Durch den Schacht über Córiels Kopf fiel ein Lichtstrahl auf sie herab, der sich mehr und mehr von goldgelb zu blutrot verfärbte. Die Hochelbin lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Bett und versuchte, am oberen Ende des Schachtes etwas zu erkennen. Ein Rechteck bestehend aus violettem Himmel hing dort, so weit über ihr, dass an Klettern nicht zu denken war.
Abwesend starrte Córiel den Schacht hinauf und ließ ihre Gedanken auf Wanderschaft gehen. Vaicenya war nun bereits seit mehreren Stunden verschwunden geblieben. Córiel hatte die Uruk-hai auf der anderen Seite der Zimmertür hin und wieder miteinander in ihrer Sprache sprechen hören, doch niemand hatte die Tür geöffnet. Offenbar war Vaicenyas Autorität groß genug, dass sich die Uruks selbst in ihrer Abwesenheit an ihre Befehle hielten.
Córiel ließ die Eindrücke, die sie seit ihrer Ankunft in den Minen von Moria gesehen hatte, noch einmal an sich vorbeiziehen. Sie waren einer der Hauptstraßen durch das unterirdische Reich gefolgt. Entlang diesem Weg hatte es nicht ein einziges Gebiet gegeben, das auf Córiel unbewohnt oder verlassen gewirkt hatte. Jeder Teil des alten Zwergenreiches hatte nun wieder Sinn und Zweck. Im Herzen von Sarumans Reich gab es nur einen einzigen Grund für all die Betriebsamkeit: Den Krieg gegen Mordor und den Dunklen Herrscher.
Córiel wollte gar nicht daran denken, was geschehen würde, wenn Saruman aus dem Konflikt mit Sauron als Sieger hervorgehen würde. Die Kriegsmaschinerie und die eiserne Faust der Orks von Moria würden sich gnadenlos gegen alle richten, die sich nicht der Herrschaft ihres Meisters Saruman beugten. Die Menschen und Elben, die das in Aldburg geschmiedete Bündnis mit der Weißen Hand nach der Belagerung von Dol Guldur gebrochen hatten, standen vermutlich ganz oben auf der Liste jener, die Saruman im Weg waren. Rohan und Imladris drohten nach einem Sieg der Weißen Hand gefahrvolle Zeiten.
Doch was ist die Alternative? Soll etwa der Dunkle Herrscher siegen, und ein neues Zeitalter der Finsternis einleiten? Nein, daran wollte sie nicht denken.
Wir können nur hoffen, dass sich Sauron und Saruman in ihrem Krieg gegenseitig so sehr aufreiben, dass sie keine Bedrohung für Mittelerde mehr darstellen... Sie wusste natürlich, wie gering diese Hoffnung war. Viel wahrscheinlicher war es, dass der Sieger aus dem Krieg zwischen Weißer Hand und Rotem Auge noch stärker hervorging.
Sie musste irgendwann tatsächlich eingeschlafen sein, denn als Vaicenya Córiel weckte, war das Licht am Ende des langen Schachtes verschwunden. Draußen, über den gewaltigen Gipfeln der Nebelberge, war es Nacht geworden.
“
Sucuy,” wisperte Vaicenya, die auf der Bettkante saß und im Dunkeln kaum zu erkennen war. Weitere Worte in einer Córiel unverständlichen Sprache folgten, die sich nach und nach zu einer Melodie verflochten:
”Féä tauryeldë, í-ringvetall an-Tar
Hísimar ta-veldë, echâriel silnar
Lassarisinéma, û-chel giláril mîn
Yevaní odhíma, valarrica á-dîn
Féä tauryeldë, déasidhar aglór
Tor-rechil elveldë, á-tirin tír rochor
O dagnór mivîla, taurantar lassim
Heren dhaurelena, menîl û-carassim.”
Das Lied verklang und die Stille kehrte in den kleinen Raum zurück. Córiel spürte, wie sich die Matratze unter Vaicenyas Gewicht verbog, als sich die Dunkelelbin neben sie legte.
“Was hast du da gesungen?” fragte Córiel nach einiger Zeit des unbehaglichen Schweigens.
“Das war einer der vielen Avarin-Dialekte des Ostens,” antwortete Vaicenya leise. “Es gab eine Zeit, in der ich mir in den Kopf gesetzt hatte, sie alle zu lernen. In diesem Lied wird Yávanna, die Herrin von allem, was wächst, besungen.”
Für Córiel hingegen war das Lied von einer tiefen Sehnsucht erfüllt gewesen. Vor ihrem inneren Auge hatte sie für einen kurzen Moment ein fernes, grünes Land gesehen, das zwischen hohen, schneebedeckten Bergen und einem schier endlos weitem Meer gelegen war.
“Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, meine Liebe. Sieh zu, dass du den Schlaf bekommst, den du brauchst.” Damit drehte Vaicenya ihr den Rücken zu (soweit Córiel es in der Dunkelheit erkennen konnte, denn ihre Hand auszustrecken, um nachzufühlen, wollte sie lieber nicht) und schwieg, bis Córiel schließlich erneut die Augen zu fielen.
Als Córiel erwachte, war das Licht im Schacht über ihr zurückgekehrt, doch noch war es nur schwach. Es musste früh am Morgen sein. Vorsichtig setzte sich die Hochelbin im Bett auf und warf einen Blick auf Vaicenya, die noch immer schlief. Das kastanienbraune Haar der Dunkelelbin hatte sich wie eine dichte Wolke auf ihrem Kissen ausgebreitet und ihre Brust hob sich in regelmäßigen Abständen. Sie war erstaunlich leicht bekleidet und nicht von einer Decke bedeckt.
Verstohlen tastete Córiel nach ihrem Dolch, der bei ihren Habseligkeiten neben dem Bett lag. Ihre schlanken Finger schlossen sich um den mit Leder besetzten Griff. Ohne ein Geräusch von sich zu geben setzte sie Vaicenya die Klinge an die Kehle.
Es wäre so einfach, jetzt zuzustoßen. Sie könnte die Machenschaften der Dunkelelbin in genau jenem Augenblick beenden. Córiels Herz begann, lauter zu schlagen, als es den Ruf nach Blut zu vernehmen begann. Es war schon zu lange her, dass sie ihren letzten Kampf bestritten hatte. Die vielen Übungsgefechte gegen Jarbeorn in Bruchtal waren nicht mehr als ein schwacher Trost gewesen.
Doch Vaicenya würde ihr keinen Kampf liefern. Die Dunkelelbin schlief. Sie war wehrlos und war Córiel in jenem Augenblick auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Ich sollte es nicht tun, dachte Córiel, doch sie nahm die Klinge nicht weg.
Wie würde ich jemals aus Moria entkommen, ohne dass mir Vaicenya den Weg frei räumt? Und wer weiß, was sie für furchtbare Dinge in Bewegung gesetzt hat, von denen wir erst dann erfahren würden, wenn es bereits zu spät ist? Wenn sie jetzt stirbt, finden wir ihre Geheimnisse niemals heraus. Und doch...Sie biss die Zähne zusammen als ihr innerer Konflikt stärker wurde. Schließlich gelang es Córiel, den Dolch langsam, Zentimeter um Zentimeter, von Vaicenyas Kehle zu entfernen. Einen Augenblick verharrte ihre Hand an Ort und Stelle, dann kam ein Impuls aus der dunkelsten Ecke ihres Verstandes, und die Dolchspitze senkte sich auf die Brust der Dunkelelbin herab, direkt oberhalb ihres Herzens. Nur eine dünne, beinahe schon durchscheinende Stoffschicht trennte das kalte Metall noch von der Haut der schlafenden Elbin.
Denk an Elronds Auftrag, dachte Córiel angestrengt.
Denk an deine Mission! Du darfst das nicht tun!Ich sollte es tun. Sie hat den Tod verdient.Gib nicht dem Durst nach Blut nach. Lass es lieber an den Orks aus!Die Orks sind viele, und ich bin allein. Vaicenya ist in meiner Gewalt. Sie muss sterben! Hier und jetzt.Du wirst großes Unheil über Mittelerde bringen!Das ist mir egal. Vaicenya muss beseitigt werden.Das wird dein Tod sein, Coryeldë. Moria wird dein Grab werden.Wenn ich dieses Opfer bringen muss, um diese Wahnsinnige aufzuhalten, dann sei es so.Mit einem Mal herrschte Stille in Córiels Gedanken. Sie hatte ihre Wahl getroffen. Langsam, aber stetig hob sie den Dolch zum Todesstoß an. Dann stieß sie mit tödlicher Präzision zu.
Etwas schoss vor und packte ihr Handgelenk wie ein unnachgiebiger Schraubstock, der so fest zu presste, dass sie den Dolch mit einem Schrei fallen ließ. Vaicenyas Hand hatte ihren Stoß im letzten Augenblick aufgehalten. Die Augen der Dunkelelbin standen nun weit offen und ein grausames Feuer brannte darin. Sie ließ Córiels Arm los, und schneller als man es sehen konnte, schlossen sich beide Hände um die Kehle der Hochelbin.
So rasch wie der Druck um ihren Hals gekommen war, so rasch ließ er wieder nach, und Vaicenyas Blick kreuzte sich mit ihrem. Alle Härte wich daraus und das Feuer erlosch.
“Du,” hauchte Vaicenya. “Im ersten Augenblick dachte ich, du wärest eine dieser...
Kreaturen dort draußen und hättest nun doch genügend Mut zusammengekratzt, um... Vergib mir. Ich verstehe nicht, wie ich so blind sein konnte. Deinen strahlenden Anmut zu verwechseln mit ... mit ...” sie ließ den Satz ohne Abschluss verklingen.
Córiel atmete stoßweise aus und kämpfte gegen den Impuls an, erneut nach dem Dolch zu greifen. Sie war Vaicenya unangenehm nahe gekommen. Viel zu nahe für ihren Geschmack. Die Dunkelelbin hingegen schien dies nicht zu stören.
“Ich wünschte, wir müssten nicht fort,” fuhr Vaicenya fort. “Nichts würde mich mehr erfreuen, als genau hier zu bleiben, meine Liebe. Doch bevor alles wieder so sein wird, wie es einst war, bevor der Schatten uns alles genommen hat, müssen wir noch einige Dinge tun, und den Rest des Weges hinter uns bringen. Der Goldene Wald ruft uns.”
Sie schob Córiel sanft, aber bestimmt, beiseite und zog sich rasch an. Ihre silberne Rüstung klirrte dabei leise.
“Komm. Ich habe etwas für dich,
Melvendë.”
Wenig später hatten sie die Unterkunft der Diener Sarumans verlassen und folgten der Hauptstraße durch Moria hindurch weiter nach Westen. Ungefähr eine Meile später bog Vaicenya durch einen großen Durchgang hindurch nach links ab, aus dem Hitze und Dampfwolken heraus strömten. Die beiden Elbinnen kamen in einen Raum mit hohen Wänden, von denen sich Ströme aus geschmolzenem Metall herab ergossen und in gewaltige Becken zu beiden Seiten ergossen. In der Mitte stand ein einzelner, reich verzierter Amboss, und darauf lag eine Waffe. Córiel trat vorsichtig in den ansonsten verlassenen Raum. Ihr Blick war auf das Zentrum fixiert, auf den unverkennbar von Zwergen geschaffenen Amboss und auf das, was darauf lag. Es war ein Speer mit einem schwarzen Schaft, der in der Mitte mit dunklem Leder umwickelt war. Doch das besondere an der Waffe war seine Spitze, die aus einem Metall bestand, das einen silbrigen Schein von sich gab. Als Córiel den Schaft des Speeres ergriff, stellte sie fest, dass ihre Finger zitterten. Er war leichter, als sie erwartet hatte.
“Eine Klinge aus Wahrsilber,” wisperte Vaicenya geradezu andächtig. “Äußerst belastbar und unschätzbar wertvoll.” Sie trat neben Córiel, und ihre Blicke trafen sich. “Ich zerbrach deinen Speer auf der Zinne des Zwergenturmes. Da ist es nur gerecht, wenn ich für einen Ersatz sorge.”
“Dies ist mehr als nur ein
Ersatz,” erwiderte Córiel. “Das muss ein Vermögen wert sein.”
“Genau wie du,” antwortete Vaicenya. “Saruman würde das Mithril nur an seine Uruk-Hai vergeuden. In deinen Händen ist es besser aufgehoben.”
“Du hast dich auch schon großzügig daran bedient, wie ich sehe,” stellte Córiel mit einem Blick auf Vaicenyas Ohrringe, Halskette und den Ring an ihrer linken Hand fest. Auch einige der Kettenglieder am Brustpanzer der Dunkelelbin schienen aus Mithril zu bestehen. Nun, da Córiel wusste, wie das Edelmetall aussah, war es für sie einfach zu erkennen.
“Gönnst du es mir etwa nicht, meine Liebe?” Vaicenya lachte. “Du hast dich wirklich nicht verändert.”
“Ich weiß nicht, wovon du sprichst.”
Vaicenya legte ihr die Hand auf die Schulter. “Bald schon wirst du dich erinnern. Bald schon.”
Mit diesen unheilvollen Worten im Ohr setzten sie ihren Weg durch Moria hindurch fort.
Am übernächsten Tag erreichten sie die Erste Halle jenseits des großen Ost-Tores des gefallenen Zwergenreiches. Sie hatten kurz davor einen gewaltigen Abgrund überquert, über den die Diener der Weißen Hand eine breite, aus Stahl geschmiedete Zugbrücke gespannt hatten. Einige der Uruk-hai hatten sie bis hierher eskortiert, darunter auch deren Anführer, Prâk.
Das Licht der Mittagssonne fiel in die große Halle hinein, die voller bewaffneter Orks war. Irgendetwas musste sie in Alarmbereitschaft versetzt haben, und Vaicenya brauchte nur wenige Minuten, um den Grund herauszufinden.
Ein Hauptmann der Moria-Orks fiel vor ihr auf die Knie und berichtete mit zischender Stimme: “Ein Überraschungsangriff, Herrin! Unzählige dieser Gundabad-Maden sind ins Schattenbachtal eingedrungen und nähern sich dem Tor, sie müssen jeden Moment hier sein!”
Vaicenya verlangte eine Erklärung. “Wie konnten sie euch so weit im Süden überfallen? Liegt die Kriegsfront etwa nicht länger nördlich des Hohen Passes und der Orkstadt?”
“Sie müssen durch das Tal des Großen Stromes gezogen sein, unbemerkt, nun da die Menschlinge es verlassen haben!”
Ein Hornstoß erklang von draußen, und Schlachtlärm drang durch den vom Tageslicht erhellten Torbogen.
“Geh und ruf alle zu den Waffen, die du finden kannst, Ork!” befahl Vaicenya.
“Und Ihr, Gebieterin?”
“Ich werde diese Würmer aufhalten. Komm,
Melvendë. Es wird Zeit, dass deine neue Waffe das erste Blut schmeckt, und sich einen Namen verdient.”
Die beiden Schwerter der Dunkelelbin schossen hervor und mit einem Kampfschrei stürzte Vaicenya sich durch das Tor Morias hinaus ins Gefecht. Córiel folgte ihr auf dem Fuß.
Córiel und Vaicenya ins Schattenbachtal