Valion, Ardóneth, Rinheryn, Damrod, Thandor, Glóradan und Areneth mit den Waldläufern aus Nord-IthilienDen kleinen Fluss, der von Henneth Annún bis zum Anduin hinab durch die grünen Wälder Ithiliens floss, hatten die drei Boote der Waldläufer rasch hinter sich gelassen. Bis hierhin hatten ihnen die Bäume Schutz geboten, doch nun, da sie von den Strömungen des mächtigen Anduin erfasst wurden, zerrten diese sie unbarmherzig in die Mitte des großen Flusses, wo sie unfreundlichen Blicken schutzlos ausgeliefert waren. Glücklicherweise war es inzwischen Nacht geworden und sie hofften, in der Dunkelheit der Aufmerksamkeit ihrer Verfolger zu entgehen. Dass sie verfolgt wurden war ihnen klar, auch wenn sie seit dem Beginn ihrer Fahrt auf dem Wasser keinerlei Anzeichen dafür gesehen hatten. Der feindliche Kommandant war am Leben und würde nicht eher ruhen, bis auch der letzte Widerstandskämpfer im besetzten Gebiet Gondors sein Leben verloren hatte.
Valion saß im Heck des vordersten Bootes und starrte angestrengt auf die finsteren Wasser hinaus. Seine Verletzung aus Minas Tirith hatte erneut zu schmerzen begonnen, was ihm auf die Laune schlug. Darüber hinaus war der Verlust, den der Widerstand erlitten hat, ein schwerer Schlag für die Menschen Gondors. Mordors Versorgungslinien würden nun ungestört Verstärkungen und Vorräte an die Front liefern können, was den Druck auf die Grenze am Gilrain vermutlich noch erhöhen würde. Valion konnte es kaum erwarten, an der Verteidigung teilzunehmen. Er hoffte, dass Linhir noch von Gondor gehalten wurde, doch er machte sich keine Illusionen. Offener Krieg war erneut ausgebrochen und es war fraglich, ob die Stadt überhaupt noch stand.
Rinheryn, die neben ihm saß, schien ähnliche düstere Gedanken zu haben. Den Schnitt am Bauch, den sie im Kampf gegen Balkazîr erlitten hatte, hatte ihr einer der älteren Waldläufer, ein Mann namens Thandor, fachmännisch verbunden und die Blutung war gestillt worden. Dennoch war das Gesicht der junge Gondorerin bleich und sie schien ihr gewohntes ungestümes und positives Gemüt für den Augenblick verloren zu haben.
Die Geschwister aus Arnor saßen in dem Boot, das direkt hinter Valions Transportmittel fuhr. Sie unterhielten sich leise miteinander. Soweit Valion erkennen konnte, war es hauptsächlich Ardóneth, der auf seine Schwester einredete. Kurz bevor sie die Boote bestiegen hatten, hatte Valion mitbekommen, dass der Waldläufer sich mit Areneth im Uneinen darüber war, wie sie nun weiter vorgehen sollten. Ihre vordringlichste Mission in Gondor hatten sie erfüllt: Den Schlüssel aus ihrem Haus in Minas Tirith befand sich in ihrem Besitz. Deshalb schien Areneth der Meinung zu sein, es wäre an der Zeit, nach Arnor zurückzukehren, doch Valion hatte beim Besteigen der Boote mitangehört, wie ihr Bruder gesagt hatte: „Ein weiterer Schlüssel verbleibt, dessen Spur ebenfalls nach Gondor zu führen scheint. Wir sollten zunächst danach suchen, ehe wir heimkehren. Denk an das Vermächtnis von Haus Glórin! Wenn es noch Erben dieses Zweiges gibt, könnten sie etwas darüber wissen.“
Die ganze Sache hatte Valion nachdenklich gemacht. Die Untätigkeit auf dem Boot war etwas, wogegen er ohne weiteres nichts unternehmen konnte. Also beschäftigte er sich mit seinen Gedanken.
„He,“ raunte er Rinya zu, die noch immer verdrossen in Richtung des jenseitigen Flussufers starrte, das unter dem Nachtschatten langsam an ihnen vorüber zog. „Sagt dir der Name „Haus Glórin“ irgendetwas? Schon mal davon gehört?“
Duinhirs Tochter - selbst aus hohem Hause stammend - schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich, nein. Ehrlich gesagt hatte ich nie sonderliches Interesse an Ahnenkunde, Stammbäumen und Heraldik, mit allem was so dazu gehört. Mir genügt es zu wissen, dass der Stein von Erech für mein Haus steht und dass ich für meine Heimat bis zum letzten Atemzug kämpfen werde. Wieso interessierst du dich denn dafür?“
„Hab‘ die Arnorer davon sprechen hören. Vielleicht haben sie ja auch ein Haus des Nordens gemeint,“ erwiderte Valion.
„Sagtet Ihr Haus Glórin?“ mischte sich eine neue Stimme ein. Bei dem Sprecher handelte es sich den alten Thandor. Offenbar war der Name dem alten Heiler bekannt vorgekommen.
„Wisst Ihr etwas darüber, Freund Heiler?“ packte Valion die Gelegenheit beim Schopfe.
Der alte Widerstandskämpfer lächelte. „Heiler bin ich nur aus der Not heraus, dass die meisten anderen, die sich damit besser als ich auskannten, fort sind. In meinem Leben habe ich hier und dort das ein oder andere über das Verbinden und Reinigen von Wunden aufgeschnappt. Wäre dieser Arnorer nicht gewesen, hätte ich Euch wohl nicht helfen können, junger Herr.“ Er machte eine dramatische Pause, ehe er fortfuhr: „Einst war ich einer der Archivare in der königlichen Bibliothek von Minas Tirith, und ich habe beim Fall der Stadt einige wichtige Dokumente retten können.“ Zufrieden tätschelte er die große, hölzerne Truhe, auf der er saß. „Mit meinem Wissen sehe ich mich in der Lage, Euch im Bezug auf das Haus Glórin weiterzuhelfen.“
„Was macht ein königlicher Archivar in der Wildnis von Ithilien?“ wollte Rinheryn neugierig wissen.
„Lass ihn erst meine Frage beantworten,“ ging Valion dazwischen. „Also gut, Thandor. Was wisst ihr über Haus Glórin?“
„Es handelt sich um ein niederes Adelshaus, das den Herren von Belfalas von Haus Galvor verschworen ist. Ihr Siegel zeigt die Sieben Sterne Gondors in Gold, auf grünem Feld, und darunter einen der geflügelten Helme, wie sie in den Tagen Elendils üblich waren. Ihr Lehnssitz ist ein kleines Dorf in den Emyn-en-Ernil, dessen Name mir gerade entfallen ist... nein, Augenblick, ich erinnere mich. Tugobel heißt es, im schönen Tal von Tum-en-Dín gelegen. Das Besondere an Haus Glórin ist jedoch, dass laut alten Aufzeichnungen aus den Tagen der ersten Truchsessen die Vorfahren Glórins aus dem nördlichen Königreich stammen.“
„Ein Haus Arnors also, das nun in Gondor lebt,“ fasste Valion nachdenklich zusammen. „Das erklärt vermutlich das Interesse, das Ardóneth daran hat. Wisst Ihr, ob heute noch Erben Glórins am Leben sind?“
„Die Wogen des Krieges haben Belfalas bis zu seiner Befreiung durch die Schwanenritter überrollt,“ antwortete Thandor. „Wir können nicht sagen, ob Tum-en-Dín davon verschont geblieben ist. Doch wenn dem so ist, bin ich guter Hoffnung, dass Haus Glórin noch existiert.“
„Tum-en-Dín...“ murmelte Valion. Der Name kam ihm bekannt vor, und er war sich sicher, ihn erst vor wenigen Monaten gehört zu haben...
„Aufregend,“ wisperte Rinheryn. „Das Ganze ist beinahe wie eine Schatzsucherin. Ich vermute, es geht um einen weiteren dieser Schlüssel?“
„Schlüssel?“ fragte Thandor verwundert.
„Hilgorn stammt aus Tum-en-Dín,“ fiel es Valion in diesem Augenblick ein. „Vielleicht weiß er ja über Haus Glórin Bescheid. Diese Arnorer sollten mit uns nach Dol Amroth kommen und mit ihm reden...“
Bei Mitternacht erreichten die Boote der Partisanen Osgiliath. Die einstige Hauptstadt Gondors teilte den Anduin in zwei breite Arme, denn im Zentrum überspannten die Überreste einer mächtigen Brücke den Fluss, deren Pfeiler auf einer zentralen Insel ruhten. Valion wusste, dass dort einst der Sternendom gestanden hatte, in dem sich die Könige Gondors mit ihren wichtigsten Berater getroffen und das Geschick des Königreichs gelenkt hatten. Von der Kuppel des Doms war nur noch ein zerfallener Rest zu sehen, was genauso auf die gesamte Stadt zutraf. Osgiliath war nicht mehr als ein Wegpunkt, eine Zwischenstation auf der Straße zwischen Minas Morgul und Minas Tirith; eine Verbindung zwischen Mordor und den von Sauron besetzen und eroberten Gebieten in Gondor. Da es nicht an der direkten Front lag, war es nur von einer kleinen Ork-Garnison bemannt, was den Waldläufern bei ihrer Flucht nun zugute kam. Offenbar hatte sich die Nachricht, dass sie auf dem Fluss unterwegs waren, noch nicht bis nach Osgiliath herumgesprochen. Dennoch war äußerste Vorsicht geboten, denn die Orks besaßen Augen, die auch bei Nacht gut sahen. Damrod, der im Bug des vordersten Botes saß, gebot seinen Leuten absolutes Schweigen. Sie stellten das Paddeln vorerst vollständig ein und ließen sich langsam auf die Stadt zu treiben. Fackeln blinkten zwischen den Ruinen auf. Die Strömung trieb die drei Boote hintereinander in den östlichen Flussarm und durch die große Lücke in der Stadtmauer hindurch. Alle zogen die Köpfe ein und Valion sah, wie Rinheryn den Atem anhielt. Da bemerkte er, dass er es ihr gleich getan hatte.
Die Anspannung war kaum auszuhalten. Mehrmals sahen sie in der Ferne orkische Patrouillen durch die zerstörten Straßen streifen. Dann kamen sie an die große Brücke, die von einer behelfsmäßigen Holzkonstruktion teilweise wieder instand gesetzt worden war. Quälend langsam trieben sie unter den gewaltigen Pfeilern hindurch. Über sich hörte Valion schwere Schritte, die ihn an den Troll aus den Wäldern Ithiliens denken ließen. Dann waren sie hindurch und die Boote beschleunigten ein wenig, als sie von einer frischen Strömung erfasst wurden. Der Anduin floss wieder zu einem einzelnen, breiten Gewässer zusammen und zog die drei Boote ins Zentrum seines Stromes. Sie passierten nun den alten Hafen Osgiliaths, dessen Anlegestellen an beiden Flussufern noch immer sichtbar waren. Vor ihnen tauchte nun die südliche Stadtmauer auf, die ihnen eine trügerische Sicherheit verhieß. Beinahe hatten sie den Durchgang erreicht...
Aus der Schwärze kam ein Pfeil geschossen und bohrte sich in den Rumpf des vordersten Bootes. Rufe und Hörner wurden am Ufer laut, und Fackeln leuchteten wie ein wütendes Lichtermeer auf.
„Paddel!“ brüllte Damrod und richtete sich in seinem Boot auf, um den hinteren Booten ein Zeichen zu geben. Ein Pfeil verfehlte den Anführer der Waldläufer um Haaresbreite, als er sich wieder duckte. Auch Valion hatte eines der Paddel gepackt und legte sich so gut es ging ins Zeug. Glücklicherweise schienen die Orks nicht mehr als einige hastig zusammengezimmerte Floße zu besitzen, die es an Geschwindigkeit und Manövrierbarkeit mit den Booten der Waldläufer nicht aufnehmen konnten. Sie ließen Osgiliath und ihre Verfolger hinter sich.
Die Fahrt den Anduin hinab verlief ohne weitere Vorkommnisse. Die große Stadt Pelargir wirkte vollkommen verlassen; nicht einmal Schiffe der Korsaren waren an den Kais zu sehen. Der Anduin floss nun schneller als zuvor und sie mussten kaum mit den Paddeln nachhelfen. Rinheryn vermutete, dass die Garnison Pelargirs an die Gilrain-Front entsandt worden war, und Valion befürchtete, dass Duinhirs Tochter damit Recht hatte. Noch immer wussten sie nicht, wie die Kriegslage sich entwickelt hatte, seitdem Valion sich auf dem Weg nach Dol Amroth unerlaubter Weise von seiner Eskorte getrennt hatte.
Am dritten Tag passierten sie die Ruinen der Burg Belegarth. Valion wandte den Blick ab. Er wollte nicht an den Untergang des Ortes erinnert werden, an dem er aufgewachsen war. Glücklicherweise war die Strömung inzwischen noch stärker geworden und zog die drei Boote hastig auf die Mündungen zu. Dort angekommen stellte sich der starke Sog jedoch rasch als Problem heraus. Ursprünglich hatte Damrod geplant, Linhir anzusteuern, doch die Meeresströmung der Bucht von Belfalas hatte die Boote der Waldläufer zu fest in ihrem Griff gepackt. Ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnten, wurden sie unbarmherzig in die Bucht hinaus getragen, auf die in der Ferne immer größer werdende Insel Tolfalas zu...
Valion, Ardóneth, Rinheryn, Damrod, Thandor, Glóradan und Areneth nach Tolfalas