Als sie die Treppe aus dem Kerker hinauf gingen, machte Edrahils schlechtes Bein sich zum ersten Mal während der Operation bemerkbar. Valirë, die bereits das obere Ende der Treppe erreicht hatte, schien zu bemerken dass etwas nicht stimmte, als sie sich umwandte und zu ihm und Lothíriel hinunterblickte.
"Ist alles in Ordnung?", fragte sie, und Edrahil war über den beinahe fürsorglichen Ton ihrer Stimme überrascht. Er hatte eher mit einer spöttischen Bemerkung gerechnet, selbst nachdem er ihre Reaktion bei Mustqîms Flucht vor einigen Tagen gesehen hatte. Vielleicht sollte er doch einmal ein klärendes Gespräch mit ihr führen... doch nicht jetzt.
Er winkte beruhigend ab, während er sich mit der anderen Hand das Knie rieb. "Alles in Ordnung. Wir sollten weiter."
Valirë zögerte kurz, zuckte dann aber mit den Schultern und trat hinaus auf den oberen Flur, während Edrahil und Lothíriel ihr so schnell folgten, wie Edrahils Bein es zuließ.
"Ich hatte gehofft, dass ihr mich findet", meinte Lothíriel, die bislang geschwiegen hatte, sich aber allmählich vom Schock ihrer plötzlichen Befreiung zu erholen schien. "Ich wusste ja, dass ihr in Umbar sein musstet - und wenn Hasael euch bereits gefangen hätte, hätte er mich sicherlich damit verspottet."
"Vermutlich", ächzte Edrahil, und streckte, am oberen Ende der Treppe angekommen, sein Bein mehrfach durch, bis die Schmerzen nachließen.
"Aber ich wusste nicht, ob ihr über mich Bescheid wusstet, und... ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben." Lothíriel ließ den Kopf hängen, doch Valirë warf mit einem Augenzwinkern ein: "Aber du weißt doch, dass Edrahil immer alles weiß."
"Nicht immer alles, leider", stieß Edrahil hinter zusammengebissenen Zähnen hervor.
Ich werde allmählich zu alt für solche Unternehmungen..."Wie habt ihr mich eigentlich gefunden?", fragte Lothíriel, während sie dem Gang in Richtung des Bibliotheksturms folgten. Während sie gingen, warf Edrahil immer wieder Blicke über die Schulter und lauschte auf weitere Schritte, denn inzwischen waren sie keineswegs länger unauffällig, bewaffnet, mit blutbespritzter Kleidung und in Begleitung einer wertvollen Gefangenen.
"Wie schon gesagt, wir hatten ein wenig Hilfe von Leuten mit Zugang zum Palast, die Hasael ebenfalls nicht wohlgesonnen sind."
"Und ihr seid euch sicher, dass das keine... Falle ist?"
Edrahil zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete: "Hasael hatte euch bereits, mich so weit kommen zu lassen nur um mich in eine Falle zu locken ist viel zu riskant. Und außerdem... vertraue ich meinen Kontakten."
"Tut ihr?", fragte Valirë ungläubig. "Das habt ihr aber sehr gut verborgen..."
"Bis vor ein paar Augenblicken habe ich das auch nicht", gab Edrahil zurück. Erst der bislang so glatte Verlauf dieses Abends hatte ihn überzeugt, dass Minûlîth es tatsächlich ernst meinte. Wie leicht wäre es für sie gewesen, über Lothíriels Zelle zu lügen, oder ihre Waffen nicht wie besprochen zu verstecken, oder die Wachen vorzuwarnen, ohne dass er Gelegenheit gehabt hätte, es rechtzeitig zu erfahren.
Er wollte gerade weitersprechen, als er Schritte aus dem Gang vor ihnen hörte.
"Wachen, vor uns", sagte er, und im selben Moment fuhr Valirës Schwert aus der Scheide. Nur einen Herzschlag später bogen zwei mit Hellebarden bewaffnete Wächter im Laufschritt um die Ecke, hinter der der Bibliotheksturm lag, und blieben beim Anblick der Eindringlinge wie angewurzelt stehen. Bevor sie jedoch ihre Waffen zum Angriff senken oder Alarm geben konnten, war Valirë bereits auf sie zugestürmt, duckte sich unter ihren Hieben weg und schlitterte dann auf dem glatten Boden des Ganges zwischen hindurch. Dabei versetzte sie dem einen mit dem Schwert einen Rückhandhieb gegen die ungepanzerte Wade der ihn auf die Knie gehen ließ, kam hinter ihnen wieder auf die Füße und rammte dem anderen aus der Bewegung hinaus ihr Schwert in den Nacken, sodass es aus dem vor Schreck geöffneten Mund des Mannes wieder hervortrat.
Dann riss sie das Schwert wieder aus ihrem gefallenen Gegner heraus und versetzte dem anderen Wächter einen zweihändig geführten Schwerthieb gegen den Kopf, bevor er wieder auf die Füße kommen konnte, und Blut und Knochensplitter spritzen an die Wand des Ganges.
Das ganze hatte gerade lange genug gedauert, dass Lothíriel einen kurzen Entsetzensschrei hinter vorgehaltener Hand ausstoßen konnte. "Du solltest wirklich auch mal ein bisschen Schwertkampf lernen. Ich bringe dir gerne ein paar Tricks bei", sagte Valirë als wäre nichts bedeutendes geschehen, während sie einige Blutstropfen von ihrer Klinge schüttelte.
"Das könnte tatsächlich nicht schaden", meinte Edrahil, und ertappte sich bei dem Gedanken wie froh er war, dass Valirë und ihr Bruder auf seiner Seite standen. "Aber wir sollten weiter, denn wo zwei Wachen sind, sind auch mehr." Außerdem war ihm aufgefallen, dass wie beiden Männer sehr eilig in Richtung des Festes, von dem, wie ihm jetzt klar wurde, auch keine Musik mehr zu hören war, unterwegs gewesen waren. Irgendetwas musste auf dem Fest vorgefallen war, doch er hatte jetzt keine Zeit sich darum zu kümmern. Bis er seinen Teil des Plans ausgeführt hatte, waren Valion und Minûlîth auf sich selbst gestellt.
"Könnt ihr weitergehen?", fragte er an Lothíriel gerichtet. Die Prinzessin hatte die Hand vom Mund gesenkt, doch ihre grauen Augen waren noch immer weit aufgerissen. Dennoch nickte sie, und sagte: "Ja, lasst uns... lasst uns weitergehen, und diesen Ort verlassen."
Als sie über die Leichen der unglücklichen Wächter hinwegstiegen dachte Edrahil bei sich, dass Lothíriel eindeutig die Tochter ihres Vaters war. Sie war zwar keine Kämpferin wie Valirë und den Anblick von Blut und Leichen wenig gewohnt - und erst recht nicht, wie Männer direkt vor ihren Augen getötet wurden - doch sie war auf andere Art und Weise stark, und mit Sicherheit stark genug um sich in der Welt zu behaupten. Er hoffte, dass Hasaels Neffe Qúsay wusste, wie viel er mit diesem Verlöbnis außer der Unterstützung Gondors für seine Sache gewonnen hatte.
Sie erreichten die Bibliothek ohne weitere Zwischenfälle, und als Edrahil in den Raum kam, sah er gerade Bayyin mit einer kleinen Lampe in der einen und einer Schriftrolle in der anderen Hand eine der gewundenen Treppen auf die unterste Ebene hinabkommen. "Hast du gefunden, was du gesucht hast?"
"Ich denke schon", erwiderte der Bibliothekar etwas atemlos, als er unten angekommen war und ihnen gegenüberstand. "Es war ziemlich versteckt, aber wie es aussieht habe ich es ja gerade rechtzeitig geschafft."
"Darf ich vorstellen, Bayyin, ein Schreiber mit... vielen Talenten", mischte Valirë sich mit einem dezent anzüglichen Grinsen ein. "Bayyin, das ist die hochwohlgeborene Prinzessin Lothíriel von Dol Amroth. Bitte mach einen Knicks."
Edrahil unterdrückte ein genervtes Aufstöhnen, und blickte nervös zur geschlossenen Tür, doch vom Gang her waren keine Schritte zu hören und kein Lichtschein kroch unter der Tür hervor. Auf Bayyins verwirrten Blick hin neigte Lothíriel anmutig den Kopf, und sagte: "Das wird nicht nötig sein. Um genau zu sein, ist es meistens besser
nicht so genau auf Valirës Ideen zu hören."
Der Blick, den sie Valirë zuwarf verriet Edrahil allerdings, dass die Prinzessin ihre Anspielung auf Bayyins
Talente nur allzu gut verstanden hatte. "Und auch wenn ich deine Ideen keineswegs vermisst habe, liebe Valirë, freue ich mich doch sehr dich zu sehen."
Weitere Gefühlsausbrüche wusste Edrahil zu verhindern. "Schön, dass sich alle verstehen, aber wir sollten allmählich wirklich hier verschwinden."
Er ging bereits auf den geheimen Ausgang zu, während Valirë sagte: "Ihr wiederholt euch, Edrahil... aber ihr habt trotzdem recht. Wir sollten erst feiern, wenn wir wirklich in Sicherheit sind."
"Das dürfte dann in Dol Amroth sein", gab Edrahil ironisch zurück, stieß die Tür auf, und trat hinaus auf die Straßen der Stadt.
Edrahil, Valirë, Bayyin und Lothíriel auf die Straßen von Umbar