Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Lindon
Die Grauen Anfurten
Eandril:
"Ich habe lange Zeit auf deine Ankunft hier in Lindon gewartet, Oronêl", sagte Círdan. Oronêl hatte den Herrn der Anfurten während eines Erkundungsganges durch Mithlond getroffen, und gingen sie langsam über eine der großen Brücken, die den Lhûn überspannten in die Richtung des Palastes, den Círdan seit einem Zeitalter bewohnte.
"Ihr wusstet, dass ich kommen würde", stellte Oronêl fest, und Círdan lächelte. "Die meisten Elben Mittelerdes kommen früher oder später nach Lindon. Einige nur für kurze Zeit bevor sie in die Welt zurückkehren, andere länger, und wieder andere... gehen weiter." "Wie meine Eltern", meinte Oronêl. "Ich war eine lange Zeit wütend auf sie, dass sie gegangen sind."
Círdan seufzte. "Ich habe ihnen abgeraten, als sie kamen und mich um ein Schiff baten. Ich wusste, dass sie einen Sohn hatten, der es nicht verstehen würde, aber... Sie sehnten sich nach Frieden."
"Zu dieser Zeit hatte Mittelerde Frieden", sagte Oronêl, und schüttelte den Kopf. "Ich habe ihnen verziehen, aber... verstanden habe ich es auch zwei Zeitalter später noch nicht. Ich habe Zeiten des Friedens in Mittelerde erlebt und Zeiten des Krieges und der Dunkelheit, doch niemals habe ich das Bedürfnis verspürt, einfach fortzugehen."
"Niemals?", fragte Círdan, und sah ihn durchdringend an. Oronêl senkte den Blick, denn es war nicht die Wahrheit gewesen. Zwei Mal hatte er sich gewünscht nach Westen zu segeln, und Mittelerde hinter sich zu lassen. Das erste Mal, als er nach Lórien zurückgekehrt war und Calenwen fort gewesen war, und das zweite Mal, als er geglaubt hatte, durch seine Schuld alles verloren zu haben, als er am Hafen von Edhellond stand und von Amroths Tod hörte.
Und, gestand er sich ein, es gab ein drittes Mal. "Ein Teil von mir ist müde", gestand er schließlich. "Er möchte diese Welt verlassen, nach Westen gehen, mit seiner Frau vereint sein..." Oronêl hob den Blick wieder. "Doch so sehr dieser Teil von mir sich das auch wünscht, ich werde nicht gehen. Ich habe noch etwas zu tun, und es ist nicht nur das... Es gibt neben all der Dunkelheit auch viel Gutes in dieser Welt, dass ich noch nicht zurücklassen möchte."
"Es ist, wie ich gedacht habe", erwiderte Círdan, während sie die flachen, hellen Stufen zum Palast emporstiegen. An der Spitze eines der Türme wehte auch jetzt noch die Flagge Gil-Galads, über dreitausend Jahre nach seinem Tod, zum Andenken an das Opfer des letzten Königs der Noldor. Und auch wenn Gil-Galad nicht sein König gewesen war, neigte Oronêl aus Respekt den Kopf vor dem Banner, denn ohne Gil-Galad wäre Mittelerde bereits ein Zeitalter zuvor endgültig unter Saurons Schatten gefallen.
Er folgte Círdan durch die hohen, hellen Flure des Palastes bis sie einen von der Abendsonne durchfluteten Raum erreichten, in dem mehrere Truhen und mit allem möglichen gefüllte Regal standen. Vor einer mit einem in das Holz geritzte Mallornblatt gekennzeichneten Truhe blieb Círdan stehen, öffnete sie und nahm ein längliches, in Leder gewickeltes Paket heraus.
"Dies hat deine Mutter hiergelassen, als sie nach Westen fuhr", sagte er, als Oronêl das Paket langsam entgegennahm. "Dort wo sie hinfuhr brauchte sie es nicht mehr, aber sie dachte, du könntest dafür Verwendung finden."
Oronêl streifte das Leder ab, und brachte einen elegant geschwungenen Bogen mit einem kunstvoll verzierten Köcher zum Vorschein. Seine Finger schlossen sich fest um den Griff aus jahrtausendealtem Holz aus einem Land, das nicht mehr existierte. "Ich habe meinen Bogen in Lórien verloren...", sagte er langsam. Diese Waffe hatte seiner Mutter gehört, auch wenn sie sie niemals benutzt hatte. Der Bogen war im alten Doriath gefertigt worden bevor es unterging. Obwohl er sich umgewöhnen würden müsste, den Bogen mit nur drei Fingern zu halten, fühlte sich der mit Leder überzogene Griff in seiner Hand gut an.
"Glaubt ihr, sie hat gewusst dass ich kommen würde, aber nicht um nach Westen zu fahren?", fragte er, und Círdan, der die Truhe inzwischen wieder geschlossen hatte, antwortete: "Das kann ich dir nicht beantworten, aber Nellas war... eine Frau, die vieles im Voraus sehen konnte." Er seufzte, und führte Oronêl zu einem der Fenster des Raumes, dass auf den abendlichen Golf hinausblickte. "Du sagtest, du verstehst bis heute nicht, dass deine Eltern gegangen sind."
Oronêl nickte stumm, während seine Linke gedankenverloren über das Holz des Bogens strich.
"Ich war dabei, als Ardir in Eglarest geboren wurde, denn sein Vater Hirluin war ein guter Freund von mir", erklärte Círdan. "Ich sah zu, wie Ardir in die Welt hinaus zog um das Böse aus dem Norden zu bekämpfen, und beobachtete von Ferne wie alles, für das er kämpfte, nach und nach zerstört wurde. Nach dem Fall der Falas sah ich ihn auf Balar wieder." Bei diesen Worten huschte ein trauriger Ausdruck über Círdans Gesicht, und für einen Moment schien er in eine ferne Vergangenheit zu blicken. "Ich bot ihm an zu bleiben, doch er wollte weiterkämpfen. Jahre später kam er erneut nach Balar, und dieses Mal blieb er, denn es gab in Beleriand keinen Ort mehr für ihn. Dort lernte er deine Mutter kennen, die aus den Trümmern von Doriath entkommen war. Sie teilten vieles, und wollten nach dem Ende des Zeitalters gemeinsam einen Ort finden, an dem sie Frieden haben konnten. In Lórinand hatten sie Frieden, und doch... du musst verstehen, Oronêl, dass die Welt nach dem Ende Beleriands fremd für sie geworden war. Beinahe alle ihre Freunde waren tot, und vielleicht... vielleicht spürten sie, dass ein Schatten noch immer über Mittelerde lag. Und deshalb sind sie gegangen."
Oronêl schwieg, und strich weiterhin gedankenvoll über den Bogen aus Doriath. Schließlich sagte er: "In meiner Jugend habe ich euch verflucht, dass ihr ihnen die Möglichkeit geboten habt, mich zu verlassen. Doch jetzt möchte ich euch danken."
Er wandte sich ab, doch bevor er den Raum halb durchquert hatte, blieb er stehen und blickte zu Círdan zurück, der noch immer am Fenster stand. "Eines Tages wird es auch ein Schiff für mich geben."
Círdan neigte den Kopf. "Das wird es - doch noch nicht jetzt." Oronêl lächelte, und warf sich den Köcher seiner Mutter über die Schulter. "Nein, noch nicht jetzt. Es gibt noch viel zu tun."
Vor dem Palast erwartete ihn Finelleth, die seit der Begrüßung durch Círdan etwas nachdenklicher als üblich wirkte. "Ich habe den Rest unserer Gefährten gesucht", sagte sie, und während er den Bogen an seinem Rücken befestigte fragte Oronêl: "Und? Sind sie alle sicher in Mithlond angekommen?"
Finelleth nickte. "Orophin und Glorwen sind beim Rest der Galadhrim im Süden der Stadt untergekommen. Gelmir ist in seinem Haus in der Stadt, und hat Mírwen für den Moment bei sich aufgenommen. Sie wollen morgen eine kleine Feier zu Ehren Faronwes und Cúruons abhalten."
"Ich werde dort sein", erwiderte Oronêl. Er war es seinen Gefährten und Faronwes Witwe schuldig. "Weißt du, wo Irwyne und Amrothos hingegangen sind?" Er verspürte ein starkes Bedürfnis danach, den Abend in der Gesellschaft dieser jungen Menschen zu verbringen - die ihn immer wieder daran erinnerten, wofür er sich erneut gegen den Weg nach Westen und für Mittelerde entschieden hatte.
"Vorhin waren sie mit Kerry auf dem südlichen Markt", antwortete Finelleth. "Wo sie jetzt sind, weiß ich nicht, aber Celebithiel hat mir erzählt, dass man ihnen ein kleines Haus nahe der großen Halle zur Verfügung gestellt hat. Ich kann dich hinbringen."
Als sie das Haus erreichten, sah Oronêl durch eines der Fenster des Hauses Irwyne, Amrothos und Kerry um einen kleinen Tisch sitzen und im Licht zweier Elbenlaternen miteinander sprechen. Durch das offene Fenster konnte Oronêl verstehen, dass Amrothos gerade angeregt von dem Abend erzählte, den sie in Dol Amroth in der Schenke "Zur Mauer" verbracht hatten. Mit einer kleinen Geste bedeutete Oronêl Finelleth, stehen zu bleiben, und lehnte sich neben dem Fenster an die Wand und lauschte aufmerksam der Geschichte. Als Amrothos schließlich davon erzählte, dass er Oronêl auf dem Heimweg gestützt hätte, warf Oronêl laut ein: "Offensichtlich hast du an dem Abend mehr getrunken als gedacht, sonst würdest du dich richtig erinnern." Das Gespräch im Inneren des Hauses verstummte, und Oronêl konnte den Ausdruck der Überraschung auf den Gesichtern der drei geradezu vor sich sehen. Schließlich hörte er, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde, und Irwynes blonder Kopf schob sich durch das Fenster.
Als sie ihn daneben stehen sah, sagte sie vorwurfsvoll: "Es gehört sich nicht, zu lauschen!" Oronêl tauschte ein rasches Grinsen mit Finelleth, und erwiderte: "Gut, dass ich es trotzdem getan habe, sonst hättet ihr dieser Geschichte noch Glauben geschenkt. Dürfen wir hereinkommen? Irgendjemand sollte schließlich Amrothos' Phantasie zügeln..."
"Natürlich", sagte Irwyne fröhlich, verschwand vom Fenster und tauchte kurz darauf in der geöffneten Tür wieder auf. Gefolgt von Finelleth trat Oronêl durch die Tür und warf noch einen kurzen Blick auf die Bucht, wo sie Sonne langsam im Meer versank. Dann wandte er sich ab, und betrat ohne zurück zu schauen den kleinen Raum, wo Kerry und Amrothos ihn und Finelleth fröhlich begrüßten und Fragen über den neuen Bogen auf seinem Rücken stellten. Und in diesem Moment vergaß er sämtliche Gedanken an den Westen.
Fine:
Am folgenden Tag wurde Kerry von der Sonne geweckt, die durch das offene Fenster schien. Sie hatte ausgesprochen gut geschlafen und von den Elben geträumt, die sie am Vortag kennen gelernt hatte. Es war die erste Nacht seit Fornost gewesen, in der Kerry nicht gefroren hatte. Irwyne im Bett nebenan schlief noch immer friedlich und Kerry war froh, dass das Mädchen es unbeschadet aus Fornost hierher geschafft hatte und gleich Freunde gefunden hatte. Sie streckte sich und gähnte, wovon Irwyne schließlich aufwachte und Kerry blinzelnd ansah.
"Wie spät ist es?" fragte das rohirrische Mädchen verschlafen und setzte sich auf.
"Ich weiß es nicht," gab Kerry wahrheitsgemäß zu. "Der Morgen ist auf jeden Fall schon recht alt."
"Dann sollten wir frühstücken, bevor es noch später wird," schlug Irwyne vor. Und genau das machten sie dann auch.
Von Amrothos fehlte jede Spur. "Er macht oft längere Spaziergänge alleine," erklärte Irwyne. "Ich denke es hat... mit der Sache zu tun, die ihm passiert ist."
"Welche Sache denn?" fragte Kerry neugierig, doch Irwyne druckste ein wenig herum und sagte schließlich: "Das musst du Oronêl fragen."
"Also gut, dann sei eben geheimniskrämerisch," gab Kerry zurück. "Bist du etwa heimlich bei Gandalf in die Lehre gegangen, während ich im Norden unterwegs war?"
"Selbst schuld, wenn du dich einfach so entführen lässt," konterte Irwyne. "Du hättest mit mir ein paar entspannte Tage am Strand haben können anstatt dir in der Eiswüste die Ohren abzufrieren."
Kerry wollte schon zu einer schnippischen Erwiderung ansetzen, da fiel ihr etwas ein. "Es gibt hier einen Strand?" fragte sie.
Irwyne nickte lächelnd. "Komm, ich bringe dich hin. Es ist ... wirklich etwas Besonderes, vor allem, wenn du noch nie am Meer gewesen bist. Ich habe sehr gestaunt als Amrothos mich zum ersten Mal dorthin gebracht hat."
Ehe sie das Haus verließen entdeckten die Mädchen ein Paket in der Nähe des Ausgangs, auf dem in Elbenrunen "Für Tante Ténawen" geschrieben stand. Als Kerry es öffnete fand sie darin drei Kleider, die nur von Nivim stammen konnten, sowie eine weitere Notiz:
Damit du etwas Auswahl hast. Die Schuhe passen zu allen dreien. Nivim.
"Wie schön!" rief Irwyne bewundernd.
"Du darfst dir gerne eines ausleihen," bot Kerry großzügig an. "Ich muss mich sowieso für das Kleid aus Fornost revanchieren."
Die Mädchen zogen sich rasch um. Kerry wählte ein hellgrünes Kleid mit kurzen, runden Ärmeln, das nur bis zu ihren Knien ging, denn sie wollte unbedingt zumindest die Füße ins Wasser des Meeres stellen. Irwyne hingegen trug ein dunkelrotes Kleid mit hohem Kragen, das dieselbe Länge aufwies.
"Nivim hat wirklich an alles gedacht," stellte Kerry fröhlich fest.
Sie verließen die Stadt durch das südliche Tor und kamen durch den Wald, der vom Großteil der Galadhrim bewohnt war. "Ich komme sehr gerne hierher," erzählte Irwyne. "Es ist beeindruckend, was sie in der kurzen Zeit alles erbaut haben. Es erinnert mich an Lothlórien... auch wenn es hier keine goldenen Blätter gibt."
Über ihren Köpfen verliefen mehrere gespannte Seile, die Platformen in den Baumkronen miteinander verbanden. Scheinbar mühelos liefen die Waldelben darauf hinüber, und Kerry wurde beinahe schwindlig vom Hinsehen.
"Wie machen sie das nur?" fragte sie.
"Es sind Elben," gab Irwyne achselzuckend zurück. "Und diese Elben sind in den Bäumen zuhause."
"Ja, das sehe ich," sagte Kerry. "Aber ich bin froh, dass Círdans Volk normale Häuser gebaut hat... ich bin mir nicht sicher, ob ich schwindelfrei bin."
Irwyne lachte leise. "Du gewöhnst dich nach einiger Zeit daran. Das war bei mir auch so."
"Jedenfalls bin ich froh, dass die Galadhrim hier eine neue Heimat gefunden haben," fuhr Kerry fort.
"Nichts kann für sie Lothlórien ersetzen," stellte Irwyne klar. "Aber es ist besser, als im Flüchtlingslager in Aldburg, wo sie vorher lebten. Hier sind sie sicher vor den Schrecken des Krieges."
Eine halbe Stunde später ließen sie den Wald hinter sich und bogen nach rechts ab, zum Meer hin. Wenige Schritte weiter spürte Kerry, wie der Boden unter ihren Füßen weich wurde. Irwyne streifte bereits ihre Schuhe ab und bedeutete Kerry, es ihr gleich zu tun. Als Kerrys nackte Füße den Sand berührten, kam sie sich ein wenig wie im Winter vor. "Es fühlt sich an wie Schnee, aber es ist nicht kalt," sagte sie staunend.
"So etwas in der Art habe ich auch gesagt," meinte Irwyne. "Komm weiter! Bis zum Wasser ist es nicht mehr weit."
Und als die beiden Mädchen schließlich am Ufer des großen Golfes von Lindon standen und auf die Bucht hinausblickten, hinter der sich die endlosen Weiten Belegaers ausbreiteten, fühlte Kerry sich wie in einem Traum. Die warme Luft und die Sonne lagen angenehm auf ihrer Haut, und das ewige Rauschen der Wellen schuf eine wundersame Geräuschkulisse, die Kerry noch nirgendwo in Mittelerde erlebt hatte. Über ihren Köpfen rauschten zwei Möwen vorbei und Irwyne setze den ersten Fuß ins Wasser, das angenehm kühl war. Kerry, immer darauf bedacht, dass ihr Kleid nicht nass wurde, tat es ihr gleich.
"Das Wasser ist so klar," stellte sie staunend fest. "Und es gibt so viel davon. Wo ist es nur hergekommen?"
"Aus allen Flüssen dieser Welt," gab Irwyne die offensichtliche Antwort. "Alles Wasser fließt zum Meer. Jeder noch so kleine Bach findet eines Tages seinen Weg zum Ozean."
Kerry beugte sich hinab und tauchte ihre Hand in das klare Wasser. Eine Welle spritzte gegen ihren Arm, und etwas Wasser benetzte ihre Lippen. Als sie ihre Zunge benutzte, um es wegzulecken, weiteten sich ihre Augen überrascht. "Das ist ja ganz salzig!" rief sie und spuckte das Wasser aus.
"Du darfst es nicht trinken," mahnte Irwyne grinsend. "Amrothos hat mir erklärt, dass man draußen auf dem Meer schneller verdursten kann als inmitten von so mancher Wüste."
"Ich verstehe nicht, warum es so salzig ist," wiederholte Kerry, und nahm sich vor, ihre Eltern danach zu fragen.
Als sie an Mathan und Halarîn dachte, stellte sie fest, dass sie die beiden bereits vermisste. Doch der Strand und das Meer übten noch immer eine große Faszination auf Kerry aus.
"Lass uns ein wenig hier bleiben und die Sonne und das Meer genießen," schlug sie daher vor, und Irwyne stimmte fröhlich zu.
"Ich habe Amrothos eine Nachricht hinterlassen, damit er sich keine Sorgen um uns macht," erklärte sie.
"So," machte Kerry und suchte Irwynes Blick. "Was kannst du mir über ihn erzählen? Ist er wirklich der Sohn des Fürsten von Dol Amroth?"
"Der jüngste - Prinz Imrahil hat drei Söhne, und Amrothos ist der Einzige, der noch nicht verheiratet oder verlobt ist. Sein Bruder Erchirion hat offenbar eine ganz schlimme Braut erwischt - Amrothos hat erzählt, sie hätte mit ihrem Zwillingsbruder immer im Palast Streiche gespielt, als sie noch klein waren."
"Das klingt nach Spaß," fand Kerry, die sich ein wenig darüber wunderte, warum Irwyne gleich als erstes erwähnte, dass Amrothos noch keine Frau hatte. "Das sollten wir auch mal versuchen," fuhr sie dann fort.
Irwyne grinste. "Denkst du, wir könnten Oronêl und Finelleth einen schönen Streich spielen?"
"Wenn wir es gut anstellen, sodass sie es nicht herausfinden, bis es zu spät ist," antwortete Kerry mit einem verschwörerischen Gesichtsausdruck.
Eine Stunde oder zwei überlegten und planten die beiden Mädchen miteinander, tratschten über dies und das, genossen die Sonne und den Anblick des Meeres und die Ruhe, die ihnen an dem einsamen Strand vom Trubel der vollen Stadt nun vergönnt war. Kerry war seit einer langen Zeit wieder vollständig unbeschwert. So sorgenfrei hatte sie sich zuletzt bei der Feier in Fornost gefühlt, ehe Laedor diese jäh unterbrochen hatte. Und während der Vormittag langsam verstrich war sie so glücklich, wie seit dem Beginn des Krieges nicht mehr.
Curanthor:
Als Mathan erwachte, saß Halarîn schon neben ihm und sah ihm beim Aufwachen zu. Er blinzelte und erkannte ihr Lächeln. Grinsend ließ er seinen Blick über ihren Körper gleiten und streckt seine Hand nach ihr aus. Sie verstand und legte sie auf ihren Bauch. Die Wärme von ihrem Körper war verlockend und er wollte gar nicht aufstehen, dennoch waren einige Dinge, die er erledigen musste. Lächelnd streichelte er über die sanfte Erhebung und erhob sich schließlich.
"Und was hast du heute vor?", fragte sie neugierig, während sie sich ankleideten.
Mathan zog seine Waffengürtel gerade zu Recht und prüfte den Sitz seiner Schwerter.
"Nochmals mit meinen Schwestern sprechen und irgendwann muss ich auch Oronêl darauf ansprechen, dass wir uns so langsam nach Eregion begeben sollten.", antwortete er und nahm das Medaillon seiner Mutter nachdenklich in die Hand.
"Dann sollten wir auch mit Faelivrin sprechen, ich denke, dass die Vorhut den Rest ihres Volkes nicht ewig versorgen kann." Den Einwurf seiner Frau hatte er auch schon im Kopf gehabt und nickte ihr zustimmend zu. Außerdem zog es ihn an seinen Geburtsort, seitdem er den Mantel seines Vaters letzte Nacht erhielt. Er hielt den schwarzen Mantel in seinen Händen und betrachtete nachdenklich das aufgestickte Muster von Gondolin. Ihn reizte es mehr über seine Eltern herauszufinden. Die letzten Wochen war so ereignisreich gewesen, dass er kaum darüber nachdenken konnte.
"Der würde sehr gut zu deiner Rüstung passen", sagte Halarîn und half ihm den Mantel anzulegen. Sie achtete darauf, dass er die Ránceti nicht behinderte und drapierte ihn geschickt um die Silmacil herum.
"Das stimmt, leider musste ich sie in Aldburg zurücklassen... vielleicht kann ich meine Schwestern mal fragen was sie darüber wissen. Sie haben mir nämlich nicht alles gesagt." Mathan strich sich nachdenklich über das Kinn, gerne hätte er seine Rüstung noch fertig gestellt, aber der Helm hatte ihm Kopfzerbrechen bereitet. In Arnor konnte er glücklicherweise die bereits vorhandene Rüstung benutzen, da er nicht wusste wie viel seine verstärkte Lederrüstung noch aushalten würde. Zweifelnd blickte er an seine leicht abgewetzte Ausrüstung hinab und schätzte noch etwa einen Monat, bis die Stabilität des Materials geschwächt war. Die Eiswüste war dem nicht sonderlich zuträglich gewesen und die Avari um neue Ausrüstung zu bitten war gegen seinen Stolz. Nachdenklich murmelte er vor sich hin, dass er sie wohl um eine Zweitwaffe bitten könnte.
„Reichen dir vier Schwerter nicht?“, fragte Halarîn lachend und stupste ihn kichernd an. Mathan blieb ernst und wirkte nachdenklich, während seine Frau noch immer kicherte. Als sie an der Haustüre ankamen sagte er grinsend: Du vergisst, dass ich ein Meister des Schwertkampfes bin.“
Halarîn boxte ihm gegen die Schulter. „ Angeber…“, murmelte sie, lächelte aber dann. Gerade als er abschloss, ertönte eine Stimme hinter ihnen: „Na, auch schon ausgeschlafen?“
Als sie sich umdrehten stand Nivim vor ihnen, zusammen mit ihrem Mann Luscora, dessen dunkelbraune Haare noch immer etwas zerzaust wirkten. Seine grünen Augen musterten die Waffen von Mathan. „ Das ist eine sehr gute Arbeit… es muss wohl viel Zeit gekostet haben.“, sagte er schließlich und fuhr mit einem Grinsen fort: „Benötigst du eine Zweitwaffe, Großvater?“
„Hast du uns belauscht?“, warf Halarîn schmunzelnd ein und brachte die beiden Elben zum Lachen. „Nein, Mutter hat uns gesagt, dass Mathan gern eine Zweitwaffe dabei hat und uns wohl bald fragen würde“, antwortete Luscora sanft und griff hinter seinen Rücken, wo er einen metallverstärken Kampfstab hervorholte. Er maß etwa eineinhalb Schritt und lag gut in der Hand, als Mathan ihn dankbar annahm. Prüfend wirbelte er den Stab umher und begutachtete die Enden, an denen jeweils ein kleiner Knauf geschnitzt war. Er reichte den Stab an Halarîn, die ihn auf ihren Rücken befestigte.
„Eine schöne Arbeit, ist das dein Werk?“, fragte er Luscora, der verschmitzt lächelte.
„Ja, obwohl ich sehr mit den Schiffen der Vorhut beschäftigt bin, damit habe ich mir die Zeit vertrieben bis Mutter zurückkehrte. Oh, sie sind übrigens sehr bald abfahrbereit, ein paar Tage.“
„Jetzt schon?“ Mathans Erstaunen war nicht zu überhören und Halarîn machte große Augen. Am Tag zuvor schien es, als ob sie noch ziemlich lange daran waren, die Schiffe zu entladen. „Und was ist mit der Flotte? Brauchen sie nicht die Vorhut?“, fragte Halarîn besorgt und blickte hinaus zum Meer.
Nivim und Luscora blickten sich kurz an und schienen, als ob sie Etwas wussten, dass sie noch nicht verraten wollten. „Die Schiffe können sich auch selbst verteidigen, immerhin habe ich jahrelang an ihnen gebaut. Die, die im Hafen liegen sind die Besten die wir haben.“ Stolz schwang in der Stimme von Luscora, als er dabei nach draußen auf das Meer zeigte. Nivim flüsterte ihm etwas ins Ohr und er schüttelte entschuldigend den Kopf. „Wir haben meine Tanten getroffen, sie sagen, dass sie auf dem großen Balkon auf euch warten. Außerdem treffen sich später ein paar aus unserem Haus und die Fürsten, sie wollen wohl über das weitere Vorgehen beraten.“
„Hm, also etwas offizielleres..“, sagte Mathan nachdenklich und strich sich das Haar nach hinten. Luscora nickte und sagte, dass er nun wieder zurück zu den Schiffen geht um Isa zu unterstützen. Nachdem die beiden Elben sich von Mathan und Halarîn verabschiedet hatten, blieben sie noch einen Moment lang stehen. Scheinbar war es schon etwas später am Morgen und sie lächelten sich schelmisch an. Schließlich machten sie sich auf dem Weg und trafen ein paar bekannte Gesichter, darunter Estora, die mit Farelyë an einem kleinen Teich spielte. Sie winkten ihnen fröhlich zu und widmeten sich wieder ihren Spiel.
Als Mathan und Halarîn schließlich an der Halle ankamen, an der sich der Balkon anschloss, standen die Zwillinge bereits an der Brüstung und blickten auf das Meer hinab. Als sie zu ihnen traten, drehten sie sich um. Ihre Mäntel hatten sie abgelegt und trugen kurze Kleider, offensichtlich von Nivim, denn die silberne Borte auf dem blauen Stoff war unverkennbar ihre Arbeit. „Bruderherz.“, begrüßten sie ihn gleichzeitig du zogen ihn in eine sanfte Umarmung, in die auch Halarîn mit einbezogen wurde.
„Ich muss mit euch ein ernstes Wörtchen wechseln“, begann Mathan streng und blickte Sabaia und Yuteé abwechselnd in die Augen, die betreten mit den Füßen scharrten, „Dass ihr uns nicht ständig folgen konntet ist mir klar, aber es ist einfach ein zu großer Zufall, dass ihr uns hier antrefft.“
Die Zwillinge wechselten einen verräterischen Blick und Mathan hob skeptisch eine Braue, auf eine Antwort wartend. Sabaia stieß Yuteé in die Seite und sie räusperte sich rasch: „Ja gut, vielleicht stimmt nicht alles, aber wir können es dir noch nicht sagen.“, sie blickte zu ihrer Zwillingsschwester, „Wenn der Zeitpunkt da ist, großes Familienehrenwort“, ergänzte Sabaia und lächelte ihn offen an.
Mathan musste lächeln und konnte sein strenges Gesicht nicht lange aufrecht halten. Es war einige Jahrhunderte her, dass sie das „große Familienehrenwort“ in den Mund genommen hatten. Das taten sie auch nur bei sehr wichtigen Dingen, was ihn dazu bewegte mit dem Kopf zu nicken.
„Gut, ich vertraue euch“ er hob streng einen Finger, „Aber nur weil ihr das große Familienehrenwort gegeben habt.“ Beim letzten Teil konnte er sein Grinsen nicht mehr verstecken.
Die Schwestern atmeten erleichtert aus und verneigten sich leicht. „Danke für dein Vertrauen, du wirst nicht enttäuscht werden.“, sagte Yuteé mit einem glücklichen Lächeln.
„Wir werden unsere kleine Ténawen mal einen Besuch abstatten, aber vorher gehen wir noch zum Markt um uns bei ihr mit etwas zu Essen einzuschmeicheln“, verkündete Sabaia mit einer gewissen Neugierde und wirkte etwas aufgeregt, was sich auch auf Yuteé übertrug. „Wir gehen dann mal“, sagte diese etwas ungeduldig und zog ihre Schwester mit einem Grinsen an ihnen vorbei.
Mathan atmete etwas tiefer aus, Halarîn merkte an, dass seine Schwestern nicht gerade einfach waren, was er nur mit einem grinsenden Nicken bestätigte. „Sie waren sehr oft draußen oder unterwegs, wirklich viel hatte ich nicht mit ihnen zu tun, aber wir verstanden uns stets sehr gut.“, erklärte er und plauderte daraufhin ein wenig über seine Kindheit mit seinen Schwestern. Wie sie gern streiche spielten und immer die Köpfe zusammensteckten. So vertrieben sie sich die Zeit, bis das Treffen näher rückte.
Eandril:
Es war bereits gegen Mittag, als Oronêl sich von den Fletts im Süden der Stadt wieder auf den Weg zurück nach Mithlond machte. Er hatte den Vormittag damit verbracht, sich von Celebithiel das Lager der Galadhrim zeigen zu lassen, und ihr unterwegs alles zu erzählen, was sich seit ihrer Trennung in Aldburg ereignet hatte - und umgekehrt. Vieles war ihr bereits bekannt gewesen, denn sie hatte mit Orophin, Irwyne und Amrothos darüber gesprochen, doch nicht jedes Detail. Und einiges von dem, was sie zu erzählen hatte, überraschte Oronêl seinerseits. So war ihm nicht bewusst gewesen, dass sie Kerry bereits im Alten Wald begegnet war.
Auch Orophin und Glorwen hatte er getroffen und kurz mit ihnen gesprochen, wie auch viele andere Flüchtlinge aus Lórien, die er mehr oder weniger gut kannte. Nur seine Tochter schien nirgends anzutreffen zu sein, und ihn beschlich allmählich das Gefühl, dass sie ihm auswich.
Als Oronêl und Celebithiel schließlich das Südttor von Mithlond durchquerten, sprach sie ein ihnen unbekannter Elb an, der nach der Art von Faelivrins Volk gekleidet war. "Oronêl? Mathan Nénharma wünscht euch zu sprechen." Oronêl hob eine Augenbraue, denn er konnte sich nur schwer vorstellen, dass Mathan es genauso formuliert hätte. "Wo finde ich ihn?"
"Er befindet sich in der großen Halle, in der ihr gestern eingetroffen seid", erwiderte der Elb, und verbeugte sich respektvoll. Oronêl wechselte einen Blick mit Celebithiel, und sagte zu ihr: "Du solltest vielleicht ebenfalls mitkommen, ich kann mir vorstellen, dass es um Eregion geht." Sie nickte zustimmend, und Oronêl wandte sich wieder an den Avar: "Wir werden gleich dort sein."
Sie erreichten die Halle nur kurze Zeit später, und sahen Mathan umgeben von einigen fürstlich gekleideten Avari an einer der Wände stehen. Als er Oronêl und Celebithiel näher kommen sah, löste er sich aus der Gruppe, und kam ihnen ein paar Schritte entgegen.
"Du wünschtest mich zu sprechen?", fragte Oronêl mit einem Lächeln, und Mathan verzog das Gesicht. "So habe ich das nicht formuliert. Aber ich habe das Gefühl, dass viele der Avari Schwierigkeiten mit unseren Umgangsformen haben, und deshalb hin und wieder etwas zu steif sind."
"Und weil sie dich als Ahnherren ihres Königshauses wahrscheinlich als eine Art lebende Legende sehen. Mit den Menschen in Dol Amroth war es jedenfalls teilweise so", erwiderte Oronêl ein wenig wehmütig. Auch wenn er die Ehrfurcht, mit der manche der Bewohner Dol Amroths ihn behandelt hatten nicht vermisste, er würde gerne noch einmal dorthin zurückkehren. Mathan nickte langsam, und ihm war diese Behandlung ebenfalls sichtlich unangenehm. Dann führte er sie zu den übrigen, unter denen sich auch Halarîn und Faelivrin befanden, die Oronêl freudig begrüßten. Faelivrin übernahm die Vorstellung der Avari: "Dies sind die wichtigsten Fürsten der Manarîn: Taniel und Túniel", ein Mann und eine Frau, die sich äußerst ähnlich sahen, nickten ihnen freundlich zu, "Ivyn, meine Urgroßmutter und älteste unseres Volkes", die große Elbin mit den beinahe silbernen Augen lächelte, und Oronêl neigte seinerseits respektvoll den Kopf vor ihr, "und Artana. Eigentlich sollte auch Gelior unter uns sein, aber er ist im Hafen und beaufsichtigt das Beladen der Schiffe mit Munition."
"Wir haben uns versammelt weil ich denke, dass wir möglichst bald nach Eregion aufbrechen sollten", ergriff Mathan das Wort. "Und da es sowohl unser", er deutete mit einer Geste auf sich, Halarîn, Oronêl und Celebithiel, "als auch das Reiseziel der Manarîn ist, könnte ich mir vorstellen, unsere Kräfte zu vereinen."
"Ich stimme zu, dass wir nicht allzu lange hier verweilen sollten", meinte Oronêl, wobei er ohne es wirklich zu bemerken die Hand auf den Beutel mit dem Ring legte. "Und ich stimme ebenfalls zu, dass wir aufgrund unseres gemeinsamen Zieles ein Stück zusammen reisen könnten - doch die Aufgabe, die ich zu erfüllen habe, benötigt eher Heimlichkeit und Schnelligkeit als eine Kriegsmacht."
Er blickte von Celebithiel zu Mathan, die offensichtlich beide begriffen hatten, dass ihre wahre Mission möglichst geheim bleiben sollte. Es lag Oronêl fern, den Avari zu misstrauen, doch nach allen Berichten war Eregion noch immer von feindlichen Kräften besetzt - und wenn es erst zurück erobert war, würde es unwiderruflich den Blick des Feindes anziehen, sowohl Saurons als auch Sarumans. Und je heimlicher sie den Ring vernichten konnten, desto besser.
"Nach den Berichten aus dem Süden ist es unter den Dunländern zu einem Krieg gekommen", erzählte Celebithiel. "Anscheinend hat die Saruman feindlich gesinnte Partei leicht die Oberhand, doch Tharbad und die Mündung des Gwathló sind noch immer fest in Sarumans Hand. Wenn die Manarîn in Eregion eine sichere Heimat finden sollen, müssen diese Orte von Sarumans Dienern gesäubert werden - das wäre eine Aufgabe für eure Krieger, während wir mit einer kleinen Gruppe heimlich in Eregion eindringen und unsere eigene Aufgabe vollenden."
Oronêl nickte zustimmend, und Faelivrin meinte: "Es gefällt mir zwar wenig, meine Eltern alleine in vermutlich feindliches Gebiet gehen zu lassen, aber wenn Oronêl sagt, dass der Erfolg eurer Mission auf Heimlichkeit beruht, werde ich darauf vertrauen."
"Und außerdem sind eure großen Schiffe nicht besonders gut geeignet, schnell einen Fluss hinaufzufahren", ergänzte Mathan. "Vielleicht sollten wir Círdan fragen, ob er uns eines seiner Schiffe zur Verfügung stellen würde."
Erneut wurde zustimmend genickt, und Oronêl sagte: "Es bleibt noch die Frage des Aufbruchs. Da die Manarîn vermutlich noch einige Tage zur Vorbereitung brauchen werden, und mein Arm noch etwas Zeit zur Heilung vertragen könnte, schlage ich vor, dass wir in fünf Tagen aufbrechen."
"Das klingt gut", meinte Faelivrin. "So haben wir genug Zeit uns vorzubereiten, und brechen dennoch nicht zu spät auf."
Während Faelivrin gefolgt von ihren Fürsten die Halle bereits verließ, blieben Mathan und Halarîn noch einen Augenblick zurück. Halarîn deutete interessiert auf den Bogen, den Oronêl seit dem gestrigen Tag auf dem Rücken trug, und sagte: "Der ist neu. Woher stammt er?" Oronêl nahm die Waffe in die Rechte, strich mit der linken sanft über das Holz, dass immer warm von der Hand seiner Mutter zu sein schien, und erwiderte mit einem Zwinkern: "Mathan ist nicht der einzige, dem seine Mutter etwas hinterlassen hat. Sie hat ihn hier gelassen, bevor sie nach Weste fuhr, und gestern hat Círdan ihn an mich weitergegeben."
"Er ist wirklich wunderschön", meinte Halarîn, und fuhr mit der Hand ein wenig ehrfürchtig über das sanft geschwungene Holz. "Und ziemlich alt."
"Ja", sagte Oronêl langsam. "Er stammt aus Doriath im alten Beleriand, und ist tatsächlich älter als ich selbst." Jetzt wo er es sagte war es ein merkwürdiges Gefühl, dass beide seiner Waffen geschaffen wurden, bevor er selbst geboren wurde - Hatholdôr war die Axt seines Vaters gewesen, und in Nargothrond gefertigt worden. Mit der freien Hand löste er auch den Köcher von seinem Rücken, und sagte. "Pfeile waren leider keine dabei, die werde ich mir selbst besorgen müssen, bevor wir abreisen." Zur Demonstration drehte er den Köcher mit der Öffnung nach unten, und ein kleines, brüchiges Stück Pergament fiel heraus und segelte zu Boden. Celebithiel bückte sich rasch danach, und gab es Oronêl, der sich Bogen und Köcher rasch wieder auf den Rücken geworfen hatte.
"Anscheinend hinterlassen Mütter ihren Söhnen auch gerne Nachrichten", scherzte Halarîn, und Oronêl nickte stumm. Als er das Pergament umdrehte, erkannte er die von der Hand seiner Mutter geschriebenen Runen nach der Art von Doriath. Sie hatte ihm beigebracht, diese zu lesen, doch es war lange her, dass er zuletzt welche gesehen hatte.
"Wir sollten vielleicht sehen, was unsere Tochter treibt", sagte Mathan taktvoll zu seiner Frau, und Halarîn lächelte. "Welche von beiden?" Eng nebeneinander gingen sie davon, auf dem ganzen Weg fröhlich und verliebt miteinander plaudernd und einander neckend. Celebithiel blickte ihnen einen Augenblick hinterher und sagte dann mit rauer Stimme: "Ich vermisse das." Oronêl riss den Blick von dem Brief seiner Mutter los, auf den er bislang gestarrt hatte, ohne ihn wirklich zu lesen, und sah sie an. Er erinnerte sich daran, dass ihr Geliebter Glorfindel war, der noch immer im Waldlandreich im Heer der Elben war, das Saruman folgte. Und er wusste, dass sie nicht nur um Glorfindels Leben fürchtete, sondern auch, ihn an Saruman verloren zu haben.
"Wenn wir in Eregion fertig sind, gehen wir ins Waldlandreich", sagte Oronêl kurzerhand. Er hatte sich bislang keine Gedanken darüber gemacht, was er nach Eregion tun würde - falls es ein nach Eregion für ihn gab. Doch in diesem Moment erschien ihm der Weg klar, denn sowohl Celebithiel als auch Finelleth erwartete dort ihr Schicksal.
"Ich fürchte mich ein wenig vor dem Moment, in dem ich ihn wiedersehe", gab Celebithiel leise zu. "Ich bin nicht mehr ganz die, die ihn zuletzt gesehen hat, und was, wenn er sich ebenfalls... verändert hat?"
Oronêl schüttelte den Kopf. Er kannte Glorfindel nicht wirklich, sondern hatte ihn nur während des letzten Bundes von Ferne gesehen. Doch der Heerführer war eine Legende, nicht nur unter den Elben von Imladris, und Oronêl glaubte nicht, dass er wirklich unter Sarumans Einfluss gefallen war. "Ich glaube nicht, dass einer von euch sich so sehr verändert hat", sagte er. "Aber wir werden es erst erfahren, wenn wir dort sind."
Celebithiel nickte langsam, und schien sich innerlich zu straffen. Dann meinte sie mit einem Lächeln: "In fünf Tagen... das ist genau einen Tag nach Irwynes Geburtstag." Oronêl erwiderte das Lächeln. "Um nichts in der Welt würde ich mir das verpassen wollen - du etwa?" Celebithiel schüttelte den Kopf und sagte: "Natürlich nicht", bevor sie mit schnellen Schritten davonging. Oronêl blickte ihr noch einen Moment hinterher, wie ihr rotblondes Haar hinter ihr wie Flammenzungen wehte, und wandte sich dann wieder dem Brief zu.
Mein geliebter Sohn,
wenn du diese Zeilen liest hoffe ich, dass du mir vergeben hast. Ich habe gesehen, dass du einst nach Lindon kommen und eine schwere Bürde tragen würdest. Nimm diese Waffe, denn ich brauche sie nicht mehr, und sie kann dir im Kampf eine große Hilfe sein - richtig geführt, wird sie ihren Träger nie im Stich lassen, und sein Mut wird ihn nicht verlassen.
In der Nacht vor deiner Geburt habe ich geträumt, wie sich eine Dunkelheit über den Wald legt, doch ein silberner Schwan erhob sich zwischen den Bäumen und flog nach Süden davon. Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hatte, doch dies ist der Grund, warum ich dir deinen Namen gab - es erschien mir passend.
Ich wünschte, ich könnte dich sehen, während du diesen Brief liest, doch dein Vater und ich haben zu lange gekämpft und verloren, und die Welt ist uns fremd. Und eines Tages werden wir uns im Westen wieder sehen - wenn dein Kampf vorüber ist.
Nellas
Oronêl starrte noch einen Augenblick länger nachdenklich auf die letzten Runen, die seine Mutter in Mittelerde geschrieben hatte. Was sie gesehen hatte, war eingetroffen, und was auch immer geschehen mochte - das Haus Dol Amroth stand noch immer gegen den Schatten, und in ihnen mochte die Linie Lenwes für immer überdauern, wenn er Mittelerde längst verlassen hatten. Er wusste nicht warum, aber der Gedanke war seltsam tröstlich.
Gerade als er den Brief zusammenfaltete und in eine Tasche gleiten ließ, betrat Amrothos die Halle, blickte sich suchend um und kam dann auf ihn zu. "Hier steckst du also, würdiger Ahnherr."
Oronêl verdrehte die Augen. "Es wäre mir lieber, wenn du mich nicht so nennen würdest."
"Ja ja", erwiderte Amrothos nur. "Komm, ich wollte mir etwas zu essen suchen, und du kannst mir dabei behilflich sein."
Fine:
"Huhu, kleine Ténawen!" riefen zwei Stimmen wie aus einem Munde. Kerry und Irwyne wandten überrascht den Kopf in die Richtung, aus der die Stimmen gekommen waren und sahen zwei Elbinnen auf sich zukommen, die jede einen großen Korb mit sich trugen. Kerry kannte die beiden nicht, doch Irwyne offenbar schon. "Oh nein," sagte das rohirrische Mädchen. "Das sind Mathans Schwestern! Denen bin ich in Aldburg immer aus dem Weg gegangen, sie sind nämlich ein wenig....anstrengend, weißt du?"
"Wie meinst du das?" fragte Kerry, doch da waren die beiden, die sich wie Zwillinge glichen, bereits bei ihnen angekommen.
"Sie ist wirklich ganz entzückend," sagte die eine der beiden. "Ich bin deine Tante Sabaia," stellte sie sich vor.
"Und ich deine Tante Yuteé," ergänzte die zweite. "Deine Freundin kennen wir ja bereits. Schön, dich zu sehen, Irwyne!"
"Äh.. hallo," gab Irwyne etwas betreten zurück.
"Ihr seid Ontáros Schwestern?" fragte Kerry neugierig. Auf sie machten die beiden eigentlich keinen besonders anstrengenden Eindruck.
"Oho! Sie spricht ja schon Quenya!" rief Yuteé fasziniert.
"Hinreißend, wirklich. Und sieh nur, die beiden tragen Kleider von Nivim, so wie unsere!" fügte Sabaia hinzu.
"Sie hat wirklich ein Talent für solche Sachen," sagte Yutée.
"Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Ja, wir sind Mathans Schwestern, was uns zu deinen Tanten macht, meine Kleine. Es ist schön, dich kennenzulernen!" fuhr Sabaia fort.
"Und als erste Tat als deine Tanten sollten wir dir gleich die Ohren langziehen, dafür dass du uns diesen anstrengenden Umweg in den Norden eingebrockt hast," sagte Yuteé gespielt streng und zog tatsächlich sanft an Kerrys linkem Ohr. "Du hast Glück, dass du keine Elbenohren hast. An denen kann man nämlich noch viel besser ziehen. Hier, siehst du?" sagte sie und zog ihre Schwester mit der anderen Hand am Ohr, die es kichernd über sich ergehen ließ.
"Ich verstehe nicht ganz," unterbrach Kerry den Redeschwall der Zwillinge. "Wie sollte ich euch einen Umweg eingebrockt haben?"
"Na, weil du entführt wurdest," erklärte Sabaia. "Wir sind Mathan seit Aldburg gefolgt, und hätten ihn in Fornost eingeholt, aber als wir dort ankamen, sagten uns die Dúnedain, dass er nach Angmar gegangen war, um seine Tochter zu retten."
"Wir haben uns sehr gewundert, als wir hörten, dass Scalyna mit ihm gegangen ist. Und umso größer war unsere Überraschung als uns ein netter junger Waldläufer namens Rilmir erklärte, dass Mathan und Halarîn ein Menschenmädchen adoptiert hatten. Und hier bist du nun, unsere neue kleine Nichte Ténawen."
"Ein sehr schöner und gut gewählter Name, übrigens," ergänzte Yuteé. "Da hat sich unser großer Bruder wirklich Mühe gegeben."
Endlich legten die Zwillinge eine Pause ein und Sabaia zog aus ihrem Korb mehrere Decken hervor, die sie im weichen Sand ausbreitete, während Yuteé aus ihrem Korb allerlei Essen hervorzauberte. "Ihr habt bestimmt noch nichts zu Mittag gegessen," sagte Sabaia.
"Also haben wir uns gedacht, wir bringen euch etwas mit," ergänzte Yuteé.
"Das ist wirklich toll," bedankte Kerry sich. Ob es nun Absicht oder nicht war - dadurch hatten die Zwillinge viele Pluspunkte bei ihr gesammelt. Und sie stiegen noch weiter in Kerrys Ansehen als sie das Essen gemeinsam mit ihr und Irwyne tatsächlich schweigend zu sich nahmen und vergnügt aufs Meer hinaus blickten. Doch kaum hatten alle ihr Mahl beendet, kamen die Fragen.
Kerry schwirrte schon bald der Kopf vor all den Fragen, die die Zwillinge ihr stellten. Sie schienen wirklich alles über ihre neue Nichte wissen zu wollen. Eine ganze Stunde verging, ehe Yuteé sagte: "Sieh nur, wie müde sie aussieht. Vielleicht haben wir es ein wenig übertrieben."
"Aber nicht doch, Schwester," gab Sabaia zrück. "Siehst du es ihr nicht an der Nasenspitze an, dass sie ebenso neugierig ist, aber zu höflich ist um die Fragen zu stellen, die sie wirklich interessieren?"
"Das werden wir dir schon noch austreiben, Ténawen," versprach Yuteé lächelnd. "Wenn es um wichtige Informationen geht, darf man keine Scheu zeigen."
"Nur wenn man forsch nachfragt bekommt man die wahren Antworten," ergänzte ihre Schwester.
"Hast du dich schon darauf vorbereitet, bald selbst eine große Schwester zu sein?" fragte Yuteé und überraschte Kerry damit zum wiederholten Male vollständig.
"W-wie meinst du das?" stotterte sie verwirrt.
Die Zwillinge wechselten einen wissenden Blick. "Dir ist doch bestimmt aufgefallen, dass deine Mutter schwanger ist," woraufhin Kerry nickte. "Eines Tages wird sie ein Kind bekommen, dessen ältere Schwester du dann sein wirst."
Kerry nickte verstehend. "Ja, das weiß ich. Ich frage mich nur, wie es bloß dazu gekommen ist."
Erneut wechselten ihre Tanten einen Blick, diesmal schwang jedoch leichte Sorge darin mit. "Haben dir deine Eltern denn nicht erzählt, wie das funktioniert? Du bist doch bestimmt schon im richtigen Alter - du bist neunzehn, oder?"
"Ja," bestätigte Kerry. Irwyne beobachtete das Gespräch mit einem verlegenen Grinsen, und schien die Richtung, in die es sich entwickelte, äußerst amüsant zu finden. "Das ist ja mal was; ich weiß schon mehr als du!" warf sie grinsend ein.
"Nicht unterbrechen," sagte Yuteé. "Warst du denn schon mal verliebt, Ténawen?" fragte sie weiter.
Kerry spürte, wie sie rot wurde. "Vielleicht," druckste sie herum.
"Ein eindeutiges Ja," befand Sabaia. "Und hast du den jungen Mann denn auch geküsst, oder sogar..."
"Es gab da hin und wieder vielleicht einen Kuss, oder einen Moment, wo ich mein Aussehen dafür genutzt habe, dass die Leute mir Gefallen tun," gab Kerry zu. "Aber... das ist alles."
"Ich verstehe," sagte Sabaia. "Und du weißt auch, dass bei der Vereinigung von Mann und Frau Kinder entstehen können, ja?"
Bei dem Wort Vereinigung prustete Irwyne belustigt los, und Kerry wurde noch röter. "Ja, das weiß ich," sagte sie sehr leise.
"Gut, dann können wir ja jetzt ins Detail gehen," freute sich Yuteé.
Eine halbe Stunde später war Kerry fest entschlossen, auf gar keinen Fall jemals schwanger zu werden. Die Zwillinge hatten keine Einzelheiten ausgelassen. Doch ehe sie Kerry noch weiter verstören konnten, kamen Mathan und Halarîn zu ihrer Rettung, die den Strand entlang spaziert kamen.
"Erzählt ihr meiner Tochter etwa Schauergeschichten?" fragte Mathan amüsiert lächelnd, als er Kerrys Blick bemerkt hatte. "Damit macht ihr euch nicht sonderlich beliebt."
"Nein, wir übernehmen einen wichtigen Teil der Erziehung, den ihr beiden bisher sträflich außer Acht gelassen haben," entgegnete Yuteé stolz. "Die kleine Ténawen hat einen wichtigen Schritt auf dem Weg gemacht, eine Frau zu werden."
"Wie bitte?" entfuhr es Halarîn. "Was habt ihr ihr erzählt?"
"Alles, was sie wissen muss, wenn sie selbst einmal eine Familie gründen will," stellte Sabaia zufrieden klar.
Das Lächeln von Mathan und Halarîn schwand und sie blickten die Zwillinge etwas säuerlich an, woraufhin Yuteé ihrer Schwester in die Seite stieß.
"Sie ist unsere Tochter, und wenn sie von selbst nicht auf das Thema zu sprechen kommt, drängen wir sie nicht dazu" sagte Halarîn nach einer unangenehmen Stille mit blitzenden Augen, in denen ein winziger Funken Silber glänzte.
"Bisher war dafür nicht die passende Situation, und ich bezweifle stark, dass ihr die richtigen Worte gefunden habt", setzte Mathan nach, "Ihr könnt das euren eigenen Kindern erzählen. Die elterlichen Pflichten gehen auch nur die Eltern etwas an, und das sind Halarîn und ich, nicht ihr."
Als er endete, ließen die Zwillinge die Schultern sinken und murmelten eine Entschuldigung.
Schließlich machte sich die Gruppe auf den Rückweg in die Stadt. Mathans Schwestern waren schon bald wieder gut gelaunt, trotz des Dämpfers, den ihr Bruder ihnen verpasst hatte. Kerry fand, dass die beiden eigentlich trotz allem sehr nett waren, doch sie stellte fest, dass sie wohl noch einige Zeit brauchen würde, um sich an die neue Großfamilie zu gewöhnen, der sie nun angehörte.
"Wenn wir erst nach Eregion aufgebrochen sind wirst du wieder etwas mehr Ruhe haben," versprach Halarîn und erzählte ihr, dass sie in fünf Tagen mit dem Schiff nach Tharbad fahren würden. Kerry freute sich schon sehr darauf, da sie noch nie mit einem Schiff gefahren war. Sie fragte sie, wie die Reise wohl werden würde...
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