Beregond, Aerien und die Waldläufer Ithiliens von Süd-IthilienUngefähr eine Stunde lang war Aerien von den Waldläufern geführt worden - oder vielmehr vor ihnen hergeschoben worden, ohne dass sie sehen konnte, wohin sie ging. Sie waren die meiste Zeit auf leicht ansteigendem, aber recht unwegsamem Gelände gegangen, doch nun begann der Weg mit einem Mal deutlich steiler zu werden. Oben angekommen spürte sie, wie der Untergrund fester wurde.
Der Boden hier scheint aus glatten Felsen oder gemauerten Steinen zu bestehen, dachte sie und versuchte mit ihrem Gehör einen Anhaltspunkt zu erhalten, wo sie sich befand.
Der Waldläufer, der hinter ihr her ging, stieß sie weiter vorwärts. Ihr Fuß trat ins Leere und sie stolperte nach vorne. Sie wäre gestürzt wenn man sie nicht am Arm festgehalten hätte, denn es ging nun eine steile Treppe die sich im Kreis nach unten wand hinab. Aerien hörte, wie die Schritte der Gruppe laut zu hallen begannen.
Wir müssen in einer Art Höhle sein, schlussfolgerte sie.
Sie wurde noch eine ganze Weile weitergeführt bis jemand ihr endlich die Augenbinde abnahm. Sie blinzelte aufgrund des plötzlichen Lichtes, das von einer nahen Fackel stammte. Sie befand sich tatsächlich in einer Höhle. Es schien eine Sackgasse zu sein, denn der einzige Zugang war der, durch den man sie offenbar gerade gebracht hatte. Im Durchgang standen zwei grimmig dreinblickende Waldläufer - ein Mann und eine Frau - die ihre Hände nie weit von den Griffen ihrer Schwerter entfernten.
Meine Bewacher, stellte sie fest. Sie blickte sich weiter um. Einige leere Kisten standen am hinteren Rand der Höhle und zwei einfache Betten standen an einer der beiden gemauerten Wände, die vom Eingang ausgingen.
Aerien begann zu überlegen, wie sie am besten mit den Gondorern reden sollte.
Sei diesmal wenigstens vorbereitet. Und vor allem: Überlebe!Allzu weit kam sie nicht mit ihren Gedanken, denn schon bald darauf kündigten nahe Schritte mehrere Besucher an. Beregond trat herein, gefolgt von dem Waldläufer, dessen Leben Azruphel in dem Gefecht gegen die Orks gerettet hatte. Zuletzt kam ein Mann, der seine grüne Kapuze (im Gegensatz zu seinen Kumpanen) abgesetzt hatte. Er hatte dunkles Haar und musterte sie durchdringend.
Das muss ihr Anführer sein, vermutete Aerien.
Beregond trug nicht mehr die arg mitgenommene Kleidung eines Sklaven, in der er aus Minas Tirith geflohen war sondern war nun in ein Kettenhemd von gondorischer Machart und Brust- und Rückenpanzer gehüllt. Außerdem trug er einen schwarzen Wappenrock. Auch er warf Aerien einen undeutbaren Blick zu.
Vorsichtig machte sie einen Schritt rückwärts. Der Waldläufer, der als letzter die Höhle betreten hatte kam auf sie zu und blieb in ungefähr zwei Metern Abstand vor ihr stehen. Einen Moment lang blickte er in die Augen und sie stellte fest, dass seine grau wie tiefer Nebel waren.
"Mein Name ist Damrod," erklärte er. "Ich würde gerne wissen, wie
deiner lautet. Beregond hast du dich als
Aerien vorgestellt, doch glauben wir nicht, dass dies dein richtiger Name ist,
Mornadan."
Aerien sah keinen Sinn darin, Damrod zu belügen. Sie hoffte, dass man ihr zuhören würde, wenn sie von Anfang an die Wahrheit erzählte.
"Azruphel,"
(1) sagte sie leise. "Mein Name ist Azruphel."
"Das ist schon besser," stellte Damrod fest. "Und wie weiter?"
"Azruphel von Haus Balákar. Bêlkali
(2) von Aglarêth,"
(3) antwortete sie.
Damrod schien damit nichts anfangen zu können. "Holt Thandor," befahl er, und einer der Waldläufer eilte hinaus.
"Ich will wissen, was du in Minas Tirith zu schaffen hattest," sagte Damrod. "Wieso hast du Beregond aus der Gefangenschaft befreit? Welchen Plan hattest du mit ihm?"
"Ich kam um mein Wissen über die Dúnedain von Gondor zu erweitern," erwiderte sie wahrheitsgemäß. "Und um meine Hilfe gegen Mordor anzubieten."
"Und du denkst, ich glaube dir das, nur weil du ein paar entbehrliche Orks erschlagen hast?" frage Damrod mit kalter Stimme. "Dieser Ort blieb den Dienern Saurons bisher verborgen und ich habe nicht vor, ihn auffliegen zu lassen indem ich dir leichtfertig vertraue."
"Ich habe nicht vor, euch zu verraten!" rief Aerien. "Ich kann euch helfen!"
Bevor Damrod antworten konnte kehrte der Waldläufer den er entsandt hatte in Begleitung eines alten Mannes zurück. Dieser kam näher und musterte sie einen langen Augenblick ohne etwas zu sagen.
"Azruphel von Durthang," sagte er schließlich leise. "Ich habe schon einiges über dein Haus gehört. Viele mächtige Feinde Gondors entstammen daraus."
"Also sagt sie die Wahrheit über ihre Herkunft?" schlussfolgerte Damrod.
"In der Tat," stimmte der alte Thandor zu. "Freunde, ihr wisst nicht, welch großen Fang ihr gemacht habt. Dies ist die Tochter des Fürsten der
Mornedain(4), Varakhôr Adûnphazan."
(5)Erstauntes Schweigen folgte auf diese Feststellung. Aerien beschloss, die Gelegenheit zu nutzen.
"Ihr wisst, wer ich bin, und welches Gewicht mein Name hat. Könnt ihr denn nicht sehen, wie wenig Sinn es für meinen Vater ergeben würde, mich als Spionin zu euch zu schicken? Ihr würdet jemandem wie mir nie vertrauen. Versteht doch, dass ich aus eigenem Entschluss hergekommen bin. Ich habe Beregond befreit weil mich sein Leid bewegte und ich habe erkannt, dass Sauron der Feind aller Menschen, aber besonders der Feind der Erben Númenors ist. Er muss aufgehalten werden und ich will meinen Teil dazu beitragen."
"Du hattest also doch Mitleid mit mir?" sagte Beregond. "Warum gerade ich? Wieso hast du nur mich befreit und nicht auch den Rest der guten Männer, die sich in Minas Tirith zugrunde schuften?"
"Ich bin aus Mordor geflohen, gegen den Befehl meines Vaters. Ich hatte nicht viel Zeit bevor meine Tarnung auffliegen würde," erklärte sie.
"Sie hat mir auf der Straße das Leben gerettet," mischte sich der Waldläufer ein, an dessen Seite sie gegen die Orks gekämpft hatte.
"Still, Glóradan," sagte Damrod scharf. "
Ich werde entscheiden, was mit ihr geschieht. Thandor?"
Der Alte trat vor. "Ja?"
"Du bist vertraut mit Elessar und den Dúnedain des Nordens. Wenn sie wirklich mit unserem König gesprochen hat wie sie Beregond gegenüber behauptet hat, dann soll sie es beweisen!"
"Wie?" fragte Aerien. "Ihr geht davon aus, dass jedes meiner Worte Lüge ist!"
Thandor blickte ihr in die Augen. "Du sagst, du hast mit Aragorn gesprochen und er hat dir vieles über Gondor, Arnor und die Dúnedain erzählt. Sprach er jemals auch von seiner Familie? Hat er dir von seinen Verwandten erzählt?"
"Er erwähnte einen Vetter... Halbarad, der im Kampf fiel. Geschwister hat er keine," antwortete Aerien, die angestrengt darüber nachdachte, worüber sie sich mit Aragorn unterhalten hatte.
"Und weiter?" verlangte Thandor.
"Es gab noch jemanden... eine Cousine... ihr Name war Elea."
Thandor zeigte zunächst keine Regung. Ein Augenblick der Anspannung verstrich, doch dann lächelte der Alte zufrieden. "Sie sagt die Wahrheit, Freunde. Damrod, mein Rat an dich ist, ihr zu vertrauen. Mein Herz sagt mir deutlich, dass sie gute Absichten hat."
"Die Entscheidung treffe ich selbst," sagte Damrod grimmig. Er ging mehrere Minuten in der Zelle auf und ab, tief in Gedanken versunken. Aerien hielt ihren Atem an. Ihr Schicksal stand auf Messers Schneide.
Ohne Vorwarnung kam eine junge Botin in den Raum gestürzt. "Damrod, wo ist Damrod? Ich habe eine dringende Nachricht für ihn!"
Alle blickten die Waldläuferin an, doch Damrod hob die Hand um sie zum Schweigen zu bringen. Ein weiterer langer Augenblick verging, dann öffnete er die Augen. "Sprich, Serelloth."
"Ich bringe eilige Kunde von Ioreth aus Linhir!" sprudelte es aus Serelloth hervor, deren hellbraunes Haar ganz zerzaust war. "Fürst Imrahil lässt dir ausrichten, dass Belfalas gesichert ist und er ein Bündnis mit den Haradrim Harondors und Nah-Harads geschlossen hat. Im Süden wird es Krieg geben. Er befiehlt dir, alle Männer die du entbehren kannst, kampfbereit zu machen und dem neuen Fürsten von Harondor zur Unterstützung zu entsenden."
Damrod blickte Serelloth einen Moment nachdenklich an. "Die Befehle des Truchsessen von Gondor werde ich nicht infrage stellen," sagte er dann. "Doch nur wenige Kämpfer kann ich momentan entbehren. Dieser neue Fürst Harondors, dieser Qúsay... er wird seinen Wert beweisen müssen bevor ich mich ihm vollends anschließe. Er wird sich zunächst damit begnügen müssen, dass wir die Nordgrenze Harondors, den Übergang über den Poros und den Turm von
Barad Harn(6) bewachen werden. Er soll keinen Angriff aus Mordor fürchten müssen. Doch dies ist vorerst alles, was ich ihm anbieten kann."
Die Waldläufer Glóradan und Serelloth eilten davon, um Damrods Anweisungen weiterzuverbreiten.
Damrod wandte sich wieder Aerien zu. "Dies nun also ist mein Urteil über dich, Azruphel Bêlkali. Du wirst mir alles über die in Mordor verbliebenen Truppen, die Verteidigungsanlagen im Morgul-Tal und was du sonst über die militärische Einsatzbereitschaft Saurons weißt verraten. Lasse nichts aus! Dann wirst du von deinen Fesseln befreit werden, doch mein Vertrauen musst du dir verdienen. Du wirst dem Fürst Qúsay die Nachricht überbringen, dass ich auf Imrahils Anweisung seine nördliche Grenzen schützen und ihn im Krieg unterstützen werde, wenn er sich als treu zu Gondor stehend erweist. Du wirst noch heute nach Süden aufbrechen. Beregond wird mit dir gehen. Wenn du diesen Auftrag ohne Verrat ausführst wirst du dir mein Vertrauen erworben haben."
Aerien atmete lauthals auf. Allzu begeistert von Damrods Auftrag war sie zwar nicht, doch sie tröstete sich damit, auf dem Weg durch Ithilien und Harondor viele Orte zu sehen, die ihr Wissen über die Dúnedain Gondors erweitern würden. Sie erzählte Damrod alles, was er von ihr wissen wollte während der alte Thandor die wichtigsten Punkte mitschrieb. Dann führte man sie durch die Gänge des verborgenen Stützpunkts der Waldläufer nach draußen. Sie blickte sich um und sah Minas Tirith in weiter Ferne.
"Wir befinden uns am höchsten Punkt der Emyn Arnen," erklärte Beregond, der zwei gesattelte Pferde herbeiführte. "Dies," sagte er und wies auf die überwucherten Ruinen die sie umgaben, "ist Bâr Húrin
(7), der alte Wohnsitz des Hauses Húrin."
"Das Haus der Truchsessen Gondors," stellte Aerien fest.
"Sehr gut, Aerien," nickte Beregond und lächelte. "Ich hatte gehofft, dass dein Herz so rein ist wie du es vorgabst," fügte er hinzu.
"Und dennoch hast du mich verraten."
"Ich musste sicher gehen, dass es keine Täuschung war. Ich
wollte dir vertrauen. Doch Damrod ist ein vorsichtiger Mann. Nicht zuletzt deswegen gibt es seine Widerstandsgruppe hier in Ithilien überhaupt noch. Oft schon sind sie nur knapp der Entdeckung durch die Orks entronnen."
Aerien erwiderte nichts. Sie musste das Erlebte erst einmal verarbeiten. Unbeholfen schwang sie sich in den Sattel des hellbraunen Pferdes. Lôminzagar hatte man ihr zurückgegeben und ihre Rüstung sowie den grauen Mantel trug sie nach wie vor. Sie war bereit für die Reise nach Harondor.
Beregond trieb sein Ross an und preschte im Eiltempo in südlicher Richtung los. So gut sie konnte folgte Aerien ihm hinab von den Emyn Arnen auf dem Weg nach Harondor...
Aerien und Beregond nach Süd-Ithilien
(1) adûnâisch "Meerestochter"
(2) adûnâisch "Strahlende Jungfrau"
(3) adûnâisch "Glorreiche Festung" (Durthang)
(4) sindarin "Dunkelmenschen[/i] (Schwarze Númenorer)
(5) adûnâisch "Prinz des Westens"
(6) sindarin "Südturm"
(7) sindarin "Húrins Haus"