Gandalf, Belen, Kerry und Rilmir mit dem Sternenbund aus dem AuenlandZwei Tage waren sie in aller Stille nach Norden gereist. Das Auenland hatten sie hinter sich gelassen und waren in die Lande nahe des Abendrotsees gelangt. An der alten Stadt Annúminas kamen sie vorbei, betraten sie aber nicht. Im Gegensatz zu Fornost hatten sich dort bisher keine Flüchtlinge angesiedelt. Die Stadt war nach wie vor leer. Die Gruppe reiste am Westufer des großen Sees weiter und ließ die Stadt Elendils hinter sich. Kerry nahm sich vor, sie sich eines Tages in Ruhe ansehen, wenn all das - der Krieg und die Bedrohung durch Sauron - vorbei wäre.
Nur ein Dutzend Waldläufer des Sternenbundes begleitete sie noch, denn einige waren auf Belens Befehl im Auenland geblieben um den Thain - Pippins Vater - und die Grenzer beim Schutz des Gebietes gegen Eindringlinge zu unterstützen. Sie bildeten die Hobbits so gut es ging in ihren Methoden der Kriegsführung aus. Eine weitere kleine Gruppe Dúnedain war zur Sarnfurt gegangen um dort Wacht zu halten und falsche Spuren zu legen während eine dritte Gruppe die letzten Diener Sarumans im Auenland jagte. Belen plante, sie später vor den Mauern Fornosts wieder zusammen zu bringen.
Die Bäume standen immer dichter beieinander, je weiter sie nach Norden kamen. Das Gelände wurde hügelig und stieg nach Westen hin an. Dort erhoben sich die Emyn Uial, die Berge am Abendrotsee. Sie waren zu Fuß unterwegs, machten jedoch nur selten eine Pause. Doch keiner beschwerte sich, denn selbst Kerry war lange Wanderungen inzwischen gewöhnt und genoss die Möglichkeit, neue Gegenden zu besichtigen. Das Wetter blieb nach dem Regen im Auenland gut und schenkte ihnen milde Temperaturen und viel Sonnenlicht, was für einigermaßen gute Laune in der Gruppe sorgte.
Am Nachmittag ließ Belen die Gruppe in einem kleinen Tal, durch das ein Bach in Richtung See plätscherte anhalten. "Wie die meisten von euch wissen sind wir nun fast am Ziel," erklärte er leise. "Die Feste der Erben Isildurs liegt gleich hinter dem Bergkamm an dessen Fuß wir jetzt stehen. Wir werden uns von hinten anschleichen - durch Faeriëns Pforte."
Die Dúnedain nickten verstehend. Sie kannten den Durchgang, von dem Belen sprach, offenbar gut. Doch für Kerry verhielt es sich anders. "Was ist das für eine Pforte?" fragte sie nach.
"Auf der Rückseite der Feste ist ein kleiner Turm, der über den hinteren Kamm nach Westen blickt," erklärte Belen. "Ganz oben gibt es einen Balkon, der über einen Durchgang mit dem Turm verbunden ist - Faeriëns Pforte. Wir können mit etwas Geschick und einem guten Seil den Kamm erklettern und von dort aus den Turm erreichen. Viele von uns haben diese Strecke in jungen Jahren als eine Art
Mutprobe überwunden. Man sollte... besser nicht nach unten sehen."
Sie umrundeten vorsichtig den Bergkamm und wandten sich dann nach Westen. Vor ihnen ragte die Steilwand beinahe senkrecht empor. Über dem oberen Ende, weit über ihren Köpfen, konnte Kerry die Spitze des Turms aufragen sehen.
Da sollen wir hoch? Das ist doch Irrsinn!Doch niemand äußerte Einwände gegen Belens Plan.
Sie vertrauen ihrem Anführer, stellte Kerry fest.
Und so begannen sie den Aufstieg, einer hinter dem anderen. Die erfahrensten Waldläufer kletterten voraus und zeigten den Nachfolgenden, an welchen Stellen sie sich festhalten konnten. Kerry kletterte direkt hinter Rilmir, der ihr zuzwinkerte und leise sagte: "Nur einer von zehn stürzt ab, Kerry. Keine Sorge also, du bist schließlich nur die Neunte."
Sehr witzig, dachte sie und schoss ihm einen finsteren Blick zu während sie ihm angestrengt die Wand hinauf folgte. Hinter ihr kam der Rest der Waldläufer, die sich gegenseitig beim Aufstieg halfen.
Eine quälende halbe Stunde später hatten sie schließlich alle die Spitze erreicht. Nach Osten hin lag die Feste der Dúnedain unter ihnen, denn sie befanden sich jetzt auf der Höhe des kleinen Turms, der direkt am Berghang stand. Fünf Meter Luftlinie trennten sie noch von der Platform, die Belen beschrieben hatte - Fünf Meter, die über einen tiefen Abgrund lagen, denn der Turm berührte nur an seinem Fundament die Bergflanke.
Glücklicherweise wussten die Dúnedain, was sie taten.
Das war einst ihr Zuhause, erkannte Kerry.
Sie sind diesen Weg schon einmal gegangen. Einer der Waldläufer band sein Seil zu einer Schlaufe und warf sie zielgenau an einen einzelnd stehenden Pfeiler, der aussah als wäre er genau zu diesem Zweck errichtet worden als sich die Schlaufe um seine Spitze legte und fest zuzog. Das Seil wurde an einem Felsen auf ihrer Seite befestigt und der Dúnadan der es geworfen hatte kletterte geschickt hinüber. Drüben angekommen band er ein zweites Seil fest und warf ihnen das Ende zu. Sie spannten es in Höhe des Oberkörpers, so dass alle den Abgrund relativ einfach überqueren konnten indem sie sich am oberen Seil festhielten und auf dem unteren Seil vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzten. Zwar schwankte die behelfsmäßige Brücke bei einigen gewaltig, doch die Seile hielten.
Kerry hielt sich nicht an Belens Rat und hielt den Blick starr nach unten gerichtet während sie den Abgrund vorsichtig überquerte. Drüben angekommen stellte sie fest, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Sie war froh, dieses Hindernis hinter sich zu lassen.
"Wo ist Gandalf?" sagte Kerry leise in die Stille hinein. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Zauberer nicht mit ihnen den Berg hinauf geklettert war. Alle blickte sie sich ratlos um. Keiner schien bemerkt zu haben, wann er verschwunden war.
"Mithrandir hat gewiss einen Plan," mutmaßte einer der Waldläufer. "Ihr werdet es sehen."
Na da bin ich ja mal gespannt, dachte Kerry.
Die meisten Dúnedain waren nach dem Überqueren des Abgrunds gleich ins Innere des Turmes verschwunden. Kerry durchquerte die Pforte und fand sich in einem kleinen, runden Raum wieder, aus dessen Fenstern man einen guten Blick über den Abendrotsee und die Ruinen von Annúminas hatte. Eine Wendeltreppe führte weiter nach unten. Rilmir folgend stieg sie die Treppe hinab und kam nach mehreren Minuten in ein Zimmer, das am Boden des Turmes lag. Weiter nach unten ging es nicht. Belen sagte: "Macht euch bereit!" und seine Männer zogen ihre Schwerter. Dann stießen sie die Türe auf und stürmten in den Innenhof der Feste.
Der Kampf war einseitig und schnell vorbei. Nur ein Dutzend dunländisch aussehende Menschen waren als Besatzung anwesend gewesen und hatten ihre Aufmerksamkeit auf das Tor, das nach Osten hin lag gerichtet. Darauf vertrauend dass die Wachposten am Tor sie rechtzeitig warnen würden wurden sie durch den Überraschungsangriff von hinten überrumpelt. Bis auf einen, der der ihr Anführer zu sein schien, ließen die Dúnedain niemanden von ihnen am Leben. Belen wollte den Gefangenen später verhören, doch zunächst musste das Tor gesichert werden. Sie durchquerten den kleinen Hof, umrundeten das alte Herrenhaus - und standen Gandalf gegenüber, der auf einer Bank neben dem Tordurchgang saß und seine Pfeife entzündete.
"Wo bist du denn gewesen, Gandalf? Du warst mit einem Mal verschwunden!" sagte Kerry vorwurfsvoll.
"Oh, Mädchen, die Kletterei wäre nichts für mich gewesen. Ich war mir sicher, dass ihr auch ohne mich keinerlei Probleme haben würdet."
Kerry lachte und einige der Dúnedain stimmten mit ein. "Ein Glück, dass du Recht behalten hast!" sagte Kerry. "Ich hätte es dir übel genommen, wenn wir wegen dir Schwierigkeiten bekommen hätten."
"Schwierigkeiten? Nein, nein. Die Dúnedain kennen diesen Ort in- und auswendig. Schwierig wird es erst werden, wenn wir uns die größeren Stützpunkte vornehmen. Hierbei ging es mehr darum, ein Zeichen zu setzen." Er zeigte zu Belen hinüber, der andächtig vor dem großen Herrenhaus stand. "Die Feste der Erben Isildurs ist nun wieder in der Hand ehrenhafter Nachfolger. Ich hoffe, zumindest einige der Verblendeten werden daran erkennen, dass Saruman sie täuscht und in die Irre führt."
Das hoffe ich auch, Gandalf, dachte Kerry. Sie hoffte, sie würde nie mitansehen müssen, wie Rilmir die Waffe gegen einen seiner Brüder erheben musste...