Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Gortharia

In den Straßen von Gortharia

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Eandril:
Milva erreichte, das Pferd am Zügel führend, den Treffpunkt genau eine halbe Stunde nach ihrem Aufbruch. Es wäre vermutlich schneller gegangen, wenn sie sich nicht trotz Bohdans Wegbeschreibung zwei Mal beinahe verirrt hatte, doch immerhin war sie pünktlich. Ein steter Strom Menschen floss durch das Tor in die Stadt und hinaus, doch längst nicht so dicht wie am Südtor, durch das Milva Gortharia betreten hatte. Etwas abseits des Zwergentores hatten sich drei Männer versammelt, die ebenfalls Pferde mit sich führten und deren grün-braune Kleidung sie eindeutig als Jäger zu erkennen gab. Als Milva sich ihnen näherte, sprach einer der Jäger sie an: "Milva, ja?"
Milva nickte, und murmelte einen Gruß während sie den Blick über die drei Männer schweifen ließ. Der, der sie angesprochen hatte, musste bereits auf die fünfzig zugehen, und durch sein kurzes schwarzes Haar zogen sich bereits silberne Strähnen. Die anderen beiden waren jünger, etwa in Milvas Alter oder vielleicht etwas älter. Einer der beiden betrachtete sie unverholen interessiert, während der andere geradewegs an ihr vorbeizuschauen schien.
"Dann sind wir ja vollzählig", meinte der Ältere zufrieden. "Ich bin Klemen, oberster Jäger der Herrin Velmira Bozhidar. Das sind Pero und Mislav." Während Mislav ihr freundlich zulächelte, ließ Pero einen verächtlichen Blick über Milva und den Bogen auf ihrem Rücken schweifen.
"Kannst du mit diesem Prachtstück überhaupt umgehen?", fragte er spöttisch. "Wenn nicht, kann ich dir ein anderes Prachtstück zeigen, mit dem du ein bisschen Spaß haben kannst." Pero grinste anzüglich, und Milva konnte sich nur mühsam zurückhalten, ihm nicht die Faust ins Gesicht zu schlagen.
"Wenn dein Prachtstück größer als zwei Fingerbreit ist...", gab sie zurück, wobei sie ihren Zorn nur schwer unterdrücken konnte. Kerlen wie Pero war sie bereits überall begegnet, Kerle die glaubten, Frauen wären nur für eine Sache zu gebrauchen. Aber sie würde es ihm zeigen. "Wenn du willst, können wir ja testen, wer besser mit dem Bogen umzugehen weiß."
Pero, der bei ihrer Erwiderung weiß vor Zorn geworden war, entgegnete: "Jederzeit. Und wenn ich gewinne..." Er grinste erneut anzüglich, wandte sich dann mit einem verächtlichen Schnauben ab und schwang sich auf sein Pferd. Klemen, der dem Austausch schweigend gelauscht hatte, schüttelte stumm den Kopf und tat es ihm gleich. Nach einem Augenblick des Zögerns stieg Milva ebenfalls aufs Pferd, und folgte ihnen durch das Tor aus der Stadt hinaus.

Milva in die Gebiete südwestlich der Stadt

Eandril:
Milva vom Bozhidar-Anwesen

Ohne, dass sie es bemerkt hatte, hatten Milvas Schritte sie zurück ins nördliche Händlerviertel geführt. Dorthin wo, wenn man so wollte, ihre Erlebnisse in Gortharia begonnen hatten. Sie ging langsam und ohne besonderes Ziel durch die Gassen, während sich über den hohen, eng zusammen stehenden Hausdächern allmählich die Sonne dem Horizont zuzuneigen begann. Schließlich stand sie vor dem Haus mit dem eisernen Zaun, dass dem Händler Ántonin Dvakar gehörte, legte die Hände auf das kalte Metall, und betrachtete das Haus unschlüssig. Sie wusste nicht recht, was sie tun sollte, was, wenn der Händler ihr kurzes Treffen bereits vergessen hatte und sie nicht einließ? Doch mehr konnte eigentlich nicht geschehen, dachte Milva, und ging durch die Pforte im Zaun den kurzen, mit Kies bestreuten Weg bis zur Tür und betätigte den eisernen Türklopfer. Ein wenig zaghaft, doch das Geräusch war deutlich zu hören, und nur wenig später öffnete sich die Tür.
"Ja?", fragte der weißhaarige Mann, der ihr geöffnet hatte. Er blinzelte und streckte den Kopf ein wenig vor um Milva zu betrachten, sodass sie vermutete, dass seine Sehkraft nachließ.
"Ich, äh...", begann Milva, und der Alte tappte langsam aber offensichtlich ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. "Ich würde gerne euren Herrn sprechen, den Händler Ántonin Dvakar."
"Euer Name?", krächzte der Mann. "Milva", erwiderte sie, und der Alte strich sich mit der fleckigen Hand über das von weißen Bartstoppeln übersäte, faltige Kinn. "Milva, hm", murmelte er. "Sagt mir nichts, aber wahrscheinlich hab' ich's nur wieder vergessen..." Er drehte sich um und rief in das Haus hinein: "Ánton, hier ist wieder eins von deinen Mädchen!"
Milva blinzelte, überrascht von dem offensichtlich vertraulichen Ton, den der alte Diener gegenüber seinem Herrn anschlug. Sie hatte nicht viel mit reichen Händlern zu tun gehabt - um genau zu sein, gar nicht - aber sie hätte eigentlich erwartet, dass auch deren Diener wie bei Adligen vor ihrem Herrn geradezu kriechen mussten.
Im Flur waren Schritte zu hören, und schließlich tauchte Ántonin in der Tür auf. Als er Milva erblickte, verwandelte sich der verwirrte Ausdruck auf seinem Gesicht in ein Lächeln. "Ah, Fräulein Milva, wie schön euch zu sehen."
Er wandte sich dem Diener zu, und sagte: "Vladir, Fräulein Milva ist keins von meinen Mädchen wie du so nett zu sagen pflegst. Im Übrigen wäre ich dir sehr dankbar, wenn du solche Gerüchte nicht noch weiter verbreiten würdest."
"Ich weiß was ich weiß", brummelte der Alte, und verschwand mit langsamen, schlurfenden Schritten im Haus. Ántonin seufzte, bevor er eine einladende Geste machte und sagte: "Bitte, kommt doch herein." Milva trat ein wenig unsicher durch die Tür, und folgte ihm durch den dämmrigen Flur in einen von der untergehenden Sonne, die durch die offenen Fenster schien, erhellten Raum. Der Händler ließ sich auf einem von mehreren Sesseln nieder. Milva folgte seiner auffordernden Geste und setzte sich in einen der anderen, nachdem sie Köcher und Bogen abgenommen und vorsichtig gegen eine der Armlehnen gelehnt hatte. Sie brauchte einen Augenblick um sich an das Gefühl zu gewöhnen, denn sie hatte noch nie auf etwas so weichem und bequemen gesessen. Sie war an Lager unter freiem Himmel gewohnt, auf Baumstämmen, Felsen oder dem nackten Erdboden zu sitzen, wenn sie Glück hatte auf einem hölzernen Stuhl oder einer Strohmatratze.
"Ihr müsst nicht alles glauben, was der alte Vladir erzählt", sagte Ántonin, während Milva sich noch immer staunend umsah. "Er hat schon meinem Vater gedient und wird allmählich alt, blind und sein Geist lässt auch nach, aber er ist ein hervorragender Koch und ich bin zu sehr an ihn gewöhnt um mich von ihm zu trennen." Milvas Blick wanderte über den kostbaren Teppich, der den steinernen Boden bedeckte, die kunstvoll gestaltete Feuerstelle in einer der Ecken des Raumes, den von wertvoll geschnitzten Schreibtisch aus glänzendem Holz, und schließlich zurück zu dem mit kostbarem Stoff bezogenen Sessel, auf dem sie saß. Alleine der Stoff des Sessels war vermutlich ein vielfaches von dem Wert, was sie an Kleidung trug, und es machte Milva schwindelig.
"Ihr seid... wirklich sehr reich, nicht wahr?", fragte sie schwach. Sie kam sich fürchterlich fehl am Platz vor.
Ántonin lachte leise, aber es war kein spöttisches oder gar hämisches Lachen. "Wohlhabend, kann man wohl sagen. Aber es gibt in dieser Stadt durchaus den ein oder anderen, der noch bedeutend reicher ist als ich. Eure neue Herrin zum Beispiel."
"Meine neue..." "Herrin, ganz richtig", beendete der Händler den Satz für sie. "Ihr arbeitet doch nun für Velmira Bozhidar, nicht wahr? Ich habe gestern mit ihr zu Abend gegessen, und sie hat mir einiges von ihrer neuen Jägerin erzählt. Und als ihr eben vor meiner Tür gestanden habt, wurde mir plötzlich klar dass sie euch meinen musste. Sie wäre schockiert wenn sie wüsste, dass ich euch in meinem Haus als Gast empfangen habe." Der Gedanke schien ihn zu belustigen, also fragte Milva: "Wieso tut ihr es dann, wenn es so schockierend ist?"
Ántonin zog eine Augenbraue in die Höhe, und antwortete: "Nicht für mich. Herrin Bozhidar und ich haben einige gemeinsame Interessen und kann sehr bezaubernd sein, wenn sie will. Aber sie hat auch sehr altmodische Vorstellungen, was die Trennung zwischen den Reichen und den... nicht ganz so Reichen angeht."
"Ihr meint zwischen den Reichen und den Armen", erwiderte Milva, und Ántonin betrachtete sie interessiert. "Auch zwischen den Reichen und den Armen", bestätigte er, bevor er sich aus seinem Sessel erhob und zum Tisch hinüberging. "Ihr seid allerdings nicht hier um mit mir über Politik zu streiten, nicht wahr?" Während er einige Papiere beiseite räumte, antwortete Milva langsam: "Nein.. eigentlich hatte ich vor auf euer Angebot einzugehen. Ich..." Sie zögerte, ob sie wirklich so offen sein konnte. "Ich vermisse meine Heimat. Die Wälder, und die..." Sie brach ab. Ántonin nickte verständnisvoll, und winkte sie an den Schreibtisch heran.
"Nun, dann will ich euch eure Heimat zeigen." Auf dem Tisch ausgebreitet lag eine Karte. Milva hatte noch nie eine Karte von Rhûn gesehen, doch sie glaubte sie Form des Meeres von Rhûn zu erkennen, und links - westlich -davon die Berge von Gorak, die sie vor wenigen Wochen erst durchquert hatte.
"Hier", Ántonin deutete auf einen Punkt am Südufer des Meeres, "Sind wir. Und irgendwo hier", sein Finger wanderte über das Meer hinweg, eine dünne Linie, die vermutlich den Rotwasser darstellen sollte, entlang nach Norden, "kommt ihr her."
"So weit...", sagte Milva leise, und spürte, wie ihre Brust sich schmerzhaft zusammenzog. Natürlich hatte sie gewusst, dass Gortharia weit von Dorwinion und dem Sternenwald entfernt war, aber es so auf der Karte zu sehen, war noch anders. "Sind das hier die Eisenberge?", fragte sie, und zeigte auf eine grauschwarze Masse am Nordende der Linie des Rotwassers.
"Natürlich", bestätigte Ántonin. "Es steht doch..." Er unterbrach sich, und biss sich auf die Unterlippe. "Ihr... könnt nicht lesen. Verzeiht." Milva schüttelte den Kopf. "Leute meines Standes haben dazu selten die Zeit. Wir sind zu beschäftigt mit Überleben."
Der Händler zog erneut eine Augenbraue in die Höhe. "Lesen zu können, kann unter Umständen beim Überleben helfen. Ihr solltet es lernen."
"Vielleicht", murmelte Milva, plötzlich wieder unsicher. Sie wandte den Blick nicht von dem kleinen Fleck auf die Karte, wo sie ihre Heimat vermutete, als ob ein Teil von ihr hoffte, durch das Pergament auf magische Weise einen Blick darauf erhaschen zu können.
"Setzen wir uns", schlug Ántonin vor. "Und dann... erzählt mir von eurer Heimat, wenn ihr das wünscht."

Nachdem sie sich erneut gesetzt hatten, begann Milva zu erzählen. Zuerst langsam und stockend, dann immer flüssiger und sicherer, und mit jedem Wort hatte sie das Gefühl, die vertrauten Landschaften deutlicher vor sich sehen zu können. Sie redete von den lichten Wäldern Dorwinions, in denen sie zuerst das Jagen gelernt hatte. Von dem kleinen Dorf an der Flussbiegung, in dem sie aufgewachsen war. Von dem Schilf am Ufer des Flusses, das im Wind sanft raschelte. Von den weiten, grasbewachsenen Ebenen östlich davon, die sich schier endlos zu erstrecken schienen, und den niedrigen, bewaldeten Hügeln im Westen, die Schutz und Geborgenheit boten. Von den dichteren, dunkleren Wäldern im Norden, in denen... Milva brach ab. Beinahe hätte sie vom Sternenwald gesprochen, und von den Elben die dort lebten. Doch das war ein Geheimnis, dass sie niemandem erzählen konnte, außer vielleicht... Ryltha musste sie es erzählen, damit sie einen Boten dorthin schicken konnte, mit dem was sie über König Bard in Erfahrung gebracht hatte. Sie hoffte, dass die Schattenläuferin einwilligen würde.
Offenbar hatte sie einige Zeit geschwiegen, denn schließlich räusperte Ántonin sich, und sagte: "Nun, ihr bringt es beinahe fertig, dass ich selbst eure Heimat vermisse, obwohl ich nicht von dort komme. Es klingt so... idyllisch."
"Aber das ist es nicht - nicht wirklich", erwiderte Milva. "Aber ihr sagtet ja, ihr wolltet nicht über Politik reden." Ántonin lachte. "Ihr habt wirklich eine scharfe Zunge, wenn ihr erst einmal auftaut. Ich hoffe, ihr fühlt euch nun ein wenig besser?"
Milva atmete tief durch und nickte. "Allerdings. Das war beinahe so gut, wie selbst wieder dort zu sein."
"Nun, das freut mich." Der Händler lächelte, und erhob sich. "Ich hoffe ihr verzeiht mir, wenn ich euch nun verabschieden muss, aber ich habe noch einiges zu tun - und morgen muss ich einige meiner Gildenbrüder besuchen und sie davon überzeugen, dem König weitere Kredite zu gewähren..." Auch Milva war aufgestanden, stutzte und biss sich auf die Unterlippe. "Ihr unterstützt den König?"
"Hm", machte Ántonin, und warf ihr einen scharfen Blick zu. "Und ihr missbilligt das."
"Der König ist...", begann Milva, doch Ántonin hob die Hände. "Wir hatten beschlossen, nicht über Politik zu sprechen. Das würde unweigerlich zu Streit führen, und das würde ich gerne vermeiden."
Für einen Augenblick blickte Milva ihn offen an, dann nickte sie. "Also schön, ich sage es nicht. Danke, für eure Gastfreundschaft."
"Die Freude war auf meiner Seite", erwiderte Ántonin, und lächelte so freundlich, dass Milva nicht anders konnte als das Lächeln zu erwidern. "Ich freue mich schon auf euren nächsten Besuch."
Als Milva langsam das Haus verließ und sich auf den Heimweg machte, war das gute Gefühl, dass sie bei den Gedanken an ihre Heimat verspürt hatte, bereits wieder verflogen. Oh Maya, dachte sie, und verwendete damit den Kosenamen, den ihr Vater manchmal für sie verwendet hatte. Im Augenblick fühlte sie sich nicht wie Milva, sondern eher wie das kleine, verwirrte und verängstigte Mädchen, dass Maya gewesen war. In was bist du da hineingeraten? Sie war in einer Stadt, die sie nicht kannte, umgeben von Feinden, ihre Verbündeten waren ihre ein Rätsel und der einzige wirkliche Freund, den sie zu haben schien, war ein reicher Händler, der den König unterstützte, den sie hasste. Sie wusste nicht, wie das alles enden sollte.

Milva zum Königspalast...

Eandril:
Milva vom Königspalast

Beinahe den gesamten nächsten Tag hatte Milva erneut auf der Jagd verbracht, und entsprechend erschöpft war sie, als sie am Abend das Haus von Ronvid und Ana betrat. Der Schuhmacher und seine Frau saßen in der kleinen Küche, aus der es verführerisch nach Eintopf duftete. Milva lehnte Bogen und Köcher vorsichtig an die Wand und trat dann ein wenig zögerlich durch die Tür. Im Raum knisterte einladend das niedrige Feuer im Ofen, das ein schwaches flackerndes Licht warf.
Als sie eintrat, hob Ronvid den Kopf und lächelte. "Milva! Komm, setz dich zu uns und iss etwas, Mädchen." Milva schüttelte den Kopf, und erwiderte: "Nein, danke. Ich möchte euch nichts wegessen, und..."
Ana unterbrach sie kurzerhand. Die Frau des Schuhmachers hatte im Gegensatz zu ihrem Mann noch volles braunes Haar, auch wenn es von einigen grauen Fäden durchzogen war. "Ach, Unsinn." Sie schob den dritten Stuhl an dem kleinen Tisch mit dem Fuß zurück, und nahm eine dritte hölzerne Schale samt Löffel aus dem Regal und stellte sie davor. "Du siehst hungrig aus und wir haben genug, also iss."
Milva setzte sich gehorsam, und Ana füllte die Schüssel aus dem eisernen Kessel, der über dem Feuer hing. "Ich habe zwei Rehkeulen mitgebracht, die die Herrin nicht wollte", sagte Milva. "Ihr sollt sie haben."
"Kommt nicht in Frage", antwortete Ronvid. "Du schuldest uns nichts, abgesehen von der Miete für das Zimmer."
"Ich schenke sie euch", gab Milva zurück, und ihr Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. Die beiden Alten wechselten einen bedeutsamen Blick, und schließlich meinte Ronvid: "Also schön... es muss Ewigkeiten her sein, dass ich Wildbret gegessen habe." "Aber nur, wenn du jeden Abend mit uns isst, solange du hier wohnst", ergänzte Ana, während Milva vorsichtig den dampfend heißen Eintopf probierte. "Und nicht in irgendein Gasthaus gehst, wo sie dir wer weiß was für einen Fraß vorsetzen."
Der Eintopf gehörte zum Besten, was Milva seit langer Zeit gegessen hatte. Sie war zwar normalerweise genügsam und kümmerte sich nicht groß darum, was genau sie zu Essen bekam, doch wenn das Essen gut war, konnte sie es zu schätzen wissen. Nach zwei weiteren Löffeln warf sie einen Blick durch den kleinen Raum, und stellte fest, dass sie sich wohlfühlte. Das Gefühl war ihr in der letzten Zeit beinahe unbekannt geworden, und sie konnte gerade noch einen zufriedenen Seufzer unterdrücken.
Nach einiger Zeit, in der sie schweigend gegessen hatte, fragte Milva: "Ronvid... Kannst du eigentlich lesen?"
Der Schuhmacher schnaubte amüsiert. "Natürlich kann ich lesen. Was glaubst du, wie ich meine Bücher führe?"
"Nun ja, ich dachte mir..." Milva starrte auf ihre Schüssel, und spürte, wie sie errötete. "Ich wollte fragen... vielleicht kannst du mir ein wenig davon beibringen? Ich kann auch dafür bezahlen!", fügte sie hastig hinzu.
"Bezahlen, willst du mich beleidigen?", fragte Ronvid, doch seine Augen funkelten amüsiert. "Wieso willst du lesen lernen? Ich kann mir kaum vorstellen, dass man das im Wald braucht." Er zwinkerte ihr zu, was der Frage ein wenig die Schärfe nahm, und so erwiderte Milva nur: "Ich habe festgestellt, dass es ziemlich nützlich sein kann. Und was kann schon so schwer daran sein?" Der eigentliche Grund war natürlich ein anderer. Ihr war klar geworden, dass der Auftrag, den Ryltha ihr erteilt hatte, nur ausführbar war, wenn sie einigermaßen lesen konnte. Anders würde sie das Testament der Herrin Velmira nicht erkennen können, und auch nicht, wer dort als Erbe eingesetzt war.
"Also schön", sagte Ronvid schließlich. "Ich werde versuchen, es dir beizubringen. Bezahlen musst du dafür nichts, abends ist es hier manchmal ziemlich langweilig und ich kann die Ablenkung gut brauchen. Aber wenn du dir keine Mühe gibst, werde ich aufhören."
Milva konnte sich über seinen Tonfall ein Grinsen nicht verkneifen, und neigte ein wenig übertrieben den Kopf. "Ja, Meister." Ronvid ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen und schüttelte den spärlich behaarten Kopf. "Und nenn mich bloß nicht Meister, dann fühle ich mich älter als ich bin."

Später in der Nacht erwachte Milva plötzlich, als sie ein leises Kratzen an der Hauswand unter ihrem Fenster hörte. Das Geräusch war zwar nur leise, doch ein halbes Leben auf der Flucht vor den königlichen Soldaten hatte sie gelehrt, auf jedes ungewöhnliche Geräusch zu hören. Das Rufen einer Eule riss sie nicht aus dem Schlaf, ein Zweig der unter einem Stiefel brach, jedoch schon - und das Kratzen an der Hauswand war gehörte ebenso wenig zu den üblichen Nachtgeräuschen.
Sie richtete sich im Bett auf, griff zu dem Dolch der neben ihr auf dem kleinen Holztischchen lag, und lauschte. Wieder ein Kratzen. Es hörte sich an, als würde jemand an der Hauswand hinaufklettern. Milvas atmete möglichst ruhig, als ob sie schliefe. Den Dolch vor sich auf den Knien, nahm sie mit sparsamen Bewegungen ihr Hemd vom Boden und zog es sich über den nackten Oberkörper, ohne dabei das geschlossene Fenster aus den Augen zu lassen. In der Wildnis schlief sie normalerweise vollständig angekleidet, doch hier hatte sie sich angewöhnt, nur eine Hose zu tragen - ansonsten war es in dem kleinen Raum unter dem Dach einfach zu warm zum Schlafen.
Von der Straße drangen gedämpft die Laute einiger Zecher, die spät unterwegs waren, hinauf. Im nächsten Augenblick schwang die geschlossenen Fensterläden lautlos nach außen auf, und eine schmächtige Gestalt mit schulterlangen, schwarzen Haaren sprang hindurch.
Der Eindringling landete ebenso lautlos auf dem Boden wie er die Fensterläden aufgezogen hatte, und war sofort wieder auf den Beinen - ebenso wie Milva, die aus dem Bett gesprungen war und ihr Jagdmesser drohend vor sich hielt. Die Gestalt hob den Kopf, und zwischen den schwarzen Haaren war das schmale Gesicht einer Frau mit funkelnden grünen Augen zu sehen.
"Du hast mich gehört, sehr gut", sagte die Frau anerkennend. "Noch viel besser wäre es, wenn du mir erzählst, wer du bist und was dieser Auftritt bedeuten soll", gab Milva feindselig zurück. Sie war müde von dem Tag und ihr Körper sehnte sich nach Ruhe - die diese Frau ihr aus was für Gründen auch immer offensichtlich zu nehmen gedachte.
"Du kannst mich Teressa nennen", antwortete der Eindringling, ohne sich von dem feindseligen Tonfall abschrecken zu lassen. "Ich bin eine... Freundin von Ryltha."
"Also gehörst du zu den Schattenläufern", sagte Milva leise, um Ronvid und Ana im Nebenraum nicht zu wecken. "Was willst du hier?"
"Sie... wir haben einen Auftrag für dich", erklärte Teressa. "Zieh dich an, nimm deine Waffe, und komm mit."
"Nein", entgegnete Milva und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich habe den ganzen Tag lang einen eurer Aufträge ausgeführt, und jetzt werde ich schlafen."
Ohne eine Regung zu zeigen, meinte Teressa: "Du hast deine Entscheidung bereits getroffen, sie lässt sich nicht einfach rückgängig machen. Ich werde dich vor der Tür erwarten, aber nicht lange." Mit diesen Worten sprang sie so lautlos wie sie gekommen war aus dem Fenster.
Milva stand ein, zwei Herzschläge reglos in der Dunkelheit. Dann stieß sie einen Fluch zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, zog sich an und warf sich ihren Bogen und den Köcher über die Schulter. Leise öffnete sie die Tür, schlich die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße.
Teressa erwartete sie bereits, und sagte ohne eine Spur von Spott in der Stimme: "Das hat nicht lange gedauert."
Milva zuckte mit den Schultern. "Wie du sagtest, ich habe meine Entscheidung getroffen", erwiderte sie kühl. Teressa betrachtete sie einen Augenblick mit einem Ausdruck in den Augen, der Neugierde sein konnte, und sagte dann: "Also schön. Komm mit."

Milva folgte Teressa einige Zeit schweigend durch beinahe ausgestorbene Nebengassen und betrachtete hin und wieder verstohlen das noch beinahe jugendliche Profil der Schattenläuferin. "Wie lange gehörst du schon zu... deinen Freunden?", fragte sie schließlich, das Wort Schattenläufer in der Öffentlichkeit vermeidend. Man wusste nie, wer gerade zuhörte. Als Teressa nicht antwortete, vermutete sie: "Allzu lange kann es noch nicht sein - du bist ja höchstens so alt wie ich eher jünger."
Teressas Gesicht wurde verschlossen, und sie erwiderte kühl: "Das braucht dich nichts anzugehen. Du musst nichts über mich wissen."
"Mhm", machte Milva nur, und schwieg für eine Weile. Sie war nicht oft neugierig, schließlich erzählte sie selbst nicht gerne mehr als das nötigste über sich. Doch ihr Verstand sagte ihr, dass es klug wäre, mehr über ihre Auftraggeber in Erfahrung zu bringen. Je mehr sie wusste, desto geringer die Gefahr unliebsamer Überraschungen, und unliebsame Überraschungen waren das letzte, was sie gebrauchen konnte.
Milva dachte im Gehen nach, denn etwas an Teressas Sprechweise kam ihr vertraut vor, ohne dass sie wirklich wusste, was es war. Es hatte etwas mit ihrer Betonung und der Aussprache einzelner Wörter zu tun... "Ah", sagte sie schließlich, als es ihr einfiel. Sie umrundeten gerade einen beinahe menschenleeren Platz, in dessen Mitte die Statue irgendeines ehemaligen Königs von Rhûn stand. "Du kommst aus Thal oder vom Langen See, nicht wahr?"
Teressa reagierte anders als erwartet. Anstatt schweigend stur geradeaus zu Blicken und Milvas Frage zu überhören, blieb sie plötzlich stehen, fuhr herum und drückte Milva mit einer blitzschnellen Bewegung unsanft gegen eine Hauswand. "Woher willst du das wissen?", zischte sie, sichtlich aufgebracht. In einer anderen Situation hätte Milva sich vielleicht gefreut, eine der so kalten und beherrschten Schattenläuferinnen in Verlegenheit gebraucht zu haben, doch die Panik in Teressas Augen machte ihr Sorgen.
"Es ist... wie du sprichst", erklärte sie ein wenig mühsam, denn die Schattenläuferin presste sie mit erstaunlicher Kraft gegen die Wand. "Ich habe ein bisschen gebraucht, weil es eine andere Sprache ist, aber deine Betonung ist ähnlich wie die der Händler aus Thal, und manche Worte sprichst du ähnlich aus."
Auf dem Markt hatte sie oft mit Händlern aus dem Westen gesprochen und verhandelt, und der Akzent war ihr im Gedächtnis geblieben.
Teressa ließ sie los, und trat einen Schritt zurück. "Ich darf nicht...", murmelte sie mit gesenktem Blick. "Ich muss Teressa sein, um..." Sie hob wieder den Kopf und sah Milva ins Gesicht. "Erzähl niemandem davon - von dem ganzen Gespräch." Ein wenig verwirrt nickte Milva. Sie wusste wie es wahr, Geheimnisse vor jedem bewahren zu müssen. Dennoch fragte sie: "Nicht einmal Ryltha?"
Erneut trat ein beinahe panischer Ausdruck in Teressas grüne Augen. "Erst recht nicht Ryltha. Wenn sie erfährt, dass..." Sie unterbrach sich und schüttelte den Kopf. "Versprich mir einfach, dass du mit niemandem darüber sprichst. Schwöre es."
"Also gut, ich verspreche mit niemandem darüber zu sprechen... was auch immer das hier war", erwiderte Milva.
"Es ist besser für dich - und für mich - wenn du es nicht genauer weißt", sagte Teressa, wieder ein wenig ruhiger. "Lass uns weitergehen, wir sind beinahe dort."

Tatsächlich erreichten sie nur wenig später das Ende einer Sackgasse, in der Teressa eine eine Leiter hinter einigen Kisten hervor zog. Sie stellte sie an eines der umliegenden Dächer und kletterte behände hinauf. Milva folgte ihr ein wenig langsamer.
Oben angekommen verharrte sie neben Teressa in geduckter Haltung. "Siehst du das erleuchtete Fenster direkt auf der anderen Straßenseite?", fragte die Schattenläuferin, und Milva nickte. Die Gebäude auf der anderen Straßenseite waren ein wenig höher als das, auf dessen Dach sie standen, und das fragliche Fenster befand sich direkt auf ihrer Höhe. Durch das Fenster sah Milva ein Bett, in dem eine schlafende Gestalt - offenbar ein Mann - im Licht einer einzelnen Kerze lag.
"Gut", flüsterte Teressa. "Erschieß' ihn."
"Was?", zischte Milva zurück. "Einfach so? Wer ist das überhaupt?"
"Das muss du nicht wissen", erwiderte Teressa. "Wichtig ist nur, dass wir wollen, dass du ihn tötest. Wirst du es tun?"
Milva schwieg einen Moment. Sie hatte kein Problem damit, einen Menschen zu töten - sie hatte es in ihrem Leben oft genug getan. Sie hatte auch keine Schwierigkeiten, es aus dem Hinterhalt zu tun, oft war es gar nicht anders möglich gewesen. Doch das hier... das war kalter Mord, an einem Schlafenden noch dazu.
Trotzdem nickte sie schließlich und sagte: "Ich werde es tun. Aber warum muss er sterben?" Die Schattenläufer hatten das Ziel, den König und die Fürsten zu töten. Dieses Ziel hatte sie ebenfalls, und dafür mussten Opfer gebracht werden.
"Auch das musst du nicht wissen", antwortete Teressa, und hielt ihr einen Pfeil aus grauem Holz und mit schwarzer Befiederung hin. "Hier, benutz den."
Milva nahm den Pfeil entgegen, und wog ihn einen Moment in der Hand. Der Schaft war ein wenig leichter als sie es gewohnt war, die Befiederung ein wenig schwerer und etwas anders angebracht. Sie nahm den Bogen vom Rücken ohne die offensichtliche Frage zu stellen - warum dieser Pfeil und keiner von ihren eigenen - und legte den Pfeil auf die Sehne. Dann zog sie die Sehne zurück, bis sie ihren salzigen Geschmack im Mundwinkel spürte, zielte und schoss in einer einzigen fließenden Bewegung.
Der Pfeil flog lautlos durch die Dunkelheit, durch das geöffnete Fenster und traf mit einem auf diese Entfernung unhörbaren Aufschlag auf den schlafenden Mann. Dessen Gestalt zuckte einmal kurz, schien sich zu verkrampfen und lag dann still.
"Du bist gut", flüsterte Teressa mit unhörbarer Anerkennung. "Aber wir sollten sofort verschwinden."
Lautlos huschte sie, gefolgt von Milva, die Leiter wieder hinunter und durch die Sackgasse zurück auf die Straße. Nebeneinander gingen sie langsam den Weg zurück, den sie gekommen waren. Irgendwann fragte Milva: "Also, wer war er? Jetzt, wo er tot ist, wird es wohl nicht mehr schaden, wenn ich es weiß."
Doch Teressa schüttelte den Kopf. "Vielleicht wird Ryltha es dir morgen erklären, aber nicht ich. Ich muss jetzt gehen."
"Warum?", fragte Milva verwirrt. "Und was ist morgen?"
"Morgen ist ein wichtiger Tag", erwiderte Teressa mit einem Lächeln, das auf unbestimmte Weise traurig wirkte. "Geh jetzt nach Hause, Milva."
Damit war sie in einer Gasse, deren Öffnung Milva gar nicht bemerkt hatte, verschwunden. "Mein Zuhause ist in Dorwinion", murmelte sie leise vor sich hin, und seufzte. Dann machte sie sich auf den Weg zurück - in der Hoffnung, dass sie sich in der dunklen Stadt nicht verirren würde.

Eandril:
In der nächsten Nacht war Milva vorbereitet, als das leise Klettergeräusch an der Hauswand zu hören war. Sie stand, noch vollständig angezogen, von der Bettkante auf. Dann ging sie zum Fenster, öffnete die Läden und blickte an der Hauswand hinunter.
Ein Stück unter ihr hing Teressa an der rauen Holzwand, und blickte zu ihr hinauf. "Kein Grund dir die Mühe zu machen", sagte Milva leise. "Ich komme runter."
Teressa seufzte, und ließ sich auf die Straße unter ihr fallen. Ihr Aufprall war unhörbar, obwohl sie sicherlich fast zwei Meter tief gefallen war.
Nur wenig Augenblicke später trat Milva auf die nächtliche Straße hinaus. Die Stadt war in Nebel gehüllt, der vom Meer hinauf gekommen war, und Teressa wirkte darin beinahe wie ein Geist.
"Die anderen - wir - wollen mit dir sprechen", erklärte die Schattenläuferin ohne Begrüßung, und fügte dann mit plötzlich gesenkter Stimme hinzu: "Du solltest es dir gut überlegen."
"Überlegen?", fragte Milva ungläubig. "Ich dachte, ich hätte den Punkt zur Umkehr schon längst überschritten."
"Es gibt immer einen Weg", gab Teressa leise und eindringlich zurück. "Du könntest gehen und die Stadt verlassen, wir würden dich nicht verfolgen. Aber wenn du heute abend... Danach wirst du selbst dich daran hindern."
"Allmählich habe ich genug von deinen Andeutungen und Warnungen", sagte Milva ungeduldig. Sie hatte kein Verständnis dafür, wenn man etwas zu sagen hatte, sollte man es offen und klar tun. "Ich werde mich nicht umentscheiden, weil das hier das Richtige ist."
Der Zweifel stand Teressa ins Gesicht geschrieben, doch sie erwiderte nichts. Sie führte Milva durch die in Nebel gehüllten Straßen bis zu der unscheinbaren Tür, durch die sie bereits bei ihrem ersten Besuch bei den Schattenläufern den Untergrund betreten hatte.
An der Tür angekommen, drehte Teressa sich noch einmal zu Milva um, doch Milva schnitt ihr bereits im Voraus das Wort ab. "Na los, schließ auf", sagte sie.
Teressa zögerte nur einen Augenblick, dann zuckte sie mit den Schultern, und öffnete die Tür.

Milva in den Untergrund von Gortharia

Fine:
Cyneric und Salia aus dem Untergrund von Gortharia


Der Schatten von Milvas Silhouette verschwand im dichten Nebel und ließ Cyneric und Salia alleine zurück. Schweigend blieben sie mehrere Minuten stehen, ehe Salia sich schließlich langsam in Bewegung setzte. Das Mädchen schien kein besonderes Ziel zu haben. Sie ist durcheinander, und braucht jemanden, der einfach nur da ist, dachte Cyneric. Seine eigene Tochter hatte auch hin und wieder solche Momente gehabt: Momente, in denen es nicht wichtig war, worüber man sprach, sondern in denen einem gezeigt wurde, dass da jemand war, dem man wichtig war. Salia ging direkt vor ihm, die Kapuze über den Kopf gezogen, und ging einfach nur geradeaus die Straße hinunter. Ihr Atem war deutlich zu hören. Es war kalt in dieser Nacht in Gortharia, und der Nebel schien mit jedem Schritt dichter zu werden. Das half Cyneric dabei, sich in Gedanken an einen anderen Ort zu versetzen: Er ging über den ausgetretenen Weg, der mitten durch Hochborn bis zu seinem eigenen kleinen Haus führte, und seine Tochter Déorwyn ging vor ihm her, verborgen unter der grünen Kapuze ihres Umhangs. Als er jedoch ein verdächtiges Luftholen hörte, wurde Cyneric rasch aus dem Traumbild gerissen und war wieder in Gortharia, in der Gegenwart. Salias Schritttempo hatte sich stark verlangsamt, und als Cyneric sah, wie sich ihre Schultern merklich hoben und senkten, wusste er was los war. Er legte dem Mädchen sachte die Hände auf die Schultern und stellte fest, dass er richtig gelegen hatte. Sie schreckte weder zurück noch riss sie sich los. Stattdessen blieb sie beinahe regungslos, abgesehen davon, dass sie sich leicht rückwärts lehnte und dabei Halt an ihm suchte und fand. Er spürte deutlich, wie ein Beben durch Salia ging. So etwas hatte Cyneric schon einmal gesehen: Gefühle, die sich angestaut hatten und unterdrückt worden waren, entluden sich nun. Mehrere lange Augenblicke blieb Salia still, doch dann drehte sie sich zu ihm um, das tränenüberströmte Gesicht voller Fragen und Erwartung. Sie hatte lautlos geweint: ein letzter Protest gegen die hochkommenden Emotionen, da sie keine Schwäche hatte zeigen wollen. Cyneric wusste, was zu tun war. Rasch legte er die Arme um sie, und Salia vergrub das Gesicht an seiner Brust. Und endlich ließ sie los und gab den Widerstand auf. Schluchzend stand sie da, für den Moment verletzlich, und doch in Sicherheit.
Obwohl es spät war, wartete Cyneric geduldig darauf, dass Salia sich von selbst beruhigte. Er wusste, dass Worte nicht dabei helfen würden. Er strich ihr nur sanft über den Kopf und hielt sie im Arm, Geborgenheit und Sicherheit ausstrahlend. Das war es, was seine Tochter immer gebraucht hatte, und Salia schien es ähnlich zu gehen.

Einige Zeit später löste sich Salia vorsichtig von ihm und wischte sich mit dem Handrücken die feuchten Wangen ab. Sie blickte zu ihm auf und sah Cyneric in die Augen.
"Niemand darf hiervon erfahren," wisperte sie. "Vor allem nicht..."
"Ich weiß," sagte er. "Es gibt nichts, worum du dich sorgen musst, Salia."
Sie schlug die Augen nieder. "Dieser Name ist nicht... Cyneric, du kennst mich doch kaum. Wie konntest du nur so... Woher wusstest du nur, was ich...?" Die Frage verhallte unbeendet.
"Wie alt bist du?" fragte Cyneric im Gegenzug. "Sicherlich nicht viel älter als zwanzig, wenn ich schätzen müsste." Da von Salia keine Widerrrede kam, nickte Cyneric leicht und sah seinen Verdacht als bestätigt an. "Ich habe eine Tochter in deinem Alter, wie du vielleicht weißt. Ryltha und Morrandir wissen es jedenfalls. Sie ist dir in einer Hinsicht sehr ähnlich: Wenn ihr alles zu viel wird, braucht sie jemanden, der sie einfach nur hält und ihr Geborgenheit vermittelt. Du hast deine Gefühle zu lange unterdrückt, Salia. Irgendwann mussten sie ja deinen Schutzwall durchbrechen."
"Aber... es war doch nur Milva, die... Ich weiß nicht, was das ausgelöst hat," stotterte Salia.
"Vielleicht hast du selbst etwas im Brunnen gesehen, als Milva hineingeblickt hast?" überlegte Cyneric. "Ich zumindest glaubte für einen Augenblick ein Bild meiner Tochter zu sehen, wie sie aus Hochborn floh. Weißt du, das ist der wahre Grund warum ich das hier überhaupt mache. Diese ganze Sache mit den Schattenläufern."
"Leise, leise!" zischte Salia und ihre Augen weiteten sich. "Du weißt nicht, wer zuhört! Lass uns einen etwas weniger öffentlichen Ort suchen. Und dann reden wir."

Rasch führte Salia Cyneric durch mehrere Straßen und Gassen bis in ein Viertel, das er seit seiner Ankunft in Gortharia noch nicht betreten hatte. Es schien hauptsächlich das Wohngebiet jener Bürger zu sein, die zwar eine Stufe über dem einfachen, armen Volk standen, sich aber weder zum Adel noch zu den Reichsten zählen konnten. Salia stoppte schließlich am Tor eines kleinen Gartens, der an drei Seiten von hohen Hausmauern umgeben war und von der Straße durch eine mannshohe Mauer getrennt wurde. Rasch schloss sie auf und winkte ihn herein.
"Hier ist es sicher," sagte sie, obwohl sie ihre Stimme noch immer etwas gedämpft hielt. Salia setzte sich auf eine der beiden kleinen Bänke, die neben den einzigen Baum standen, der den Garten zierte. Er war nicht sonderlich hoch, aber dafür breit, und hing voller Kirschen.
"Erzähl mir von deiner Tochter. Ihr Name ist Déorwyn, nicht wahr?" fragte Salia und schlug die Beine übereinander. "Ich habe allerdings gehört, dass sie sich nun anders nennt."
"Wie meinst du das?" fragte Cyneric "Ich dachte, der Brunnen zeigt nur Bilder."
"Nun, das haben zumindest Ryltha und Morrandir gesagt, als sie sich über dich beraten haben. Der Name war kurz, wie ein Spitzname. Ich glaube, er begann mit K..."
"Es ist nicht wichtig," meinte Cyneric. "Ich weiß, wie ich sie genannt habe, als sie geboren wurde, und für mich wird sie immer mein kleines Mädchen bleiben, selbst wenn sie einst selber Kinder haben sollte. Ich habe dir gesagt, dass sie der Grund für all das hier ist, und dazu stehe ich. Sie ist alles, was mir geblieben ist, Salia. Meine Frau, meine Eltern und mein Dorf sind fort. Nur Déorwyn ist noch übrig. Sie ist dort draußen irgendwo... und ich werde sie finden."
"Und der Brunnen kann dir zeigen, wo," schlussfolgerte Salia. "Aber der Preis, Cyneric! Der Preis ist zu hoch!"
"Nein," gab er entschieden zurück. "Kein Preis ist mir zu hoch. Ich werde alles tun - alles, verstehst du?"
Salia starrte ihn einen langen Augenblick an. "Du weißt noch immer nicht, worauf du dich einlässt," stieß sie hervor und vergaß für einen Augenblick ihre Zurückhaltung. "Sieh dir nur an, was sie mit mir gemacht haben! Sie fanden mich, als ich keinen Ausweg mehr hatte... und das nutzten sie gnadenlos aus. Wusstest du, dass Ryltha einst ebenso war wie ich? Aber sie hatte niemanden, der für sie da war. So wie ich niemanden habe. Und jetzt ist die Wirkung dieses verdammten Gebräus bei ihr so weit fortgeschritten, dass es kein Zurück mehr gibt."
"Aber für dich nicht," sagte Cyneric sachte. "Für dich ist es noch nicht zu spät, Salia. Du hast unrecht: du hast jemanden, der da ist. Auch wenn ich dich kaum kenne, wie du selbst sagst."
Salia blickte auf, und Hoffnung glitzerte in ihren Augen. "Tu das nicht..." flüsterte sie. "Tu es nicht, nur weil ich dich an deine Tochter erinnere. Wenn du mir hilfst, zerstörst du damit jegliche Gelegenheit darauf, Déorwyn jemals zu finden. Das bin ich nicht wert..."
"Ich entscheide, wem ich helfe, junge Dame," stellte Cyneric klar. "Diese... Teressa, die sie aus dir machen wollen... das bist nicht du."
"Du weißt nicht, wer ich bin," wehrte Salia weiter ab, doch ihr Widerstand schwand mit jedem Wort Cynerics.
"Dann ändern wir das. Erzähl mir von dir. Erzähl mir, wer Salia ist, und wo sie herkommt."
"Nicht hier... nicht jetzt..."
"Jetzt ist die beste Gelegenheit. Jetzt stehst du nicht unter dem Einfluss des Trankes."
"Verdammt!" rief Salia. "Also gut, du hartnäckiger Narr. Ich hoffe, du bist zufrieden, wenn wir erwischt werden und grausam zu Tode gefoltert werden. Komm. Gehen wir nach drinnen... dort ist es wärmer."
Cyneric dachte noch darüber nach, ob sie das mit der Folter ernst gemeint hatte, doch Salia war aufgesprungen und zum hinteren Ende des Gartens gelaufen. Sie öffnete eine kleine Tür, durch die warmes Licht drang.
"Du willst wissen, wer ich bin? Du sollst es erfahren," sagte Salia während sie an der Türschwelle auf ihn wartete. "Heute Nacht wird die Besitzerin dieses Hauses nicht hier sein. Wir haben also genug Zeit."
Rasch folgte Cyneric ihr ins Innere...


Cyneric und Salia in Rylthas Haus

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