Eine lange Weile ritten die beiden jungen Frauen schweigend nebeneinander her, während das braune Grasland zu beiden Seiten langsam an ihnen vorbeizog und das Gebirge, das die Nordgrenze des Reiches von Kerma darstellte, weiter und weiter vor ihnen in die Höhe wuchs. Unbehagliches Schweigen stand zwischen ihnen. Und wie zuvor schon, kurz nach ihrer Ankunf in Tindouf, war Aerien von sich selbst überrascht. Sie hatte heftiger auf Narissas Wunsch, die kermischen Prinzen näher kennenzulernen reagiert, als sie erwartet hatte. Allein der Fakt, dass Narissa es überhaupt in Betracht zu ziehen schien, sich mit den von König Músab auserwählten Kandidaten auch nur zu unterhalten, machte Aerien unglaublich wütend. Ihr Kopf sagte ihr, dass sie ruhig bleiben müsse und keine Angst zu haben brauchte: Narissa war offensichtlich einfach nur neugierig, das hatte sie ja selbst gesagt. Sie wollte wissen, wen der König von Kerma für sie ausgesucht hatte. Und nichts weiter. Doch Aeriens Herz war dennoch voller irrationaler Sorge: Was, wenn Narissa die Prinzen traf, und plötzlich feststellte, dass sie ihr wider aller Erwartung gefielen? Was, wenn sie plötzlich einen Sinneswandel hätte, und beschließen würde, ihr Leben als kermische Prinzessin zu verbringen? Und dann war da noch eine andere Angelegenheit... Warum war Narissa überhaupt auf die Idee gekommen, sich mit anderen Teilnehmern der Reisegruppe zu unterhalten? War sie etwa... Aeriens Gesellschaft überdrüssig geworden? Aerien versuchte hastig, ihren Schock zu verbergen, als sie diesen Gedanken gefasst hatte. Doch ihre Augen waren deutlich geweitet - was Narissas geschärftem Blick wohl kaum entgehen konnte.
"Ich frage mich, was in Kerma wohl vor sicht geht, dass der König so eilig in sein Reich zurückkehrt," meinte Narissa gerade und zeigte keinerlei Anzeichen dafür, dass sie etwas bemerkt hatte. "Ist das nicht sonderbar? Da muss etwas ganz Wichtiges dahinterstecken, findest du nicht auch?"
Aerien blickte weiterhin stur geradeaus und reagiert nur mit einem leisen "
Mhmmm". Wie konnte Narissa nur gerade an etwas so Belangloses denken?
"Vielleicht gibt es Ärger in der Hauptstadt," überlegte Narissa weiter. "Ob es eine Revolution geben wird? Das wäre schlecht für unser Bündnis mit Kerma."
"Vermutlich," gab Aerien kühl zurück, während sie vorgab, in der Ferne etwas Interessantes zu beobachten.
Und endlich schien Narissa ihr Verhalten aufzufallen. "Was ist denn jetzt wieder los mit dir," ärgerte sie sich. "Ist es denn wirklich
so schlimm, dass ich mich vorhin mit dem Bruder des Königs unterhalten habe? Hast du Angst, ich würde in Versuchung geraten, mit ihm durchzubrennen?"
Aerien holte tief Luft. "Wenn ich dir zu langweilig bin, dann sag es einfach!" rief sie und blickte Narissa endlich an.
"Langweilig? Wohl kaum. Anstrengend? Und wie!" antwortete Narissa bissig und ließ ihr Pferd beschleunigen. Sie schloss sich der Vorhut an, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzublicken.
Der Vorhut, bei der Gatisen, Prinz von Kerma ritt...
Bei allen verdammten Säulen von Armenelos, dachte Aerien voller Zorn.
Wie schafft sie es nur, mich so... wütend zu machen? So kenne ich mich überhaupt nicht, und so sollte ich mich auch nicht verhalten. Das ist einer Dame meines Standes nicht angemessen! Sie kam sich vor als wäre sie wieder ein Kind, das trotzig und selbstsüchtig war. Und dennoch konnte und wollte sie ihren Ärger weder verbergen noch hinunterschlucken. Sie wollte ihr Schwert ziehen und irgendetwas damit zerschlagen. Doch als sie gerade schon die Hand an den Griff gelegt hatte, fiel Aerien ein, was ihr Vater ihr für eine solche Situation beigebracht hatte.
Es mag vorkommen, dass dich Wut und Zorn zu verschlingen drohen, Azruphel, sprach Varakhôrs Erinnerung in ihrem Kopf, und sie hörte die Worte so deutlich, als ginge er neben ihr her.
Wenn das geschieht, darfst du deine Gefühle nicht verdrängen oder herunterschlucken, sonst werden sie nur umso stärker aus dir hervorbrechen und dabei tiefe Wunden reißen. Du wirst den Drang spüren, dich zu bewegen und Gewalt anzuwenden. Diese Energie ist wertvoll! Unterschätze niemals die Entschlossenheit und Motivation, die daraus entstehen kann. Nutze deine Wut, und kanalisiere sie - sie kann ein mächtiger Verbündeter sein. Hat dich eine Person erzürnt, dann nutze diesen Zorn, um etwas zu schaffen, das jene, die dich verärgert haben, vor Neid verstummen lassen wird. Und vergiss niemals: Du darfst auf keinen Fall die Kontrolle verlieren, sonst bist du nicht mehr als ein wildes Tier.Hastig suchte Aerien nach etwas, wofür sie ihre Wut nutzen konnte. Und da fiel ihr ein, wovon Narissa zuvor gesprochen hatte: Der Tod ihrer Großtante Belazîl, die hier auf der Harad-Straße überfallen worden war als König Músab mit seinem Gefolge von Kerma nach Ain Séfra gereist war, um am Majles Malik Qúsays teilzunehmen. Aerien hatte einige der Wächter des Königs davon sprechen hören, dass einer der schwarzen Númenorer den Überfall angeführt hatte. Und Aerien hatte bereits einen Verdacht, um wen es sich dabei handeln könnte. Narissa gegenüber hatte sie jedoch darüber geschwiegen.
Geschieht ihr recht, dachte Aerien. Jetzt hatte sie ein Ziel: Sie würde mehr über diesen Überfall herausfinden, und ihren Verdacht entweder bestätigen oder widerlegen. Mit neuem Elan machte sie sich an die Arbeit.
Aerien sprach mit den meisten Gardisten, die König Músab eskortierten und die bei dem Überfall dabei gewesen waren. Sie verspürte keine Lust, mit Músab, seinem Bruder Alára oder einem der Prinzen zu sprechen, da sie ihnen gegenüber einen Grund hätte angeben müssen, weshalb sie sich nach den Ereignissen erkundigte, die zum Tod der Mutter des Königs geführt hatten. Den einfachen Soldaten war sie jedoch keine Begründung schuldig. Und so erfuhr Aerien, dass ein einzelner Bote Mordors der Reisegruppe Músabs den Weg versperrt hatte, als sie auf der Harad-Straße nordwärts durch das von Sûladan kontrollierte Gebiet gereist waren. Als der König von Kerma es abgelehnt hatte, umzukehren (wie der Bote gefordert hatte), waren er und seine Begleiter von beiden Seiten angegriffen worden. Dabei waren Taktiken eingesetzt worden, die die Überfallenen in Furcht und Verwirrung versetzt hatten, und das eigentliche Ziel des Angriffs (nämlich die Befreiung eines Músab feindlich gesinnten kermischen Anführers) war lange im Dunkeln geblieben. Während sich die Gardisten von Kerma darauf konzentriert hatten, ihren König zu schützen, war der Karren, auf dem der Käfig des Gefangenen transportiert worden war, nicht länger bewacht gewesen. Nur Belazîl war in der Nähe gewesen, als der schwarze Númenorer inmitten des Chaos des Gefechts wieder aufgetaucht war und versucht hatte, den Gefangenen zu befreien. Die Königinmutter hatte sich dem Boten Mordors in den Weg gestellt, und dafür mit ihrem Leben bezahlt.
Aerien ritt nachdenklich am Ende der Reisegruppe. Ihr Verdacht hatte sich sehr erhärtet, denn der Überfall war nahezu buchstäblich einem Schema gefolgt, das in Durthang als
Biss der Spinne gelehrt wurde. Und Aerien kannte jemanden, der diese Taktik so oft eingesetzt hatte, dass sie zu seinem Markenzeichen geworden war...
Balakân, dachte sie geschockt.
Mein großer Bruder hat meine Großtante ermordet. Die Beschreibung des schwarzen Númenorers, die ihr die Gardisten Músabs gegeben hatten, deckte sich mit dem Aussehen ihres Bruders und bestätigte ihren Verdacht. Und sie wusste, dass der König von Kerma von all dem niemals etwas erfahren durfte - denn sonst wäre es endgültig aus mit dem Bündnis, das sich Thorongil und Edrahil von ihm erhofft hatten. Und sie, Aerien, würde vermutlich den Rest ihres Lebens in einem dunklen Verlies in Kerma verbringen.
"Na, hast du das Rätsel um die Identität des Mörders Belazîls auch schon gelöst, Mädchen?" sagte eine raue Stimme neben ihr und ließ Aerien aus ihren Gedanken hochschrecken. Eine vertraute Gestalt ritt neben ihr her, den grauen Mantel im leichten Wind flatternd.
"Onkel Aglazôr," stellte sie fest. "Ich hatte nicht erwartet..."
"...mich so bald schon wiederzusehen? Nun, wie du siehst, stehe ich jetzt im Dienste Kermas," erklärte ihr Onkel gut gelaunt. "Qore Músab hat tiefe Taschen, und du weißt ja, dass ihn das für mich unwiderstehlich macht."
Aerien schnaubte. "Gold war schon immer das Höchste für dich."
Aglazôr zeigte ihr sein schiefes Lächeln. "Ich bleibe mir treu, Schätzchen. Also, beantwortest du mir die Frage? Oder zeigst du mir jetzt auch die kalte Schulter, ebenso wie du es bei deiner kleinen
Freundin tust?"
"Ich weiß nicht, wovon du sprichst," erwiderte Aerien und setzte ihre vielgeübte neutrale Miene auf.
"Oh bitte. Die Erbin des Turms und diese Haradrim magst du täuschen können, aber mich legst du nicht rein. Ich kenne deine Mutter länger als du, Azruphel, und ich kenne ihre Methoden. Du hast Talent, das gebe ich zu, aber deine Augen verraten dich. Du denkst auch, dass dein Bruder hinter Belazîls Tod steckt, nicht wahr?"
Aerien atmete tief aus. "Das Ganze trägt seine Handschrift, und die Beschreibung passt. Balakân hat sich wahrscheinlich sogar freiwillig für diese Mission gemeldet."
"Nach allem was ich über ihn gehört habe, schlägt er nicht sonderlich nach seinem Vater," meinte Aglazôr trocken. "Eigentlich schade. Varakhôrs Art und Weise bedeutet eine erfrischende Abwechslung von Gewalt, Folter und Grausamkeit. Seine Effizienz ist unerreicht."
"Du weißt, dass das zwischen uns bleiben muss," schärfte Aerien ihrem Onkel ein. "Wenn der König davon erfährt..."
"Ja, ich verstehe. Auch wenn ich nicht denke, dass er dich wirklich dafür belangen würde. Aber sein Vertrauen wäre selbstverständlich dahin. Und das wollen wir doch nicht, oder, Belkâli?"
Die Art, wie er Aeriens Spitznamen aus ihrer Heimat verwendete, erinnerte sie unangenehm an seinen Sohn. "Du solltest vermutlich wissen, dass... Karnuzîr auf Tol Thelyn gefangen gehalten wird," sagte sie leise. Aglazôr hatte ein Recht darauf, zu erfahren, was seinem Sohn zugestoßen war.
"Ha! Ich wusste, dass der Junge sich nur Ärger einhandeln wird, wenn er sich zu Sûladans Laufburschen machen lässt. Er hat doch nicht etwa Hand an dich gelegt, oder?" Aerien verzog unbehaglich das Gesicht, was ihrem Onkel als Antwort genügte. "Es war ein Fehler, ihn seinen eigenen Weg gehen zu lassen," knurrte der schwarze Númenorer. "Ich hätte ihn damals ein für alle Mal nach Durthang schicken sollen, und seine Abstammung geheim halten sollen - oder ihn von Anfang an von Mordor fernhalten sollen. Durch das ewig Hin und Her wurde ihm sei gemischtes Blut viel zu oft vor die Augen geführt. Nun, immerhin ist er noch am Leben, und kann momentan keine Dummheiten mehr machen."
"Du könntest König Músab bitten, dich als seinen Boten nach Tol Thelyn zu entsenden, wenn das Bündnis zustande gekommen ist," überlegte Aerien. "Wenn du mit Karnuzîr sprechen würdest..."
"Wir werden sehen," gab Aeriens Onkel nachdenklich zurück. Dann blickte er nach vorne und deutete mit dem Arm südwärts. "Da vorne liegt die Grenze Kermas," sagte er. "Wir haben Músabs Reich beinahe erreicht!"
Narissa, Aerien, Músab und Gefolge nach Kerma