Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Das Nebelgebirge
Der Hohe Pass
Deeman:
Was am Horizont wartet...
Bei Gromnirs Truppe...
Die Feierlichkeiten waren kurz. Gromnirs Truppe fasste sich wieder und schaute sich um was sie da eigentlich angerichtet hatten. Der Kampf war nicht annäherend so heftig wie sie in den letzten Wochen waren, die Orktruppe war auch bedeutend kleiner und man hatte den Vorteil auf seiner Seite. Gromnirs Blick fiel auf den Helm des Orksanführers und das schwarze Schwert. "Das nehmen wir mit" beschloss er während er die beiden Gegenstände aufsammelte. "Vielleicht können uns die Ältesten erzählen was es mit diesem Saruman auf sich hat...". Kurz wiegelte er mit dem Orkschwert umher und machte einige Hiebe durch die Luft. Erstaunt nickt Gromnir "Liegt gut in der Hand" brummelte er und steckte es erstmal in seinen Gürtel.
Die Nacht war nun mittlerweile hereingebrochen und es wurde unerträglich kalt. "Schauen wir uns noch etwas um, vielleicht streunen noch ein paar von ihnen hier rum". Die anderen Krieger nickten. Furin fummelte wieder an einigen Steinen herum und nickte dann ebenfalls. Im fahlen Mondlicht begutachteten sie die Lichtung und Umgebung. "Bald ist die Blutmondnacht" murmelte Gromnir leise. Kurz war er in Gedanken versunken und da war es schon geschehen, er verlor das Gleichgewicht und stolperte über etwas. Mit gerunzelter Stirn blickte er sich um. Scheinbar lag da etwas im Schnee, Gromnir nahm von einem seiner Begleiter den Speer und stocherte im Boden herum. Es war hart wie Stein, er wischte den Schnee etwas weg und nach einigen Momenten offenbarte sich eine weitere Orkleiche. "Der is nicht von uns", meinte Gromnir. Furin bestätigte "Der liegt hier schon länger". So entdeckten sie sogar ein altes Schlachtfeld wo sich einige Orks gegenseitig abschlachteten, zumindest konnte man das anhand der tiefgefrorenen Leichen erahnen.
Doch dann schien es so als wolle das Gebirge seine Geheimnisse bewahren denn Nebel stieg plötzlich auf. Die Gruppe beschloss den Weg zur kleinen Höhle zurückzugehen und bis zum Morgengrauen zu warten. "Hoffentlich geht es den anderen gut" murmelte Gromnir. Der Nebel wurde nach kurzer Dauer fast undurchdringlich, nur Narren würden unter diesen Umständen umherwandern.
So harrten die Wölfe in ihren Höhlen. In der Ferne konnte man immer wieder das Brüllen von Orks und das metallene Klirren von Waffen hören. Was auch immer in diesem Gebirge passiert, es fordert viel Blut. So dachte Gromnir.
Man organisierte sich und legte eine Wachreihenfolge fest, so ruhten die Nebelwölfe bis zum Morgengrauen, unberührt vom orksichen Treiben. Dennoch hielten sie ihre Waffen immer griffbereit.
Kurz nach Sonnenuntergang kehrte Ruhe im Gebirge ein und der Nebel lichtete sich. Der Weg wurde fortgesetzt, vorbei an den Schlachtfeldern ob alt oder neu, die sich auf dem Pass angesammelt haben. Nach einigen Biegungen und Krümmungen wurde die Straße weniger zerklüftet und breiter.
Der Truppe offenbarte sich eine saftig grüne Landschaft, durchzogen mit einigen kleinen Flüssen, bewaldeten Hügelketten und einigen Dörfern die man in der Ferne erblicken kann. Die Straße schlängelte sich die Hänge hinunter und mündete in einer breiteren Straße die sich durch die grüne Landschaft zog.
Man hatte das Ende erreicht. Doch mussten sie noch auf die Nachhut warten. So machte es sich Gromnirs Gruppe auf einer kleineren Felsformation gemütlich, einerseits den Ausblick geniessend, andererseits immer ein aufmerksames Auge zurück zum Pass.
Derweil bei Úlfrik...
Die große Hauptgruppe zwängte sich in die Höhle. "Hört ihr das?" fragte einer der Frauen. Alle Nebelwölfe lauschten in die Ferne, zu genau kannten sie die Laute die ihnen da zu Ohren kamen. Der eine oder andere musste grinsen. Úlfrik schmunzelte "Hat der junge Wolf sich ausgetobt" sprach er leicht amüsiert. Der Häuptling stellte einige Krieger zur Nachtwache während die anderen sich erholen sollten. "Wenn alles gut geht, erreichen wir morgen vor Sonnenuntergang das Ende" schätzte er ein. Durch die Zusammenarbeit mit der Vorhut und dem Wissen über die Beschaffenheit des Gebirges, wussten die Nebelwölfe welche Wege die Besten sind. Auch hier breitete sich der Nebel bis zum Morgengrauen aus.
Doch anders als Gromnirs Truppe, befahl Úlfrik noch kurz vor Sonnenaufgang aufzubrechen um die Vorhut einzuholen. Man war sich dem Risiko mehr als bewusst aber ein jeder war bereit es einzugehen.
Trauer mischte sich jedoch in die Aufbruchsstimmung, denn drei Frauen und zwei Männer, allesamt im schon im fortgeschrittenen Alter, erlagen der Kälte des Gebirges. Der Hohe Pass hatte seinen Tribut gefordert. Eine Bestattung war hier nicht möglich, die Leichname wurden lediglich abgedeckt. Dann brach die Hauptgruppe auf, ihr Weg führte ebenfalls an die Schlachtfelder vorbei.
Für alle fühlte es sich an als würden tausend Steine von ihren Schultern fallen als man Gromnir und seine Vorhut erblickte. Die Krieger fielen sich gegenseitig in die Arme. Úlfrik klopfte auf Gromnirs Schulter und blickte ins Tal hinab: "Wir haben es geschafft!" kam es voller Erleichterung. "Nun lass uns diesen verfluchten Pass hinter uns bringen". Geschlossen verließen die Nebelwölfe den Hohen Pass nach Westen und sollten bald die große Oststraße betreten.
...zur Großen Oststraße
Melkor.:
Oronêl, Mathan, Ardóneth, Celebithiel, Finelleth, Mírwen und Kerry aus der Umgebung von Imladris
Am folgenden Tag hatte die Gruppe vor, die Spitze des Passes zu erklimmen. Sie kamen nun endgültig ins Nebelgebirge und ließen die Umgebung von Bruchtal und damit Eriador hinter sich. Finelleth setzte sich erneut an die Spitze der Reisegruppe, dicht gefolgt von Oronêl. Direkt dahinter ging Mírwen. Ardóneth, der die letzte Wache gehabt hatte und daher schon etwas länger als die anderen wach gewesen war, schirmte blinzelnd die Augen gegen das Sonnenlicht auf, das von den schneebedeckten Gipfel links und rechts vom Pfad, den sie ins Gebirge hinauf folgten, reflektiert wurde. Er unterdrücke ein Gähnen und stapfte weiter. Hinter sich hörte er leise Stimmen: Mathan und Kerry, die sich auf Quenya unterhielten. Ardóneth fiel auf, dass seine junge Freundin die Elbensprache mit jedem Tag besser und fließender sprach.
Es dauerte gar nicht lange, da holte Kerry zu ihm auf und ging eine Weile neben Ardóneth her. Sie schien ihre Gedanken zu ordnen und fragte schließlich: "Was hat es mit Cairien auf sich, Ardan? Ist sie vielleicht... mehr als nur eine gute Bekannte für dich?" Ihm entging nicht, dass sie ein neckisches Lächeln im Gesicht hatte.
Ardóneth schaute sie verwundert; an lächelte jedoch schließlich. "Hmm, ich weiß es nicht," sagte er. "Finrien war schwanger als sie damals entführt wurde, und nachdem ich sie aufgegeben hatte, kümmerte sich Cairien um meine Tochter. Als ich schließlich bei Carn Dum erneut verletzt wurde, versorgte sie meine Wunden und kümmerte sich um mich."
Kerry schien mit dieser Antwort nicht sonderlich viel anfangen zu können. "Da steckt doch mehr dahinter," bohrte sie weiter nach. "Ich hab' genau gesehen, wie du sie in Bruchtal angeschaut hast. Bist du sicher, dass das schon alles war?"
"Ich weiß es wirklich nicht," gab Ardóneth wahrheitsgemäß zurück. "Finrien ist nun bereits 7 Jahre tot und das erste mal seitdem fühle ich mich... geborgen."
"Geborgen," wiederholte Kerry. "Das ist ja äußerst interessant. Ich freue mich für dich," fügte sie mit einem fröhlichen Grinsen hinzu.
"Danke," antwortete er, angesteckt von Kerrys guter Laune. "Wie sieht es eigentlich bei dir aus, Kerry? Gibt es jemanden da jemanden?"
Kerry errötete beinahe augenblicklich und gab ihm dadurch eine eindeutige Antwort. "Er heißt Aéd... und er ist der Wolfskönig von Dunland, von dem ich dir in Imladris schon erzählt habe."
"Soso, eine der Rohirrim lässt sich mit einem Dunländer ein," sagte er mit einem schelmischen Lächeln. "Sieht er denn wenigstens gut aus?"
"Natürlich," antwortete Kerry. "Sogar sehr gut. Aber es werden noch viele Tage vergehen, bis ich ihn wiedersehe, nun, da ich ins Waldlandreich reise. Und er hat so viel zu tun in seiner Heimat, nun da er diese große neue Aufgabe hat..."
Eine kurze Pause entstand, in der sie beide hinter Mírwen und den beiden Waldelben, die vor ihr liefen, den Pass hinaufstiegen. Schließlich ergriff Ardóneth jedoch erneut das Wort.
"Ich kenne dich nun bereits sehr lange, doch weiß ich nichts über deine Kindheit, Kerry. Wie war sie für dich?" fragte er.
"Hm," machte Kerry. "Ich schätze, es war eine glückliche Zeit. Ich bin in einem kleinen Dorf namens Hochborn aufgewachsen. Es liegt ganz in der Nähe der Hauptstadt Rohans, Edoras. Meine Eltern besaßen dort ein kleines, aber gemütliches Haus, und ich hatte viele Freundinnen."
"Wie war das Leben dort?" fragte Ardóneth weiter.
"Ich weiß nicht," druckste Kerry herum und es war offensichtlich, dass sie nicht allzu gerne darüber sprach. "Es war ruhig, und angenehm. Gelegentlich etwas langweilig, aber dennoch vermisse ich den Frieden, den ich damals hatte."
"Ich wuchs in Minas Tirith auf, der große Hauptstadt Gondors," erzählte Ardóneth daher seinerseits. "Mein Vater war in das Südreich gekommen, weil seine Frau - meine Mutter - das Leben unter den Waldläufern satt hatte, und in einer richtigen Stadt leben wollte."
"Von dieser Stadt habe ich bislang nur Geschichten gehört", meinte Kerry. "Erzähl mir von dort."
"Minas Tirith ist eine sehr alte, sehr große Stadt. Sie besitzt sieben Verteidigungsringe. Meine Familie lebte damals im dritten Ring der Stadt. Wir besaßen dort ein kleines Haus, das mein Vater gekauft hatte noch bevor ich geboren wurde. Ganz oben, in der Zitadelle der Stadt, liegt der Thronsaal Gondors, von dem aus der Truchsess, der Vertreter des Königs, regierte und auf dem Hof davor wuchs der Weiße Baum Gondors."
"Das klingt wunderschön," schwärmte Kerry. "Ich möchte Minas Tirith eines Tages besuchen und es mir mit eigenen Augen ansehen."
"Wenn du möchtest, könnten wir gemeinsam dorthin reisen. Doch ich schätze, die Weiße Stadt hat ihren Glanz verloren, seitdem die Diener des Dunklen Herrschers sie in ihrem Griff haben."
"Ach, das hatte ich vergessen," meinte Kerry mit plötzlicher Bedrücktheit. "Gondor wurde ja erobert...."
Ardóneth erkannte wie sich das zuvor fröhliche Gesicht Kerrys verändert hatte. "Kerry, was ist los?" fragte er nach.
"Mein Vater ritt damals mit dem König zur Rettung der Weißen Stadt aus," erzählte sie. "Doch er kehrte nicht zurück. Stattdessen kamen aus dem Osten die Orks von Mordor, die... mein Dorf niederbrannten. Mein Vater überlebte zwar, aber das habe ich erst vor Kurzem durch Oronêl erfahren."
"Das tut mir Leid, Kerry. Ich wollte diese schmerzhaften Erinnerungen nicht wieder wecken." Ardóneth wusste nicht so ganz, was er tun sollte und umarmte Kerry schließlich. "Dein Vater wird sicher nach dir suchen," fügte er hinzu.
Kerry blickte nachdenklich in die Ferne, während sie weitergingen. "So habe ich das noch gar nicht betrachtet," murmelte sie. "Natürlich würde er nach mir suchen, aber dafür müsste er wissen, dass ich am Leben bin. Der Fall Rohans und das Feuer in Hochborn sind nun schon vier Jahre her... wahrscheinlich hat er die Suche längst aufgegeben."
"Das denke ich nicht. Er wird sicher alles unternehmen, um dich wieder zu finden." antwortete Ardóneth und versuchte Kerry damit zu trösten.
Sie schwieg einen langen Augenblick und sagte dann leise: "Vielleicht hast du recht."
"Die Hoffnung nicht aufzugeben ist nie falsch," fügte Ardóneth rasch hinzu.
Vor ihnen stieg der Pfad, dem die Reisegruppe folgte, zu einem steilen Anstieg auf. Sie hatten den oberen Teil des Hohen Passes erreicht, und wagten sich nun an die Überquerung. Ardóneth hörte Kerry neben sich seufzen, als das Mädchen sah, was vor ihnen lag. "Du schaffst das schon - oder willst du dich etwa vor den Augen deines Vaters blamieren, weil du vor dem Anstieg kapitulierst?" neckte er sie lächelnd.
"Aufgeben? Kommt gar nicht in Frage!" gab Kerry entschlossen zurück und beschleunigte ihre Schritte. Rasch folgte Ardóneth ihr hinauf zur Spitze des Hohen Passes...
Eandril:
Oronêl war der erste, der das Plateau an der höchsten Stelle des hohen Passes erreichte. Sie waren jetzt hoch hoben im Gebirge, doch links und rechts von ihnen ragten die Berge noch höher in den Himmel.
"Wie es wohl wäre, dort oben zu stehen...", sagte er versonnen vor sich hin, und Finelleth, die kurz nach ihm den letzten Anstieg bewältigt hatte, schüttelte den Kopf. "Das finde nur alleine heraus. Ich bin froh, wenn wir wieder unten sind."
Oronêl warf einen Blick über das schneebedeckte Plateau, über das ein kalter Wind von Osten pfiff. "Beim letzten Mal seid ihr hier angegriffen worden, oder?"
Finelleth verzog das Gesicht und fasste sich an den Oberschenkel. "Allerdings. Damals waren wir aber nur zu dritt, und weder Irwyne noch Antien kann man als Kämpfer zählen - und das sieht man ihnen auch an. Ich hoffe, dass die Orks eine größere und besser gerüstete Gruppe wie uns in Frieden lassen." Sie warf einen bedeutsamen Blick auf Mathan, Celebithiel und Mírwen, die gerade hintereinander auf das Plateau hinaustraten. Als letzte folgten Kerry und Ardóneth. Den Menschen hatte der Aufstieg am meisten abverlangt, obwohl sie trotzdem noch ausreichend Luft zum Reden fanden.
"Du könntest recht haben", antwortete er Finelleth schließlich. "Nach der Schlacht von Carn Dûm sind beide Seiten geschwächt, und werden sich wohl eher aufeinander konzentrieren als auf uns."
"Ich hoffe es", warf Ardóneth mit einem breiten Lächeln ein. "Das wird es uns leichter machen, auch noch den Rest von Sarumans Schergen aus Eriador zu vertreiben."
"Vielleicht solltet ihr euch mit Aéd, dem neuen Wolfskönig von Dunland in Verbindung setzen", meinte Oronêl. "Er ist ein Feind Sarumans und braucht Verbündete - ich halte ihn für vertrauenswürdig, und Kerry wird mir sicherlich beipflichten..."
"Ja, ich habe davon gehört", erwiderte Ardóneth mit einem Augenzwinkern, und Kerry errötete.
"Nun, dann muss ich euch wohl nicht weiter von seinen Vorzügen berichten - das wird Kerry schon erschöpfend getan haben", meinte Oronêl mit einem möglichst unschuldigen Lächeln, und Kerry schien ihn mit ihren Blicken erdolchen zu wollen. "Das habe ich nicht getan! Ich weiß schließlich nicht, ob ich wirklich..."
"... verliebt bin?", beendete Oronêl den Satz liebenswürdig für sie. Kerry schüttelte den Kopf, und setzte sich wieder in Bewegung, wobei sie anscheinend zu sich selbst sagte: "Kümmere du dich lieber um deine eigenen... Frauengeschichten."
Oronêl seufzte, und tat so als hätte er keine Ahnung, wovon sie redete. Ardóneth blickte Kerry einen Moment hinterher, wie sie sich zu Mathan gesellte, und sagte dann: "Sie ist schon irgendwie etwas besonderes, nicht wahr? Ich kenne keinen Menschen - oder Elben - der es so schnell schafft, Freundschaft zu schließen."
"Und das trotz allem, was sie erlebt hat", meinte Oronêl leise. "Aber vielleicht ist es gerade das. Wen man alles verliert was kannte, wird man vielleicht offener gegenüber anderen." Oder man verkriecht sich für tausend Jahre in der Wildnis.
"Also", mischte Finelleth sich wieder in das Gespräch ein. "Nicht weit von hier, hinter dem Plateau, ist ein kleines Kiefernwäldchen, in dem ich letztes Mal mit Irwyne und Antien gelagert habe. Wir sollten es vor Einbruch der Dunkelheit erreichen können - wenn unsere jungen Gefährten uns nicht zurückhalten."
"Ich glaube nicht, dass Kerry uns aufhalten...", begann Ardóneth, stockte aber, als ihm klar wurde was Finelleth eigentlich gesagt hatte. "He! Mit über vierzig ist man selbst bei meinem Volk nicht mehr wirklich jung."
"Vierzig", sagte Finelleth genüsslich, und ihre Augen funkelten in gut gemeintem Spott. "Kommt wieder, wenn ihr vierhundert seid."
"Mein Mangel an elbischem Blut macht diesen Wettstreit etwas ungerecht, werte Herrin", gab der Waldläufer zurück, und verneigte sich spöttisch vor ihr. "Aber in diesem Fall werde ich vorausgehen, damit ihr sicher sein könnt, dass ich euch nicht zurückhalten werde."
Oronêl sah ihm nach, wie er durch den Schnee davonstapfte, und sagte zu Finelleth: "Vielen Dank. Nun fühle ich mich wirklich alt, wenn vierhundert für dich schon nicht mehr jung ist." Finelleth zuckte mit den Schultern: "Man sollte sich nicht für das schämen, was man ist. Immerhin hast du so viel mehr Erfahrung als alle anderen von uns."
"Was soll das werden?", fragte Oronêl, und zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. "Ich hätte ja Spott erwartet, aber nicht... Ah."
Finelleth wandte ertappt den Blick ab. "Du möchtest die unangenehme Rolle der Anführerin wieder loswerden, Faerwen? Dann solltest du dir jemand anderen suchen, der dich ablöst." Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Du wirst deine Sache gut machen, das weiß ich. Auch, wenn wir deinem Vater gegenübertreten."
Unter seiner Hand verkrampften sich bei diesen Worten die Muskeln von Finelleths Schultern, und sie schüttelte den Kopf. "Ich wünschte, ich könnte dabei so sicher sein wie du. Wenn ich ihn sehe, und mit ihm als meinem Vater, nicht als meinem König sprechen will, wird es so sein wie früher. Ich werde mich klein fühlen, nicht beachtenswert, und als Eindringling."
"Vielleicht wird das so sein", antwortete Oronêl. "Du darfst es ihn nur nicht spüren lassen, sonst wird sich niemals etwas ändern." Sie warf ihm einen unsicheren Blick zu. "Meinst du wirklich?"
"Wenn ich nach Amdírs Tod auf der Dagorlad Amroth gegenüberstand, fühlte ich mich jedes Mal wieder dafür verantwortlich, dass sein Vater gestorben und er die ungeliebte Herrschaft übernommen hatte. Aber ich ließ es ihn nie spüren, denn auch wenn er mir lange verziehen hatte: Hätte er um meine Gefühle gewusst, hätte er vermutlich begonnen zu zweifeln, und es hätte früher oder später einen Keil zwischen uns getrieben. Und wenn du deinem Vater offen und fest gegenüber trittst, als seine Tochter und Erbin, ihn deine Unsicherheit nicht spüren lässt, dann wird er gar nicht anders können, als dich so wahrzunehmen und zu behandeln."
"Ich... weiß nicht ob ich das kann", meinte Finelleth langsam, und Oronêl seufzte. "Das wissen wir nie im Voraus. Wir können es nur versuchen, und unser Bestes geben." Er schenkt ihr ein aufmunterndes Lächeln, und sagte mit nur leichtem Spott: "Also los, große Anführerin Faerwen. Geh' voran."
Als Finelleth über den Schnee davonging um sich an die Spitze der Gruppe zu setzen, bemerkte Oronêl, wie Mírwen ihr einen wenig freundlichen Blick hinterher warf. Er stöhnte innerlich auf, und ging dann langsam, mit zögerlichen Schritten zu der jungen Elbin hinüber. "Mírwen, es... ist nicht so, wie du glaubst." Ein Teil von ihm fragte sich, was er hier tat. Er hegte keine Absichten in Bezug auf Mírwen, wozu sie dann noch ermutigen? "Finelleth... ist eine gute Freundin und sie ist mir teuer. Doch sie ist wie eine Schwester für mich, die ich nie hatte. Nichts anderes." Vielleicht sollte er Calenwen erwähnen, um die Hoffnungen, die sie hegen mochte, im Keim zu ersticken.
"Oh", erwiderte Mírwen, und eine feine Röte überzog die helle Haut ihrer Wangen. "Ich wollte nicht... also, ich meinte nicht, dass..." Sie schüttelte den Kopf, und eilte wortlos davon. Oronêl blieb allein zurück, den Blick in den Himmel gerichtet, an dem dunkle Wolken heranzogen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er seine Lage gerade noch komplizierter als vorher gemacht hatte, und ärgerte sich über sich selbst - es wäre schließlich so einfach zu vermeiden gewesen.
Schließlich - die anderen waren bereits mehr als hundert Meter voraus - setzte er sich langsam wieder in Bewegung. Die Wolken, die von Osten herantrieben sahen nach Schnee aus, und vielleicht würden irgendwelche Orkbanden dann einen Angriff auf sie wagen. Ein kleiner Kampf würde ihm gut tun, und seine Gedanken zumindest für einige Zeit ablenken.
Fine:
Kerry war einige Zeit neben Mathan hergelaufen und hatte hin und wieder einige Worte mit ihrem Vater gewechselt; doch sie merkte deutlich, dass er noch immer seinen eigenen Gedanken nachhing. Sie wollte ihm nicht auf die Nerven fallen, weshalb sie sich kurze Zeit später wieder zu Ardóneth gesellte, der den Elben an der Spitze der Gruppe mit leichterem Schritt als noch zuvor folgte, da es nun stetig bergab ging. Sie hatten das Plateau an der höchsten Stelle des Hohen Passes hinter sich gelassen, und begannen nun den langen Abstieg auf die andere Seite, nach Wilderland hinein.
"Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, Ardan, aber..." begann Kerry, doch der Dúnadan unterbrach sie mit einer Handbewegung.
"Ich bin nicht blind, Kerry. Genausowenig wie Oronêl. Ich glaube, die einzigen, die sich noch nicht im Klaren darüber sind, was da ganz offensichtlich vor sich geht, sind Finelleth und Mírwen. Ich dachte nicht, dass Elben so..."
"Was meinst du?" fragte Kerry neugierig nach.
"Es ist nichts. Ich meinte nichts damit," gab Ardóneth mit einem schnellen Kopfschütteln zurück. "Mich überrascht nur, wie anders diese Elben sich verhalten. Die meisten von ihrer Art sind eher... nun, ich hatte vielleicht einfach etwas anderes erwartet."
"Hm," machte Kerry. Sie war nun schon sehr weit in Begleitung vieler Elben gereist, und hatte durchaus gesehen, dass die Erstgeborenen nicht immer nur ernst und würdevoll waren. Dennoch hatte Mírwens Verhalten auch Kerry unvorbereitet getroffen. Sie hatte sich ein wenig ertappt gefühlt, denn so offensichtlich wie Mírwen Oronêl nachlief, hatte es Kerry selbst einst bei Rilmir getan, auch wenn dieser sich ihrer Verliebtheit deutlich weniger bewusst gewesen war, als es Oronêl nun war.
Kerry verfiel in ein nachdenkliches Schweigen und stapfte grübelnd hinter Ardóneth her. Soll ich mit Mírwen sprechen? überlegte sie. Ihr fiel ein, wie sie sich mit Irwyne über den gescheiterten Versuch unterhalten hatte, Oronêl und Finelleth zusammenzubringen, und schloss daraus, dass alle Hoffnungen, die Mírwen sich womöglich machte, von Beginn an zum Scheitern verurteilt waren. Oronêl würde sich auf keine Beziehung einlassen, so viel stand fest. Aber wie bringt man es ihr am besten bei? Sie würde augenblicklich jeglichen Grund verlieren, mit unserer Gruppe zu reisen, wenn es stimmt, dass sie nur wegen Oronêl dabei ist, dachte Kerry. Was, wenn sie sich so sehr aufregt, dass sie etwas Dummes tut? Was wenn sie alleine in die Wildnis davonrennt? Sie beschloss, bis zur Überquerung des Passes zu warten, ehe sie mit Mírwen sprach, und dachte sogar darüber nach, erst innerhalb der sicheren Grenzen des Waldlandreiches über das Thema zu reden. Aber wie lange wird sich Oronêl die Annäherungsversuche noch gefallen lassen? Was, wenn es zum Streit kommt?
Sie war so vertieft in ihren Überlegungen, dass Kerry nicht mitbekam, wie Ardóneth unvermittelt stehen blieb. So schreckte sie erst aus ihren Gedanken hoch, als sie mit dem Gesicht gegen Ardóneths Rücken stieß.
"Was ist los? Warum bist du stehengeblieben?"
Doch Ardóneth gab keine Antwort. Wachsam blickte er sich um, die Hand am Schwertgriff. Auch Mathan hatte rasch zu ihnen aufgeschlossen und seine beiden eisblauen Klingen bereits gezogen. Die übrigen Elben hatten ihre Gespräche unterbrochen und standen nun in einer Gruppe wenige Schritte unterhalb von Kerrys Position.
Die plötzliche Stille wurde von rauen Stimmen unterbrochen, die von weiter unten kamen. Hinter einer Biegung des Passes kamen mehrere Orks zum Vorschein.
"Feinde im Anmarsch!" rief Celebithiel warnend und reckte ihr Schwert in die Höhe.
"Hinter mich, Ténawen," befahl Mathan seiner Tochter, und Kerry gehorchte rasch. Ardóneth nickte ihr aufmunternd zu, und sie zog ihr Schwert, vorsichtig einen Blick an Mathans imposanter Gestalt vorbei riskierend. Unten waren weitere Orks aufgetaucht. Sie konnte jedoch nicht erkennen, wie viele es insgesamt waren.
"Ich kann nicht glauben, dass sie uns wirklich angreifen," ertönte Finelleths Stimme. "Das ist Selbstmord."
Mathan machte mehrere Schritte in Richtung der Feinde, und Kerry folgte ihm. Jetzt konnte sie sehen, dass es nicht mehr als ein Dutzend Orks waren, die sich gerade mit gezogenen Waffen auf Celebithiel und Oronêl stürzen wollten, die die vorderste Reihe bildeten.
Es surrte zweimal, und zwei Orks stürzten der Länge nach hin. Ein Armbrustbolzen Mírwens und ein Wurfmesser Finelleths hatten sie gefällt. Und dann war Mathan mit einem raschen Satz mitten unter ihnen und begann, die Orks einen nach dem anderen niederzumachen. Kerry hielt etwas Abstand und beobachtete mit einer seltsamen Faszination das Gefecht, dem sich auch Oronêl und Celebithiel mit blitzenden Klingen anschlossen. Ardóneth hatte sich neben ihr auf das rechte Knie niedergelassen und schoss einen gut gezielten Pfeil auf den Anführer der Orks ab, dessen Kehle davon durchbohrt wurde.
Und dann war alles vorbei. Finelleth hielt ein ungeworfenes Wurfmesser zwischen zwei Fingern und sagte: "Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, das dritte Messer zu werfen." Ihr Tonfall war von Enttäuschung geprägt.
"Ich habe euch allen mit meiner Armbrust Deckung gegeben," sagte Mírwen stolz. "Drei dieser Scheusale habe ich gefällt." Dann lief sie hinunter zu Oronêl, der gerade gemeinsam mit Mathan die Leichen der Orks inspizierte. Ehe er reagieren konnte, fiel sie ihm um den Hals. Kerry kam einige Schritte näher, um zu verstehen, was die Elbin sagte. "Bist du verletzt?" fragte Mírwen, ohne Oronêl loszulassen, dem das Ganze offensichtlich ein wenig unangenehm war.
"Es geht mir gut, danke der Nachfrage," sagte er. "Wir sollten herausfinden, wem diese Orks dienen, und..."
"Das ist einfach," unterbrach Celebithiel ihn. "Sie tragen die Weiße Hand auf ihren Rüstungen und Helmen, und die steht für Saruman."
"Und es sieht so aus, als kämen sie gerade aus einem Gefecht gegen andere Orks," sagte Mathan. "Dieser hier hat einen Pfeil in seinem Schild stecken, der ebenfalls von Orks gefertigt wurde. Sie kämpfen hier im Gebirge also noch immer gegen die Orks vom Gundabadberg."
"Die Sauron dienen," ergänzte Ardóneth.
"Das ist gut für uns," sagte Finelleth. "Sonst wären wir vielleicht auf eine größere Gruppe Orks getroffen."
Oronêl hatte sich inzwischen aus Mírwens Umarmung befreit und sagte: "Wir sollten rasch weitergehen, ehe noch mehr von ihnen auftauchen."
"Oronêl hat recht," stimmte Mírwen rasch zu.
Also gut, dachte Kerry während sie es nur gerade eben noch unterdrücken konnte, die Augen zu verdrehen. Planänderung. Sie riss den linken Arm hoch während sie dachte: Ich werde jetzt für Klarheit sorgen! So entschlossen hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt.
"Worauf zeigst du, Kerry?" fragte Celebithiel und Kerry schreckte auf.
"Äh - da oben, seht ihr? Keine Wolken," sagte sie hastig. "Gutes Wetter für einen schnellen Abstieg!" Ihre Wangen hatten sich deutlich erwärmt, was natürlich nicht am Wetter lag.
Celebithiel bedachte sie mit einem verwunderten Blick, nickte dann aber. "Ich bin auch froh, dass es nicht regnet."
Weiter vorne hatte sich Finelleth gerade in Bewegung besetzt. Der Abstieg ging weiter.
Während sie dem sich durchs Gebirge windenden Pfad weiter folgten suchte Kerry nach einer Gelegenheit, alleine mit Mírwen zu sprechen. Diese bot sich ihr schließlich, als sie eine Stunde später eine kurze Rastpause einlegten und Oronêl zwischen den Büschen, die hier bereits zu wachsen begannen, verschwand. Kerry war sich sicher, dass Mírwen ihm dabei nicht folgen würde. Also ergriff sie die Elbin am Arm, die etwas unschlüssig herumstand, und zog sie beiseite, bis sie außer Hörweite der Reisegruppe waren.
"Was soll denn das, Kerry?" wollte Mírwen verärgert wissen als Kerry angehalten hatte.
"Du liebst Oronêl, aber er hat eine Frau, die zwar schon in den Westen gefahren ist, aber er liebt sie noch immer!" platzte Kerry mit der Wahrheit heraus. Sie hatte keine Lösung dafür gefunden, die Situation Mírwen schonender beizubringen, und sie hatte das starke Gefühl, dass es jetzt höchste Zeit für die junge Elbin war, die Wahrheit zu erfahren. "Ihr Name ist Calenwen, und sie hat Oronêl eine Tochter geschenkt, die mit meiner Freundin Irwyne nach Dol Amroth gefahren ist," fuhr Kerry rasch fort.
Mírwen starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. "Weshalb erzählst du mir das?" stieß sie hervor. "Ich..."
"Es ist doch offensichtlich, was du dir von Oronêl erhoffst."
"Ist es das wirklich?" meinte Mírwen und blickte betroffen zu Boden. "Ich dachte, er..."
"Ich weiß auch nicht, warum er es dir nicht gleich gesagt hat. Sei lieber dankbar! Ich rette dich davor, einen großen Fehler zu machen!"
Mírwen gab darauf keine Antwort. Sie ließ Kerry einfach stehen und ging schweigend zum Rest der Gruppe zurück.
Was war das denn jetzt? War das gut? Oder schlecht? Habe ich alles noch schlimmer gemacht? Kerry blieb einen Augenblick verwirrt stehen, bis Mathan zu ihr aufschloss.
"Weißt du, Ténawen, ich glaube, ich kann mich wirklich glücklich schätzen, schon so lange glücklich mit deiner Mutter zusammen zu sein," sagte er mit einem seltenen Lächeln.
"Oh, das glaube ich auch, Ontáro," stimmte Kerry zu. "Liebe ist so kompliziert..."
Eandril:
Sie schlugen das Lager für die Nacht einige Wegstunden hinter dem höchsten Punkt des Passes auf. Der Pfad schlängelte sich hier zwischen zwei mächtigen Berggipfeln hindurch, und die waren noch immer weit oberhalb des Anduintals. In dieser Höhe lag noch immer Schnee, obwohl zwischen den Steinen bereits vereinzelte Büsche und verkrüppelte Bäume wuchsen. Finelleth meinte dazu: "Auf dem Hinweg lag in dieser Höhe kein Schnee. Gut, dass wir so rasch aus Imladris aufgebrochen sind, sonst hätte er uns womöglich den Weg versperrt."
Niemand hatte den kurzen Kampf mit den Orks vergessen, deshalb stellten sie in der Nacht Wachen auf. Oronêl hatte Celebithiel abgelöst als der Mond hinter dem Horizont versank. Er saß auf einem moosbewachsenen Felsen ein Stück entfernt von dem Wäldchen aus niedrigen Kiefern, in dem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, und blickte hinaus in die Nacht. Er glaubte nicht, dass sie in Gefahr waren, denn die Gruppe vorhin waren sicherlich nur Versprengte irgendeines Kampfes zwischen Saurons und Sarumans Orks gewesen, und dennoch... in diesen Zeiten war es besser, vorsichtig zu sein.
Oronêl wandte sich nicht um, als er leise Schritte hinter sich hörte. Er wusste, es konnte nur Mírwen oder Celebithiel sein. Für Finelleth waren die Schritte zu laut, für Mathan ein wenig zu leise, und für Kerry und Ardóneth erst recht. Und da er Celebithiel gerade erst abgelöst hatte, war es vermutlich Mírwen, unter deren Stiefeln der Schnee leise knirschte. Oronêl atmete tief durch, und bereitete sich innerlich auf das Kommende vor.
Mírwen setzte sich stumm neben ihm auf den Felsen, und ihr rotes Haar streifte seine Schulter. Nach einem Moment der Stille - hier in den Bergen waren keine Nachtvögel oder andere Tiere unterwegs - sagte sie leise: "Kerry hat mit mir gesprochen."
"Worüber?", fragte Oronêl, obwohl er ahnte, worum es ging. "Sie hat mir die Wahrheit erzählt, von deiner... Calenwen." Mírwens Stimme schwankte ein wenig. "Ich dachte, wenn du eine Frau hattest, wäre sie vielleicht tot und du erzählst deshalb nicht davon. Aber... Warum hast du nichts gesagt?"
Oronêl blickte einige Zeit stumm in die Nacht. Auf den Berggipfeln glänzte schwach der Schnee, und darüber leuchteten die Sterne. "Ich weiß nicht", gab er schließlich zu. "Ich liebe Calenwen noch immer, habe ihr verziehen, dass sie mich verlassen hat - vielleicht hat Kerry das auch erzählt."
"Hat sie", erwiderte Mírwen, und wieder schwiegen sie eine Weile. Dann sah Oronêl sie zum ersten Mal an, und fragte: "Warum bist du gekommen, Mírwen? Was erhoffst du dir von mir?"
"Ich...", begann sie stockend, und ihre blauen Augen glänzten verdächtig. "Ich weiß es selber nicht genau - oder vielleicht doch? Ich habe mich in dich verliebt, Oronêl. Ich habe es nicht gewollt, ich habe es nicht geplant, aber es ist einfach so passiert."
"Wie das mit der Liebe so ist", meinte Oronêl langsam. "Seit wann, Mírwen?" Seine junge Gefährtin zuckte mit den Schultern. "Das weiß ich nicht genau. Vielleicht seit Fornost? Aber wirklich bewusst war ich mir dessen erst in Lindon. Es war schmerzlich, dich und Finelleth zu sehen, wie vertraut ihr seit Fornost miteinander umgingt. Ich dachte ja, dass..." Sie wandte den Blick ab. "Und dann, als du vorhin gesagt hast, wie es wirklich ist, da... da dachte ich, dass vielleicht... vielleicht Hoffnung besteht. Für mich. Für uns."
"Du weißt jetzt, wie die Dinge wirklich stehen", sagte Oronêl. "Also warum bist du jetzt gekommen?"
"Um dir bittere Vorwürfe zu machen, weil du mich getäuscht hast? Um zu fragen, warum du mir das verschwiegen hast?", schlug Mírwen vor, und ihr spöttischer Tonfall täuschte Oronêl keine Sekunde lang. "Oder vielleicht, weil es einen Grund dafür geben muss?"
Oronêl schwieg, denn sie hatte ins Schwarze getroffen - auch, wenn er sich über diesen Grund selbst nicht sicher war. "Wenn ich an eine Frau denke, die ich liebe", begann er. "Dann denke ich sanfte braune Augen, nicht an fröhlich funkelnde blaue. An hellbraune Locken, nicht an ein feuriges Rot. Ich denke an Calenwen, nicht an dich." Mírwen rückte bei diesen Worten unwillkürlich ein Stück von ihm weg, und er lächelte bitter. "Ich wollte dir nicht wehtun, Mírwen, doch das habe ich auch so getan. Vielleicht wäre ein kurzer Schmerz besser gewesen als ein langes Leiden voller unerfüllter Hoffnung - Kerry scheint das erkannt zu haben. Aber..." Mírwen hob den Blick, und sah ihm direkt in die Augen. Oronêl atmete tief durch, betrachtete das ebenmäßige, junge, von roten Haarsträhnen eingerahmte Gesicht, auf dem das Leben noch so wenige Spuren hinterlassen hatte. "Vielleicht ist die Wahrheit auch, dass ich mir meiner Sache nicht sicher war."
"Das ist ein Silberstreif am Horizont", flüsterte Mírwen, und küsste ihn. Oronêl wehrte sich nicht, sondern ließ es geschehen. Einige herrliche Augenblicke. Es war so lange her...
Dann löste er sich sanft, zog sich zurück und schüttelte den Kopf, bedauernd. "Es tut mir Leid, Mírwen. Es geht nicht."
Mírwen blickte ihn an, und blinzelte einige Male rasch hintereinander. Dann sprang sie auf, und eilte in die Dunkelheit davon.
Oronêl blieb alleine auf dem Felsen sitzen, und blickte zu den Sternen hinauf. "Falls die Geschichten wahr sind...", flüsterte er, und sah einen besonders hellen Stern am westlichen Himmel, der durch eine Lücke zwischen zwei Berggipfeln schien, an. "Falls du mich sehen und hören kannst, Earendil, und falls du tagsüber nach Valinor zurückkehrst... bitte sag Calenwen, dass es mir leid tut."
Er wusste nicht, was er wirklich fühlte. Er war sich ziemlich sicher, dass er Mírwen nicht liebte, jedenfalls nicht auf diese Weise. Aber was war es dann? Mitleid, Sehnsucht? Er wusste es nicht, und auch als einige Stunden später Ardóneth kam, um die Wache zu übernehmen, hatte er noch keine Antwort gefunden.
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