. Hastig schüttelte er sie und tastete nach vorn. Kurz kam Panik in ihm hoch, als er das Rundholz nicht zu packen bekam. Es war der einzige Orientierungspunkt in der Mitte des Raumes. Dann streifte seine Hand etwas Raues. Er atmete erleichtert aus und packte die Stütze und zog sich mit aller Kraft daran nach vorn. Sein Kopf prallte gegen etwas Hartes. Dragan fluchte und tastete danach. Er hatte vergessen, dass er damals noch kleiner gewesen war. Er drückte seine Wange auf den staubigen, felsigen Boden. Vorsichtig versuchte er es erneut. Licht fiel in sein Gesicht. Der Dreck rieb unangenehm über sein Gesicht, doch er passte noch unter die Wand. Mühsam zwängte er sich unter die Fundamentstütze. Ein winziger Fehler der Baumeister, der unentdeckt blieb und nur Dragan durch seine vielen Streifzüge entdeckt hatte. Er befand sich genau in der Doppelwand des verbotenen Raumes, die an die schwere Steinwand des Lagerraumes gebaut wurde. Durch die doppelte Wand konnten die Gespräche nicht nach draußen gelangen, wenn nicht geraden aus vollem Hals brüllte. Zudem war der Innenraum von Kissen, Decken und Wandteppichen bedeckt, was den Hall noch zusätzlich dämpfte.
Dragan richtete sich auf und tastete sich über seine rechte Wange. Sie war etwas aufgeschürfte und pochte nur ein wenig. Stimmengemurmel drang an sein Ohr. Dragan atmete erleichtert auf und tastete sich nach rechts. Es war fast finster, durch die Dachschindeln drangen jedoch zwei Spalten Licht. Die Doppelwand war zwei Ellen breit, mehr als die eher engen Gänge. Er war noch nie in dem Raum selbst gewesen, hatte aber hin und wieder einen Blick durch die offenen Türen werfen können, wenn sein Vater darin mit Gästen verschwand. Er ging auf die Knie und tastete nach dem Astloch. Sein Fingernagel stieß gegen einen kleinen Vorsprung im Holz. Er grinste. Vorsichtig und stetig zog er daran. Dann war das Astloch frei. Dragan beruhigte seinen Atem, fokussierte sich und zwang seinen Herzschlag leiser zu werden. Seine Sinne schärften sich. Dann legte er die linke Wange an die Wand, sodass er mit dem linken Auge in den Raum blicke konnte. Was er sah, bestätigte seinen Verdacht. Der Besprechungsraum war vielleicht fünf mal fünf Schritte groß, an jeder Wand standen gemütliche Sitzbänke mit flauschigen Sitzkissen und großen, sechseckigen Kissen in Seidenbezügen.
Dragan blickte genau auf die Bank, auf der Drazan breitbeinig saß, links neben der Bank stand ein teurer Stuhl aus Wurzelholz, auf dem die Schattenelbe Platz genommen hatte und mit geschlossenen Augen aufrecht da saß. Auch hier trug sie ihr edles Schwert an der Seite. Dragan musste etwas schielen, um auf der Stirnseite des Raumes Vakrim Castav zu erkennen, der an einem goldenen Weinpokal nippe. Mórval war nicht zu sehen, doch der Hohepriester sprach gerade davon, dass die beiden Verhüllten ihm überstellt werden sollten.
Vakrim Castav grinste überheblich, als der den Pokal absetzte. „Wisst Ihr überhaupt, was Ihr da verlangt?“
„Das weiß ich“, erwiderte Mórval eisig.
Dragan sah, wie Vakrims dem Hohepriester einen giftigen Seitenblick zuwarf. Eine kurze Pause trat ein. Er vermutete, dass Mórval an der Wand saß, von der Dragan aus in den Raum spähte.
„Allerdings interessiert es mich“, hob der Hohepriester gedehnt an, „Warum diese Fremde selbst in dieser geheimen Besprechung anwesend ist.“
Drazan brummte zustimmend, die mächtigen Arme noch immer vor der Brust verschränkt, sein Blick auf den Tisch in der Mitte gerichtet, auf dem einige kleine Stärkungen aufgebracht waren. Die Angesprochene reagierte nicht, doch ihre ruhige Ausstrahlung hatte noch immer einen Hauch von tödlicher Gefahr. Vakrim erklärte, dass er ein Geschäft mit ihr abgeschlossen habe und damit ihre Verschwiegenheit. „Allerdings…“, begann der Fürst etwas weniger selbstsicher, „Müssen wir einige Details unserer Abmachung noch einmal durchgehen. Bis das nicht geklärt ist, weicht sie nicht von meiner Seite.“
„Unwichtig“, schnappte Drazan Blutfinger und griff sich eine Hühnerkeule vom Tisch, „Was sollte dieses Narrentheater auf dem Brunnenplatz?“ Seine tiefliegenden Augen stierten zu Mórval, dann zu Vakrim, „Haltet ihr beide mich für einen Greis? Ich lebe schon lange genug, um diese Spielchen zu durchschauen.“ Der Markgraf biss in die Keule. Der Knochen knackte laut, als er einfach darauf herumkaute. Niemand sagte etwas, da wieder eine Ader an seiner Schläfe pulsierte. Drazan kaute ein wenig auf dem Fleisch herum, spuckte es aber dann aus und schnalzte mit der Zunge. Dann neigte er sich etwas nach vorn und ließ die dicken Muskeln an seinen Schultern anschwellen. „Wo ist Dragan?“
Die Frage hallte wie ein Hammerschlag in seinen Ohren wieder. Rasch schluckte er und hielt den Atem an. Dabei schlug sein Herz heftig in seiner Brust.
„Ihr müsst Euch irren…“, begann Mórval, doch der Blick Drazans machte klar, dass es sein letzter Satz sein könnte, sollte er ihn beenden.
„Mit dir wechsle ich keine verlogenen Wörter. Schweig still, Abschaum.“
„Meine Herren“, versuchte Vakrim zu besänftigten, „Ihr beide vertritt jeweils eine der mächtigsten Fraktionen meines Landes. Bleiben wir zivilisiert.“
„Das Blut der Alten in meinem Adern ist stark, sonst würde ich nicht so lange leben. Damit stehe ich über…normalen Blut und dem übrigen Getier in Mittelerde. Das macht mich zivilisierter als so mancher König oder Fürst.“ Drazan erhob sich. „Und das Hähnchen hier ist scheußlich.“ Er wandte sich an die schweigsame Silberhaarige: „Kommt, holen wir uns etwas Richtiges zu essen.“
Zur allgemeinem Überraschung regte sich die Schattenelbe und nickte knapp. Mit langen Schritten folgte sie dem Markgraf außerhalb von Dragans Sichtfeld. Er hörte dumpf wie mehrere Schlösser und Riegel zurückfuhren. Es waren drei Türen. Erst als alle drei wieder geschlossen waren, kehrte wieder Ruhe ein.
„Wo ist Dragan?“, verlangte Mórval scharf zu wissen.
Vakrims Gesicht nahm eine deutliche Rötung an. „Was wollt Ihr von ihm?“
Der Hohepriester schnaubte und sagte, dass sie eine alte Rechnung offen hatten.
„Er ist mein Gefangener“, stellte Vakrims Castav klar, „Ich brauche ihn für eine Vereinbarung.“
„Welche Vereinbarung?“, knurrte Mórval bedrohlich, „Habt Ihr Euren Pakt mit dem Tempel vergessen? Was wir verlangen, bekommen wir auch.“
Vakrim ließ sich jedoch nicht davon beeindrucken und nippte erneut an seinem Wein. „Nicht diesmal, doch keine Sorge. Wie haben einen gemeinsamen Freund.“
Das schien Mórval zu beruhigen, denn er drängte nicht weiter. Nun war es Vakrim, der fragte, warum die Sache mit Bojar Branko so aus dem Ruder gelaufen war. „Eigentlich war es ausgemacht, Dragan alleine und ohne diese lächerliche Maskerade vor Gericht zu zerren. Ist die Schlangenaxt nur zu so viel nutze?“
Der Hohepriester schnaubte nur und sagte, dass er wohl zu wenig Geld geboten hatte. Es war offensichtlich, dass er den Fürst belog. Dragan erinnerte sich, dass Mórval alles bis zum Auftauchen der Weißen Streiter geplant oder zumindest in die Wege geleitet hatte. Er bekam nicht mit, was als nächstes gesagt wurde.
„Hätten wir Dragan wirklich enthüllt“, sagte Vakrim nun mit geballten Fäusten, „Hätte ich meine Stellung gefestigt und die unzufriedenen Narren, die noch ihm oder dem Wolf nachtrauern endlich den Wind aus den Segeln nehmen können. Doch sie rütteln weiterhin an meinem Thron. Habt Ihr nicht noch mehr Nachfahren des Wolfes aufspüren können? Seine und ihre Linie muss verlöschen.“
Mórval gab ein untypisches, amüsiertes Glucksen von sich. „Was wollt Ihr mit wertlosen Bastarden? Der Wolf ist nicht untätig und seine Fänge sind noch immer messerscharf, vergesst das nicht“, gab er zu bedenken, „Und Ihr vergesst Drazan Blutfinger, selbst der Tempel kann ihn nicht kontrollieren.“
„Ich vergesse ihn nicht“, berichtigte Vakrim und nahm sich eine Traube vom Teller, „Sein Auftauchen ist unerwartet, aber nicht vollkommend überraschend. Ich bin vorbereitet.“
Mórval schien zu nicken, denn sie verfielen in Schweigen, bis erneut die Schlösser und Riegel der Türen zu hören waren. Der Hohepriester erhob sich und erklärte, dass sie ein anderes Mal ihre Angelegenheiten besprechen würden. Er ging einmal durch Dragans Blickfeld und wurde durch Drazan und der Schattenelbe verdrängt, die gerade den Raum betraten. Sein Großvater wirkte zufrieden und ließ sich wieder in die Sitzkissen fallen, sodass das Holz etwas knirschte. Die Silberhaarige nahm wieder auf ihren Stuhl in Beschlag und nippte an einem Glas Wein. Offenbar schmeckte es ihr nicht, denn ein Mundwinkel zuckte. Ihre Türkis schimmernden Augen huschten sofort zur Tür. Schritte ertönten.
„Du!“, rief Vakrim Castan laut und erhob sich halb“, Wie kommst du hier herein?!“
Dann antwortete eine Stimme, die Dragan den Boden unter den Füßen wegzog: „Was glaubt du Narr, wer diesen Raum gebaut hat?“
Ein dröhnendes Lachen Drazans erfüllte den Raum: „Ich habe mich schon gewundert, wo du steckst.“
Dragan ballte wütend die Fäuste. Sein Herz schlug ihm bis in den Hals, während es sich anfühlte, als ob die Zeit stehen geblieben war. Dragan wandte den Blick ab, während ihm Tränen der Wut über die Wangen rannen. Es fühlte sich genauso an, als er ihm Cheydan weggenommen hatte. Sein Innerstes krampfte sich zusammen vor Zorn. Seine Fingernägel gruben sich in seine Handinnenflächen.
„Hallo Vater“, sagte Ivailo abwertend, „Enttäuscht, dass ich noch lebe?“
„Milde überrascht“, erwiderte der Markgraf kühl, „Deine Geschwister haben sich bisher klüger angestellt, manche Kämpfen in großen Kriegen für Ruhm und Ehre.“
Ivailo gab ein leises Zischen von sich und eine eisige Stille trat ein.
Vakrim schien sich inzwischen wieder beruhigt zu haben, denn er erhob nun seine Stimme: „Ich dachte, dass wir abgesprochen haben, dass wir uns immer nur außerhalb der Stadt treffen.“
„Das haben wir“, erwiderte sein Vater kühl, „Aber ich bin meinem nutzlosen Sohn gefolgt.“ Ivailo lachte leise, „Der Narr läuft noch immer oder schon wieder einer Frau hinterher.“
Dragan musste an sich halten, um nicht durch die Wand zu steigen. Er zwang sich mit aller Macht dazu, ruhig zu bleiben. Es ging nicht nur um seine Gefühle und darum, dass er wieder verraten worden war. Seine neuen Freunde waren noch immer in Gefahr. Und Cheydan. Zitternd atmete er tief ein und aus, dann blickte wieder in den Raum.
Drazan saß wieder an seinem Platz und Ivailo hatte offenbar Mórvals Sitz eingenommen. Sein Großvater wirkte entgegen seiner Tonlage zufrieden: „Also hast du endlich angefangen die Blutlinie zu säubern? Das wurde auch Zeit. Ich habe dir schon vor Jahren gesagt, dass Kalena ein Fehler war.“
„Das weiß ich auch“, zischte Ivailo, „Was meinst du, warum sie nicht mehr lebt.“
Noch ein Hammerschlag, der in Dragan widerhallte. Sein Gehirn konnte gar nicht verarbeiten, was er da hörte. Es spürte einfach nichts mehr. Nur eine innere Leere, die alle Emotionen auffraß. Rasende Wut, Hass und Trauer, bis nichts mehr da war. Betäubt verfolgte er weiter, was geschah.
„Und was ist mir ihren Kindern? Dragan ist hier irgendwo in der Stadt“, hakte Drazan bedrohlich nach, „Willst du ihn etwa auch davonkommen lassen, so wie Idania?“
Ivailo gab ein seltsames Geräusch von sich, eine Mischung aus Nase hochziehen und Grunzen. „Eine Tochter, die ich nie zu Gesicht bekommen habe? Nein, sie habe ich zwar am Hof des Jadethrons belassen, als Ehrung von Kalenas letzten Willen, aber vor einige Monaten habe ich sie zurückbringen lassen.“
„Ehrenlos“, murmelte die Schattenelbe plötzlich. Ihre türkisenen Augen blitzen auf und schienen von ihnen heraus zu leuchten, „Menschen sind und bleiben Abschaum.“
„Manchmal muss man die faulen Zweige abschneiden“, erwiderte Drazan mit teilnahmslosem Blick, „Um den Rest des Baumes zu retten.“
Ivailo überging die Einwürfe und sagte: „Sie liegt irgendwo im Schlamm unter einer Brücke. Nicht wahr, Frau Rámalin?“
Die Schattenelbe nickte knapp. „Sie und die gesamte Karawane, die aus Minzhu kam. Ich habe alle meine Krieger in den Kampf geführt. Ich habe ihre Leiche gefunden und den Tod festgestellt.“
„Seid Ihr des Wahnsinns?!“, platzte es aus Vakrim heraus, der bisher nur aufmerksam zugehört hatte, „Ihr führt einen Angriff gegen Bürger des Jadethron? Eure Söldner sind zehntausend Mann stark, das wird sich Minzhu nicht bieten lassen!“ Der Fürst wirkte bleich und betupfte sich mit einem Tuch die Stirn, „Sie können das fünffache in die Schlacht führen… Ich muss das sofort König Goran berichten.“
Drazan schob seinen mächtigen Arm vor und hinderte Vakrim Castav daran aufzustehen, während Rámalin ich Schwert einen Fingerbreit aus der Scheide gezogen hatte. „Immer mit der Ruhe“, beschwichtigte Drazan, „Der Jadethron wird erst in einigen Monaten davon erfahren, da Minzhu sich gegen einem Angriff aus Kushan wappnet. Es wird Krieg geben im Osten, das munkelt man schon seit Wochen in der Weite.“
„Wenn wir es schlau anstellen“, warf Ivailo rasch ein, „Können wir es Kushan in die Schuhe schieben und die kriegerischen Handlung brechen vielleicht noch früher aus. Und Frau Rámalin ist nur mit ihrem Trupp losgezogen. Also nur zweitausend, die keine Zeugen übrig gelassen haben.“
Vakrim überlegte einen Moment, doch seine Gesichtsfarbe kehrte nicht zurück. Schließlich ließ er sich wieder zurück in seine weichen Kissen sinken. „Ihr spielt mit dem Feuer.“
Ivailo lachte laut auf, Drazan stimmte mit ein. „Das liegt uns im Blut. Was nützen einem Krone und Land, wenn man an einem Stuhl gefesselt wird.“ Dragan hörte, wie die Stimme seines Vaters an Kraft verlor: „Man muss wissen, wie man dort sitzt und was man tun kann. Kalena konnte das wie niemand anders. Besser als ich...“
„Wirst du jetzt melancholisch?“, fragte Drazan spöttisch, „Du hast sie töten lassen, also lebe damit, sonst wirst du ein Schwächling, wie dein missratener Sohn.“ Er lachte kurz auf, „Mal sehen wer von uns ihn zuerst erwischt.“
Etwas regte sich in Dragan. Jahrelange Schuldgefühle. Der Grund für seinen Dienst im Schatten. Der Grund, warum die Mórquen ihn jagten. Warum Mórval es auf ihn abgesehen hatte. Alles hatte mit dem Tod seiner Mutter begonnen, den er nicht verhindern konnte. Seitdem war alles in seinem Leben zerbrochen und er hatte sich dem Schatten hingegeben. Stets hatte er sich selbst die Schuld gegeben, warum er sie nicht beschützen konnte. Alles war sein Vater schuld gewesen. Sein Blick verschwamm. Heiße Tränen vor Trauer und Wut rannen seine Wangen hinab, seine Kehle war wie zugeschnürt. Dumpf hörte er das Gespräch. Etwas über Ungeziefer und Mäuse wurde gesagt. Dragans verschwommener Blick bemerkte etwas Blitzendes. Er riss den Kopf zur Seite. Kalter Stahl durchstach die hölzerne Wand und zerschnitt ihm die rechte Wange. Er ließ sich flach auf den Staubigen Boden fallen und rührte sich nicht. Geistesgegenwärtig imitierte er ein Quicken einer Maus, nicht zu lang, auch nicht zu kurz. Atemlos wartete er ab. Das Schwert erschien nicht noch einmal. Verfluchte Schattenelbe! Dragan kroch rückwärts. Flucht ging vor! In seiner Brust herrschte ein tosender Kampf zwischen ungezügelter Wut, bodenlose Trauer und das betäubende Gefühl von Verrat. Er wollte weg von hier. Raus aus den beengten Gängen, fort aus Draganhrod und weit hinaus über die Grenzen von Rhûn. Er stieß seinen Kopf, als er auf der anderen Seite des Kriechkellers hervorkroch. Der Schmerz rief eine Tatsache in seinen vernebelten Verstand: Seine Freunde waren noch immer in Gefahr. Und die Weißen Streiter waren in der Stadt. Vielleicht würden sie ihm noch einmal helfen. Er verschob den Gedanken, alles hinter sich zu lassen und machte sich mit zerreißenden Gefühlen zurück auf den Weg in das Gemach. Noch konnte er nicht seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Er war froh, dass seine gequälte Grimasse hinter einer Maske verborgen war.
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