Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Umbar

Auf den Straßen von Umbar

<< < (4/8) > >>

Fine:
Valion und Valirë aus Edrahils Versteck


Valirë legte eine Hand über die Augen um sie vor der tiefstehenden Sonne abzuschirmen.
"Es wird nicht mehr lange dauern bis zur Dämmerung," sagte sie.
"Dann sollten wir uns auf schnellstem Weg zum Fürstenpalast begeben," entschied Valion. "Wenn es stimmt was der Schreiber über diesen Wahab gesagt hat sollte er in der Taverne unterhalb des Palastes zu finden sein, wenn die Dunkelheit anbricht."
Seine Schwester nickte. "Gehen wir", sagte sie kurzangebunden. Sie verhielt sich untypisch für ihr normales Auftreten, was Valion verwunderte. Offenbar hatten Edrahils Worte einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Da sie von Bayyin eine Wegbeschreibung zu ihrem Ziel erhalten hatten mussten sie sich dieses Mal nicht auf die Hilfe der Straßenkinder verlassen. Obwohl der Abend immer näher rückte war das Gedränge auf den großen Straßen nach wie vor groß. Valion kam es sogar so vor, als wären die Menschen sogar noch mehr geworden als weniger. Doch sie wussten wohin sie gehen mussten, denn Bayyins Angaben waren sehr präzise gewesen.
Sie kamen auch an dem überfüllten Marktplatz vorbei, auf dem Valion Mustqîm verloren hatte. Er hielt die Augen nach dem Mann offen, konnte jedoch keine Spur von ihm entdecken.
Natürlich, dachte er. Dieser Bandit ist gerissen. Er würde sich nicht einfach offen zeigen. Das hat er mit Edrahil gemeinsam.
Die Zwillinge verließen den Markt in östlicher Richtung und bogen auf eine weitere breite Straße ein, an deren Ende nun der Fürstenpalast in Sicht kam. Je näher sie kamen, desto mehr Stadtwachen begegneten ihnen. Viele warfen den beiden misstrauische Blicke zu, doch offenbar hatte keiner Lust oder Zeit, sich mit Valion und Valirë anzulegen.

Wie Bayyin gesagt hatte, fanden sie direkt unterhalb der Mauern des Palastes eine Taverne, die einen deutlich gehobeneren Eindruck machte als die, in der sie Edrahil zum ersten Mal getroffen hatten. Vor dem Eingang stand ein griesgrämiger Rausschmeißer, der einen einzigen Blick auf die Zwillinge warf und sich augenblicklich bedrohlich vor ihnen aufbaute.
"Keine Waffen," knurrte er. "Wenn ihr 'rein wollt, kommt unbewaffnet wieder."
"Immer mit der Ruhe, mein Freund," sagte Valion beschwichtigend. "Wir werden dir keine Probleme bereiten." Er löste seinen Gürtel, an dem seine Schwerter hingen, und trat auf den Mann zu, um sie ihm zu reichen. Als der Rausschmeißer die Hand danach ausstreckte machte Valion einen schnellen Schritt nach vorne und verpasste dem Korsaren einen gut gezielten Schlag gegen die Schläfe. Ehe er mit lautem Getöse zu Boden fallen konnte fing Valion den Bewusstlosen ab und legte ihn vorsichtig mit dem Rücken gegen die Mauer gelehnt ab, sodass er wie schlafend aussah. Er blickte sich rasch um, doch der Menschenstrom hatte seine Aktion vor unfreundlichen Blicken bewahrt. Zumindest rief niemand nach der Wache oder brach in Panik aus. Diesmal waren sie unauffällig geblieben.

Sie traten ein und warfen einen Blick in den Schankraum der Taverne. Drinnen lag eine dunstige Schicht aus seltsam riechendem Rauch, die von den vielzähligen Wasserpfeifen auf den Tischen und Sitzgelegenheiten aufstieg. Zwar war es dadurch schwerer, Gesichter und Personen zu erkennen, doch das kam den Zwillingen nicht ungelegen.
"Dort hinten," wisperte Valirë und lenkte Valions Blick auf eine Nische in der hinteren Ecke des Schankraums. Ein Mann saß dort, sein Gesicht von einer Kerze beleuchtet. Soweit Valion es erkennen konnte passte er auf Bayyins Beschreibung. Sie näherten sich vorsichtig, doch Valirë hielt ihren Bruder zurück.
"Lass mich vorgehen," raunte sie ihm zu. "Schleich dich von der Seite an."
Sie ließ sich auf den Stuhl gegenüber ihres Ziels fallen und räkelte sich, während Valion einen Bogen um einen benachbarten Tisch schlug und sich der Ecke vorsichtig aus einem Winkel näherte, aus dem der Mann ihn nicht sehen würde (so hoffte er).
"Was soll das? Ich habe keine Begleitung bestellt," sagte Wahhab halb erstaunt, halb verärgert.
"Bibliothekar Wahhab, richtig?" sagte sie und beugte sich zu ihm hinüber, doch dieser machte eine abwehrende Geste und schob Valirës Hand beiseite.
"Der bin ich, aber ich sagte bereits, ich brauche keine Gesellschaft," meinte er in abweisendem Ton.
Valirë betrachtete den Tintenfleck, den seine Berührung auf ihrem Arm hinterlassen hatte. "Ich habe vielleicht ein anderes Angebot für Euch," sagte sie dann. "Ihr solltet es Euch anhören."
"Ich habe kein Interesse an Angeboten dieser Art," antwortete Wahab und machte Anstalten, aufzustehen.
"Oooh, aber ich bestehe darauf," säuselte Valirë - und in diesem Moment legte Valion dem Bibliothekar die Klinge seines kürzeren Schwertes an den Hals.
Wahab erstarrte. "Was wollt Ihr von mir?" stieß er hervor. Valion sah, wie der übergewichtige Mann zu schwitzen begann.
Ein Feigling also, dachte er. Hervorragend..
"Wir brauchen Zugang zur fürstlichen Bibliothek," flüsterte er Wahab ins Ohr. "Und Ihr werdet ihn uns beschaffen."
Wahab sträubte sich. "Ich kann nicht... wenn der Fürst davon erfährt..."
"Das wird er nicht, wenn Ihr den Mund haltet," gab Valion zurück. "Ihr werdet mit niemandem auch nur ein Wort darüber verlieren, dann wird Euch nichts geschehen. Wie gelangt Ihr in den Palast? Habt Ihr einen Schlüssel?"
"N-nein, ich... die Palastwachen kennen mich, sie lassen mich am Eingangstor passieren..." stammelte der Bibliothekar.
"Gibt es einen geheimeren Zugang?" fragte Valirë.
Wahab antwortete nicht. Valion presste die Klinge enger an seinen Hals und ein Blutstropfen lief darüber. "Er wird nicht reden," raunte er seiner Schwester zu. "Finden wir jemanden, der mitteilsamer ist. Dieser hier hat keinen Nutzen mehr für uns..."
"Wartet, wartet!" keuchte der Bibliothekar. "E-es gibt noch einen Eingang... verborgen hinter einer falschen Wand am Fuße des Turmes, in dem sich die Bibliothek befindet. M-man braucht einen Schlüssel..."
"Also doch ein Schlüssel. Habt Ihr ihn bei euch?" verlangte Valion zu wissen.
"In meiner Tasche," antwortete Wahab. "Aber... wenn dort Eindringlinge bemerkt werden wird man wissen, dass ich ihnen geholfen habe!"
"Man wird keine Eindringlinge bemerken," versichterte Valirë lächelnd. "Nicht, wenn Ihr den Mund haltet und schön brav seid. Falls nicht... werden wir davon erfahren, und Eure Strafe wird schlimmer als alles sein, was euch der Fürst je antun könnte."
"I-ich werde nichts verraten!" brachte Wahab hervor.
"Gut. Wenn alles reibungslos abläuft, werdet Ihr vielleicht sogar eine Belohnung erhalten. Ihr hört von uns," sagte Valion und nahm die Klinge von Wahabs Hals.

Gemeinsam mit seiner Schwester verließ er die Taverne wieder und machte sich auf den Rückweg zu Edrahils Versteck. Wahabs Schlüssel hatte er sich mit einem kurzen Band um den Hals gehängt. Valirë war erneut ungewöhnlich still während sie die immer noch vollen Straßen durchquerten.
"Was ist denn mit dir los?" wollte Valion schließlich wissen.
Valirë warf ihm einen seltsamen Blick zu. "Edrahil ist ganz anders, als wir ihn in Erinnerung hatten, nicht wahr?" sagte sie leise.
"Nein, eigentlich ist er ziemlich genau so wie früher," widersprach Valion. "Gerissen, heimlichtuerisch und stets über alles Wichtige im Bilde."
"Ich meine..." Valirë seufzte leise. "Irgendetwas an ihm hat sich verändert, oder zumindest meine Wahrnehmung davon. Ich sollte ihm eine schallende Ohrfeige dafür verpassen und wütend auf ihn sein, dass er mich quasi dazu einsetzt, mein Aussehen für seine Zwecke zu verwenden, aber ich bin's nicht." Sie machte eine Pause und blickte zu Boden.
"Denkst du... er wird stolz darauf sein, was ich heute erreicht habe?"
"Was wir erreicht haben," korrigierte Valion, der aus dem Staunen nicht mehr herauskam. Die Stimme seine Schwester hatte einen Klang angenommen, den er noch nie bei ihr gehört hatte. Sie wird doch wohl nicht etwa...
Er warf einen alarmierten Blick in Valirës Gesicht und fand seinen Verdacht bestätigt.
"Schlag' dir das aus dem Kopf," sagte er. "Du wirst dir damit nichts als Ärger einhandeln...."

Sie bogen in die Straße ein, die zu Edrahils Versteck führte. Valion war gespannt darauf, was der Spion zu ihren Ergebnissen sagen würde. Er griff nach dem Schlüssel...
...doch dieser war verschwunden. Valion hielt mitten in der Bewegung inne.
"Gondorischer Hund!" zischte eine allzu wohlbekannte Stimme. "Suchst du vielleicht das hier?" Am Eingang einer Seitengasse stand Mustqîm, den Schlüssel Wahabs höhnisch erhoben. "Komm und hol' ihn dir!" rief der Bandit und sprintete los.
Die Zwillinge fluchten und nahmen die Verfolgung auf...

Fine:
Bereits zum zweiten Mal an diesem Tag tauchte Valion in das Gewirr der kleinen Gassen und versteckten Passagen Umbars ein. Bereits zum zweiten Mal verfolgte er den selben Dieb. Und bereits zum zweiten Mal gelang es ihm nicht, nah genug an Mustqîm heranzukommen um ihn zu erwischen. Der Unterschied zur vorherigen Jagd war jedoch der, dass diesmal seine Schwester bei ihm war. Und dieser Unterschied erwies sich als entscheidend.

"Bleib' an ihm dran, kleiner Bruder!" rief Valirë ihm zu und bog ohne weitere Vorwarnung in eine enge Seitengasse ab. Doch Valion blieb keine Zeit um sich darüber zu wundern. Er biss die Zähne zusammen und beschleunigte seinen Lauf um endlich zu Mustqîm aufzuschließen. Doch auch der Bandit schien schneller zu werden. Sie bogen dicht hintereinander in einen Gang ein, der in eine Unterführung einer der großen Straßen Umbars mündete. Der Verfolgte und sein Verfolgter tauchten ins Dunkel des Tunnels ein und ihre Schritte hallten laut im Dunkeln wider. Gegen das Licht am anderen Ende sah Valion von Mustqîm nur eine schwarze Silhouette vor sich. Der Bandit erreichte den Ausgang, preschte hindurch - und stolperte über Valirës ausgestrecktes Bein, das sie ihm gestellt hatte. Mustqîm strauchelte und schlug der Länge nach hin. Als Valion herankam hatte seine Schwester dem Banditen bereits den Schlüssel entrissen und hielt ihm die Spitze ihres Schwertes an den Nacken.
"Woher wusstest du, wohin er laufen würde?" wunderte sich Valion.
Seine Schwester zeigte die Gasse entlang, die vom Tunnelausgang geradeaus in östlicher Richtung verlief. Als Valion ihrem Fingerzeig folgte, sah er in der Ferne die Türme des Palast des Fürsten vor sich.
"Ich nahm an, dass er dorthin will und dem Bibliothekar zurückgeben will, was wir ihm abgenommen haben. Hab' ich recht, Abschaum?" sagte sie in Richtung des Banditen.
"Zurückgeben?" echote dieser. "Nein, nein. Ihr missversteht meine Absichten. Ich hätte ihm den Schlüssel nur im Austausch gegen eine ordentliche Bezahlung überlassen."
"Nun, dieses Geschäft ist hiermit geplatzt," gab Valirë lächelnd zurück.

Valion packte Mustqîm am Kragen und zog ihn hoch, ihn gegen die Wand pressend. Valirës Schwertspitze wanderte dabei an die Kehle des Banditen.
"Für wen arbeitest du?" verlangte Valion zu wissen. "'Raus mit der Sprache, Südländer!"
Dieser spuckte aus. "Ich arbeite nur für das hier," sagte er und deutete auf seinen Gürtel, an dem ein mit Münzen gefüllter Beutel hing. "Wer sich die exzellenten Dienste von Mustqîm dem Verschlagenen leisten will muss tief in die Tasche greifen!"
"Also bist du nicht nur ein Bandit, sondern ein käuflicher Bandit," folgerte Valion. "In Gondor hängt man deinesgleichen am Galgen auf. Doch hier scheint dies ja ein angesehener Beruf zu sein."
"Ein guter Dieb ist stets angesehen, bei seinen Freunden als auch bei seinen Feinden," prahlte Mustqîm.
Valirë musterte den Mann zweifelnd. "Schätze bei dir handelt es sich dann wohl eher um ein mittelmäßiges Exemplar..."
Mustqîm zog verärgert die Brauen zusammen, doch dann änderte sich sein Gesichtsausdruck und er sagte: "Tja, was soll ich sagen. War nett, mit euch beiden zu plaudern. Doch ich denke, ich sollte jetzt gehen."
"Was soll das heißen?" fragte Valion, doch da begann der Bandit laut zu rufen: "Wache! Wache! Ich werde ausgeraubt!"

Die Zwillinge fuhren herum. Am östlichen Ende der Gasse war eine Gruppe von Stadtwächtern aufgetaucht, die sich offenbar gerade auf einem Streifzug befanden. Mustqîm musste sie gesehen und seine Chance erkannt haben. Die Wachen kamen bereits herangestürmt.
"Ich empfehle mich, ihr gondorischen Hunde," zischte Mustqîm und schubste die überraschte Valirë heftig beiseite als die Zwillinge aufgrund der Wachen einen Augenblick unachtsam waren. Blitzschnell verschwand er in einem Hauseingang.
"Los, los, los!" rief Valion seiner Schwester zu und sie begannen zu rennen. Keiner der beiden hatte Lust, Bekanntschaft mit den Stadtwachen und dem Kerker Umbars zu machen.

Zwar waren sie etwas schneller als die Stadtwächter, doch diese waren in der Überzahl und schnitten Valion und Valirë wieder und wieder den Weg ab. Außerdem kannten sich die Wachen in der Stadt aus, wohingegen sich die Zwillinge ihren Fluchtweg willkürlich suchten. Sie wussten nicht, in welchem Stadtteil sie sich befanden. Während sie durch eine weitere enge Gasse hetzten blickten sie sich immer wieder nach markanten Gebäuden um, doch sie konnten weder Hafen noch Palast ausmachen und erkannten auch sonst keine Wegpunkte ihrer vorherigen Reisen durch Umbar wieder. Was ihnen allerdings auffiel war, dass sie allmählich in eine Gegend kamen, in der die Häuser älter und prachtvoller wurden. Offenbar kamen sie ins Adelsviertel der Korsarenstadt. Sie bogen um eine scharfe Ecke und kamen auf eine Straße, auf der weniger Menschen als auf den Hauptstraßen unterwegs waren. Kurz bevor die sie verfolgenden Stadtwachen ebenfalls um die Ecke bogen ging zu ihrer Linken eine Tür auf und eine Hand winkte sie zu einem kleinen Verschlag herüber.
"Hier hinein, schnell!" rief eine ihnen unbekannte Stimme. Ohne zu zögern folgten sie der Anweisungen und rannten über die Schwelle. Hinter ihnen schlug die Tür zu und es wurde dunkel.

Valion keuchte vor Anstrengung, doch er versuchte, seinen Atem zu beruhigen und so leise wie möglich zu sein. Draußen hörten sie die Wachen verwirrte Rufe ausstoßen. Ihre Beute schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Schließlich begannen die Stadtwächter, gegen die Türen der Häuser zu pochen und Einlass zu verlangen. Auch die Tür durch die die Zwillinge gekommen waren war darunter, doch als von drinnen keine Reaktion kam und sie sahen, dass die Tür fest verriegelt und im Verschlag kein Licht war zogen die Wache nach einigen Minuten ab und Stille senkte sich über die Straße und den Verschlag herab.

Ein Licht flammte ohne Vorwarnung auf als jemand eine Öllampe entzündete. Sie erhellte das Gesicht einer Frau mit dunklen Haaren und Augen, aber hellerer Haut als bei den meisten Menschen, die die Zwillinge in Umbar bisher gesehen hatten.
"Es sollte jetzt sicher sein," sagte die Frau und musterte sie mit einem Blick, der zu gleichen Teilen aus Neugierde und Berechnung bestand.
"Ihr müsst die beiden Gondorer sein, von denen ich kürzlich gehört habe," sagte sie. "Geschwister, wie ich sehe. Wie lauten eure Namen?"
Valion erwiderte den Blick mit Misstrauen. "Erst nennt Ihr uns Euren Namen," sagte er. "Weshalb habt Ihr uns geholfen? Wo sind wir hier?"
"Eines nach dem Anderen," erwiderte sie. "Ihr befindet euch im Adelsviertel Umbars, genauer gesagt auf meinem Grundstück. Mein Name ist Minûlîth, von Haus Minluzîr."
"Valion und Valirë vom Ethir, aus Gondor, wie Ihr ja bereits erkannt habt," sagte Valirë.
Minûlîth nickte bedächtig. "Nun, ich heiße euch beide willkommen. Doch ich schlage vor, wir sprechen an einem etwas gemütlicheren Ort weiter als in diesem engen Verschlag, den meine Diener als Abstellkammer verwenden. Die Luft sollte jetzt rein sein."

Sie stand auf und öffnete vorsichtig die Tür, spähte hinaus und winkte den Zwillingen aufmunternd zu. Valion und Valirë folgten Minûlith zurück auf die Straße und zur Tür des großen Anwesens, auf dessen Gelände der kleine Verschlag, in dem Minûlîth sie versteckt hatte, stand. Sie schloss das große Eingangsportal auf und führte sie ins Innere.


Valion, Valirë und Minûlîth zu Minûlîths Anwesen

Eandril:
Edrahil aus seinem Versteck...

Auf seinem Weg zu dem Boten begegnete Edrahil zwei Straßenkindern, die versuchten ihm Informationen zu verkaufen. Beides war nicht der Rede wert, trotzdem erhielten beide ihre Belohnung und Edrahil schärfte ihnen überdies ein, die Augen nach einem Mann namen Mustqîm offen zu halten, und ihm alles was sie über den Banditen erfuhren, sofort zu erzählen.

Schließlich erreichte er einen unscheinbaren Laden, der sich an die östliche Stadtmauer schmiegte und Ketten aus Glasperlen und Falschgold verkaufte - oder zu verkaufen schien, denn wie Edrahil von Bayyin wusste, war das hauptsächliche Geschäft des Inhabers ein vollkommen anderes. Er betrat den kleinen Laden, der trotz der späten Stunde noch geöffnet und erleuchtet war, und sagte zu dem gelangweilt wirkenden jungen Mann hinter dem Tresen: "Ich hätte gern einen Diamanten." Dabei handelte es sich um die Parole, die der Schreiber ihm zuvor verraten hatte, und sein Gegenüber lebte sichtlich auf. "Natürlich, mein Freund. Er kostet nur zehn Silber."
Edrahil entspannte sich innerlich, als er den zweiten Teil der Parole erkannte. Der Mann kam hinter seinem Tresen hervor und zog einen Vorhang, hinter dem sich ein schmaler Gang verbarg, zur Seite. "Bitte hier entlang." Edrahil humpelte durch den Raum und durch die Öffnung in den Gang, und hinter ihm wurde der Vorhang sofort wieder zugezogen. Er folgte dem Gang, an dessen hölzernen Wänden eine einzige Fackel hing, um eine Ecke und sah am Ende eine Tür unter der Licht hervor drang. Nachdem er leicht angeklopft hatte, ertönte eine Stimme: "Wer ist da?"
Edrahil wusste, wenn er jetzt die falsche Antwort gab, würde er den Gang nie wieder verlassen - zumindest nicht lebend. "Wollen sie zufällig Schuhe kaufen?", fragte er, und hinter der Tür hörte er wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde. Dann zwei, drei Schritte, die Tür öffnete sich und vor Edrahil stand ein kleiner, dunkelhäutiger Mann, der deutlich jünger war als erwartet.
"Seid ihr der Bote?", fragte er, und sein Gegenüber deutete eine kleine Verbeugung an.  "In Person. Bitte, kommt doch herein. Stoßt euch nicht den Kopf an, ihr Leute aus Gondor seit alle solche Riesen."
Edrahil nickte nur stumm, und ließ sich in dem Sessel gegenüber des Schreibtischs, auf dem sich riesige Papierberge auftürmten, nieder. Er hatte wohl verstanden, warum der Bote seine Herkunft erwähnt hatte: Der Mann zeigte sein Wissen, und drohte damit gleichzeitig.
"Also." Der Bote setzte sich Edrahil gegenüber, stützte die Ellbogen auf den Tisch und blickte ihn über die gefalteten Hände hinweg an. "Was verschafft mir die Ehre?"

Edrahil zog die Briefe aus seinem Gewand, und warf sie vor dem Boten auf den Tisch. "Einige Briefe, die möglichst schnell ihren Empfänger erreichen sollen." Der Mann nahm den kleinen Stapel mit einer gemächlichen Bewegung, und las mit unbewegter Miene die darauf geschriebenen Namen der Empfänger. "Der Schmuggler Izem... Teijo... Farnaka... As'ar... tz tz, eine illustre Gesellschaft." Im Gesicht des Boten rührte sich kein Muskel, als er fortfuhr: "Nun, das wird nicht billig."
Edrahil nickte mit ebenso unbewegter Miene, und warf einen Beutel auf den Tisch der beim Aufprall vielsagend klimperte. Nach einem kurzen Blick hinein sagte der Bote: "Wie es aussieht, werden wir uns einig. Spätestens Morgen werden die Briefe ihre Ziele gefunden haben."
"Ich verlasse mich auf euren guten Ruf", gab Edrahil zurück. Er wollte gerade aufstehen, als er beschloss ein Risiko einzugehen. Der Bote, dessen eigentlicher Name zumindest Bayyin unbekannt gewesen war, sorgte zwar hauptsächlich nur dafür, dass prekäre Botschaften diskret in die richtigen Hände gelangten, doch soweit Edrahil wusste, betätigte er sich auch als Verkäufer von Informationen und spürte, gegen entsprechendes Entgelt natürlich, sogar gesuchte Personen auf. "Eines noch...", sagte er zögerlich. "Habt ihr schon einmal von einem Mann namens Mustqîm gehört?"
Der Bote tat, als müsste er nachdenken. Dann sagte er: "Nein, tut mir Leid, da kann ich euch nicht helfen."
"Könnte ich eure Hilfsbereitschaft irgendwie anregen?", fragte Edrahil nach, und ein flüchtiges Lächeln huschte über das Gesicht seines Gegenübers. "In dieser Angelegenheit kann ich euch tatsächlich nicht helfen, weil ich selbst nichts weiß." Das Eingeständnis schien den Boten zu ärgern, doch Edrahil glaubte ihm nicht vollständig.  Er legte einen weiteren Geldbeutel vor sich auf den Schreibtisch, ließ aber die Hand darauf liegen. Der Bote seufzte.

"Na gut, wenn ihr es wirklich wissen wollt... Ich weiß nichts gesichertes über diesen Mann, obwohl ich tatsächlich schon von ihm gehört habe. Die einen behaupten, er wäre ein Flüchtling aus Gondor der sich den Namen Mustqîm nur zur Tarnung zugelegt hätte. Die anderen, dass er ein ehemaliges Straßenkind ist, das mit der Flotte nach Norden gesegelt ist und nun zurückgekehrt ist. Und wieder andere sagen, er wäre ein Attentäter den Suladan geschickt hat um unseren Fürsten zu töten."
Edrahil schob ihm widerwillig den Geldbeutel zu, und der Bote zuckte mit den Achseln. "Tut mir leid um euer Geld, ihr wisst so gut wie ich, dass das vermutlich alles Unsinn ist."
"Man kann eben nicht immer Glück haben", erwiderte Edrahil mit einem falschen Lächeln. "Habt ihr vielleicht auch von einem Kontakt zwischen diesem Mustqîm und Teijo gehört?"
Das Gesicht seines Gegenübers wurde abweisend. "Zu dieser Sache kann und werde ich euch nichts sagen. Ihr könnt euren Geldbeutel stecken lassen, denn das fällt unter das Briefgeheimnis, dass ich meinen Kunden zusichere." Edrahil stand auf und rückte seinen Mantel zurück. "Es war ja nur eine Frage", sagte er gleichmütig. "Ich freue mich jedenfalls, dass ihr meinen Besuch hier ebenso diskret behandeln werdet."

Er verließ das Hinterzimmer ebenso wie er gekommen war, und warf dem jungen Mann im Vorraum eine Münze zu, die dieser geschickt auffing. Dann trat Edrahil wieder hinaus auf die nächtlichen Straßen von Umbar, und machte sich auf den Heimweg.

Edrahil in sein Versteck...

Fine:
Edrahil, Valion und Valirë aus Edrahils Versteck


Die Zwillinge folgten Edrahil auf dessen Weg zum Hafen. Obwohl es Vormittag war, war nun etwas weniger auf den Straßen los. Valion fragte sich, ob heute vielleicht ein besonderer Tag war, an dem weniger gearbeitet wurde als sonst, doch ehe er Edrahil danach fragen konnte blieb dieser ohne Vorwarnung stehen, blickte sich wachsam um und setzte dann hastig die Kapuze seines Umhangs auf. Edrahil schien plötzlich erstaunlich großes Interesse an den Waren eines Obsthändlers zu haben und musterte dessen Stand eindringlich.
Valion warf seiner Schwester einen verwunderten Blick zu, doch diese deutete hinter ihn und machte ein alarmiertes Gesicht. Er dreht sich um und sah eine große Gruppe Menschen die Straße entlang auf sich zugehen. Inmitten von schwer gesrüsteten Palastwachen ging ein eindeutig haradisch aussehender Mann mit dichtem Bart, der jedoch die prunkvollen Gewänder eines Adeligen von Umbar trug.
"Macht Platz für den Fürsten von Umbar und Herrn der Quahtan!" rief der vorderste der Gardisten, offenbar ihr Anführer. Die Zwillinge eilten zu Edrahil hinüber und versuchten, ihn vor den Blicken des Fürsten abzuschirmen. So viel hatten sie verstanden: Edrahil wollte nicht erkannt werden. Und wie immer würde er gute Gründe dafür haben.

Als der Fürst und seine Leibwächter vorbeizogen warf der Anführer der Palastwache Valion einen misstrauischen Blick zu, und streifte ebenfalls kurz Valirës Gesicht. Doch der Mann blieb nicht stehen sondern begnügte sich damit, den Zwillingen wortlos zu verstehen zu geben, dass sie ihm besser nicht in den Weg geraten sollten. Angespannt sahen sie zu, wie die Prozession die Straße hinuntermarschierte und um eine Ecke bog.
"Das war Hasael," sagte Valirë unnötigerweise.
"Und mein guter Freund Aquan, der Anführer der Palastgarde," stieß Edrahil zwischen den Zähnen hervor.
"Wisst ihr, wo sie hingehen?" fragte eine neue Stimme, auf der Höhe von Valions Unterarm. Er trat überrascht einen Schritt zurück, genau wie Edrahil und Valirë.
"Túor! Was machst du denn hier?" platzte Valirë mit einer Mischung aus Überraschung und Verärgerung heraus.
Túor machte eine verschwörerische Geste. "Psssst, Valirë! Dieser Name ist geheim. Wenn ich das Haus verlasse, heiße ich Minluzîr, nach dem Vorfahren meiner Mutter."
"Und wo ist deine Mutter?" fragte Valirë streng.
"Hier," sagte Edrahil trocken und zog die Plane beiseite, die den Obststand den er als Deckung verwendet hatte überspannte. Dahinter kam eine schlanke Frauengestalt zum Vorschein, die sie offensichtlich belauscht hatte. Edrahil nickte zufrieden. Offensichtlich hatte er sein Gespür für Gefahren und Geheimnisse nicht verloren.
"Herrin Minûlîth, nehme ich an?" sagte er und deutete eine spöttische Verbeugung an.
Die Frau lächelte. "Sehr gut, Meister Edrahil, Ihr enttäuscht meine Erwartungen wahrlich nicht. Ich bin Minûlîth, Tochter Azgarzîrs. Erfreut, Euch endlich kennenzulernen."
"Die Freude ist ganz meinerseits," antwortete Edrahil. "Ich hörte, Ihr habt ebenfalls ein Interesse an Hasaels Sturz." Seine Stimme war nun beinahe zu einem Wispern geworden.
Statt einer Antwort nickte Minûlîth nur.
"Was tut Ihr hier?" fragte Valion. "Sagtet Ihr nicht, dass Tú... das Euer Sohn in der Sicherheit Eures Anwesens bleiben sollte?"
"Er muss lernen, auf sich Acht zu geben und die Künste, die sein Vater und das Volk der Insel beherrscht, ebenfalls erlernen," antwortete Minûlîth. "Doch dies ist nicht der rechte Augenblick für Gespräche. Zu viele neugierige Augen und Ohren. Wir werden uns wiedersehen, Edrahil, und das schon bald. Ich wünsche Euch einstweilen viel Erfolg bei eurem... Treffen."
Sie ergriff Túor an der Hand und verschwand mit ihm in einer Seitengasse.

"Also, das war interessant," sagte Valirë.
"Eher beunruhigend," korrigierte Edrahil. "Wir sind zu unvorsichtig gewesen. Hasael oder Aquan hätten mich beinahe erkannt, und eure neue Freundin hat uns auch nicht gerade unauffällig wirken lassen. Wir müssen zusehen, dass wir zum Hafen kommen. Es wäre unseren Zwecken nicht sehr dienlich, wenn ich als Gastgeber zu spät zu meiner eigenen Feier erscheine."
Und so setzten sie ihren Weg durch die Straßen fort. Unterwegs hörten sie aus den Gesprächen der Stadtbewohner allerlei Gerüchte. Eines besagte, dass sich rebellische Stammesführer und Häuptlinge im Norden in einer Wüstenstadt versammelten, um einem verstoßenen Prätendenten die Treue zu schwören .
"Rebellenabschaum," zischte ein Quahtan-Krieger, der sich mit einem Korsaren unterhielt. "Der Sultan wird sich ihrer bald annehmen und sie unter seinem Stiefel zerquetschen."
Außerdem hörten sie davon, dass es im Süden Handelsdispute geben sollte, die dafür sorgen könnten, dass noch weniger Waren den Weg in Umbars Hafen finden würden. Edrahil jedoch hatte es eilig, und so blieb keine Zeit, um groß auf das Gerede der Leute zu achten. Also beschleunigten sie ihre Schritte noch einmal und schlugen den Weg zum Hafen ein.

Sie erreichten die Unterstadt und konnten in der Ferne bereits die Masten der großen Handelsschiffe über die hier etwas niedrigeren Dächer ragen sehen. Edrahil blieb hier noch einmal stehen.
"Wenn das Treffen beginnt, will ich, dass ihr nichts ohne meine ausdrückliche Anweisung tut. Bleibt einfach hinter mir stehen, haltet Eure Waffen griffbereit und seht bedrohlich aus. Im besten Fall müsst ihr sonst nichts tun. Wenn mein Plan aufgeht werden wir bald über einige neue Möglichkeiten, wie wir gegen Hasael vorgehen können, verfügen."
Valion nickte und schaute zu seiner Schwester, die wie bereits vor einigen Tagen den gleichen seltsamen Ausdruck im Gesicht hatte.
"Wir werden dich.. ich meine, wir werden Euch nicht enttäuschen," sagte sie mit einem untypischem Leuchten in den Augen.
Edrahil kniff die Augen zusammen und knurrte: "Das würde ich euch auch schwer raten." Dann setzte er seinen Weg fort, und die Zwillinge folgten ihm.


Edrahil, Valion und Valirë zum Hafen

Fine:
Valion und Valirë vom Hafen Umbars


Erstaunlicherweise gelang es den Zwillingen, Farnaka und seinen Männern ungesehen durch die belebten Straßen Umbars zu folgen ohne dass dieser sie bemerkte. Sie hatten sich in braune Umhänge gehüllt und deren Kapuzen aufgesetzt und immer einen guten Abstand zu Farnaka gehalten, blieben jedoch gerade nah genug an ihm dran, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Bald schon stellten sie fest, dass der Unterweltanführer in Richtung eines der zwielichtigeren Viertel Umbars untewegs war.
"Ich wusste nicht, dass in dieser Stadt voller Abschaum noch ein Viertel geben kann, gegen das der Rest der Stadt geradezu anständig wirkt," kommentierte Valirë als sie an baufälligen Häusern vorbeikamen und die Straßen mehr und mehr von eindeutig zwielichtigen Gestalten bevölkert wurden. Glücklicherweise schien es bisher keiner der Bewohner des Viertels darauf angelegt zu haben, die Zwillinge aufzuhalten oder überfallen zu wollen.

Sie folgten Farnaka und seinen Männern bis zu einem größeren Haus am Rande eines Platzes, der wohl einst in den Tagen, als Gondor die Stadt beherrscht hatte, ein stiller Rückzugsort gewesen war, an dem man dem geschäftigen Treiben Umbars entfliehen konnte. Heute war von dem kleinen Park in der Mitte des Platzes nichts als eine überwucherte Wildnis geblieben, an deren Rändern verschlagen aussehende Männer herumlungerten und einen streitsüchtigen Eindruck machten. Valion kam es vor, als wäre dies ein Ort, an dem sich Schmuggler und Hehler trafen, um fragwürdige Ware auszutauschen. Und war nicht Farnaka selbst ein einflussreicher Schmuggler und Rivale von Izem? Hier waren sie offenbar an der richtigen Adresse.
Das Haus, in dem Farnaka verschwunden war, machte einen gut gesicherten Eindruck. Es lehnte mit der Rückwand an die Stadtmauer Umbars, die östlich davon verlief und besaß einen Hinterausgang, der direkten Zugriff auf den Wehrgang der Mauer bot. Es würde schwierig sein, dort hinauf zu gelangen, falls Farnaka zu fliehen versuchte. Vor dem Haupteingang standen bezahlte Schläger herum, ein halbes Dutzend an der Zahl, und die Zwillinge bezweifelten nicht, dass es im Inneren noch mehr von ihnen geben musste. Sie verstecken sich hinter einem wild wuchernden Baum im Park und berieten sich im Flüsterton.
"Wie lautet dein Plan?" fragte Valion seine Schwester.
"Sieht nach einer harten Nuss aus," flüsterte Valirë zurück. "Denkst du, eine Ablenkung würde funktionieren?"
"Nicht die Art von Ablenkung, die du dir vorstellst," schätzte Valion die Lage ein. "Du kannst vielleicht einen oder zwei von ihnen mit deinem Augenaufschlag ablenken, aber der Rest wird trotzdem wachsam bleiben."
Valirë schob beleidigt die Lippe vor. "Du unterschätzt mich, kleiner Bruder," schmollte sie, wurde aber gleich darauf wieder ernst. "Aber es sieht so aus als ob du diesmal Recht hättest. Es sind einfach zu viele."
"Wie sollen wir also vorgehen?" überlegte Valion. "Siehst du vielleicht ein unbewachtes Fenster oder etwas, das wir als Eingang benutzen können?"
"Nein, nicht einmal.... Moment, das da vorne könnte vielleicht funktionieren." Sie lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen kleinen Balkon, der sich im dritten Stock befand. "Wir bräuchten nur ein Seil, und etwas Dunkelheit..."
Valion blickte zum Himmel hinauf, dann auf die Stelle, auf die Valirë gezeigt hatte. "Du bist verrückt," kommentierte er. "Der Plan gefällt mir. Also gut, ziehen wir's durch!"

Die Zeit bis zur Dämmerung verbrachten sie damit, ein Seil aufzutreiben und die Wachen genau im Auge zu behalten. Keiner der Schläger warf je einen Blick auf die oberen Stockwerke, was ihrem Plan sehr zugute kam. Valion beobachtete, wie immer wieder ein neuer Wachmann aus dem Haus kam und einen der draußen stehenden Menschen ersetzte. Es schien kein richtiges System dahinter zu stecken sondern basierte offenbar ausschließlich auf den Launen Farnakas, der seine Leute so einteilte, wie er es gerade für richtig empfand.
Er spürte eine sachte Berührung an der Schulter, und Valirë kniete sich neben ihn, ein langes Tau in den Händen. Er fragte nicht, woher sie es hatte, sondern nickte nur anerkennend. Jetzt konnte die nächste Phase ihres Planes beginnen. Er schnallte seinen Schwertgürtel ab und legte ihn neben die Wurzeln des Baumes, hinter dem sie sich versteckt hatten. Immer darauf bedacht, außer Sicht der Wachposten zu bleiben kletterte er geschickt den Stamm hinauf, das Seil um den Oberkörper gebunden. Es war nun dunkel genug, dass er in der Baumkrone unsichtbar blieb, wenn er keine schnellen Bewegungen machte. Valion befestigte das Seil am oberen Teil des Stammes in der Krone und half Valirë hinauf, die ihm seine Schwerter zurückgab.
"Also gut, versuchen wir es," sagte er und band das Seil wieder los, dann formte er daraus ein Lasso und ließ es locker aus dem Handgelenk im einem kleinen Bogen wirbeln. Zweimal musste er neu ansetzen, da Blätter und Äste im Weg waren, doch beim dritten Versuch gelang es ihm, genug Schwung aufzubauen, sodass er das Lasso in Richtung des hervorstehenden Dachgiebels schleudern konnte, der direkt oberhalb des kleinen Balkons lag und nur wenige Meter vom vorderen Ende des Astes entfernt war, auf dem die Zwillinge standen. Dennoch war es eine weite Distanz, die sie mit einem einfache Sprung niemals überqueren könnten. Also würden sie es auf etwas waghalsigere Art versuchen.
"Bist du bereit?" fragte er in Valirës Richtung. Diese nickte, stellte sich neben ihn und hielt sich mit beiden Armen an ihrem Bruder fest. Er spannte sich an, ergriff das Seil mit beiden Händen, und stieß sich vom Ast ab, der ihn leicht in die Höhe federn ließ. Der Schwung trug ihn mühelos über den Abgrund hinweg, viel leichter als er gedacht hatte - zu weit! Ehe er das Seil loslassen und sich auf dem Balkon abrollen oder auch nur reflexartig reagieren konnte schnellte die Hauswand auf die Zwillinge zu - und mit einem ohrenbetäubenden Krachen durchbrachen sie die dünne hölzerne Tür, die vom Balkon ins Innere des Hauses führte. Der Raum, der dahinter lag, war verlassen, doch noch immer hatten sie genug Schwung, um bis zur Rückwand des Zimmes geschleudert zu werden, wo sie polternd zum Liegen kamen.

Alle Luft wurde Valion aus der Lunge gepresst und er blieb einen Augenblick regungslos liegen. Der Aufprall und ihr Eintritt in Farnakas Haus war so laut gewesen, dass jederzeit eine Reaktion erfolgen musste. Er schüttelte sich, rappelte sich auf und sah nach seiner Schwester, die sich ächzend auf die Beine zog.
"Das hat ja gut funktioniert," stieß sie hervor. An ihrer Stirn war eine Platzwunde, und Valions Rücken fühlte sich an, als stünden die Muskeln in Brand. Abgesehen davon schienen sie jedoch bis auf viele, viele Prellungen, blaue Flecken und Schürfwunden keine allzu ernsten Verletzungen davongetragen zu haben. Sie zogen ihre Waffen und bezogen gegenüber der Tür Stellung, durch die jeden Moment alle im Haus befindlichen Schläger Farnakas gestürmt kommen mussten. Sie warteten, angespannt und in Erwartung eines harten Kampfes. Doch die Minuten vergingen, und nichts regte sich.
"Meinst du, wir sind vielleicht doch unbemerkt geblieben?" fragte Valirë in die Stille hinein.
"Unsinn, das Krachen war so laut, es hätte einen Toten aus seinem ewigen Schlaf erweckt," gab Valion zurück und spitzte die Ohren. "Hörst du das?" wisperte er. Und tatsächlich drangen aus dem unteren Stockwerk nun eindeutig Kampfgeräusche zu ihnen herauf.
"Scheint, als hätten die schon ohne uns angefangen," kommentierte Valirë. "Los komm, sehen wir es uns an!"

Sie riss die Türe auf, die das Zimmer mit dem Rest des Hauses verband, gerade als draußen eine vertraute Gestalt vorbeihuschte. Es war Farnaka, der offensichtlich auf der Flucht vor irgend etwas war.
"Hinterher!" rief Valion und die Zwillinge nahmen die Verfolgung auf. Sie eilten eine gewundene Treppe hinauf und kamen in einen großen Raum, der direkt unter dem Dach des Hauses zu liegen schien, denn die Wände liefen über ihnen im rechten Winkel zusammen. Sechs grobschlächtige Männer hatten hier Stellung bezogen, und Farnaka eilte an ihnen vorbei, auf die Tür auf der Rückseite zu.
"Da geht es wahrscheinlich nach draußen, auf die Mauer!" schlussfolgerte Valirë. "Er entkommt!"
Doch als Farnaka an der Tür riss, regte sich nichts. Sie war verschlossen, was dem Schmuggler einen derben Fluch entlockte. "Tötet sie! Macht sie fertig!" rief er außer sich vor Zorn seinen Männern zu, die ihre Waffen zogen und auf die Zwillinge losgingen. Ehe diese jedoch dazu kamen, ihre Schwerter einzusetzen huschte eine schwarze Gestalt zwischen ihnen vorbei und begann einen tödlichen Tanz mit den Schlägern. Valion hatte noch nie gesehen, wie sich jemand so bewegte. So schnell waren die Bewegungen dass die Gestalt im Halblicht des nur von einer schwachen Lampe an der Decke erhellten Raumes eher wie ein hin- und her springender Schatten wirkte. Hiebe schienen daran abzugleiten. Sechsmal blitzten die beiden langen Klingen der Gestalt auf, und sechsmal fiel ein Schläger tot zu Boden. Die Gestalt blieb stehen und Valion konnte nun erkennen, dass es sich um eine Frau handeln musste, die in eng anliegende schwarze Kleidung und einen ebenso dunklen Umhang gekleidet war. Eine Kapuze bedeckte den Kopf und ein Halstuch, das bis über die Nase hinauf gezogen war, die untere Hälfte des Gesichts. Dazwischen leuchteten zwei braune Augen hervor, die die Zwillinge einen kurzen Augenblick musterten, sich dann jedoch Farnaka zuwanden, der verzweifelt versuchte, die Türe hinter sich zu öffnen. Der Schmuggler machte den Mund auf, doch eher er um sein Leben betteln konnte zog die linke Klinge der Frau eine rote Linie über seine Kehle und er brach tot zusammen.

"Beeindruckend," sagte Valion, und die Gestalt drehte sich wieder um. "Macht es dir etwas aus, wenn wir Farnakas Kopf mitnehmen? Wir haben den Auftrag, ihn bei einem Bekannten abzuliefern."
"Ihr könnt ihn haben," sagte die Frau und zog ihren Mundschutz weg, was ein schmales Gesicht mit kleiner Nase und spitzem Kinn enthüllte. "Ihr seid die Zwillinge aus Gondor von denen es so viele Gerüchte in der Stadt gibt," stellte sie fest. Es war keine Frage.
"Die sind wir," bestätigte Valirë. "Da du weißt wer wir sind wäre es nur höflich, uns auch deinen zu verraten. Immerhin haben wir für die Ablenkung gesorgt, die es dir ermöglichte, in Farnakas Haus einzudringen."
Die Frau legte den Kopf schief, schien jedoch zuzustimmen. "Ja, dafür habt ihr meinen Dank. Ohne eure waghalsige Aktion wären die Wachposten nicht für den kurzen Moment abgelenkt gewesen, der mir gereicht hat um sie zu überwältigen. Man nennt mich Ta-er as-Safar," sagte sie und reichte Valirë die Hand. Sie schlug die Kapuze zurück, was ihre schulterlangen braunen Haare enthüllte. "Wir sollten nicht hierbleiben. Zwar glaube ich nicht, dass irgendjemand entkommen ist, aber..."
Die Tür, durch die Farnaka hatte fliehen wollen, schlug überraschend auf, und eine Stimme unterbrach sie: "Also, wen haben wir denn hier? Zwei gondorische Hunde und eine Auftragsmörderin? Seht Ihr, Kommandant, wie ich es euch gesagt hatte: Hier wurde soeben ein schändlicher Mord verübt!"
Es war Mustqîm, der nun gefolgt von einer großen Gruppe Stadtwächtern den Raum betrat. "Der arme Farnaka," sagte Mustqîm und stupste die Leiche mit dem Fuß an. "Wie gut, dass es nun Gerechtigkeit für seinen Tod geben wird!"
Ta-er und die Zwillinge wichen mit gezogenen Schwertern langsam in Richtung der Treppe zurück während immer mehr Wachen in den Raum strömten...

Navigation

[0] Themen-Index

[#] Nächste Seite

[*] Vorherige Sete

Zur normalen Ansicht wechseln