Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Das Nebelgebirge

Der Hohe Pass

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Curanthor:
Die Nacht war kühl und irgendwie fand er keine Ruhe. Mathan erhob sich von seinem Lager blickte zu Ardóneth, der noch immer Wache hielt. Nach einem kurzen Moment entschloss er sich zum dem Waldläufer zu setzen. Als er sich erhob bemerkte er, dass der Wind gedreht hatte und nun von Norden her wehte. Auf leisen Sohlen begab der Elb sich durch das Lager und warf einen Blick auf die schlafende Kerry, die sich eingerollt hatte. Mit einem Schmunzeln strich er ihr ein Haar aus dem Gesicht und setzte sich schließlich zu Ardóneth.
"Kannst du nicht schlafen?", fragte der Waldläufer leise und klang dabei kaum müde.
Mathan antwortete nicht sofort, sondern starrte in die Finsternis. Seine Augen gewöhnten sich rasch an die Lichtverhältnisse und er erblickte den verschneiten Hang vor ihnen. Sie hatten Glück gehabt, dass sie eine trockene Fläche zum Lagern gefunden hatten. "Nein, mir gehen zu viele Dinge durch den Kopf," antwortete Mathan schließlich nachdenklich und blickte den erschöpft aussehenden Mann an, "Aber du wirkst auch nicht gerade sehr glücklich."
Ardóneth zuckte erst mit den Schultern, doch das Trübsal in den Augen des Mannes verriet Mathan, dass irgendwas ihn beschäftigte. Doch er bedrängte ihn nicht, sondern wartete, bis er von selbst anfing zu reden. In der Zeit blickten sie aufmerksam umher, doch es war alles ruhig. Der Wind nahm etwas zu und wurde zu einer etwas kräftigeren Brise, doch nichts was sie beunruhigen konnte.
"Ich habe mich noch gar nicht für dein Fürsprechen für mich in Fornost bedankt", sagte Ardóneth plötzlich und überraschte Mathan damit, denn er ihm kam es irgendwie weit entfernt vor. Er räusperte sich leise und winkte ab: "Nichts zu danken, denn der weiße Zauberer ist listenreich. Es ist schwer dahinter zu kommen, doch die Augen eines Mannes sprechen immer die Wahrheit."
"Und was sagen meine jetzt?", fragte der Waldläufer leise und blickte zu den Gipfeln empor.
Mathan hatte mit der Frage schon gerechnet und antwortete behutsam: "Irgendwas beschäftigt dich. Ich weiß nicht, ob es belastend ist oder nicht, aber du wirkst nicht gerade glücklich, das sagte ich ja bereits."
Ein Wispern im Wind ließ Mathan zusammenfahren, doch als er zurückblickte, bemerkte er, dass einer seiner Gefährten im Schlaf gesprochen hat. Sein Blick ging zu Kerry, die sich gerade etwas ruhelos umherwälzte.
"Nun, da gibt es eine Person... und ich habe sie im Stich gelassen...", gestand Ardóneth leise und versuchte seine Trauer zu verbergen.
"Wieso das?", hakte Mathan vorsichtig nach und rückte die Gurte seiner Schwerter auf eine andere Position, da sie unangenehm drückten.
"Fínrien...", er senkte den Kopf und murmelte: "Das war ihr Name."
Mathan wartete geduldig, dass er weitersprach und spielte erneut unbewusst mit dem Medaillon seiner Mutter. Ardóneth schien sich wieder zu fangen und erzählte mit gesenkter Stimme, sodass er seine Elbenohren spitzen musste: "Ich habe sie damals in Bruchtal alleine gelassen... ich fand sie verletzt und brachte sie nach Bruchtal. Doch es stand so schlimm um ihr, dass keiner ihr helfen konnte, also verließ ich sie."
Eine kurze betrübte Pause folgte und Ardóneths Stimme zitterte leicht, als er weiterredete: "Ich erfuhr erst viel später, dass Herr Elrond noch rechtzeitig zurückkehrte und sie pflegte... zumindest so lange, bis meine Tochter geboren war, bis sie verstarb..."
"Du redest von deiner verstorbenen Frau oder?", fragte Mathan sanft um sicher zu gehen, dass er es richtig verstanden hatte, "Verzeih, ich wollte nichts falsch verstehen."
Der Waldläufer nickte stumm und atmete einige Male durch und nestelte an seiner Kleidung herum. "Sie heißt Mara."
"Und nun fühlst du dich schuldig, fortgegangen zu sein. Womöglich sogar schuldig, weil du deiner Tochter nicht ein Vater sein konntest... Das ist wirklich schwer, auch wenn ich so Etwas nicht selbst erleben musste. Es tut weh, wenn man eine geliebte Person verliert, ganz gleich ob Mensch oder Elb...", sagte Mathan schließlich und legte Ardóneth nach kurzem Zögern eine Hand auf den Rücken, "Aber deiner Tochter, Mara, geht es gut, sie ist am Leben. Selbst wenn du es nicht wusstest, dass du eine Tochter hattest, dafür dass man den Tod einer geliebten Person nicht miterleben will, kann man niemanden die Schuld geben. Wie alt ist die Kleine denn?"
"Sieben", antwortete sein Gesprächspartner leise und lächelte schwach in der Dunkelheit. Er schien zu zögern, bis er nach einer kurzen Pause weitersprach: "In der Zeit hat sich eine andere Frau um sie gekümmert... Cairien ist ihr Name."
Mathan legte den Kopf schief und ein kaum merkliches Schmunzeln umspielte seine Lippen, doch Ardóneth schien es etwas peinlich zu sein, denn er wandte den Kopf ab. Oder er hatte Etwas gesehen, denn auch Mathan meinte ein Geräusch gehört zu haben, doch seine Elbenaugen konnten nichts entdecken.
"Sie ist so...", begann der Waldläufer und hob dabei hilflos die Schultern, "Ich weiß nicht wie ich es beschreiben soll. Geschweige denn, was ich tun soll."
"Höre auf dein Herz und deinem Bauchgefühl", riet Mathan im schließlich mit einem aufmunternden Nicken, "Du kannst nicht das ungeschehen machen, was damals passiert ist. Die Dinge haben sich nun so entwickelt und irgendwann muss man es akzeptieren, dazu gehört auch vielleicht eine neue Bekanntschaft zu machen."
Anhand des Blickes, den Ardóneth ihm zuwarf wusste Mathan, dass er ihn genau verstanden hatte. Sie schwiegen einige lange Augenblicke, bis der Waldläufer langsam nickte und bedächtig sprach: "Danke für den Rat und dafür, dass du mir zugehört hast. Ich werde darüber nachdenken."
"Nichts zu danken", erwiderte Mathan und nickte ihm mit einem aufmunternden Lächeln zu, "Denke nicht zu lange nach, manchmal muss man auch Etwas wagen."

Nach dem Gespräch bot der Elb Ardóneth an die Wache zu übernehmen, was dieser nach einem kurzen Moment des Zögerns annahm. Während sich der Waldläufer nahe bei dem glühenden Lagerfeuer niederließ und sich in seinem Mantel einwickelte, spähte Mathan aufmerksam hinaus in die Nacht. Es war still nur das ferne Heulen des Windes in den Gipfeln hallte bis zu ihnen herunter. Ebenfalls hörte er das regelmäßige Atmen seiner Gefährten, auch wenn er wusste, dass die Elben nie fest schliefen, zumindest waren sie bei ihren gemeinsamen stets Reisen sehr leicht zu wecken gewesen. Im schwachen Schein der Glut Lagerfeuers beobachtete er Kerry beim Schlafen und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Seine kleine Abenteurerin hatte sich seit ihrer Befreiung aus Carn Dûm schon gut entwickelt, mehr als sie es selbst ahnte. Er freute sich auf den Moment, wenn sie sich dem bewusst wurde. Ihm war aufgefallen, dass sie den Aufstieg ohne große Probleme bewältigt hatte, was deutlich für sich sprach. Zwar war sie noch immer hinter den Elben geblieben aber das war auch normal. Mathan musste ein leises Lachen unterdrücken bei dem Gedanken, dass Kerry plötzlich schneller als ein Elb wanderte und sie beim Aufstieg überholte. Zwar würde sie sich nie mit einem ausgewachsenen Elb als gleichwertig messen können, aber sie könnte so einigen Menschen Etwas vormachen. Nachdenklich betrachtete er den blonden Schopf seiner Tochter und fragte sich plötzlich, was ihre leiblichen Eltern von ihr gehalten haben. Wie sie auf sie geblickt haben und wie sie sie erzogen haben. Nachdenklich strich er sich einige Haare aus dem Gesicht und stellte sich vor, dass er ihre Eltern eines Tages treffen würde. Was würden sie sagen, dass ein Elbenpaar sie in ihre Obhut genommen hat? Er wusste es nicht, doch würde es mit Sicherheit überraschend sein, für beide Seiten. Mathan hat nie direkt mitbekommen, wie Menschen ihre Kinder erziehen. Für ihn war die Erziehung ein langwieriger Prozess, ein kompliziertes Zusammenspiel aus Liebe, Zuneigung, Empathie und viel Geduld. Zusätzlich gehörten aber auch Respekt, Strenge und eine gute Portion Wissen dazu. Er hoffte nur, dass er es in den passenden Maßen vermitteln kann. Zu einem Teil verstand er Kerrys Sorgen, dass die Menschen im Vergleich zu den Elben ein so kurzes Leben haben, doch seiner Meinung nach war es erfüllter. Auch wenn Mathan es nie zugeben würde, so hatte er stets die Sorge, dass er zu wenig von seiner menschlichen Tochter haben würde. In der Regel lebten Menschen vielleicht achtzig Jahre und für einen Elben war das nicht viel. Oder doch, wenn so viel geschieht wie in diesem Jahr, dachte er sich und wandte den Blick von Kerry ab. Er würde sie so oft es möglich war auf ihren Weg begleiten und ein guter Vater sein. Ihm war klar, dass es auch dazu gehörte, dass sie älter wurde und unabhängige Entscheidungen traf, so wie es Faelivrin nun seit einigen Jahrhunderten tat. Doch er war sehr interessiert und neugierig, wie sich seine Tochter entwickelte. Dabei dachte er unwillkürlich an sein ungeborenes Kind, das zusammen mit Halarîn in Eregion geblieben war. Amandis... ich wünschte, du wärest hier bei mir.
Er schreckte aus dem Gedanken, als der Wind plötzlich zunahm und ihm die Haare aus dem Gesicht blies. Es wurde sogar eine Spur kälter, was ihn dazu veranlasste sich zu erheben. Mit gerunzelter Stirn kniff er die Augen zusammen und starrte hinaus in die Dunkelheit der Nach, doch konnte er nichts erkennen. Seine Hände wanderten zu seinen Schwertgriffen, als ein plötzliches Wispern ihn innerhalten ließ. Es kam ihm irgendwie vertraut vor. Mit dem Wispern nahm auch der Wind zu, der etwas losen Schnee umherwirbelte. Hinter sich hörte er seine Gefährten grummeln, die meisten von ihnen zogen ihre Decken über das Gesicht. Sein Mantel bauschte sich im Wind, während das Wispern nun zu einem Tuscheln wurde. Die Kälte nahm zu, sodass nun feine Wölkchen vor seinem Mund standen. Sogleich zog er seine Waffen, überlegte kurz und fügte die Silmacil zu einem Schwert zusammen. Gerade als er mit seiner freien Hand nach hinten und seiner neuen Waffe langen wollte, hörte er die verschlafene Stimme von Kerry. Sogleich waren auch die anderen Gefährten wach, doch Mathan bedeutete ihnen dort zu bleiben wo sie waren.
"Was ist los?", zischte Oronêl angespannt, der sich halb erhoben hatte.
Mathan wusste es nicht genau zu beschreiben und sagte langsam: "Vertraut mir..."
Das Heulen des Windes war nun sehr nah und von dem Gipfel des nördlich gelegenen Berges löste sich ein Fluss aus Schnee. Mit einem tosenden Geräusch bahnte sich die wirbelnde Schneemassen einen Weg hinab, zu ihrem Glück befanden sie sich gut fünfhundert Schritt entfernt. Dennoch wurden sie sogleich von einer Wolke aus Schnee eingehüllt. Die Glut des Lagerfeuers zischte und wehrte sich gegen die Kälte. Feine Schneeflocken spritzten ihm ins Gesicht und er blinzelte in den Schleier aus Weiß. Plötzlich nahm er Etwas vor sich wahr. Seine Intuition sagte ihm, dass er angestarrt wurde. Das Tuscheln war mittlerweile verstummte und eine ungewöhnliche Stille hatte sich über den Berghang gelegt.
Ein einzelnes Wort hallte klar zu ihm herüber. Es war:"Yondo". Sogleich lichtete sich der Schnee und es war alles wie zuvor und aus den wirbelnden Schneeflocken formte sich eine hochgewachsene Gestalt, die ihm den Atem stocken ließ. Er erkannte den Blick aus hellblauen Augen, das unnatürlich ebenmäßige Gesicht kam ihm ebenfalls entfernt bekannt vor, die langen, silbernen Haare hatten einen hellblauen Ton und doch wusste er, wen er da vor sich hatte. Gehüllt in einer schweren Rüstung mit einem fünffachen, spitzen und abstehen Schulterpanzer, sowie einem Mantel aus dunkelblauer Seide stand sie vor ihm. Kryptische Zeichen zogen sich auf beiden Seiten ihres Gesichts von ihren Kiefer, über die Wangen über die Augen hinauf zu der Stirn. Vor ihr, halb im Schnee verdeckt ruhte ein riesiger Hammerkopf, dessen langer Griff größer war als sie selbst. Ein zerfetztes, türkises Banner war an dem Ende des Griffs angebracht und flatterte im Wind. Mathan starrte sie an und war unfähig auch nur ein Wort herauszubringen, während sie ebenfalls zurückstarrte. Ihr Blick war hart und kraftvoll, während sie gebieterisch ihre rechte Hand hob. Ein Windstoß fegte den restlichen Schnee fort und es sah so aus wie zuvor, nur, dass sie keine sechs Schritt vor ihm stand. Die durchdringende Kälte kam ihm bekannt vor. "Amil," murmelte er leise und ließ seine Waffen sinken, "tye cin hi? tye cin reallui hi? Ringelendis, na i cín esti?
Die Zeit schien wie verlangsamt, als sie den Mund öffnete und sanft antwortete: "Ich bin hier. Ich bin wirklich hier und Ringelendis ist mein Name."
Mathan blickte kurz zu der Waffe in seinen Händen und dann zu seiner Mutter. Sie hatte ein gütiges Lächeln aufgesetzt, wirkte dennoch unnahbar.
"Ich bin es wirklich, mein Sohn", sagte sie erneut und hob eine Hand, "Komm."
Zögerlich folgte er der Aufforderung und trat auf sie zu, sodass die Kälte ihn komplett umfing. Ihre sanfte Hand umfasste die Seine und sie entfernten sich ein paar Schritte von dem Lager.
"Ich... weiß gar nicht was ich sagen soll", gestand Mathan zögerlich und blickte immer wieder zu seiner Mutter. Er konnte es gar nicht fassen, dass sie nun neben ihm stand.
"Gar nichts musst du sagen, Mathan. Ich möchte, dass du mich anhörst", bat sie sanft und nahm seine Hand in beide Hände, während sie sich nun zu ihm drehte, "Ich weiß, dass ich nie die Mutter war, die sich ein Kind wünschen würde, doch habe ich Pflichten, denen ich nachgehen muss. Du musst enttäuscht sein, weil ich einfach verschwunden bin, womöglich hast du nach mir gesucht..."
"Immer", sagte er sofort, was sie zum Lächeln brachte. Diesmal erreichte es sogar ihre Augen und ihr harter Blick wurde weich.
"Ich habe mir so sehr gewünscht bei meinen Kindern zu sein, aber es war mir nicht erlaubt. Dass ich nun hier bin ist nur durch einen bestimmten Umstand zu verdanken," sie wandte den Blick nach Norden und sagte dabei: "Einer der Unseren braucht Beistand, ein alter Freund von mir...  und doch wollte ich dich unbedingt treffen."
"Wovon redest du?“, fragte er verwirrt und blickte ebenfalls nach Norden über die Gipfel des Nebelgebirges.
"Nicht so wichtig, Hauptsache ist, dass ich bei dir sein kann. Als ich spürte, dass du hier bist, konnte ich nicht widerstehen," eine ungewohnte Sehnsucht schwang in ihrer kühlen Stimme mit, sodass er sanft ihre Hand drückte, "Ich kann aber nicht lange bleiben", sagte sie schließlich und wandte sich wieder zurück zum Lager. Zum ersten Mal wandte Ringelendis ihren Blick zu seinen Gefährten und musterte sie alle nacheinander: Oronêl, Finelleth, Ardóneth, Celebithiel, Mírwen und zum Schluss Kerry. Alle waren wach und starrten zu ihnen herüber, besonders Kerry machte große Augen. Langsam Schrittes gingen sie zurück zum Lager, während seine Mutter auf Quenya erklärte, dass er ihr dicht auf den Fersen ist und sie sich bald treffen würden. Unbewusst legte er eine Hand auf den Mantel, in dessen Innentasche das Pergament Elronds steckte. Erst jetzt schien seine Mutter zu bemerken was für ein Mantel es war, denn sie strich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck über den Stoff aus Gondolin. Gleichzeitig hatten sie ihre Gefährten erreicht, die sich unsicher erhoben und deren Atem in Wolken vor ihren Mündern stand.
"Wer seid Ihr?", fragte Oronêl schließlich respektvoll und blickte zwischen ihr und Mathan hin und her.
"Mein Name ist Ringelendis. Ich habe die Orks mit einer Lawine beseitigt, die Euer Lager überfallen wollten", erklärte sie schließlich und blickte wieder zu Mathan. Erst Finelleths zögerlicher Dank ließ sie ihren Blick abwenden.
"Das ist meine Aufgabe, auch wenn ich mich außerhalb meiner Lande befinde... Meine Zeit hier ist begrenzt."
Die Gefährten blickten sich verständnislos an, während der kühle Blick von Ringelendis erneut über die Gruppe wanderte, bis er an Kerry hängen blieb. Mathan sah, dass seine Tochter neugierig, aber auch etwas eingeschüchtert war. Ihr Gesicht leuchtete rot vor Kälte und Scham, da Ringelendis sie eindringlich anstarrte. Langsam beugte sich die hochgewachsene Frau herab und streckte ihre feingliedrigen Finger nach Kerrys Hand aus, an deren Ringfinger der Ring von Mathan steckte.
"Ist selbst Eure Haut so kalt?", platzte es aus Kerry heraus, was seine Mutter innehalten ließ, ein Schmunzeln umspielte ihre Lippen.
"Finde es heraus", antwortete sie geheimnisvoll und berührte mit ihrer Fingerspitze Kerrys Ringfinger, der den elbischen Ring trug.
Ein kurzer Seitenblick ging zu Mathan, den er nicht richtig deuten konnte. Ringelendis strich sich ihre langen Haare zurück und richtete sich wieder auf. "Ich muss gehen, doch möchte ich euch noch Eines mit auf dem Weg geben: In diesen Zeiten sind die Bande der Freundschaft besonders wichtig. Besinnt euch auf die, die auch am nächsten stehen," bei dem letzten Satz blickte sie zu Kerry, dann wandte sie sich an Mathan: "Radnin, im darthan cin, nin réd.
Mit den Worten wandte sie sich ab und trat an ihre Waffe, die unmöglich für Elben oder Menschen geschaffen wurde. "Lebt wohl", sagte Ringelendis und hob ihren übergroßen, aus schwarzen und eisblauen Stahl geschmiedeten Kampfhammer. Dabei wirbelte unnatürlich viel Schnee auf und hüllte ihre eindrucksvolle Gestalt ein, bis sie aus ihren Blick verschwunden war. Als sich das wirbelnde Weiß gelegt hatte, war Ringelndis fort, nur ein kühler Nordwind blieb.
Mathan atmete ein paarmal durch und blockte aufkommende Fragen mit einer Handbewegung. "Ich brauche gerade Zeit für mich, bitte."
Damit wandte er sich ab und ging ziellos einige Schritte fort vom Lager um seine Gedanken zu ordnen. Es brauchte eine ganze Weile, bis er wieder klar denken konnte, in der Zeit erschien bereits die Sonne als winziger Streifen am Horizont.

Fine:
Am folgenden Morgen war Mathan äußerst schweigsam, und wechselte nicht einmal mit Kerry ein Wort. Sie spürte, dass er noch einige Zeit brauchen würde, um die Begegnung mit seiner geheimnisvollen Mutter zu verarbeiten, doch sie war entschlossen, sich bereit zu halten. Wenn der Moment kommen würde, in dem ihr elbischer Vater das Gespräch suchen würde, würde Kerry für ihn da sein.
Ardóneth und die Elben beseitigten rasch die Reste des Nachtlagers der kleinen Gruppe, und schon kurze Zeit später brachen sie unter Finelleths Führung weiter nach Osten auf. Der Hohe Pass fiel nun stetig ab, auch wenn er sich weiterhin in großen und kleinen Windungen durch das Nebelgebirge schlängelte. In Kerrys Ohren knackte es, als sich der Luftdruck veränderte, und sie sah mehr und mehr Anzeichen, dass sie sich den tiefer gelegenen Gebieten jenseits des Gebirges näherten. Hin und wieder entdeckte sie widerstandsfähige Pflanzen, die sich zwischen den Felsen festgesetzt hatten, und nachdem sie zwei Stunden gereist waren, kamen sie an einem alten, verwitterten zwergischen Markstein vorbei, den Finelleth zu kennen schien. Geradezu ausgelassen erklärte sie dem Rest der Gruppe, dass dieser Stein das baldige Ende des Passes markierte.
"Es ist jetzt nicht mehr weit bis zur anderen Seite," sagte die Waldelbin. "Wir haben es fast geschafft."
"Welche Lande liegen jenseits des Passes? Wer herrscht dort?" fragte Kerry neugierig.
"Dort liegt das Tal des Anduin," sagte Oronêl bedächtig. "Soweit ich weiß, leben einige wenige Menschen dort, doch kenne ich ihre Anführer nicht, und weiß nicht, wem sie dienen."
"Einige der Flussmenschen, wie wir sie im Waldlandreich nennen, haben sich an der Belagerung von Dol Guldur beteiligt," erklärte Finelleth, die sich offenbar nun besser mit ihrer Rolle als Anführerin angefreundet hatte. Sie selbst haben sich als Cearlingas bezeichnet."
Das war ein Name, den Kerry kannte. "Dann sind sie mit meinem Volk verwandt!" stellte sie fest. "Denn Cearl war der Bruder Eorls des Jungen, der einst Gondors Hilferuf folgte und in einem großen Ritt nach Süden eilte. Zur Belohung für seine Dienste gaben die Herren Gondors ihm und seinem Volk die Riddermark als Wohnsitz. Doch nicht alle von Eorls Volk mochten ihre Heimat verlassen, und blieben mit Cearl im Anduin-Tal zurück."
"Die Flussmenschen sind allerdings nicht die Einzigen, die jenseits der Berge zwischen Anduin und Düsterwald leben," ergänzte Ardóneth. "Ich traf in Fornost auf einem Stamm von Bergmenschen, die sich als Frostwolfklan bezeichneten. Außerdem leben in der Nähe des Carrocks die Beorninger, die viele Jahre den Hohen Pass frei von Orks gehalten haben."
"Die Beorninger kamen mit uns nach Aldburg, als wir... als wir aus Lothlórien flohen," sagte Oronêl. "Soweit ich weiß, leben sie nun in einem Wald in der Ostfold. Wir werden also auf unserem Weg ins Waldlandreich wahrscheinlich nicht auf sie stoßen."
"Dafür möglicherweise auf Kundschafter meines Vaters," mutmaßte Finelleth. "Wenn er in sein Reich zurückgekehrt ist, wird er Kontakt zu Bruchtal herstellen wollen."
"Wir wissen nicht, wie die Lage in Waldlandreich ist," meinte Celebithiel. "Ich glaube jedoch, dass wir uns ab sofort wieder in Sarumans Einflußgebiet befinden. Er kontrolliert den Großteil des Nebelgebirges, und hat sowohl Lórien als auch den Düsterwald unter seiner Kontrolle. Da fällt es nicht schwer zu glauben, dass auch die Gebiete dazwischen unter seiner Herrschaft stehen."
"Dann sollten wir ab sofort noch vorsichtiger sein, und sobald wir den Pass hinter uns gelassen haben, abseits der Straße reisen," schlug Oronêl vor.
Mírwen nickte zustimmend, und auch der Rest der Gruppe befand Oronêls Vorschlag als sinnvoll. Sie schulterten ihr Gepäck erneut, und brachen wieder auf.

Es dauerte länger als Kerry erwartet hatte, den Abstieg aus dem Nebelgebirge zu bewältigen. Zwar ließen sie gegen Mittag die Schneegrenze hinter sich, doch noch immer verlief der Weg, dem sie folgten, zwischen hoch aufragenden Gipfeln hindurch. Kerry beklagte sich nicht; denn sie wusste, dass es nichts an ihrer Lage ändern würde. Ihr war klar, dass ihre Situation auch deutlich schlimmer sein könnte. Immerhin waren sie keinen weiteren Orks mehr begegnet, und der Pass war nicht von Schneemassen blockiert gewesen.
Während sie unentwegt hinter Finelleth den Pass hinab stieg, hatte Kerry viel Zeit zum Nachdenken. Die Begegnung mit Mathans Mutter am Abend zuvor hatte viele Fragen in ihr aufsteigen lassen. Wer war diese unheimliche Frau wirklich, und welche Macht besaß sie? War die Kälte, die von ihr ausgegangen war, ein Teil von ihr gewesen, oder hatte es sich dabei um Magie gehandelt? Und weshalb war Ringelendis so schnell wieder verschwunden? Und noch eines beschäftigte Kerry: Was hatte Mathans Mutter wohl von ihr gehalten, und wusste sie Bescheid über die Beziehung, die Kerry und Mathan verband?
Was, wenn sie mit meiner Adoption nicht einverstanden ist?
Sie schüttelte heftig den Kopf, um diesen schädlichen Gedanken loszuwerden, was ihr einen verwunderten Blick von Mírwen einbrachte, die neben ihr herlief. Kerry wurde rot als ihr bewusst wurde, wie seltsam das ausgesehen haben musste, doch sie tat es mit einer entschuldigenden Geste in Richtung Mírwen ab. Sie wusste, dass es Zeitverschwendung war, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was Mathans Mutter von ihr hielt. Sie würde es vorerst sowieso nicht erfahren. Dennoch gelang es ihr nicht vollständig, diese Frage aus ihren Gedanken zu verbannen.
Um auf andere Gedanken zu kommen, lenkte sie ihren Verstand auf andere Personen. Als Finelleth von der Belagerung von Dol Guldur gesprochen hatte, hatte Kerry an ihren leiblichen Vater denken müssen. Und auch jetzt konzentrierte sie sich auf ihn und stellte sich sein Gesicht vor ihrem inneren Auge vor, während sie, nun hinter Mírwen hergehend, tiefer und tiefer stieg.
Wo er jetzt wohl gerade ist? Ob es ihm gut geht? dachte sie. Sie fragte sich, ob sie ihn eines Tages wiedersehen würde. Finelleth hatte ihr in Fornost erzählt, dass sich Cyneric auf einer äußerst wichtigen und geheimen Mission in Rhûn befand, deren Dauer nicht bekannt war. Das machte ein Treffen mit Kerry nicht gerade einfach. Und für den Augenblick hatte sie sowieso eine dringendere Aufgabe: Sie würde Finelleth dabei unterstützen, ihre Heimat, das Waldlandreich, zu retten.
Vielleicht können mir die Elben dort mehr über meinen Vater sagen, wenn im Grünwald wieder Frieden eingekehrt ist, befand Kerry.

Als die Sonne hinter den hohen Gipfeln verschwand, verbreiterte sich die Schlucht, durch die sie ihr Weg inzwischen führte, zusehends nach beiden Seiten, und sie kamen in ein von unterschiedlich steil abfallenden Hängen geprägtes Tal. Hier endete der Gebirgspfad, und eine aus festgetrenem Erdboden bestehende Straße begann. Sie hatten das Ende des Hohen Passes erreicht.
"Diese Straße führt von hier zu den Furten des Großen Stroms am Carrock, und von dort durch den Grünwald ins Waldlandreich, und weiter bis nach Thal und zum Erebor," erklärte Finelleth. "Willkommen in Rhovanion, Freunde."
"Wir haben es geschafft," meinte Mírwen fröhlich. "Das Gebirge liegt hinter uns."
"Dennoch lauern im Tal des Anduins Gefahren," warnte Celebithiel. "Ich spüre den Schatten des Krieges, der über diesem Land liegt."
Mathan nickte bestätigend. Noch immer sprach er nur kurzangebunden, hatte jedoch sein Schweigen inzwischen gebrochen. "Wir sollten wie geplant abseits der Straße reisen."
"Und heute nicht mehr weiterreisen," ergänzte Ardóneth. "Nachts sind die Orks und andere Diener des Feindes unterwegs."
"Dann sollten wir hier in der Nähe unser Lager für die Nacht aufschlagen," schlug Oronêl vor.

Kerry lag auf ihrer aus weichem Moos improvisierten Schlafunterlage und betastete ihre Unterschenkel. Der Abstieg aus dem Gebirge war auf eine merkwürdige Art und Weise fast anstrengender als der Aufstieg gewesen, und Kerrys Beine kribbelten und schmerzten. Dennoch hatte sie sich bereit erklärt, eine der Nachtwachenschichten zu übernehmen. Mathan würde sie zwei Stunden nach Mitternacht wecken, und sie hoffte, dass er dann mit ihr über seine Mutter reden würde. Sie verspürte einen kleinen Stich der Schuld, weil sie die Einteilung der Nachtwache so manipuliert hatte, dass sich ihre Schicht mit der ihres Vaters überlappte, doch Kerry schob das schlechte Gewissen rasch beiseite. Wenn Mathan mit ihr sprechen wollte, würde er es tun, wenn sie ungestört waren. Und welch bessere Gelegenheit dafür gäbe es, als in tiefster Nacht?
Sie machte die Augen zu, und versuchte zu schlafen. Und dank dem erschöpfenden Abstieg driftete sie schon bald in einen traumähnlichen Zustand davon.
Morilyë, sagte eine Stimme in Kerrys Kopf.
Wer... Farelyë, bist du das? antwortete sie, nicht sicher, ob sie träumte oder wach war.
Ja.
Wo bist du? Benutzt du... deine Fähigkeiten, um mit mir zu sprechen?
Ja. Ich sehe dich, jenseits der Berge.
Wie ist das möglich? wollte Kerry wissen.
Es dauerte eine Weile, bis Farelyë antwortete. Schwer zu erklären, sagte das Elbenmädchen, und ihre Stimme klang auf seltsame Art belustigt.
Nun... wie geht es dir? fragte Kerry, als ihre kleine Freundin nicht weiter sprach.
Alles ist ruhig. Die Elben hier sind fleißig: bauen Häuser und reparieren das, was vor so vielen Jahren zerstört wurde.
Und meine Mutter? Ist mit ihr alles in Ordnung?
Halarîn ist voller Leben, Morilyë. Sie selbst, und auch das, was sie in sich trägt. Sorge dich nicht.
Kerry fiel auf, dass sich Farelyës Ausdrucksweise erneut verändert hatte, seitdem sie in Eregion zuletzt miteinander gesprochen hatten. Offenbar erhielt sie weiterhin Unterricht von Ivyn. Und wie zur Bestätigung ihres Gedankens erklang nun auch die Stimme der Hwenti-Ersten in Kerrys Gedanken.
Hallo, kleine Ténawen, sagte Ivyn sanft. Es tut mir Leid, dass Farelyë dich als Versuchsobjekt für ihre Übungen verwendet. Normalerweise werden solche Unterhaltungen nur zwischen Elben ausgetauscht, die dafür ausgebildet sind. Ich hörte allerdings von einem Schmied im Alten Westen, der Objekte schuf, die Ähnliches vermögen. Ich glaube, die Ersten der Noldor haben ihm dabei geholfen. Jedenfalls werde ich die Verbindung jetzt beenden, ehe es zu anstrengend für dich wird. Farelyës Bindung zu dir ist stark, und wird es immer sein, doch sie hat noch viel zu lernen.
Bis bald, Morilyë, sagte Farelyë zum Abschied.
Bis bald! antwortete Kerry hastig.
Und als Farelyës Stimme verklang, spürte Kerry, wie anstrengend diese geheimnisvolle Art der Unterhaltung gewesen war. Sie fühlte sich so unendlich müde - so müde wie lange nicht mehr. Kaum gelang es ihr, sich auf die andere Seite zu rollen, ehe sie fest eingeschlafen war.

Curanthor:
Mathan saß mit halboffenen Augen auf seinem Mantel und blickte in die vom Lagerfeuer abgewandte Richtung. Die Begegnung mit seiner Mutter hatte ihn zutiefst erschüttert, jedoch nicht auf negative Weise. Niemals hätte er sich träumen lassen, dass sie einfach so vor ihm erscheinen würde. Nachdenklich betastete er das Medaillon an seinem Hals. Sie hatte sich kaum verändert, abgesehen von den Schriftzeichen in ihrem Gesicht und die andere Haarfarbe. Seufzend blickte er zum Himmel hinauf und überlegte, was er als nächstes tun sollte. Das, was Ringelendis noch zum Schluss zu ihm gesagt hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Vielleicht sollte er mit Kerry sprechen. Er hörte ihren regelmäßigen Atemzug und war schon öfters versucht zu ihr zu gehen, doch er war sich nicht sicher, was er sagen sollte. Zudem war Mathan sich auch nicht sicher, ob Kerry oder die anderen Elben den letzten Satz seiner Mutter auf Quenya verstanden haben, immerhin war es ein alter Dialekt aus Gondolin. Wenn er an das Treffen zurückdachte, war er froh, dass es stattgefunden hatte, auch wenn es sehr kurz war. Somit war eine seiner größten Befürchtungen vom Tisch: der Tod seiner Mutter. So wie sie auf ihn gewirkt hatte, war sie sogar noch stärker, als er sie in Erinnerungen hatte. Auch wenn ihre Präsenz diesmal eine ganz andere Macht ausgestrahlt hatte.
Mathan atmete noch einmal aus und setzte sich schließlich auf. Er blickte sich kurz um und erblickte Kerry, die neben einem größeren Felsblock auf einer Decke lag. Schweigend setzte er sich zu ihr und weckte sie schließlich sanft. Nach einer kurzen Aufwachphase setzte sie sich auf und gemeinsam auf den Felsblock. Sie blickte ihn an und versuchte dabei ihre Erwartung zu verbergen, was er aber  trotzdem bemerkte. Ein leises Schmunzeln umspielte seine Lippen. „Meine Mutter kann schon recht einschüchtern sein“, begann er amüsiert und schloss kurz die Augen, „Das war sie damals schon: stark, streng und sehr liebevoll. Aber heute… du weißt ja, wie lange ich sie nicht gesehen habe; da verändern sich die Dinge.“ Er verstummte und öffnete die Augen.
"Einschüchternd trifft es ziemlich gut“, antwortete Kerry leise, während sie ihren Blick nicht abwandte. "Sie war wie... ein Schneesturm, der über den Pass fegte. Doch da war etwas an ihr, das ihrem kalten Äußeren entgegenwirkte: die Art, wie sie mit dir gesprochen hat. Hätte ich es nicht schon geahnt; ich hätte es in dem Moment erkannt, als ihre Stimme erklang, dass sie deine Mutter sein musste. Ihr habt einen ähnlichen Tonfall, ist dir das aufgefallen?"
Mathan lachte leise und schüttelte den Kopf. „Nein, darüber habe ich nie nachgedacht. Um ehrlich zu sein hatte ich vergessen, wie sie gesprochen hat. Wenn man so lange lebt vergisst man einige Dinge, vor allem wenn so vieles in der Zeit geschieht…“
"Du hast sie viele Jahrhunderte nicht gesehen, stimmt's?" fragte Kerry, und Neugierde und Wissensdurst waren deutlich aus ihrer Stimme herauszuhören. "Was hast du in jenem Moment empfunden, als deine Mutter so plötzlich wieder vor dir stand? Wohin ist sie gegangen? Und warum ist sie nicht länger geblieben?"
Mathan musste erneut schmunzeln, da er Kerry und ihr übermäßiges Interesse schon kannte. „4770 Jahre um genau zu sein“, antwortete er leise und fuhr fort:  „Wenn man nach so langer Zeit jemanden trifft, den man schon oft für tot gehalten hat, dann ist man natürlich erstmal geschockt. Erst später realisiert man, dass tatsächlich die geliebte Person wirklich vor einem steht. Glück, Erleichterung und auch eine Spur Neugierde habe ich verspürt.“ Er verstummte und strich Kerry über den Rücken. „Das „wohin“ und „warum“ kann ich leider auch nicht beantworten…“
"So eine lange Zeit..." flüsterte Kerry und blickte zu den Sternen hinauf, die über ihrem kleinen Lager am Himmel standen.“ Es muss schwierig für dich sein, dass sie gleich wieder verschwunden ist; du hast doch sicher viele Fragen an sie, oder nicht?" Ihr Blick haftete nun wieder an Mathan, und sie stützte ihr Gesicht mit beiden Ellenbogen ab, die auf ihren Knien ruhten.
Er erwiderte ihren Blick und nickte langsam. „Ja, natürlich habe ich viele Fragen - noch mehr als vor dem Treffen-, aber sie sagte, dass sie wenig Zeit hatte. Was sie damit meinte, weiß ich selbst noch nicht. Vielleicht hast du mitbekommen, was sie kurz vor ihrem Verschwinden gesagt hat?“, fragte er und testete somit das Quenya seiner Tochter. Zugegeben, war es etwas unfair, da es ein toter Dialekt war, doch ganz so stark unterschied es sich nicht.
Kerry dachte angestrengt nach, doch ihr Gesichtsausdruck zeigte Mathan, dass sie sich wohl nicht mehr daran erinnerte, was genau seine Mutter zum Abschied gesagt hatte. Schließlich ließ Kerry den Kopf hängen und gab leise zu: "Ich weiß es nicht, Ontáro."
„Das ist nicht schlimm Kleines, immerhin ist ihr Quenya viel zu alt, dass es verstanden werden kann. Außerdem war es nur für mich bestimmt, da du aber zur Familie gehörst kann ich es mit dir teilen.“ Er beugte sich zu ihr und sagte mit gedämpfter Stimme: „Sie sagte mir, dass ich nah dran bin und ihr folgen soll. Also gehe ich davon aus, dass ich nach Norden gehen soll.“ Nachdenklich blickte er in jene Richtung und hielt ihr Medaillon in der Hand.
Kerry biss sich auf die Unterlippe und folgte Mathans Blick. "Nach Norden also... Dann werden sich unsere Wege wohl bald trennen“, stellte sie fest. "Ich hoffe, du findest deine Mutter, dort, wohin sie auch immer gegangen ist." Sie machte eine Pause und ihr Blick ging hinüber zu der Stelle, an der die übrigen Elben schliefen. "Ich denke nicht...." sagte Kerry, doch sie beendete den Satz nicht. Doch als Mathan aufmunternd seine Hand auf ihre kleinere legte, atmete sie tief durch und fuhr fort: "Ich denke nicht, dass ich dich dabei begleiten sollte. Ich habe Finelleth versprochen, ihr bei ihrer Aufgabe im Waldlandreich zu helfen, und das möchte ich weiterhin tun." Sie suchte Mathans Blick, und ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen hoffnungsvoller Erwartung und vorsichtigem Abwarten.
Er drückte sanft ihre Hand und nickte. „Das dachte ich mir schon. Außerdem ist es mir lieber, dich weiterhin in der Sicherheit der Gruppe zu wissen. Die Kälte dort im Norden ist selbst für Elben gefährlich und wer weiß, was sonst noch dort lauert. Ich möchte dich nicht auf meiner persönlichen Reise in Gefahr bringen, denn wenn dir dort Etwas zustoßen sollte, würde ich mir das nie verziehen.“ Mathan strich Kerry eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte. „Es nicht so ist, dass ich dich nicht dabei haben will, nur denke ich, dass es noch gefährlicher für dich wäre mitzugehen. So weiß ich, dass du in guten Händen bist“, sagte er sanft und streichelte ihre Hand.
Kerry nickte tapfer. "Ich werde bei Oronêl und Finelleth in Sicherheit sein“, antwortete sie und legte ihre freie Hand auf Mathans Arm, mit dem er über ihre andere Hand strich. "Wir werden uns spätestens in Eregion wiedersehen, wenn das Kind kommt“, versprach sie. "Das würde ich um nichts in der Welt verpassen wollen." Sie nahm ihre Hand weg und zeigte mit ausgestrecktem Finger nach Norden. "Du wirst gehen, und deine Mutter finden. Ich vertraue fest darauf, dass du es schaffen wirst. Die Kälte kann dir nichts anhaben."
„Nein, das kann sie nicht und ich weiß auch wo in etwa ich Ringelendis finden werde. Dort werden auch alle meine Fragen beantwortet werden.“ Mathan nickte zuversichtlich und überlegte kurz, ob er seinen bestätigten Verdacht mit ihr teilen sollte, beschloss aber damit noch zu warten. „Ich bin mir sicher, dass wir uns dann in Eregion wiedersehen werden, spätestens, wenn das Kind kommt.“ Er lächelte und sein Blick fiel auf den Ring an Kerrys Finger. Seine Mutter hatte ihn ebenfalls bemerkt und Mathan war sich sicher, dass sie bemerkt hatte, warum das Mädchen einen Familienring trug.
"Das werden wir. Ich verspreche es dir“, sagte Kerry leise. Dann streckte sie sich, und gähnte herzhaft. "Ich wüsste gar nicht, was ich ohne dich während dieser Nachtwache tun würde, Ontáro. Ich kann nicht einfach stundenlang aufmerksam in die Dunkelheit starren, da wird mir langweilig, und mir fallen die Augen zu."
„Eigentlich mag ich Nachtwachen sogar, da kann ich in Ruhe über die Dinge nachdenken, die mich am Tage nicht beschäftigen“, antwortete Mathan etwas verträumt und lehnte sich etwas zurück. „Denkst du, dass du auf deiner weiteren Reise zurechtkommen wirst? Bisher konnte ich dir noch nicht viel beibringen und für den Fall, dass du von der Gruppe getrennt wirst…“ Er ließ den Satz unvollendet, da seine Sorgen sich wieder meldeten und Mathan wollte Kerry keine Angst machen. „Ich mache mir ein wenig Sorgen“, gab er zu und suchte ihren Blick, „Wenn ich nicht in der Nähe bin und du nur auf Andere angewiesen bist, kann ich nicht ruhig bleiben. Ich möchte nicht, dass dir Etwas zustößt.“
"Ich werde nie alleine sein, und mich immer an deine Lektionen erinnern“, sagte Kerry beruhigend. "Im Waldlandreich werden überall Elben um mich herum sein, und auch auf dem Rückweg nach Eregion verspreche ich dir, vorsichtig zu sein und nicht alleine zu reisen. Ich will nicht, dass die Sorge um mich dich von deiner Aufgabe und von deiner Mutter abhält. So schön es sich auch anfühlt, dass sich jemand um mich sorgt, dennoch wäre es mir lieber, du tätest es nicht." Sie machte erneut eine kleine Pause, ehe sie fortfuhr. "Da ist noch etwas, Ontáro. Vorhin haben Farelyë und kurz darauf Ivyn mit mir Kontakt aufgenommen. Wie sie das gemacht haben, weiß ich nicht. Ich konnte ihre Stimmen in meinem Kopf hören. Und Farelyë sagte, sie könne mich sehen. Ich glaube, dass die beiden Ersten meinen Weg von fern verfolgen und beobachten. Bestimmt werden sie mich warnen, wenn Gefahren drohen."
Mathan nickte langsam und erinnerte sich an Geschichten über die Ersten die Kerrys Erzählung bestätigten. „ Ich ahnte, dass sie dazu imstande wäre, aber bisher habe ich nicht an die Möglichkeit gedacht, dass es bei Menschen ebenfalls funktioniert“, sagte er ehrlich erstaunt legte Kerry eine Hand auf dem Rücken. „Und meine Sorgen um dich halten mich nicht davon ab meine Mutter zu treffen, denn immerhin kannst du ja auch schon auf dich aufpassen. Du hast den Pass ohne Klagen bewältigt und konntest mit der Gruppe mithalten, ich denke das spricht für dich.“ Er lächelte aufmunternd und nahm seine Hand fort. „Wenn wir uns in Eregion wiedersehen, werde ich dir alles erzählen. Außerdem sah es ja schon so aus, als ob meine Mutter dir nicht abgeneigt war.“ Den letzten Satz sagte er mit einem Augenzwinkern und nickte zu dem Ring an ihrem Finger.
"Ich weiß nicht recht“, antwortete Kerry daraufhin. "Meinst du wirklich, sie würde sich nicht zumindest über mich wundern, weil ich.... weil ich ein Mensch bin?"
„Darüber gewundert hat sie sich sicherlich, aber dass sie mit dir gesprochen hat zeigt doch, dass es ihr nicht so wichtig ist. Meine Mutter hat ein großes Herz unter all dem Eis, das zeigt sie aber selten weil sie es nicht mag es vor anderen Leuten zu  zeigen“, erwiderte Mathan aufmunternd und hoffte, dass damit die Kerrys Zweifel etwas ausgedünnt waren.
Und tatsächlich schienen seine Worte Wirkung zu zeigen. Kerry brachte sogar ein schwaches Lächeln zustande, das im Licht der Sterne für einen Augenblick zu sehen war. "Ich schätze, wenn ihr das Ganze nicht gefallen hätte, hätte sie mir wohl die Hände mit einem Eiszauber belegt, oder mich gleich ganz eingefroren“, scherzte sie und kicherte leise.
Mathan grinste und lachte leise, damit ihre Gefährten nicht erwachten. Für einen Moment zögerte er, fragte aber dann: „Kannst du ein Geheimnis bewahren?“  Kerry nickte eifrig, und beugte sich vor, damit er es ihr ins Ohr flüstern konnte. „Meine Mutter ist definitiv anders… das war es, was mich so erschüttert hatte. Ich zeige es dir…“ Kurz blickte er zu den Schlafenden und rückte dann näher an Kerry heran, sodass ihre Körper den Blick auf ihre Hände verdeckten. Mathan legte beide Handflächen aneinander und konzentrierte sich, malte sich vor dem inneren Auge einen weißen Ball. Es wurde eine Spur kühler und etwas Feuchtes berührte seine Handflächen. Er öffnete sie und ein kieselsteingroßer Schneeball lag in seinen Händen. „Mein Erbe… als sie mich berührte, habe ich es das erste Mal richtig gespürt. Es ist noch wenig und übermäßig anstrengend aber doch… nun ja, außergewöhnlich.“
Kerry riss vor Staunen die Augen weit auf und starrte den Schneeball an. "Das ist... einfach unglaublich“, stieß sie hervor. “ Hast du die Luft dazu gebracht, sich in Schnee zu verwandeln, indem du sie abgekühlt hast?"
„Ja, so in etwa“, bestätigte er ihre Theorie und unterdrückte ein unelbisches Gähnen, „Aber es macht sehr müde. Ich würde mich dann hinlegen.“ Kerry nickte verstehend und sie verabschiedeten sich leise voneinander.  Mathan rollte sich erneut gähnend in seinem Mantel, nahe dem Lagerfeuer ein. Er war froh, dass er seine Fähigkeiten Kerry zeigen konnte, auch wenn es nur sehr wenig war. Er hoffte nur, dass keiner der anderen es mitbekommen hatte, denn er wollte nich schief angesehen werden. Nach kurzem Grübeln schlief er auch schon ein, erschöpft von der kleinen Kostprobe.

Eandril:
Oronêl träumte.

"Komm schon, Vetter", meinte Amdír. Der König von Lórinand lehnte mit verschränkten Armen am Stamm eines mächtigen Mallorn-Baumes. "Es wird alles gut gehen. Calenwen ist nicht schwächer als irgendeine andere Frau."
"Natürlich", erwiderte Oronêl schwach, und zuckte zusammen, als ein gedämpfter Schmerzensschrei aus dem Talan über ihnen erklang. Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, und sagte: "Ich sollte bei ihr sein... ihr beistehen..."
Amdír hob eine Augenbraue. "Du weißt, dass es ihre Entscheidung war. Und du weißt besser als ich, dass man die Entscheidungen deiner Frau respektieren sollte, wenn man klug ist."
"Ich weiß, aber..." Oronêl hob hilflos die Hände. "Ich weiß nicht, wie ich weitermachen soll, wenn sie... mich verlässt." Ein weiterer Schmerzensschrei, und er sank auf die Knie. "Ihr Herren des Westens, wenn ihr mich hören könnt... lasst mir meine Frau. Sorgt dafür, dass sie bei mir bleibt, denn ich liebe sie." Es kam nicht oft vor, dass Elbenfrauen bei einer Geburt starben, doch es war bereits geschehen. Oronêl hatte an Calenwens Seite sein wollen, was nicht unüblich unter den Elben Lórinands war, doch Calenwen war wie so oft anderer Meinung gewesen und hatte alle außer Elwen, Amdírs Gemahlin, von ihrem Talan verbannt.
"Sie wachen über sie", sagte Amdír ruhig, und sein Tonfall war sanft und beruhigend. "Deine Mutter hat deine Geburt überlebt, Elwen hat Amroths Geburt überstanden - und er hat es ihr wahrlich nicht leicht gemacht - und meine Mutter hat sogar drei Kinder unbeschadet zur Welt gebracht. Es wird ihr nichts geschehen."
Gerade als er ausgesprochen hatte, erschien Elwens lächelndes Gesicht über ihnen. "Komm herauf, Oronêl, und begrüße deine Tochter auf dieser Welt."
Später konnte Oronêl sich nicht erinnern, wie genau er vom Fuß des Baumes auf die Plattform des Talan hinauf gelangt war. Doch nur wenige Augenblicke später stand er oben, und nahm mit bebenden Händen das winzige Bündel entgegen, dass Elwen ihm reichte. Er betrachtete das Kind zärtlich, und spürte eine Liebe von einer Art, wie sie ihm zuvor unbekannt gewesen war. Er strich sanft mit dem Daumen durch den Flaum brauner Haare auf dem kleinen Kopf, und blickte in die geöffneten, grauen Augen.
Seine Tochter schrie nicht - die wenigsten Elbenkinder taten das - und er glaubte sogar den Hauch eines Lächelns auf dem kleinen Gesicht zu erkennen.
"Oronêl Galion", hörte er Calenwen sagen. Er liebte ihre Stimme, immer kräftig und einen Hauch tiefer als die der meisten anderen Frauen, und er wandte sich zu dem Bett um. Seine Frau wirkte ein wenig erschöpft, und doch stolz - und glücklicher, als er sie je zuvor gesehen hatte. "Gib mir meine Tochter zurück", sagte sie, und Oronêl kniete sich neben sie, und legte ihr das Kind in die Arme. Dann küsste er sie zärtlich auf die Stirn und sagte: "Das ist... vermutlich der wunderbarste Augenblick meines Lebens. Wie...
 wie soll sie heißen?"
Calenwen runzelte auf die wunderbare Weise die Stirn, wie nur sie es konnte. "Ich weiß nicht. Vielleicht solltest du ihr zuerst einen Namen geben."
Oronêl betrachtete seine neugeborene Tochter eindringlich, und dachte nach. Er spürte eine sanfte Berührung auf seiner Schulter, und bemerkte ein Mallornblatt, das von einem der Bäume hinabgefallen sein musste und nun mit der silbergrauen. Unterseite nach oben auf seiner Schulter lag.
Er wandte sich wieder seiner Tochter zu, und berührte mit dem Zeigefinger sanft ihre winzige Nasenspitze. "Du sollst... Mithrellas heißen. Siehst du diese Welt?" Mit der linken Hand machte er eine ausholende Bewegung. "Sie soll dir gehören."

Der Traum veränderte sich, obwohl Oronêl sich dagegen wehrte.

"Sie ist gegangen." Die Worte fühlten sich falsch in seinem Mund an. "Sie hat mich verlassen."
"Sie hat... es nicht länger ausgehalten", erklärte Mithrellas mühsam. "Sie konnte so nicht leben. Nicht in dem Wissen, dass..."
"Dass was?", fiel Oronêl ihr ins Wort. "Dass Amdír mir wichtiger war als sie? Ist es das gewesen? So war es nämlich nicht, denn sie war alles für mich." Er hörte sich selbst immer lauter werden, doch seine Stimme war die eines Fremden. "Doch sie wusste, was Amdír mir bedeutet hat, und er ist gestorben. Ich dachte, sie würde verstehen,
 dass ich, dass ich..."
Er konnte nicht weitersprechen.
"Mutter, sie... hat dir etwas hier gelassen", sagte Mithrellas, und in ihren grauen Augen standen Tränen - der Trauer, und der Furcht. Sie hielt ihm ein verschlossenes hölzernes Kästchen entgegen, doch Oronêl machte keine Anstalten, es zu nehmen. "Ich will es nicht." Die Worte hinterließen einen bitteren Nachgeschmack in seinem Mund. "Sie hat ihren Weg gewählt. Und du. Du hast vermutlich nicht einmal versucht, sie umzustimmen."
Mithrellas machte einen Schritt zurück. "Doch, aber ich..."
"Geh", schnitt Oronêl ihr hart das Wort ab. "Geh mir aus den Augen, ich... will dich jetzt nicht sehen."
"Vater, ich... " "GEH!" Er schrie es beinahe, und mit einem erstickten Schluchzen wandte Mithrellas sich ab und rannte unter den Bäumen davon - das Kästchen noch immer in der Hand.

Oronêl erwachte plötzlich. Sein Herz hämmerte, und er holte ein paar Mal tief Atem um sich zu beruhigen, bevor er sich leise erhob. Anhand der Position der Sterne schätzte er, dass es kurz nach Mitternacht war, und offenbar hatten auch einige andere Schwierigkeiten zu schlafen. Mathan, dessen Wache eigentlich bereits zu Ende war, lag nicht bei den anderen, doch Oronêl sah ihn auf einem großen Felsen neben Kerrys kleinerer Gestalt sitzen und hörte, wie sie leise, unverständliche Worte sprachen. Auch Ardóneth war nicht dort, sondern hatte sich leise aus dem Lager entfernt.
Da er Mathan und Kerry nicht stören wollte, ging Oronêl langsam den Pfad den sie gekommen waren ein Stück zurück. Die Nacht war klar und kühl, und tausende Sterne bedeckten den wolkenlosen Himmel. Diese Nächte waren Oronêl eigentlich die liebsten, doch sein Traum hatte ihn unruhig und rastlos werden lassen.
Er kam in ein kleines Wäldchen aus Kiefern, wo er einige Augenblicke stehenblieb, und den herben Geruch der Nadeln und des Harzes in der frischen Luft genoss. Es wirkte belebend, und der letzte Rest Müdigkeit verließ ihn. In dieser Nacht würde er vermutlich nicht mehr schlafen.
Ein leises Knacken hinter ihm weckte seine Aufmerksamkeit, und wie zuvor erkannte er Mírwen am Klang ihrer Schritte. Oronêl wandte sich zu ihr um, und sagte: "Ich habe dich also nicht verschreckt."
"Zumindest nicht für immer", erwiderte sie, und trat neben ihn. "Oronêl...", begann sie zögerlich. "Wenn du möchtest, dass ich gehe, dann... gehe ich. Ardóneth wird über den Pass nach Imladris zurückkehren, und wenn du es sagst, werde ich ihn begleiten."
Oronêl schwieg, und betrachtete sie nur. Mírwen hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Calenwen, weder vom äußeren her, noch vom Charakter. Selbst ihre Stimme klang gänzlich verschieden, und doch... Irgendetwas hatte sie an sich, was ihn unbestreitbar anzog.
Ein Teil von ihm wollte sie trotzdem fortschicken - oder gerade deshalb - doch eine andere, leise aber hartnäckige Stimme drängte ihn dazu, es nicht zu tun. Calenwen war gegangen, nicht er. Solange er noch in Mittelerde war, schuldete er ihr nichts, sagte diese Stimme. Und sie würde es verstehen. Niemand konnte sein ganzes Leben ohne Liebe verbringen oder es sich leisten, eine Liebe abzuweisen, die so freigiebig gegeben wurde.
"Oronêl?", riss Mírwen ihn aus seinen Gedanken. "Was soll ich tun?"
"Du musst tun, was du für dich am besten erachtest", antwortete er sanft. "Jedoch... ich will dir keine Versprechungen machen, und ich weiß nicht was geschehen wird. Aber mir würde es gefallen, wenn du bleiben würdest."
"Dann werde ich bleiben und dich ins Waldlandreich begleiten", erwiderte sie ohne jedes Zögern. "Was geschehen wird, wird geschehen, und was nicht geschehen soll, lässt sich ohnehin nicht erzwingen."
Sie berührte vorsichtig die Kette von Calenwens Medaillon um seinen Hals. "Das ist von ihr, nicht wahr?"
"Ja. Ein Abschiedsgeschenk."
Mírwen biss sich auf die Unterlippe. "Meinst du... glaubst du, sie würde es verstehen, wenn du... falls es das ist, was dich..."
"Was mich zurückhält?", beendete Oronêl den Satz für sie. "Es mag ein Teil davon sein. Und ich weiß nicht, ob sie es verstehen würde. Sie hat mich um Verzeihung gebeten, dass sie mich verlassen hat, und ich habe ihr verziehen. Aber... wenn sie mich ganz für sich haben wollte, hätte sie nicht nach Westen fahren sollen, nicht wahr?"
Mírwen lächelte, und er erwiderte das Lächeln. Es fühlte sich gut an.
"Ich brauche ein wenig Zeit für mich... zum Nachdenken unter den Sternen", sagte sie dann. "Vor dem Morgengrauen bin ich zurück." Sie küsste Oronêl auf die Wange, und verschwand dann mit schnellen Schritten in der Dunkelheit.
Oronêl warf noch einen Blick hinauf zum Himmel, und machte sich dann mit einem Seufzer auf den Weg zurück zum Lager.

Im Lager angekommen, sah er noch immer Kerry auf ihrem Felsen sitzen, inzwischen alleine. Ungefähr die Hälfte ihrer Wache musste vergangen sein, und er sah, wie sie ein Gähnen unterdrückte.
Oronêl kam langsam heran, wobei er ein wenig mehr Lärm beim gehen als üblich machte um Kerry nicht zu erschrecken, und lehnte sich neben ihr an den moosbewachsenen Felsen. "Du kannst schlafen gehen, wenn du müde bist", sagte er leise. "Ich bin ohnehin wach, und kann den Rest deiner Wache übernehmen - so kann ich ein wenig die Dunkelheit genießen."
"Nein, danke", erwiderte sie. "Jeder von euch anderen übernimmt seine Wache, da will ich auch meinen Teil beitragen - egal wie müde ich bin. Aber du kannst dich zu mir setzen und mir dabei helfen, wach zu bleiben."
"Das ist eine sehr ehrenhafte Einstellung", meinte Oronêl anerkennend, und kletterte mit einer raschen Bewegung auf die spitze des Felsens, sodass er neben Kerry zum Sitzen kam. "Man tut was man kann", erwiderte sie mit einem kleinen Lächeln, zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie. "Also. Du hast gesagt, du willst die Dunkelheit genießen - aber ich dachte immer, Elben würden das Licht lieben. Und dass die Dunkelheit dem Bösen gehört."
"Nun, das ist nicht ganz richtig", begann Oronêl. "Weißt du, es gibt einen Unterschied zwischen der Dunkelheit und der Finsternis. Die Dunkelheit der Nacht ist etwas ganz Natürliches, und ohne diese Dunkelheit könnten wir das Licht gar nicht wirklich wahrnehmen. Es ist richtig, dass Elben Licht lieben - doch alle Elben lieben ganz besonders das Licht der Sterne."
Er deutete nach oben, auf den sternenübersäten Nachthimmel. "Die ersten Elben erwachten an den Wassern des Cuiviénen als Elbereth die Valacirca an den Himmel hängte." Mit dem Zeigefinger folgte er der gebogenen Linie der sieben Sterne, die das Sternbild formten. "Damals gab es weder Sonne und Mond, und die Dunkelheit, die nur von den Sternen ein wenig erhellt wurde, war die Welt der Elben - wenn du Gelegenheit hast, kannst du Ivyn oder Farelyë danach fragen. Diese Dunkelheit hat nichts Böses oder Bedrohliches an sich, sondern sie bietet Frieden, Schutz und Geborgenheit. Das, was Sauron über die Welt bringen will, ist die Finsternis, die nichts mit dieser Dunkelheit zu tun hat. Die Finsternis ist die Abwesenheit von allem Licht, von allem was schön und gut ist in dieser Welt. Doch solange die Sterne am Himmel scheinen, wird die Finsternis die Welt niemals ganz beherrschen - ganz gleich, was geschehen wird."
"Das ist... irgendwie ermutigend", sagte Kerry langsam. "Ganz gleich, was für schlimme Dinge auch geschehen, die Sterne werden immer da sein. Und so lange wird Mordor niemals ganz gewinnen."
Im schwachen Licht der Sterne sah Oronêl sie lächeln. "So wie du es erzählst erscheint es mir dumm, dass die meisten Menschen Angst vor der Dunkelheit zu haben scheinen."
"Das ist etwas, das ist ebenfalls nicht so einfach verstehen konnte", meinte Oronêl. "Aber nach dem, was ich gesehen habe... der dunkle Herrscher - und sein noch dunklerer Herr vor ihm - hat es verstanden, die Nacht zu seinem Vorteil zu wenden. Seine Kreaturen sind stärker in der Dunkelheit als am Tag, und so fürchten die Menschen, was die Nacht bringen könnte, und daran tun sie recht. Doch an der Dunkelheit selbst ist nichts furchterregendes."
Er atmete tief ein, genoss die kühle Nachtluft. "In manchen Nächten scheint gar ein Hauch Magie in der Luft zu liegen. Das sind die Nächte, die ich immer geliebt habe. Es war eine solche Nacht, in der ich Calenwen geheiratet habe", schloss er leise, und blickte zu Boden. Die Schuldgefühle und die Unsicherheit kehrten zurück.
"Ist... alles in Ordnung?", fragte Kerry unsicher, und Oronêl wunderte sich über ihr Feingefühl. Er hatte keine großen Gesten gemacht, und dennoch hatte sie anscheinend sofort die Veränderung in ihm gespürt.
Er lächelte, als er antwortete: "Solange ich auch lebe, es wird immer Situationen geben, in denen ich mir keinen Rat weiß, scheint es. Ich denke, du weißt wovon ich spreche."
Kerry nickte. "Ja, ich weiß..." Einen Augenblick blieben sie still, bis Kerry sagte: "Manchmal ist es, als ob man an einer Klippe steht, und man hat nur zwei Möglichkeiten - man springt hinunter, oder man läuft davon. Wenn man springt kann man einfach abstürzen, oder aber... man schafft es zu fliegen. Und wenn man weg läuft fragt man sich vielleicht den Rest seines Lebens, ob man es nicht vielleicht hätte wagen sollen."
Oronêl lachte leise. "Wann bist du denn weise geworden, Kerry?" Kerry lächelte ebenfalls. "Ich hatte ein paar gute Lehrer - und die ein oder andere Gelegenheit, in der ich selbst solche Entscheidungen treffen musste." Selbst im schwachen Licht konnte Oronêl erkennen, wie sie errötete. "An dem Abend, als Aéd mich... geküsst... hat, zum Beispiel. Da hätte ich ihn wegstoßen können, oder weglaufen, aber... ich habe es geschehen lassen, weil ich wissen wollte, was geschieht."
Oronêl blickte zu den Sternen empor, und schwieg eine Weile. Es war merkwürdig dass Kerry, die so unendlich jung war, ihm in diesen Dingen Ratschläge gab, und trotzdem war er ihr dankbar. Und in diesem Moment wurde ihm zum ersten Mal bewusst, wie bedeutsam sie war - und auf welche Weise. Kerry würde keine großen kriegerischen Taten leisten oder einen mächtigen Feind erschlagen, niemals. Doch das war nicht die einzige Art, die Finsternis aus Mordor zu bekämpfen. Oronêl hatte es bereits bei anderen gesehen, bei Gandalf und Galadriel. Sie kämpften mit der Kraft ihrer Herzen, sorgten dafür, dass andere den Mut nicht verloren und gaben ihnen die Kraft, zu kämpfen. Und das konnte Kerry für ihre Freunde ebenfalls tun.
Schließlich legte er ihr eine Hand auf die Schulter und sagte: "Ich glaube, deine Wache ist um, Kerry. Geh und leg dich schlafen - ich werde bis zum Morgen wachen." Als Kerry vom Felsen hinunter geglitten war, fügte er hinzu: "Und Kerry - ich muss mich bei dir bedanken. Manchmal findet selbst jemand wie ich Weisheit an den unerwartetsten Orten."

Oronêl, Mathan, Ardóneth, Kerry, Mírwen, Finelleth und Celebithiel ins Tal des Anduin

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