Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Gortharia
In den Straßen von Gortharia
Eandril:
Milva aus dem Untergrund von Gortharia
Am nächsten Morgen erwachte Milva unausgeschlafen und mit fürchterlicher Laune. Ihr Erlebnis mit dem Brunnen hing ihr immer noch nach, die Bilder, die sie gesehen hatte, ließen sie nicht los. Und dann war da noch die Tatsache, dass die Schattenläufer sie benutzt hatten um einen Feind des Königs zu töten. Morrandirs Erklärung hatte zwar einen unangenehmen Sinn ergeben, doch trotzdem fragte Milva sich, ob sie überhaupt irgendetwas glauben konnte, was die Schattenläufer sagten.
Zu viel Wissen kann gefährlich sein, hatte Teressa gesagt. Doch hatte sie damit gemeint, dass dieses Wissen Milva selbst gefährden könnte - oder nur ihre Loyalität zu den Schattenläufern? Sie konnte es nicht leiden, benutzt zu werden. Vielleicht sollte sie sich nach Alternativen umsehen, nach anderen Freunden und Verbündeten, doch sie kannte niemanden in Gortharia - zumindest niemanden mit Einfluss, der ihr in dieser Sache helfen würde.
Da Herrin Velmira ihre Dienste an diesem Tag offenbar nicht benötigte und Ronvid tagsüber in seiner Werkstatt beschäftigt war und ihr nicht weiter das Lesen beibringen konnte, unternahm Milva nach einem kurzen Frühstück einen Streifzug durch die Stadt. Die Menschenmengen auf den Straßen irritierten sie jedes mal von neuem und sie vermisste in den engen Gassen wie Offenheit der Wildnis, und trotzdem war es besser, als den ganzen Tag untätig in ihrem Zimmer herumzusitzen.
Einige Zeit wanderte sie ziellos umher, mit den Gedanken anderswo. Bedenke, dass unser Schicksal uns alle einholt. Was hatte die Herrin - wenn sie es wirklich gewesen war - gemeint? Was war es, dass Milva tun sollte, und würde ihr Schicksal sein? Ungefragt stand ihr das Bild des blutigen Dolches in der Nacht wieder vor Augen. Milva erschauderte, schob die Gedanken fort und versuchte, sich stattdessen auf ihre Umgebung zu konzentrieren. Sie hatte einen kleinen Marktplatz erreicht, auf dem einige Händler ihre Waren anpriesen. In der Mitte erhob sich die schwarze Statue eines Kriegsherren mit einer mächtigen Keule in der Hand. Milva wusste, wen die Statue darstellte, denn selbst in den Städten Dorwinions hatte es Abbilder von Sauron, dem Herrn von Mordor, gegeben. Der Statue schenkte Milva keinen zweiten Blick, doch ein kleiner Mann in bunten Kleidern, der an ihrem Fuß saß, erregte ihre Aufmerksamkeit.
Er spielte eine muntere Melodie auf einer Laute, und sag dazu etwas, dass sich als Spottlied auf einen der früheren Könige Rhûns entpuppte.
Milva blieb einige Zeit stehen und lauschte den spöttischen, hintergründigen Versen des Spielmannes. Der Mann hatte eine schöne Stimme und hatte zu Anfang seines Liedes noch gelächelt, doch je länger er sang, desto ernster wurden seine Miene und desto deutlicher verglich er den närrischen Tyrannen der Vergangenheit mit König Goran. Die Zuhörer, die eben noch lachend gelauscht hatten, begannen unbehaglich zu tuscheln, und einer nach dem anderen ging wieder seiner Wege, schnell, als wollte er möglichst viel Abstand zwischen sich und den Spielmann bringen.
Milva wollte das Ende des Liedes abwarten, neugierig, wie weit der Spielmann gehen würde, wurde jedoch plötzlich von hinten angerempelt und unsanft zur Seite geschoben. Sie wollte den unhöflichen Kerl gerade zornig anfahren, als sie die goldene Rüstung der Stadtwachen erkannte. Stattdessen wich sie einen Schritt zurück, gerade als der Anführer der Wächter laut zu dem Spielmann sagte: "Du! Wir haben gehört, du singst Spottlieder auf den König und seine Ratgeber?"
Der Spielmann war bleich geworden, legte aber äußerlich ruhig seine Laute beiseite, und erwiderte mit kaum zitternder Stimme: "Nein, da muss ein Irrtum vorliegen. Ich habe lediglich unseren gnädigen Herrscher mit den närrischen Königen der Vergangenheit verglichen, was sehr zu seinem Vorteil ausgefallen ist."
Der Anführer der Stadtwächter schnaubte verächtlich. "Solche Ausreden haben wir schon oft gehört. Genützt haben sie keinem einzigen von euch... Aufwieglern." Er nickte seinen beiden Begleitern zu, die den Spielmann an den Armen packten. "Na los. Wollen doch sehen, ob du nicht gestehst, wenn wir dich ein wenig pieksen..." An den Rest der Menge gerichtet rief er: "Lasst euch das ein Beispiel sein, was mit denen passiert, die versuchen, euch in böser Absicht zu Rebellion und Aufstand aufzuwiegeln."
Ohne darüber nachzudenken, setzte Milva einen Fuß nach vorne. Sie wusste nicht, was sie tun oder sagen wollte, und eigentlich wollte sie ganz sicher nicht ihre Freiheit und ihr Leben für einen Spielmann aufs Spiel setzen, und trotzdem...
Eine Hand schloss sich um ihren Oberarm, so fest, dass es beinahe weh tat. Milva wandte den Kopf, und sah sich einer jungen Frau mit hellen, von dunkleren Strähnen durchzogenen Haaren gegenüber. "Nicht", zischte sie. Bevor Milva erwidern konnte, dass sie gar nichts hatte tun wollen, hörte sie das unverkennbare Zischen von Pfeilen, die durch die Luft flogen. Im nächsten Augenblick brachen die beiden Wächter, die den Spielmann festhielten, zusammen, und aus ihren Kehlen ragten Pfeile. Der Spielmann selbst hatte plötzlich einen Dolch in der Hand, den er dem noch stehenden Anführer ohne Zögern in den Rücken rammte.
Die Hand verschwand von Milvas Arm, als die Frau ebenfalls einen Dolch hervorzog und vor den in die Knie gegangenen Stadtwächter trat.
"Ihr sollt ein Beispiel dafür sein, was die Schwarze Rose mit jenen macht, die die Menschen von Rhûn unterdrücken und für die Kriege ihres dunklen Herrn missbrauchen!" Sie stieß dem Wächter ihren Dolch in die Kehle. Der Mann stieß einen gurgelnden Schmerzenslaut aus, und kippte zur Seite weg.
Inzwischen hatte sich eine Menschenmenge um das Schauspiel herum versammelt, und als die hellhaarige Frau ihren blutigen Dolch an der Rüstung des Toten abwischte und sich dann wieder aufrichtete, ertönte von weiter hinten ein einzelner Ruf: "Es lebe die Schwarze Rose!"
Einige weitere nahmen den Ruf ein wenig zaghaft auf, doch der Großteil der Menge blieb stumm. Die Anführerin warf ihr Haar mit einer raschen Kopfbewegung über die Schulter, warf einen Blick über die Menge - wobei Milva glaubte, dass der Blick ein wenig länger an ihr hängen blieb - und verschwand gemeinsam mit dem Spielmann um die Statue und in einer Nebengasse.
Auch Milva entschied sich, so schnell wie möglich von diesem Ort zu verschwinden. Wer wusste schon, was geschah, wenn die Freunde der ermordeten Gardisten hier auftauchten. Auf dem Weg zurück dachte sie über das Geschehene nach. Offenbar waren die Schattenläufer nicht die einzigen, die sich gegen den König und seine Fürsten stellten. Die Schwarze Rose, wie diese andere Gruppe sich nannte, schien allerdings deutlich offener vorzugehen. Jedenfalls konnte Milva sich nur schwer vorstellen, dass die Schattenläufer sich so offen zu einer ihrer Taten bekennen würden - ihr Weg schien eher der der Täuschung und des Fädenziehens im Hintergrund zu sein.
Sie wünschte sich, sie hätte jemanden um darüber zu reden. Doch der einzige Mensch in Gortharia, der dazu geeignet schien war Cyneric - er stand offensichtlich auf ihrer Seite, und schien nicht so verschlossen zu sein wie die übrigen Schattenläufer. Und im Gegensatz zu Ronvid und Ana, die vollkommen unbeteiligt waren, würde ein solches Gespräch Cyneric auch nicht in größere Gefahr bringen, als er ohnehin schon war. Das einzige Problem war, dass Milva keine Ahnung hatte, wo sie Cyneric ungestört aufsuchen konnte - weder der Palast des Königs noch irgendein Ort, der mit den Schattenläufern zu tun hatte, erschienen ihr richtig, und wo er sich in seiner freien Zeit aufhielt wusste sie nicht. Außer vielleicht in der Taverne, wo sie ihm vor einiger Zeit bereits zufällig begegnet war. Milva nahm sich vor, es an diesem Abend bereits dort zu versuchen - ihr Leseunterricht würde warten müssen.
Milva zur Taverne "Zum einbeinigen Zweibein"
Fine:
Milva und Cyneric aus Tianas Taverne
Cyneric fühlte sich schmerzlich an seine Jugend erinnert. An seinen Bruder, genauer gesagt. Ganz besonders an die vielen Frauen, mit denen Cynewulf damals Bekanntschaft geschlossen hatte. Es war immer dieselbe Masche gewesen: Er redete ihnen gut zu, machte ihnen Komplimente, und meistens wurde dazu im großen Maße getrunken. Das führte dazu, dass sich viele Frauen überschätzten, und sich bald sehr ähnlich verhielten wie es Milva nun tat. Cyneric hatte es damals schon nur selten übers Herz gebracht, Cynewulfs Opfern einfach die Tür vor der Nase zuzuschlagen und so immer wieder sturzbetrunkene Mädchen nach Hause zu ihren Eltern gebracht oder in der Scheune in Hochborn übernachten lassen.
Immerhin hatte er aus Milva die ungefähre Lage des Hauses, in dem sie wohnte, herausbekommen. Ihre Fähigkeit, artikuliert zu sprechen, schien sie von Minute zu Minute mehr und mehr zu verlieren, ganz zu schweigen davon, auch nur einen Fuß gerade vor den anderen zu setzen. Cyneric musste Milva an der Hand hinter sich herziehen und darauf achten, nicht zu schnell zu gehen, damit die Jägerin vom Carnen nicht stoplerte. Glücklicherweise schien von den vielen Leuten, die um diese Uhrzeit noch auf den Straßen unterwegs waren, niemand etwas dagegen zu haben dass ein Palastgardist eine nur allzu offensichtlich benebelte Dame mit sich zerrte. So etwas geschah in einer Stadt wie Gortharia wohl nahezu jeden Abend - wenn man Orvar glauben wollte.
Milva blieb stehen und wehrte sich gegen Cynerics Griff. Mit einem entnervten Seufzen drehte er sich zu ihr um und wollte schon zu etwas deutlicheren Worten greifen, als sie sich vornüberbeugte und mit einem ekelerregenden Geräusch ihren Magen entleerte. Cyneric wartete, bis sie fertig war, und zog dann rasch ein sauberes Tuch hervor, um ihr Mund und Gesicht abzuwischen, die beide ziemlich verschmiert waren.
"Wird Zeit, dass du ins Bett kommst," meinte er. "Und deinen Rausch ausschläfst."
"Willst du... wirklich nicht mitkommen?" stieß Milva undeutlich hervor und schenkte ihm ein Lächeln, das wohl aufreizend wirken sollte, aber dank ihrer nahezu umwerfenden Alkoholfahne eher die gegenteilige Wirkung hatte.
"Danke, ich verzichte," lehnte Cyneric ab.
"Spielverderber," schmollte Milva und verschränkte die Arme. Dabei verlor sie jedoch das Gleichgewicht und fiel zu Boden, auf dem Hinterteil landend.
Cyneric gelang es, sich seine Frustration nicht anmerken zu lassen als er sie mit einem Ruck auf die Beine zog. Es ist ja nicht so, dass ich nicht selbst schon das ein. oder andere Mal versucht habe, Sorgen und Frust mit so vielen starken Getränken wie möglich verschwinden zu lassen, dachte er. Er hatte Milvas rechten Arm über seine Schultern gelegt und stützte sie nun, während sie sich ihren Weg durch die belebten nächtlichen Straßen suchten.
Ich hoffe, sie muss morgen nicht zur Jagd oder gar einen Auftrag für die Schattenläufer ausführen. Am besten wäre es, wenn sie ausschlafen oder sogar den ganzen Tag im Bett verbingen könnte.
Eine Gruppe von goldbekleideten Stadtwachen kam an ihnen vorbeimarschiert, und Cyneric musste sich einige gehässige Kommentare gefallen lassen. Die Stadtwache Gortharias hatte schon immer eine Rivalität mit der königlichen Palastgarde gehabt, und dank des neuen Kommandanten der Goldröcke wurde dieses Konkurrenzverhalten nur noch verstärkt. Nach allem was Cyneric über die Stadtwachen gesehen und gehört hatte, trauerte er jenen, die die Schwarze Rose vor kurzem ermordet hatte, kein bisschen nach.
Milva schien noch immer beleidigt zu sein und gab kein Wort von sich. Cyneric war es ganz recht, da er sowieso nicht recht wusste, worüber er mit ihr reden sollte. Sie hatten sich über viele wichtige Dinge ausgetauscht, über die Cyneric während seiner nächsten Wachschicht nachdenken würde, aber beide hatten offenbar alles gesagt, was sie hatten sagen wollen. Milvas Verbindung zum Königshaus von Thal war sehr interessant, und was sie gesagt hatte, hatte Cyneric auf den Gedanken gebracht, was mit Thal geschehen würde, wenn der König Rhûns und die fünf Fürsten nicht mehr da wären. Würde es wieder ein freies Reich werden, so wie es offenbar auch in Dorwinion erhofft wurde? Doch Thal lag direkt am Erebor, in dem der Schatten aus dem Osten saß, wenn die Gerüchte stimmten die Cyneric gehört hatte. Und dann war da noch Saruman... der den König Thals, Bard II., von seiner Verletzung geheilt hatte und der ihn nach Norden mitgenommen hatte. Würde Thal also von der Besetzung durch die Ostlinge befreit werden, nur um dann unter die Herrschaft Sarumans zu fallen? Cyneric wusste es nicht. Die Zukunft Rhûns und seiner eroberten Gebiete hing davon ab, wie erfolgreich die Schattenläufer und die schwarze Rose in ihrer Mission waren. Und dabei konnte Cyneric behilflich sein... auch wenn er das alles eigentlich aus einem ganz anderen Grund tat.
Er fragte sich, wo seine Tochter wohl gerade war. Meist stellte er sich vor, dass sie irgendwo in der Sicherheit einer Zuflucht unter Freunden war, und nur darauf wartete, dass er sie fand. Fast konnte er sie vor sich sehen, auf einer hölzernen Bank sitzend, und ihn direkt anblickend. Ihr Zopf fiel ihr über die rechte Schulter als sie ihm zuwinkte und mit den Lippen einen einzelnen Satz formte: Komm und finde mich.
"Hier ist es," murmelte Milva und blieb stehen. Cyneric musterte nachdenklich das einfache Haus, vor dem sie standen. Es war spät, aber in einem der Fenster war noch ein schwacher Lichtschein zu sehen. Gut, dachte er. Es ist jemand da, der sich um sie kümmern kann.
Milva hatte seine Hand ergriffen und schien auf etwas zu warten. Als Cyneric nicht darauf reagierte, sondern sich anschickte, an die Eingangstüre des Hauses zu klopfen, führte sie seine Hand an ihren Oberkörper und drückte sie dagegen. Es fiel ihm erst auf, als es zu spät war und seine Finger auf etwas Weiches trafen. Rasch entzog er die Hand aus ihrem Griff, der überraschend stark gewesen war und schlug einen strengen Ton an.
"Dieser Schnaps hat dich wohl tatsächlich sämtliches Benehmen vergessen lassen," sagte er, doch Milva gab keine Antwort, sondern versuchte erfolglos, nach seiner Hand zu greifen.
"Komm schon, du weißt gar nicht, was du verpasst," lallte sie.
Cyneric hatte genug davon. Mit einem energischen Klopfen an der Türe des Hauses machte er dessen Bewohner auf sich aufmerksam, während er Milva an den Schultern festhielt und vor sich schob. Die Türe öffnete sich und eine Stimme ertönte.
"Was gibt es? Wir haben nichts verbrochen! Moment, ist das etwa Milva?"
"Wo bist du denn gewesen, Mädchen?" sagte eine zweite Stimme, die einer Frau gehörte. "Was riecht hier denn... bist du etwa betrunken? Oh Ronvid, sie ist betrunken!"
"Ihr da, Gardist, was hat das zu bedeuten?" fragte der Mann der die Türe geöffnet hatte, und den die Frau Ronvid genannt hatte.
"Keine Sorge, guter Mann," sagte Cyneric beruhigend. "Ihr habt nichts falsch gemacht. Milva wohnt hier, richtig? Sie hat... nun, deutlich zuviel getrunken, und ich habe sie hergebracht, ehe ihr etwas zustoßen oder sie auf dumme Gedanken kommen konnte."
"Kommst du mit nach drinnen, ja?" versuchte es Milva ein letztes Mal.
"Bitte kümmert euch um sie," bat Cyneric ohne auf Milva einzugehen. "Sie braucht jetzt Schlaf."
"Nein, was ich brauche, ist ein richtig schöner, ordentlicher..." Der Rest von Milvas Satz ging gnädigerweise in einem Hustenanfall unter.
"Ana und ich werden dafür sorgen, dass sie sich wieder erholt," sagte Ronvid. "Habt Dank, dass Ihr sie wohlbehalten hergebracht habt. Es gibt also wirklich noch gute Leute, die in Diensten des Königs stehen. Ich hatte schon daran gezweifelt. Aber Ihr? Ihr seid ein Mann von Ehre."
Ana - Ronvids Frau - hatte einen Gesichtsausdruck aufgesetzt, den Cyneric nur allzu gut von seiner eigenen Mutter kannte. Wenn sie diesen Blick im Gesicht hatte, hatten Cyneric und sein Bruder gewusst, dass sie das Weite suchen mussten um ihrem Zorn zu entgehen. Insgeheim freute er sich. Sieht aus, als bekäme Milva nun einen ordentlichen Denkzettel verpasst, dachte er. Doch dann fiel ihm wieder ein, was dazu geführt hatte dass Milva so viel getrunken hatte. Und tatsächlich nahm Ana Milva an der Hand und zog sie ins Innere des Hauses, wo sie sogleich auf die junge Frau einzureden begann.
"Was hast du dir dabei nur gedacht? Du riechst wie der versoffenste Grobian in König Gorans Kerker. Wir haben uns Sorgen um dich gemacht!..." Die Tirade verklang, als die beiden sich von der Tür entfernten.
"Nun, meine Arbeit hier ist getan," sagte Cyneric. "Ich hoffe, Milva macht keine zu großen Umstände."
"Nein, nein," beschwichtigte Ronvid. "Sie ist ein gutes Mädchen. Nur sollte man sie wohl vom Alkohol fernhalten..."
"In der Tat," bestätigte Cyneric und wünschte Ronvid eine gute Nacht, ehe er sich abwandte und die Straße hinab in Richtung des Palastes ging.
Ich werde Milva nach Kräften helfen, entschied er. Erst Salia, und nun Milva... alle könnten sie meine Hilfe gebrauchen. Ich muss aufpassen, dass mir hier in Gortharia keine Verpflichtungen im Wege stehen, wenn ich endlich eine Spur meiner Tochter finde...
Cyneric zum Königspalast
Eandril:
Als Milva erwachte, brauchte sie einen Moment um herauszufinden, wo sie war. Sie hatte ein Blätterdach über sich und den Gesang der Vögel erwartet, doch über ihr befand sich eine Decke aus rauen Holzbalken, und von draußen drangen die Geräusche einer Stadt herein. Sie blinzelte verwirrt, bevor die Erinnerung zurückkehrte: Sie war in Gortharia. Aber warum schmerzte ihr Kopf so... ah.
Milva richtete sich langsam auf, setzte sich auf die Bettkante und presste die Hände gegen die Schläfen. "Oh, verflucht..." Sie atmete langsam tief ein und aus, während der Rest der Erinnerung zurückkehrte. Sie hatte Cyneric in der Taverne getroffen, und... sie hatte ihm von Miran erzählt. Kein Wunder, dass sie einen solchen Kater hatte - über diese Dinge zu sprechen oder auch nur über sie nachzudenken, konnte sie nur mit jeder Menge Alkohol ertragen.
"Eine schöne Weihe bist du...", murmelte sie vor sich hin, während sie mühsam auf die Beine zu kommen versuchte. "Eher ein dummes Huhn."
Sie schlurfte hinüber zum Fenster und blickte hinaus. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, offenbar hatte sie ziemlich lange und fest geschlafen. Während sie hinaus auf den verlassenen Hinterhof blickte, erinnerte Milva sich an die übrigen Geschehnisse am Abend zuvor, und errötete unwillkürlich. Hatte sie in ihrem erbärmlichen Zustand tatsächlich versucht, Cyneric zu verführen - oder war das nur eine vom Alkohol eingegebene Einbildung. In jedem Fall war es wohl nicht sonderlich erfolgreich gewesen.
Sie stützte die Ellbogen auf die hölzerne Fensterbank und das Kinn in die Hände, und dachte nach, während sie versuchte den hämmernden Schmerz in den Schläfen zu bekämpfen.
Cyneric sah tatsächlich recht gut aus... Vielleicht sollte sie ihr Werk von gestern Abend ein wenig fortsetzen. Im schlechtesten Fall wäre es ihm höchstens unangenehm und konnte vielleicht für ein paar interessante Gespräche sorgen... und dem anderen Ergebnis wäre sie auch nicht unbedingt abgeneigt. Aber sie glaubte nicht, dass es dazu kommen würde, dazu hatte der Mann aus Rohan viel zu sehr den Hang dazu, alle jüngeren Frauen mit den Augen eines Vaters zu betrachten. Zumindest war das ihr Eindruck.
Milva schüttelte den Kopf, und bereute es so gleich als ihn ein scharfer Schmerz durchzuckte. Das sollte sie heute vielleicht nicht tun...
Sie ging langsam durch das schmale Treppenhaus hinunter in die kleine Küche, wo Ana saß und Gemüse in kleine Stücke schnitt. Als sie Milva erblickte, lächelte sie und sagte: "Aha. Auferstanden von den Toten?" Milva ließ sich auf den hölzernen Stuhl ihr gegenüber fallen und winkte ab. "Bitte... nicht so laut." Das Lächeln auf Anas von feinen Fältchen durchzogenem Gesicht wurde noch breiter, und ihre dunklen Augen funkelten. "Ich erinnere mich noch, wie Ronvid in seiner Jugend manchmal nach Hause kam...", sagte sie. "Er sah dann am nächsten Morgen genauso aus wie du jetzt."
Milva nickte langsam, erwiderte aber nichts und bekämpfte mit aller Macht die Übelkeit, die die Bewegung hervorgerufen hatte.
"Das ist natürlich gelogen", sagte Ronvids Stimme hinter ihr. Der Schuhmacher hatte den letzten Teil offenbar mitbekommen. "Ich habe nie auch nur einen Tropfen Alkohol angerührt." Ana schnaubte verächtlich und warf ihr klein geschnittenes Gemüse in den großen Topf über der nur schwach glimmenden Glut. Ronvid setzte sich auf den freien Stuhl, und machte eine abwehrende Geste in ihre Richtung. "Hör nicht auf die. Jedenfalls..." Er senkte die Stimme ein wenig. "Ich hoffe, du hattest wenigstens Spaß dabei."
"Nein, ich..." Milva atmete tief durch. "Ich habe über Dinge gesprochen, über die ich eigentlich nie wieder sprechen wollte. Und deshalb habe ich... getrunken."
Die beiden Alten wechselten einen bedeutsamen Blick. "Du hast jemanden im Krieg verloren?"
Milva senkte den Blick, betrachtete das Muster auf der Tischplatte. "Ja. Ich... möchte nicht darüber reden."
"Das ist in Ordnung", erwiderte Ronvid, und tauschte einen erneuten, traurigen Blick mit seiner Frau. "Wir wissen, wie das ist."
"Natürlich", meinte Milva leise ohne den Blick zu heben. Dann beschloss sie, sämtliche Vorsicht über Bord zu werfen. "Deswegen bin ich ja hier, und daher kenne ich Cyneric. Wir... arbeiten mit ein paar Leuten zusammen, die versuchen, den Krieg zu beenden und unser Leben besser zu machen."
"So etwas wie die Schwarze Rose?", fragte Ana. "Ihr habt also davon gehört", stellte Milva fest. "Nicht ganz so wie die, aber mit ähnlichen Zielen, glaube ich. Deswegen muss ich auch lesen lernen, und... ich sollte euch das eigentlich gar nicht erzählen."
"Mehr müssen wir auch nicht wissen", erwiderte Ronvid, der schweigend zugehört hatte, ruhig. "Ich habe nicht vor, auf meine alten Tage noch auf dem Henkersblock zu enden, aber ebenso wenig habe ich vor, unserem gnädigen Herrscher auch nur entfernt einen gefallen zu tun. Wir werden keine Fragen stellen wohin du gehst und was du tust. Was wir nicht wissen, können wir auch nicht verraten."
"Danke", meinte Milva erleichtert. Einen Moment lang hatte sie befürchtet, dass Ronvid sie vor die Tür setzen oder sogar der Wache melden würde. Sie war sich nicht sicher ob sie im Stande gewesen wäre, etwas dagegen zu unternehmen - nicht nur aufgrund ihres erbärmlichen Zustands, sondern auch, weil sie den beiden nicht schaden wollte.
Ronvid stand auf, ging zur Tür und wandte sich dann noch einmal um. "Bevor ich es vergesse - ein Bote von deiner Herrin war heute Morgen hier. Wir haben ihm erzählt, dass du krank bist und heute unmöglich das Bett verlassen kann. Er wirkte nicht sonderlich zufrieden, hat aber nicht weiter nachgefragt."
Milva errötete erneut. "Danke. Dann sollte ich wohl morgen dorthin gehen und mich entschuldigen..." Sie konnte es sich nicht leisten, diese Anstellung zu verlieren, denn das würde sämtliche Pläne der Schattenläufer für das Haus Bozhidar zunichte machen.
Curanthor:
Dragan, Tiana und Kenshin aus dem Untergrund von Gortharia
Die Luft war kühl, über die Dächer der Stadt konnte Dragan die ersten Sonnenstrahlen entdecken. In der Ferne hörte er die ersten geschäftigen Menschen auf den Straßen, doch es waren noch sehr wenige. Er wartete an einer Ecke einer der vielen Gassen, von der er einen guten Blick auf das Geschäft des Seidenhändlers hatte. Es dauerte gar nicht lange, bis Tiana sich zu ihm gesellte, direkt danach kam Kenshin dazu. Tiana nickte ihm stumm und machte ein Zeichen mit drei Fingern, was für das Aufsetzen der Masken stand. Kenshin setzte sich sogleich seinen Helm mit der Dämonenmaske auf, während Tiana ihre weiße Maske aus dem Umhang zog, deren fein gearbeiteten Züge in Qual verzogen war. Er hielt Ausschau ob sie beobachtet wurden, doch es war noch sehr früh und keine neugierigen Augen unterwegs. Schließlich zückte er seine eigene Maske, dessen Gesicht von dunkelrote Flammen über Wange, Stirn und Kinn verziert waren. Sobald er aufgesetzt hatte, musste er sich erst an das leicht eingeschränkte Sichtfeld gewöhnen, doch da er das nervige Teil schon seit einigen Tagen auf hatte, war es nicht mehr ganz so ungewohnt. Auf ein weiteres Zeichen von Tiana zogen sie ihre Mäntel enger und die weiten Kapuzen über. Sie versuchten gar nicht unauffällig zu sein. Das hatte Tiana zuvor noch knapp erwähnt. Mit großen Schritten ging Kenshin voraus und hielt auf die Goldröcke zu die sich am Tor langweilten. Dragan und Tiana bogen rasch in eine Seitenstraße ein, als ihr fremdländischer Krieger den großen Platz betrat. Kurz erhaschte er einen Blick auf Kenshin, der eine Hand an sein Katana legte, ehe sie um eine Ecke bogen. Dragan eilte neben Tiana durch die umliegenden Straßen und umgingen so den großen Platz vor dem Haus, in dem die Gefangenen festgehalten wurden.
Als sie eine der Straßen überquerten, die zu dem Platz führten, hörten sie einen lauten Ruf und Waffenklirren. Sogleich beschleunigten sie ihre Schritt. Sie wichen Kisten, Händlern und frühen Reisenden aus, einer Karawane und sogar einem Trupp Stadtwachen, der nicht schnell genug reagierte. Dragan atmete scharf ein, denn die Goldröcke riefen ihnen nach, doch waren sie scheinbar zu faul ihnen hinterher zu laufen. Zumindest hörte er keine Schritte von genagelten Soldatensohlen. Sicherheitshalber machten sie noch einige Umwege, ehe sie etwas außer Atem an der rückwärtigen Seite der Mauer ankamen und sich in deren Schatten drückten. Von der anderen Seite der Mauer hörte man Waffengeklirr und Kampfgeräusche. Dragan hoffte, dass Kenshin damit zurecht kam, denn sie wussten nicht genau wie viele Kämpfer er gegenüber treten musste, doch der Krieger hatte sich nicht davon abhalten lassen es zu versuchen. Rasch blickte er zu Tiana, die gerade sicherging, dass die Sackgasse in der sie sich befanden auch verlassen war und kein Hinterhalt lauerte. Nach einem kurzen Moment nickte sie und Dragan formte mit seinen Händen einen Tritt. Tiana nahm kurz Anlauf und sprang, dank seiner Kraft konnte Dragan sie direkt weiter nach oben schieben, sodass sie sich an einem vorstehenden Stein festhalten konnte. Seine Muskeln begannen sofort zu ziehen, da Tiana offenbar wartete, bis eine Wache auf der Mauer weitergegangen war. Er legte sich für später schon mal einen Kommentar über ihr Gewicht zurecht und biss die Zähne zusammen. Schließlich ließ die Belastung auf seine Muskeln nach, als sie sich auf die Mauer zog. Befreit von dem Gewicht, wandte er sich von der Mauer ab und nahm Anlauf. Nach einem kurzem Sprint sprang er und klammerte sich sogleich in das grobe Mauerwerk. Dabei knickte einer seiner Nägel um, doch er ignorierte den Schmerz so gut es ging. Über ihm hörte er ein erstickendes Gurgeln, kurz darauf fiel etwas Lebloses, Goldenes an ihm vorbei zu Boden. Er grinste gehässig und kletterte geschickt an der Mauer hinauf, ehe sich seine Finger auf den Wehrgang legten. Vorsichtig zog er den Kopf über die Kante und erblickte Tiana, die sich mit einer Wache prügelte, während die anderen beiden mit Bögen auf seine beiden Mitstreiter zielten. Neben ihm funkelte ein Dolch, den er sogleich aufhob. Ein Pfeil verfehlte seine Hand, mit der er sich festhielt nur knapp. "Scheiße!", entfuhr es ihm, als er den Griff verlor und nur mit einer Hand an der Kante hing. Panik kam ihm in auf, als er an den gut sechs Meter tiefen Fall dachte, doch er kämpfte sie nieder und rief seinen Zorn wach. Er warf den Dolch auf die Mauer, der zu Tiana schlitterte, die bereits aus einigen kleinen Schnitten blutete, doch konnte sie gerade einen geraden Hieb auf die Nase des Gegners führen. Der Dolch schlitterte über den Stein und stieß gegen ihren Fuß. Sogleich duckte sie sich, während im gleichen Moment ein Pfeil über ihren Kopf hinwegzischte. Dragan fluchte nochmals und zog sich nun mit beiden Armen auf die Mauer, sogleich fuhr seine Hand zu seiner Innentasche und zog ein vergiftetes Wurfgeschoss. Eine rasche Bewegung später schrie einer der Bogenschützen überraschend auf. Kurz darauf stieß Tiana ihrem Gegner ihren Dolch ins Herz, der vornüber sackte. Dragan sprintete auf den verbliebenden Bogenschützen zu, der gerade einen weiteren Pfeil auf die Sehne legte. Der getroffene Schütze sank derweil ebenfalls zu Boden, zuckte und verdrehte die Augen. Ein rascher Blick verriet ihm, dass er ebenfalls ins Herz getroffen hatte. Das Glück ist uns heute wirklich gnädig, dachte er sich flüchtig und Zog seinen Zirrat. Im Lauf schwang er die Kette mit dem Hammerkopf und wickelte sie um den Hals der letzten Stadtwache. Mit einem Ruck Dragans fiel der Mann auf den Rücken, als er einfach weiterlief. Tiana rammte ihm im Vorbeigehen den Dolch in den Hals. Gurgelnd erstickte der Kerl an seinem eigenen Blut. Feine Blutspritzer hatten die Maske seiner Mitstreiterin besudelt, sie erwiderte seinen Blick und deutete zum Platz hinab. Dort war Kenshin in einem Kampf mit vier Männern verwickelt, doch Dragan hatte keine Sorge um ihn, denn jetzt glaubte er zu wissen, was der Weg des Kriegers ist. Kenshin kämpfte mit Naginata und Katana in jeweils einer Hand und hielt seine Gegner in Schach. Gerade blockierte er zwei Hiebe gleichzeitig mit seinem Schwert und beschrieb einen blitzenden Bogen mit seiner Naginata und verwundete die anderen beiden Angreifer, die stets verglich versuchen ihn einzukreisen.
"Lange hält selbst er das nicht durch, beeilen wir uns!", flüsterte Dragan hektisch, was Tiana nickend bestätigte.
Aufregung packte ihn, als er an das Dach des Hauses trat, in dem wirklich ein kleiner Spalt zu sehen war. Die Dachschindeln waren verschoben. Sein Alter hatte tatsächlich Recht behalten. Gemeinsam schoben sie die roten Schindeln beiseite und schufen eine Öffnung. Tiana bedeutet ihm zu warten, während das Klirren von Stahl noch immer vom Platz hallte. Schließlich nickte sie und schlüpfte durch das Dach. Er folgte ihr sogleich und befand sich in einem Obergeschoss eines großen, umgebauten Lagerhauses. Ein rascher Blick nach unten verriet ihnen, dass das Tor noch immer weit offen stand und die Gefangenen gegen die Zellen traten oder schlugen. Durch die Dielen hindurch konnten sie keine weiteren Wachen ausmachen und traten zu den Zellen, die eng an unter das Dach gebaut worden waren. Die Gefangenen musste knien oder liegen, da es so wenig Platz gab. Dragan schnaubte über die Unmenschlichkeit und schlug mit seinem Hammer ein paar Mal kräftig auf das Schloss der ersten Zelle. Nach vier Schlägen war das Schloss gebrochen und er grinste, was der dankbare Gefangene jedoch nicht erkennen konnte. Alter Stahl und schlecht geschmiedet, dachte er sich triumphierend und begann die restlichen Zellen aufzubrechen. Tiana holte in der Zeit einen Schlüssel aus dem unteren Geschoss und öffnete die Zellen auf der anderen Seite des Hauses.
"Habt Dank, Fremde", sagte eine Frau in abgerissenen Kleidern und dunkelroten Haaren.
"Wer seid ihr?", fragte ein Mann mit kahlem Schädel und einigen Blutergüssen im Gesicht.
Einer der Befreiten drängelte sich durch die gut zwanzig Menschen und deutete auf die Maske von Tiana: "Anastia, die Schreckliche", zum allgemeinen Erstaunen verneigte sich der Mann, "Meine Anführerin, ist der Zirkel soweit?"
Dragan blickte den Kerl mit langen, stahlschwarzen Haaren an. Er hatte einen kräftigen Körperbau und die Statur eines Kämpfers. Dicke Muskelstränge schlängelten sich um seine Arme, die von roten Striemen bedeckt waren. Der Mann trug nur eine abgerissen Lederhose, was seinen muskulösen Oberkörper betonte. Einzelne Stoppeln im Gesicht des Kerls erinnerten Dragan daran, dass er sich selbst auch nochmal rasieren müsste. Rasch schob er den Gedanken beiseite, denn er hatte Tiana mit "die Schreckliche" angesprochen.
Ehe er Etwas sagen konnte, erhob Tiana jedoch ihre Stimme: "Meine Freunde, der Zirkel wird jeden retten, der zu Unrecht verhaftet wurde. Wir werden nicht länger mit ansehen wie unser Volk ausgepresst wird und gierige Menschen nach Macht greifen und diese ständig mehren. Das gilt für jede Art Mensch. Der, der nach Macht greift wird von uns seine Hand verlieren. Wir wollen Frieden und dazu ist uns jedes Mittel recht. Sie wollen den Krieg, so wie sie uns behandeln und den bekommen sie. Ich bin Anastia vom Zirkel und wir werden dieses Land dem Volk zurückgeben."
Getuschel ging durch die Menschen, einige Nickten zustimmend und der Kerl, der noch immer sich verneigt hatte erhob stolz das Haupt. Ehe Dragan Etwas fragen konnte, gab Tiana Befehl zum Befreien der unteren Etage. Zu seinem Erstaunen folgten die Gefangen ihren Worten, zurück blieben nur sie, er und der muskulöse Kerl von vorhin.
"Schreckliche, wer ist das? Ein neues Mitglied?", fragte der Mann an sie gewandte und elickte Dragan abschätzend an. Er erwiderte den Blick gehässig, doch im schummerigen Licht in dem Haus konnte er es nicht erkennen.
"Ja, er ist ein guter Mann. Reize ihn nicht und ihr werdet auskommen. Nun, stehst du noch immer hinter unserer Sache, Stier?" Dragan bemerkte überrascht eine schneidende Kälte in ihrer Stimme, die er nicht erahnt hätte. Dennoch konnte er sich nicht ein Schmunzeln verkneifen, denn der Deckname des Mannes passte wie die Faust aufs Auge. Dragan sah, dass der Stier sich gekränkt fühlte, dennoch nickte er und beteuerte seine Treue. Ehe er noch mehr sagen konnte, schnitt Tiana ihm das Wort mit einer Geste ab und bedeutete ihm sich zu bewaffnen. Aus dem unteren Geschoss hörte er ein Getöse und die Rufe der übrigen Gefangenen die gerade befreit wurden.
"Wir sollten zu Kenshin!", wisperte er eindringlich an Tiana gewandt, die sogleich nickte und ein Beil zog. Erstaunt blickte er sich um und fragte sich, wo sie die Waffe versteckt hatte. Ihm blieb jedoch keine Zeit darüber nachzudenken, denn sie marschierten die Treppe hinab und konnten schon durch das Tor sehen, dass es Probleme gab. Kenshin wirkte erschöpfte und hatte nur einen Mann töten können, stand aber nun sechs Gegnern gegenüber. Seine Rüstung hatte schon einige Schäden davongetragen und auch seine anfänglichen drei Feinde bluteten stark.
"Bewaffnet euch, los", rief Tiana sogleich und nickte Dragan zu. Er verstand und gemeinsam schritten sie zum Tor hinaus. Dragan zog vier Wurfdarts und warf sie jeweils nach kurzen zielen. Zwei traf er in den Nacken, die anderen beiden Geschosse prallten von den goldenen Rüstungen ab. Der missglückte Angriff wurde sogleich bemerkt und vier der Wachen wandte sich zu ihnen um. "Verdammt!", fluchte er und blickte zu Tiana, die jedoch nur ihre Schultern durchrollte. Hinter ihnen kamen die ehemaligen Gefangenen heran und liefen mit improvisierten Waffen gegen ihre Peiniger an. Dragan hielt sich zurück, doch selbst Tiana stürmte vor um Kenshin zur Hilfe zu eilen. Während die fünfzehn befreiten Kämpfer sich auf die vier Wachen stürzten, hielt Dragan sich weiter hinten und versuchte seinen beiden Gefährten den Rücken frei zu halten. Tiana duckte sich unter einem Schwerthieb und hackte mit ihrem Beil den Mann in die Finger. Sogleich ließ er schreiend die Waffen fallen. Kenshin nun nur noch von zwei Männern bedrängt gewann die Oberhand und stach einer Wache seine Naginata durch den Bauch, während er mit seinem Schwert die Waffe des anderen Kerls band. Tiana ließ den Mann mit den bluten Fingerstumpen stehen und sprang den verbliebenden unverletzten Wächter mit einem untypischen Schrei an. Überrascht schüttelte sich der Mann und versuchte sie abzuwerfen, doch bei dem Handgemenge fand ihr Beil den Weg in das Gesicht ihres Feindes. Es knirschte kurz und der Kerl schrie, ehe er zu Boden fiel. Tiana rollte sich über den Rücken ab und sah gerade noch rechtzeitig den Schwerthieb kommen. Dragan reagierte sofort und warf einen vergifteten Dart auf den Kerl, den sie zuvor die Finger abgeschnitten hatte. Die Wache hatte einfach die Hand gewechselt und Tiana blockte den Hieb auf erstaunlicher Weise mit ihren Unterarmen. Ein Klirren verriet ihm, dass sie metallene Unterarmschienen trug. Dragans Dart landete im Hinterkopf der Wache, der sofort danach griff. Es dauerte keine zwei Sekunden bis er zu Boden sank und wie verrückt zuckte. Die Kämpfe kamen zum Erliegen und die drei Kampfgefährten nickten keuchend einander zu. Von den fünfzehn Gefangenen waren noch elf übrig, die gerade die Leichen der Goldröcke plünderten. Dragan schüttelte nur unmerklich den Kopf, während Kenshin sich neben ihm schwer auf seine Naginata stützte.
"Alles in Ordnung?", fragte er an den Krieger gewandt, der nur matt nickte.
"Nur sehr erschöpft, keine große Verletzung", antwortete Kenshin leise und ließ das Blut von seiner Klinge spritzen.
Der Platz war übersät mit Toten und verschmiert mit Blut. Dragan bemerkte erst jetzt, dass in den Straßen, die zu dem Platz führten hunderte Schaulustige standen und aufgeregt tuschelten. Die Gefangenen, die sich nicht an dem Kampf beteiligt hatten rannten aus dem Haus und verschwanden sogleich in der Menge, die verhalten jubelte.
Tiana trat neben ihm und stemmte die Hände in die Hüften. "Ich glaube, heute habe ich dich überrascht", gestand sie vergnügt und wischte das Blut von ihrer Waffe am Mantel ab, "Jetzt sollten wir sofort verschwinden und...", sie stockte und blickte zum Himmel. Sie Sonne strahlte nun hell auf sie herab und ein einzelner Vogel kreiste über den Platz. Trotz der Maske hörte Dragan sie leise fluchen. Er legte fragend den Kopf schief, während Tiana seufzte. "Es ist noch nicht vorbei... das ist ein Falke."
Dragan fluchte ebenfalls, während Kenshin alarmiert den Kopf hob.
Curanthor:
Die neugierigen Mengen zerstreuten sich rasch, als eine gewissen Unruhe sich breit machte. Auf einer der großen Hauptstraßen standen plötzlich dutzende vermummte Gestalten, sie trugen Säbel, Schwerter, Dolche. Dragan erkannte auch einigen Bogenschützen unter ihnen, aber auch zwei Stierschleuderkämpfer. Die merkwürdigen Waffen kannte er aus seiner Heimat. Umfunktionierte Bolas, mit denen man sonst Stiere fing, nun mit eisernen Ketten verbunden, die überall Widerhaken aufwiesen. Sogleich wandte er sich an seine zwei Gefährten und machte sie auf die Gefahr aufmerksam. Ein schriller Pfiff ertönte und der Falke stieß einen schrillen Schrei aus und landete auf dem Arm des Anführers der Bande.
Dragan zählte mehr als zwanzig Leute, wobei ihre eigenen Reihen beängstigend dünn waren. Neben sich hörte er Tiana fluchen: "So war es eigentlich nicht gedacht gewesen."
Er zog einige vergiftete Darts aus seiner Kleidung, während die feindlichen Assassinen auf den Platz strömten. Ihre eigenen Kämpfer schwärmten ebenfalls aus und Kenshin stellte sich vor ihm.
"Was soll das, du kannst ja kaum stehen", sagte Dragan sogleich und schob den Krieger wieder zur Seite, "Halte uns den Rücken frei."
Der Krieger blickte ihn kurz nachdenklich an, nickte jedoch und stellte sich an seinen Rücken. Dragan ließ seinen Blick schweifen und achtete genau auf die Position der Fernkämpfer, dass er sie rasch ausschalten konnte.
"Anastia", rief die Stimme des Falken gebieterisch, "Ihr seid umstellt und dem Tode geweiht. Gebt auf und werft eure Waffen fort, dann verspreche ich euch einen schnellen, schmerzlosen Tod."
"Jeder Mensch, der dieses Land zu Grunde richtet ist dem Tode geweiht", entgegnete seine Kampfgefährtin ruhig und wandte sich an die befreiten Kämpfer, "Er bietet euch noch nicht einmal eine Belohnung an. Seht was aus diesem Land geworden ist. Schlächter und Ausbeuter herrschen über die Massen!"
"Sagt die, die ihr Gesicht versteckt. Eine feige Bande von Mördern!", erwiderte der Falke und lachte gehässig.
"Was für ein dämlicher Dialog", rief eine neue Stimme und eine Frau sprang von einem der Häuser. Elegant rollte sie sich auf dem Pflaster ab und klopfte sich den Staub aus den Kleidern. Sie trug eine leichte Tunika, die mehr zeigte, als verdeckte, doch der schwarze Turban auf ihrem Kopf verbarg sämtliche Gesichtszüge.
Dragan fielen sofort die eleganten Dolche auf, die in goldenen Scheiden steckten. Er fluchte innerlich.
"Ah, der Fuchs ist zurück", sagte der Falke mit Überraschung in der Stimme und sogleich sprangen zehn weitere Kämpfer des Königs von den Dächern auf den Platz.
Dragan machte vorsichtig einen Schritt zurück und musterte die Frau, die mit "Fuchs" angesprochen wurde, welche gerade lachte. Ihre großen Brüste schimmerten halb unter der seidigen Tunika hervor, einzig um ihre Hüften hatte sie einen Rock aus festen Stoff gezogen. Darüber trug sie den Gürtel mit Dolchen. Ihr drahtiger Körper schien nicht recht gefährlich zu wirken, doch Kenshin richtete seinen Oberkörper nach ihr aus. Dieses Zeichen verriet, dass der Krieger den Fuchs als gefährlicher erachtete.
Tiana flüsterte so leise, dass nur sie beide es hören könnte: "Ich übernehme den Falken, ihr beschäftigt den Fuchs. Sie war eigentlich nicht mehr in den Diensten des Königs. Versucht sie kampfunfähig zu schlagen."
Die beiden Männer nickten, auch wenn Dragan zweifelte, ob es möglich war ohne sie zu töten. Wenn selbst Kenshin sie als gefährlich erachtete, musste es was bedeuten.
Wie auf ein geheimes Zeichen hin stürmten die Meuchler des Königs auf die unterlegenen Kämpfer zu. Der Falke selbst hielt sich erst im Hintergrund, sodass Dragan versucht war ihn anzugreifen, doch ein Blick nach rechts zeigte ihm, dass der Fuchs auf ihre Dreiergruppe zu rannte. Sogleich ertönten ein Klirren und erste Kampfgeräusche, als die verfeindeten Kämpfer aufeinander trafen. Kenshin brach aus der Formation und sprang vor. Es klirrte und ein kleiner Dolch schlitterte über den Boden. Der Krieger schwang sein Katana und der Fuchs nickte mit den Kopf.
"Gute Reflexe", sprach sie anerkennend. Sogleich zog sie beide Dolche, die etwas länger als eine Hand waren. Kenshin nahm das Kompliment nickend entgegen, sogleich prallten funkensprühend die beiden Dolche auf die Klinge des Katanas. Dragan sprang dem erschöpften Krieger bei und schwang dabei den Hammerkopf des Zirrats. Überrascht von dem Geschoss sprang der Fuchs zurück und machte dabei einen Salto. Dragan wollte nachsetzen, doch Kenshin war schneller und stach mit seiner Naginata hinterher. Die Frau in roten Gewändern konnte gerade noch einen Schritt zur Seite machen, dennoch schnitt die Klinge der schlanken Waffe in ihre Taille. Ein dünnes Rinnsal an Blut trat aus der frischen Wunde. Dragan erkannte sofort, dass die Wunde den Fuchs in den Bewegungen hindern würde. Hinter ihm hörte er da Klirren von Waffen, ein rascher Blick verriet ihm, dass Tiana gegen den Falken kämpfte. Die beiden tauschten rasche Schlagabläufe aus, sodass Dragan sich wunderte, dass sie zuvor fast gegen den Kerl verloren hatte.
Hastig wandte er seinen Blick wieder nach vorn und starrte in den Sehschlitz des gewickelten Turbans. Die Augen des Fuchses funkelten wütend, kurz darauf ging sie zum Angriff über und wich einem Stich der Naginata aus. Mit beiden Dolchen blockte sie die Klingen von Dragan und Kenshin. Der Krieger versetzte ihr einen Tritt gegen das Schienbein. Die Frau rollte sich zur Seite ab, während der Fürstensohn den Hammer nach ihrem Kopf warf. Mit einem dumpfen Schlag landete das schwere Metall auf dem Pflaster und hinterließ eine Kerbe. Er erwischte nur den Stoff des Turbans, doch es genügte um den Stoff zu lockern. Sogleich fiel der schwarze Stoff zu Boden.
"Jetzt!", rief der Fuchs plötzlich und Dragan wagte es den Blick von der schwarzhaarigen Frau abzuwenden. Mit einem Blick erfasste er, dass die Kämpfer, die mit dem Fuchs erschienen waren keine ihrer Verbündeten getötet hatten und nun auf die Meuchler des Königs losgingen. Überrascht von dem plötzlichen Seitenwechsel fielen sofort vier Männer - darunter die Fernkämpfer - den Klingen der unerwarteten Verbündeten zum Opfer. Er hörte, wie der Falke einen Fluch ausstieß.
Verblüfft starrte Dragan auf die schwarzhaarige Frau, die triumphierend grinsend an ihnen vorbeirannte. Kenshin war zu erschöpft um ihr nachzusetzen und Tiana war damit beschäftigt den Falken auf Abstand zu halten. Der Fuchs rannte auf die beiden Kämpfer zu, Dragan hinter ihr her. Der Falke sah die Gefahr kommen und wandte sich zur Flucht. Tiana ritzte ihm zwar die Lederrüstung am Rücken auf, doch es hinderte den Kerl nicht wegzulaufen. Der Fuchs rauschte an Tiana vorbei und schleuderte ihre beiden Dolche dem flüchtenden Falken hinterher.
"Bleib stehen du verfluchter Feigling!", brüllte sie dabei und blieb schließlich stehen.
Tiana trat an ihre Seite und musterte die Frau kurz. Dann wandten die beiden sich zu Dragan und Kenshin um, die einen letzten Meuchler die Kehle aufschlitzen wollten. Inzwischen waren die Kämpfe zum Erliegen gekommen und die befreiten Kämpfer suchten das Weite. Nur eine Hand voll blieb auf dem Platz und trat zu den Mitgliedern des Zirkels. Selbst die verbliebenden Krieger des Fuchses senkten ihre Waffen und stellten sich neben sie.
"Ich denke, dass wir lange genug diesen ...Natterngezücht gedient haben", erklärte der Fuchs mit ruhiger Stimme und nickte Tiana zu, "Wir wechseln die Seiten, so wie ich es euren Oberen zukommen haben lasse."
Tiana schien zu Dragans Überraschung zu verstehen und nickte ihnen zu. Zögerlich steckte er seine Waffen fort und bemerkte, dass Kenshin skeptisch sein Katana verstaute. Den Griff um seine Naginata ließ er aber nicht locker.
"Na, das kam ja unerwartet", murmelte er leise vor sich hin und blickte über den von Leichen gepflasterten Platz, "Ich schätze, dass wir gehen sollten."
Tiana nickte zustimmend und führte sie sogleich in eine stille Seitengasse. Der Fuchs folgte ihnen, nicht ohne sich dabei aufmerksam umzusehen. Zwischenzeitlich hörten sie von der Hauptstraße die Rufe der Soldaten. Seine Kampfgefährtin wusste es aber sie zu umgehen und schließlich gelangten sie an ein unscheinbares Haus. Den weg konnte selbst Kenshin nicht wiederholen, als Dragan in danach fragte, durch so viele Gassen waren sie gelaufen.
"Alle hinein und keine Fragen", sagte Tiana leise und öffnete eine Hintertür, dann ein schweres, metallenes Gitter. Zur allgemeinen Überraschung fand sich dort jedoch eine Treppe in die Tiefe. Kurz wechselte der Fürstensohn einen Blick mit seinem Bewacher, der knapp nickte. Gemeinsam folgten sie Tiana hinab in den Untergrund wobei sie den Fuchs in ihre Mitte nahmen.
Dragan, Tiana und Kenshin in den Untergrund von Gortharia
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